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1920: Jung und Alt
ОглавлениеBronstein malte mit Hingabe einige Schnörkel rund um seine Unterschrift und schloss sodann lächelnd den Aktendeckel. Es war ein befriedigendes Gefühl, einen Fall als gelöst ins Archiv befördern zu können. Denn ein Fall war nicht bloß ein Bündel Papier. Das waren ganz konkrete menschliche Schicksale, die auf tragische Art miteinander verwoben waren. Löste man also einen Fall, dann brachte man immerhin einen Hauch Gerechtigkeit in die Welt, wenn man schon nicht für Wiedergutmachung sorgen konnte. Ein Ermordeter wurde zwar nicht mehr lebendig, aber der Bösewicht, der ihm das Leben genommen hatte, wurde wenigstens seines eigenen Lebens auch nicht mehr froh, was für die Angehörigen des Opfers vielleicht ein kleiner Trost sein mochte. Und als Polizist hatte man leidenschaftslos an die Sache heranzugehen. Die Tatsachen allein zählten. Es oblag den Geschworenen, die Fakten einer Bewertung zu unterziehen. Natürlich hatte man auch als Ermittler eine Meinung zu den Dingen, doch die war privater Luxus und hatte auch privat zu bleiben. Mitunter kam es vor, dass eigentlich das Opfer der Böse war und seinen Mörder durch beständiges Schikanieren zu einer Verzweiflungstat aufgestachelt hatte. Gleichfalls geschah es immer wieder, dass der Verbrecher einfach schwachsinnig war und die Tragweite seines Tuns gedanklich gar nicht erfassen konnte. Doch Gewalttat blieb Gewalttat, vor der Polizei waren tatsächlich alle, die das Gesetz brachen, gleich. Und daher hatten eben auch allfällige Emotionen seitens der Behörde zu unterbleiben. Im Strafrecht gab es eben nur Schwarz oder Weiß, da war kein Platz für Grautöne. Entweder, jemand hatte eine Untat begangen, oder er hatte sie nicht begangen. Und wenn er sie begangen hatte, dann war er schuldig. In welchem Ausmaß er das war, hatte den Polizisten nicht mehr zu interessieren. Das musste das Gericht entscheiden.
Bronstein war ehrlich überrascht über seinen philosophischen Gedankenflug. Er hätte ihn gleich mitschreiben sollen, denn das wäre ein hervorragender Vortrag für die Polizeischule gewesen.
Und Vorträge zu halten hatte er wahrlich genug. Jede Woche trafen – immer noch – neue Polizeiangehörige aus allen Ecken und Enden der ehemaligen Monarchie in Wien ein, die auf ihren unkündbaren Beamtenstatus beim Ministerium des Inneren pochten. Als die Regierung Renner damals zugesichert hatte, jeden Staatsdiener, der es wünschte, weiterhin in Dienst zu halten, mochte niemand damit gerechnet haben, dass die Betroffenen dieses Versprechen ernst nahmen. Doch mittlerweile arbeiteten in den Reihen der Wiener Polizei mehr Provinzler als Wiener. Allesamt waren sie stramm deutschnational, schmetterten bei jeder Gelegenheit ›Lieb Vaterland magst ruhig sein‹, und alle hießen sie Kapuszczak, Narutinsky, Woprschalek oder Szentszerenyi. Und sie redeten so, wie sie hießen. Selbst Pokorny vermochte aus ihnen nicht schlau zu werden. »Doch, doch«, pflegte er dann immer zu sagen, »ich glaub ihnen schon, Herr Kollege, dass Sie Deutsch reden. Es ist halt nur nicht das Deutsch, das ich verstehe.« Bronstein hatte da schon weit weniger Geduld mit Germanias Zier: »Die wollen die Wacht am Rhein singen?«, hieß es von seiner Seite, »denen sing ich sie. Aber gach a no!«
Und als wäre ihre seltsame Sprache und ihre protzige Deutschtümelei noch nicht schlimm genug, war Bronstein Woche für Woche gezwungen, sich mit diesem von der Weltgeschichte vergessenen Haufen im Wege der Ausbildungskurse auseinanderzusetzen. Vergeblich appellierte er immer und immer wieder an seine Vorgesetzten, diese verkrachten Dorfgendarmen bloß nicht in den Außendienst zu lassen, doch deren Replik, was sollten diese Kollegen im Innendienst, da müssten sie Akten lesen, und das sei bei Weitem das größere Problem, hatte zu Bronsteins Bedauern sehr viel für sich.
Seitdem waren also die Kapuszczaks, Narutinskys, Woprschaleks und Szentszerenyis der Stolz der Wiener Sicherheitsdirektion. Und so kam es, dass einer von ihnen, Siegfried Kapuszczak aus Stanislau, bei Bronstein vorstellig wurde.
»Härr Leitnont, Oberleitnont, Härr! Bin gangen von Revier zu Tatort, weil gerufen dort zu gehen. Opfer lebt, aber verletzt schwer.«
»Sagen S’ einmal, wollen S’ mich pflanzen?«
»Pflanzen? Bitte, nicht verstehe, was meint!«
Bronstein atmete tief durch. »Welches Revier, welcher Tatort? Wer hat was gerufen?«
In Kapuszczak schienen die richtigen Zahnräder ineinanderzugreifen.
»No, Bezirk Chitzing. Tatort Zechetna Ulic… Gosse. Gerufen hat, bitte schen, Telefon.«
»Aha«, Bronstein rekapitulierte, dass es sich um die Zehetnergasse im 13. Wiener Gemeindebezirk handeln musste. Und das Bezirkskommissariat Hietzing war offensichtlich benachrichtigt worden, dass es dort zu einer Gewalttat gekommen war. Weshalb ihn dies etwas angehen sollte, wo das Opfer doch offensichtlich lebte, verstand er allerdings nicht. Die Mordkommission kontaktierte man, im wahrsten Sinne des Wortes, wenn ein Mord vorlag. Und das schien ja wohl nicht der Fall zu sein. Wenn bei jeder Wirtshausschlägerei mit Verletzten die Abteilung Leib und Leben ausrücken würde, dann käme er nie mehr dazu, einen Aktendeckel zu schließen.
»Und was geht uns das an?«, bellte er ins Telefon.
»Bitte schen, ist versuchte Mord.«
»Sagt wer?«
»Sagt Opfr!«
Bronstein verdrehte die Augen und flehte zu Gott, er möge ihn mit Geduld segnen. Dann blickte er auf die Uhr. In wenigen Minuten war es vier. Den gemütlichen Nachmittag im Schweizerhaus konnte er vergessen. Dabei war es so ein schöner Tag!
»Pokorny!« Bronsteins Stimme donnerte durch den Raum.
»Was liegt an, Chef?« Pokorny, bereits fix und fertig angekleidet, stand in der Zimmertür.
»Da schau her, hