Читать книгу Mehr ausbrüten, weniger gackern - Felicia, Andreas Müller - Страница 5
Eine kleine Auslegeordnung
ОглавлениеWir alle sind ein Produkt unserer eigenen Geschichte: Alles was jetzt – in der Gegenwart – geschieht, ist das Ergebnis von Entscheiden, die wir vorher einmal getroffen haben. Mit anderen Worten: Jede Zukunft hat eine Herkunft.
Und Lernen, das sind die Schritte zwischen Herkunft und Zukunft. Schritte hinterlassen Spuren. Auf diesen «Gebrauchsspuren» (Spitzer 2006) bewegt sich unser Denken. «Gute» Spuren ausbauen oder neu anlegen, das ist also – ein bisschen plakativ – das Ziel schulischen Lernens. Dazu müssen die Lernenden aktiv sein, etwas tun. Sie müssen vor allem lernen, konstruktiv mit Schwierigkeiten und Widerständen umzugehen. Und eben nicht: Widerstände zu umgehen.
Das bedeutet: Es geht darum, sich auseinander zu setzen – mit Dingen, mit anderen Menschen, mit sich selbst. Sich auseinandersetzen wiederum, das funktioniert nicht per Mausklick oder Knopfdruck. Denn sich auseinandersetzen heisst: Widerstände meistern, nicht mit der erstbesten Lösung zufrieden sein. Und es heisst auch: Umwege gehen. Denn: Umwege erhöhen die Ortskenntnis. Für die Schule bedeutet das im Kern:
Lernende müssen Freude entwickeln am Umgang mit Widerständen und Schwierigkeiten.
Das Leben ist gestaltbar. Das Lernen auch. Alles – jede noch so kleine Aufgabe – lässt sich verwandeln in etwas, das wirklich Sinn macht. Es ist letztlich eine Frage des angeborenen oder erlernten Widerwillens, sich in die langweilige Ecke drängen zu lassen. Oder den Widerwillen, die eigene Phantasie auf das Format einer karierten Heftseite zu beschränken.
Lernen versteht sich also keineswegs als ein lineares und monokausales Geschehen. Wissen lässt sich nicht bequem von einem Kopf (jenem des Lehrers) in einen anderen (jenen des Schülers) übertragen. Lernen ist ein individueller Konstruktionsprozess. Wissen wird stets neu konstruiert. Lernen ist – neurobiologisch gesehen – eine Umstrukturierung neuronaler2 Verbindungen. Es entstehen Gebrauchsspuren. Auf diesen – ausgetretenen – Wegen verläuft unser Denken. Wer lernt, legt also auch neue Wege an. Neue Denkspuren. Diese Wege entstehen dadurch, dass wir sie gehen. (Spitzer 2006)
Schulisches Lernen – ist es auf Nachhaltigkeit ausgerichtet – folgt dem Ziel zu verstehen. Verstehen meint: Informationen umwandeln in Bedeutung. Oder: aus etwas Fremdem etwas Eigenes machen. Kapieren, nicht kopieren. Denn: Aha!, das beglückende Gefühl, etwas verstanden zu haben, ist ein hochgradig emotionales Erlebnis. Wenn der Groschen fällt, steigt das Dopamin3. Das produziert Glücksgefühle.
Und so macht Lernen Freude. Es ist Freude an Leistung. An der eigenen! Etymologisch gesehen sind nämlich Lernen und Leistung gleichbedeutend. Und damit wird zum Ausdruck gebracht: Lernen, Verstehen und die Freude daran sind das Resultat einer Leistung. Oder eben: das Ergebnis eines konstruktiven Umgangs mit Schwierigkeiten.
Der Prozess des Lernens hat also im Grunde genommen nichts mit dem Was zu tun. Sondern einzig und allein mit dem Wie! Auf die Frage «Was lernst du?» gibt es so gesehen keine vernünftigen Antworten. Die Englischvokabeln von Kapitel 12. Das Kürzen von gemeinen Brüchen. Der Verlauf der Schlacht bei Bibrakte. Das sind allenfalls zukünftige Ergebnisse von Lernaktivitäten. Das Lernen selber findet aber immer in der Gegenwart statt. Hier und jetzt. Lernen ist Tun. Und die entsprechenden Aktivitäten antworten nur auf die Frage nach dem Wie!
aufgepickt
Um sich selbst zu erkennen, muss man handeln. Albert Camus
Es ist das Wie des Lernens, das die Spuren von der Herkunft in die Zukunft legt.
Kompetenzen
Wer kreativ und konstruktiv sein Lernen (und sein Leben) gestalten will, braucht Kompetenzen. Kompetenzen sind Fähigkeiten und Fertigkeiten, die von Lernenden entwickelt werden und sie befähigen, bestimmte Tätigkeiten in variablen Situationen auszuüben.
Oder ein bisschen genauer (Weinert): «Kompetenzen sind die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können.» Lernen zielt also darauf ab, Kompetenzen zu entwickeln.
Dabei geht es einerseits um fachliche Kompetenzen. Um den Aufbau eines lebendigen und anwendungsbezogenen Fachwissens. Je mehr Wissen ein Lernender hat und je besser es strukturiert ist, umso leichter kann er damit «spielen» und neue Informationen damit in Beziehung setzen.
Es geht damit auch um methodische Kompetenzen. Oder neudeutsch: um learning skills. Ums Handwerk also. Und um die Werkzeuge dazu. Ein vielfältiges Strategie- und Methodenrepertoire erhöht die Erfolgswahrscheinlichkeit. Weshalb sonst sagte Abraham Maslow: Wer als einziges Werkzeug einen Hammer kennt, für den ist jedes Problem ein Nagel.
Und es geht um Anschlusskompetenzen. Um Haltungen und Einstellungen. Dazu gehört der Umgang mit sich selber. Aber auch der Umgang mit anderen: Kommunikations-, Konflikt- und Integrationsfähigkeit. Und dazu gehört: beginnen, die Dinge nicht vor sich her zu schieben wie eine Wanderdüne. Und auch: zu Ende führen. Freude an der Widerständigkeit.
Wer den Anforderungen mehr oder weniger systematisch aus dem Weg geht, wird permanent von so etwas wie einem schlechten Gewissen verfolgt sein. Wer im Grunde genommen weiss, was er sollte und es trotzdem nicht tut, findet sich nicht so toll. Und wer sich selber nicht mag, ist, so jedenfalls glaubt Friedrich Nietzsche, «fortwährend bereit, sich dafür zu rächen». Schule muss also auch ein Ort sein, der den Lernenden gute Gründe gibt, sich selber zu mögen.
Die Bereitschaft, aktiv zu werden, sich mit Dingen auseinander zu setzen, ist gekoppelt an die Wahrscheinlichkeit, damit erfolgreich zu sein. Es braucht Selbstwirksamkeitsüberzeugungen4. Es braucht den Glauben an die eigenen Fähigkeiten. Auch das ist eine Gebrauchsspur. Und das heisst im Klartext:
Die Schule muss ein Ort sein, den die Lernenden als erfolgreich erleben.
Denn eben: Zum Erfolg gibt es schlichtweg keine Alternative.
aufgepickt
Was nicht in die Wurzeln geht, geht nicht in die Krone.
Friedrich Georg Jünger
Lernrelevante Faktoren
Lernen und Lernkompetenz – dahinter verbirgt sich ein komplexes Geschehen. Lernen ist immer individuell und persönlich. Und es entzieht sich weitgehend der Fremdsteuerung. Der Mensch lernt selbst und ständig.
Damit ist klar: Der Komplexität des Lernens ist mit einfachen Strickmustern nicht beizukommen. Jedenfalls nicht nachhaltig. Das gilt auch und gerade für schulisches Lernen. Und dieses schulische Lernen wird mit höherer Wahrscheinlichkeit erfolgreich und Sinn stiftend, wenn es gelingt, das Zusammenspiel der lernrelevanten Faktoren bedürfnisgerecht zu gestalten.
Lernen lässt sich nicht in Einzelteile zerlegen. Die Erfolgsfaktoren wirken integral durch die Dynamik ihrer Rückkoppelungsprozesse. Aufgabe von LernCoaches ist es deshalb, für ein optimales Zusammenwirken zu sorgen, die sechs lernrelevanten Faktoren im Hinblick auf eine individuelle Erfolgswahrscheinlichkeit möglichst günstig zu beeinflussen.
Orientierung
Grundlage ist eine transparente und einsichtige Orientierung – quasi eine inhaltliche Landkarte. Es geht darum, zu wissen, was man können könnte. Es geht darum, die Erwartungen abzustecken (Referenzwerte). Und es geht um das Bewusstsein der eigenen Situation.
Auseinandersetzung
Das Ziel heisst: Verstehen. Aus etwas Fremdem etwas Eigenes machen. Einer Spur folgen und konstruktiv mit Widerständen umgehen. Lernnachweise auf individuellem Herausforderungsniveau sind das Ergebnis eigener Zielformulierungen.
Arrangements
Offene und bedürfnisgerechte Arbeitsformen führen zu einer Verlagerung des Aktivitätsschwerpunktes. Umgang mit Vielfalt auf der Grundlage einer Vereinbarungs- und Einforderungskultur. Lernorganisation ist immer auch (und vor allem) Selbstorganisation.
Evaluation
Den Evaluationsabsichten kommt eine präformierende Wirkung zu. Kompetenzorientiertes Lernen verlangt nach entsprechendem Umgang mit Lernleistungen: referenzieren, präsentieren, reflektieren, dokumentieren. Förderung statt Selektion, Checks and balances.
Lernort
Der Lernort wirkt als «dritter Pädagoge» determinierend auf das Verhalten (z.B. Aktivitätsschwerpunkt). Räume dienen der Funktionalität, der Ästhetik und der Inspiration. Ausserschulische Lernorte systematisch einbeziehen. Strukturierte Materialien als Lernanlässe offerieren.
Interaktion
Eine lösungs- und entwicklungsorientierte Interaktion folgt der Logik des Gelingens. Das setzt ein Interesse an den Lernenden und an ihrem Erfolg voraus. In einer Kultur des voneinander und miteinander Lernens werden Betroffene zu Beteiligten.
Die sechs lernrelevanten Faktoren sind eingebettet in vier basale Faktoren. Dabei geht es in erster Linie um Haltungen und Einstellungen – zu sich, zu anderen und zu den Dingen.
Menschenbild
Kein Kind steht am Morgen auf und sagt: «Heute bin ich ein schlechter Mensch.» Lernende wollen lernen. Sie wollen «gut» sein, anerkannter Teil der Gemeinschaft. Das verlangt nach Vertrauen und Wertschätzung.
Rollenverständnis
Menschen leben die Rollen, die sie sich geben oder die ihnen zugewiesen werden. Die Förderung von Selbstgestaltungskompetenz verlangt nach Hilfe zu Selbsthilfe. Weniger Schüler, mehr Lernunternehmer hier und mehr Coaches und Berater da.
Lernverständnis
Lernende konstruieren sich die Welt. Sie lernen – vor ihrem biografischen Hintergrund – selbst und ständig. Das hat aber nichts mit einem Jahrmarkt der Beliebigkeiten zu tun. Schulisches Lernen soll als zielführend, erfolgreich und Sinn stiftend wahrgenommen werden.
Funktionsverständnis
Die Funktion bestimmt die Form. Eine individuellen Kompetenzentwicklung verlangt nach massgeschneiderten Programmen. Ziel ist der persönliche und schulische Erfolg aller Lernenden. Nicht abschluss- sondern anschlussfähig sollen sie sein, anschlussfähig an relevante Lebenssituationen.
Ein Faktor ist – so erklärt das Herkunftswörterbuch – eine «Vervielfältigungszahl», eine «mitbestimmende Ursache». Und in der Tat: Lernrelevante Faktoren sind mitbestimmende Ursachen, denen es zielführend Rechnung zu tragen gilt, damit die Möglichkeiten erfolgreichen Lernens sich vervielfältigen.
Autagogik
Lernen, das können Menschen nur selber tun. Es geschieht einfach. Aber es lässt sich auch gestalten, ermöglichen, behindern. Die Schule bedient sich dafür des Begriffs «Pädagogik». Der Begriff stammt aus dem Altgriechischen: pais (-idós) = Kind, Knabe und ágein = führen. Der Paidagogós war der Kinderführer, ein Sklave, der die Kinder ausser Haus begleitete.
Diese bedeutungsmässige Herkunft hat sich erfolgreich in die heutige Bildungslandschaft hinübergerettet. Zwar führt der Lehrer (der mehrheitlich durch die Lehrerin abgelöst worden ist) die Kinder kaum mehr ausser Haus. Sie kommen zu ihm. Ohne Führung. Stattdessen führt er sie auf virtuellen Wegen entlang von Themen hin zu Prüfungen. Der Lehrer weiss, wie weiland der Sklave, wo es lang geht. Er kennt den Weg, er weiss, welches der richtige ist und welches der falsche.
Chris Shute bezieht dazu unmissverständlich Stellung: «In neun von zehn Schulen, an neun von zehn Tagen, in neun von zehn Stunden sind Lehrende damit beschäftigt, eine dünne Informationsschicht über den kindlichen Verstand zu legen und sie nach kurzer Verweildauer wieder abzusahnen, um selbstzufrieden feststellen zu können, dass die Informationsschicht vorschriftsgemäss aufgelegt wurde.» (Shute 1998)
Lernen sollte jedoch die Selbstgestaltungskompetenz fördern.
Dann aber müssen die Gebrauchsspuren auch entsprechend gelegt werden. Dann müssen die Lernenden und ihr aktives, selbstbestimmtes Lernen ins Zentrum der schulischen Arbeit rücken. Und dann würde «Autagogik» besser passen. Wesentlich besser sogar.
Der Begriff setzt sich zusammen aus autos = selbst, aus eigener Kraft und ágein = führen. Autagogik bezeichnet ein übergeordnetes Konzept für selbstkompetentes, selbstwirksames Lernen. (Müller 2002/2004 / Fuchs 2005) Es versteht sich als «Bezeichnung für ein didaktisches Lehr-Lernarrangement mit dem Ziel einer selbstwirksamen Kompetenzerweiterung im schulischen Kontext. Selbstwirksam lernen bedeutet, dass Lernende sich ihre eigenen, ihnen sinnvoll erscheinenden Ziele setzen, die sie dann entsprechend ihren eigenen, ihnen bedeutsam erscheinenden Strategien gemäss verfolgen und umsetzen.» (Fuchs 2005)
Ein Beispiel: Vor der letzten Fussballweltmeisterschaft, das Panini-Fieber hat die westliche Zivilisation erfasst. Unzählige Kinder landauf, landab haben die farbigen Bildchen gesammelt. Und wie! Mit Eifer. Mit Begeisterung. Mit Ausdauer und Beharrlichkeit. Sie kannten plötzlich Länder, von deren Existenz sie zuvor nicht den Dunst vom Schimmer einer Ahnung gehabt hatten. Und Kinder, die normalerweise keine zehn Französisch-Vokabeln auf die Reihe kriegten, kannten mit einem Mal Spieler, deren Namen wesentlich komplizierter klangen als irgendein unregelmässiges Verb im Passé simple. Unselbstständige Schüler entwickelten Erfolgsstrategien, die ihnen kein Paidagogós beigebracht hatte. Und selbst solche, die sich eigentlich gar nicht für Fussball interessierten, fanden sich in kürzester Zeit in der Welt der Mannschaften und der Spieler zurecht.
Pädagogik | Autagogik |
Aus griech. pais, paidos «Kind, Knabe» und griech. ágein «führen». Kinder-, Knabenführer. Bezeichnete ursprünglich einen Sklaven, der die Kinder in die Schule und wieder zurück nach Hause geleitete. | Zusammengesetzt aus griech. autos «selbst, aus eigener Kraft» und ágein «führen». Übergeordnetes Konzept für selbstkompetentes, selbstwirksames Lernen |
• Handlungsleitendes Prinzip: Lehren | • Handlungsleitendes Prinzip: Lernen |
• Aktivitätsschwerpunkt beim Lehrer. Stichwort: Fremdsteuerung | • Aktivitätsschwerpunkt beim einzelnen Lernenden. Stichwort: Selbststeuerung |
• Lernen = Übertragen, Vermitteln von Wissen | • Lernen = individuelle Konstruktion von Wissen, Können und Wollen |
• Auf der Suche nach Defiziten, gegen die etwas getan werden soll. | • Auf der Suche nach Ressourcen, für die etwas getan werden soll. |
• part of the problem | • part of the solution |
• Schüler | • Lernpartner |
• Kollektive Ziele und Verbindlichkeiten als Kleinstes gemeinsames Vielfaches | • Individuelle Ziele und Verbindlichkeiten. Anerkennen von und Arbeit mit Unterschieden |
• Leistungsvergleich am Klassendurchschnitt (Punkte, Zensuren) | • Individueller Leistungsvergleich an transparenten Standards/Referenzwerten (Referenzieren) |
• Linear | • zirkulär |
• adaptiv | • antizipativ |
Lehrer | |
• Arbeit im System | • Arbeit im System und am System |
• Lehrer, Wissensvermittler | • LernCoach |
• Cage on the stage | • Guide on the side |
• Systemfokus: Klasse | • Systemfokus: Schule |
Das heisst: Die Kinder offenbarten all jene Fähigkeiten und Eigenschaften, die ihnen das Dasein in der Schule wesentlich erleichtern würden. Das heisst weiter: Sie könnten es eigentlich. Wenn es darauf ankommt. Wenn es für sie darauf ankommt.
Autagogik zielt darauf ab, das «Panini-Prinzip» auf schulisches Lernen zu übertragen. Der Aktivitätsschwerpunkt liegt beim Lernenden. Selbstwirksamkeit und Selbststeuerung sind Stichworte dazu. «Lernen wird verstanden als Folge von individueller Konstruktion von Wissen, Können und Wollen. (...) Wissen wird zirkulär gebildet: über Erfahrungslernen, Nachdenken über das Lernen und antizipatives Verhalten.» (Fuchs 2005)
In einem autagogischen Denken braucht es nicht mehr den «Knabenführer».
Vielmehr braucht es Menschen, die Lernende dabei unterstützen, sich auf eigenen Wegen die Welt zu erschliessen, sie fassbar und lesbar zu machen, sich in dieser Welt zu erfahren und zu erproben.
Auf einer solchen Reise, so Renate Girmes, «wird er oder sie Fremdes kennen lernen und sich zu eigen machen können, wird neue Freunde und interessante Gesprächspartner finden, mehr wissen, Verständnisse überdenken und revidieren und neue Einsichten gewinnen. (...) In Wirklichkeit ist unterrichtliches Reisen selten so – weil Unterricht selten ‚gut’ ist? Weil man sich als lernbegieriger Unterrichtsreisender nicht selten wie ein Pauschaltourist in einer Reisegruppe von Busgrösse mit einem festen gemeinsamen Besichtigungsprogramm und den dazu passenden Standarderläuterungen wiederfindet, immer zusammen als Gruppe, orientiert am jeweiligen Busparkplatz und den Hauptsehenswürdigkeiten?» (Girmes 2004). Kommt dazu: Reiseführer, die schon zum hundertsten Mal gelangweilten Gruppen von Pauschaltouristen die gleichen Geschichten und Jahrzahlen heruntergespult haben, laufen mit der Zeit Gefahr, die Inspiration zu verlieren. Davor sind auch die schulischen Reiseführer nicht gefeit. Zumal die Kinder und Jugendlichen mit immer vielfältigeren und divergierenderen Ansprüchen zum Unterrichtskonsum erscheinen.
Die Pädagogik hat – zumindest begrifflich – eine lange Tradition. Nicht ganz so weit in die Geschichte zurück reicht das Schulsystem, das mit diesem Begriff operiert. Aber immerhin. Anderthalb Jahrhunderte hat die Volksschule auch schon auf dem Buckel. Sie hat in dieser Zeit reichlich Fett angesetzt. Und sie funktioniert deshalb im Kern noch immer nach den gleichen Mustern: Jahrgangsklassen, Lektionen, Fächer, Prüfungen, ...
Die damaligen Ideen für die Gestaltung des Schulwesens entsprangen dem damaligen Denken und orientierten sich an den damaligen Bedürfnissen. Und man muss nicht hundertfünfzig Jahre alt sein, um festzustellen, dass sich einiges verändert hat in Gesellschaft und Wirtschaft. Radikal verändert sogar. Das müsste eigentlich Anlass genug sein, die Schule ähnlich radikal zu verändern. Und das hiesse dann eben beispielsweise: von der Pädagogik zur Autagogik.
Zehn Merkmale der Volksschule des 19. Jahrhunderts
nach J.C. Hirzel, 1829(!)
1 Unterrichtsfächer
2 Lehrstoff und Lehrmittel
3 Jahrgangsklassen
4 Klassengrösse
5 Stundenplan
6 Lehrerausbildung
7 Jahresbesoldung
8 Prüfungen
9 Lehrerwahl und -entlassung
10 Schulaufsicht
Megatrends
Der Blick aus dem Schulhausfenster zeigt: Aha, da passiert etwas in der «richtigen» Welt. Wenn die Schule nicht den Anschluss verpassen will, muss sie erst einmal lernen, mit Veränderungen umzugehen. Denn im Gegensatz zu anderen Bereichen der Gesellschaft hat sie in dieser Beziehung keine Tradition. Keine Übung. Klar standen immer irgendwelche «Reformen» ins Haus. Passiert ist zwar nicht wirklich etwas. Dafür hat sich eine veritable Aufregungskultur entwickelt. Kurzatmig, in hektischem Aktionismus wird reformiert, was das Zeug hält.
Ein neues Zeugnisformat, eine Wochenlektion mehr oder weniger, die Einführung von Blockzeiten, solche und ähnliche Dinge lösen Diskussionen aus, und alle laufen wie aufgescheuchte Hühner durchs Gehege, als ob es tatsächlich um etwas gehen würde. Von wegen: Das sind bei Lichte besehen doch Peanuts. Marginalien. Die Änderungen, die eigentlich anstehen würden, die sind viel grundsätzlicher. Und die gingen ans Eingemachte.
Im wesentlichen sind vier Megatrends (Trend = Grundtendenz, Richtung, in die eine Entwicklung geht) zu erkennen. Sie fordern das Bildungswesen heute und in Zukunft heraus. Kosmetik reicht dabei nicht mehr. Herkömmliche Strukturen, Konventionen und Rollenbilder müssen viel radikaler in Frage gestellt werden.
Grosses Gegacker mit Riesenwirbel, wenn eine Reform die Bühne betritt. Keine Idee, wie die Reform umgesetzt werden könnte, sondern nur, warum sie nicht funktioniert. Meist legt sich die Aufregung dann bald wieder und alles ist wie vorher.
Geschlossene Marschkolonnen auflösen
Die Sozialisierungshintergründe von Kindern und Jugendlichen weichen zunehmend voneinander ab. Es beschränkt sich nicht auf die offenkundigen kulturellen und ethnischen Unterschiede. Die Lebensgewohnheiten haben sich insgesamt grundlegend verändert. Andere Menschen waren zwar schon immer eines: anders. Aber heute sind sie noch deutlich «anderser». Das Stichwort «Heterogenität» prägt denn auch allenorts die schulischen Diskussionen – meist in Kombination mit dem Wort «Problem». Und in der Tat: Die Schule ist herausgefordert, mit dieser Diversität gescheit umzugehen. Das heisst beispielsweise: Es geht nicht einfach darum zu akzeptieren, dass Lernende unterschiedliche Voraussetzungen mitbringen, unterschiedliche Vorstellungen, unterschiedliche Ziele. Es geht auch darum, diese Unterschiede als Chance und Ressource zu nutzen. Und wenn man nur ein bisschen ernst nimmt, was man heute so weiss über unterschiedliche Lernvoraussetzungen, dann müsste das erhebliche Konsequenzen haben. Ein einigermassen gesunder Menschenverstand reicht um zu erkennen, dass die geschlossenen Marschkolonnen in den tradierten Strukturen immer weniger tauglich sind, mit der zunehmenden Vielfalt konstruktiv und Sinn stiftend umzugehen.
aufgepickt
Wenn eine Gesellschaft ihre jungen Menschen nicht braucht und sie dies ausdrücklich wissen lässt, indem sie sie in Schulen, an Orten, von denen nichts ausgeht, kaserniert und mit sich selbst beschäftigt, sie von allen Aufgaben ausschliesst, dann zieht sie ihre eigenen Zerstörer gross. Hartmut von Hentig
Mehr Sprachigkeit
Konstruktiv mit Vielfalt umgehen – das heisst in erster Linie mit einer Vielfalt von Menschen. Es heisst aber ebenso: mit einer Vielfalt von Dingen, mit einer allgemeinen und fast uneingeschränkten Verfügbarkeit. Das heisst: Immer mehr geht es auch darum, Mengen zu bewältigen. Dazu gehört unter anderem auch die Menge an Informationen.
Die Schleusen der globalen Informationskanäle stehen sperrangelweit offen. Pausenlos dringen Datenfluten in die hintersten Winkel der Welt. Sich darin zurecht zu finden ist ähnlich einfach, wie aus einem voll geöffneten Feuerwehrschlauch Wasser zu trinken. Die Schule muss Lernende deshalb befähigen, dieses permanente Wildwasser der Information für sich zu bändigen.
Viele Grenzen lösen sich auf. Nicht nur die politischen. Auch die Grenzen der Sprachen verschwinden im Staub der Völkerwanderungen. Was heisst beispielsweise heute «Muttersprache» in einer durchschnittlichen Schulklasse in einem durchschnittlichen Dorf? Deutsch? Das war einmal. Mehrsprachigkeit ist nicht einfach Thema bildungspolitischer Sonntagsreden, es ist eine schulpraktische Realität. Die Menge an Sprache und die Menge an Sprachen, damit gescheit umgehen zu können, das will gelernt sein.
Mehrsprachigkeit verlangt sozusagen nach mehr Sprachigkeit. Verbalisie rungs- und Visualisierungsfähigkeit sind Motor und Treibstoff zugleich, um das Boot des eigenen Denkens geschickt durch die Hochwassergebiete der Informationen zu manövrieren und sichere Ankerstellen zu finden.
«Ich wanderte im Land umher und suchte Antworten auf Dinge, die ich nicht verstand. Warum sich Muscheln auf den Berggipfeln finden, zusammen mit Abdrücken von Korallen und Pflanzen und Meeresalgen, die für gewöhnlich im Meer vorkommen. Warum der Donner eine längere Zeit dauert als das, was ihn verursacht und warum der Blitz dem Auge unmittelbar nach dem Zeitpunkt seiner Erzeugung sichtbar wird, während der Donner hundertmal länger für seinen Weg braucht. Wie die verschiedenen Kreise im Wasser sich um die Stelle formen, die von einem Stein getroffen wurde, und warum sich ein Vogel in der Luft hält.
Diese Fragen und andere merkwürdige Phänomene haben mein Denken während meines ganzen Lebens beschäftigt.»
Leonardo da Vinci
Mehr Tugend für die Jugend
Der Schlüssel zum Erfolg steckt innen. Mit Erfolg ist gemeint: Anschlussfähigkeit. Und das ist weit mehr als das Wissen, dass die Rigi aus Nagelfluh besteht. Anschlussfähigkeit, das sind vor allem soziale und personale Kompetenzen. Es ist der Umgang mit sich und mit anderen. Es sind Werthaltungen und Tugenden. Anstand zum Beispiel. Wenn ein Kind vor noch nicht allzu langer Zeit etwas haben wollte, hiess das Schlüsselwort «bitte». Heute heisst es «subito».
Früher wuchsen Kinder meist mit mehreren erwachsenen Personen zusammen auf. Und sie hatten Geschwister. In diesem Geflecht von Auseinandersetzung und Rücksichtnahme wurden sie erzogen. Der Mehrpersonenhaushalt ist im Verlaufe der Jahre drastisch zusammengeschrumpft. Das sich daraus entwickelnde Leben in ungeteilter Aufmerksamkeit birgt die Gefahr, dass ganze elementare Tugenden verkümmern, Tugenden wie warten, zuhören, sich nützlich machen, bitte sagen und danke.
Auch wenn solchen Dingen der Geruch der Mottenkiste anhaftet: Die Schule – will sie zur Anschlussfähigkeit beitragen – muss sich ganz zentral um die Sozialisierung der Kinder kümmern. Oder ein bisschen direkter: um die Erziehung. Sie muss ein Ort sein, wo Kinder lernen, mit sich und mit anderen konstruktiv umzugehen.
Und sie muss ein Ort sein, wo Leistung einen Wert hat. Leistung verlangt auch immer wieder, sich selber zu überwinden. Und das Ergebnis: Stolz. Lernende sollen deshalb möglichst häufig die Erfahrung machen, dass es ein cooles Gefühl ist, sich überwunden und eine Leistung erbracht zu haben. Denn das Leben belohnt den Effort, nicht die Ausreden.
Erfahrungen aus erster Hand
Der Körper ist der Übersetzer der Seele ins Sichtbare, hat Christian Morgenstern einst formuliert. Daraus folgt: Körperliche Aktivitäten wirken sich positiv auf das Lern- und Leistungsverhalten aus. Lernende brauchen also Bewegung. Täglich. Und viel. Doch viele Kinder sind (auch) in dieser Beziehung arm dran. Die Medienorientierung und die damit einhergehende Passivität ist ein erschreckender Aspekt davon. Bereits zehn Prozent der Vier- bis Fünfjährigen haben in ihrem Zimmer einen eigenen Fernseher. Die Jugendlichen sitzen täglich mehrere Stunden in Konsumhaltung vor dem Bildschirm. Das hat Auswirkungen. Für Hirnforscher Manfred Spitzer jedenfalls ist klar: «Fernsehen macht dick, dumm und gewalttätig.» (Spitzer 2005)
Klar ist: Wer vor dem Bildschirm sitzt (oder liegt oder etwas dazwischen), bewegt sich nicht. Bewegungsarmut, eine zunehmende Beziehungslosigkeit zum eigenen Körper und damit eine Generation «Kartoffelsack» ist ein Ergebnis davon.
Kinder erleben die Welt häufig nur noch aus dritter Hand. Schulen müssen deshalb zu Orten der Aktivierung werden. Des Tuns. Des Herstellens. Des Handelns. Dabei geht es nicht um die Frage einer zusätzlichen Turnstunde. Vielmehr geht es darum, sich als handelndes Wesen überhaupt wahrnehmen zu lernen und Aktivität und Bewegung als integrale Bestandteile des täglichen Schullebens Zeit und Raum zu geben. Viele zwingende Arrangements, den Hintern zu heben, sind verschwunden. Und was nicht natürlicherweise geschieht, muss inszeniert werden. Etwas aktiv tun – körperlich zumal – ist eine Quelle der Erkenntnis, dass es zum Wohlbefinden beiträgt, den inneren Schweinehund an die kurze Leine zu nehmen. Nietzsche passt deshalb auch hier: «Wer sich selber nicht mag, ist fortwährend bereit, sich dafür zu rächen.» An sich, an anderen und an den Dingen.
Geist oder Glotze
In den Jahren 2004 und 2005 untersuchten Forscher die geistige Entwicklung von knapp 1900 Vorschulkindern. Grundlage der Untersuchung war ein Test, bei dem die Kinder aufgefordert wurden, einen Menschen zu zeichnen. Je differenzierter und realistischer die Abbildung war, desto höher wurde die Leistung des Kindes eingestuft.
Die Abbildungen zeigen typische Zeichnungen von Kindern, ...
... die täglich bis zu einer Stunde fernsehen
... die täglich mindestens drei Stunden fernsehen
Quelle: «Kinder- und Jugendarzt» 4/2006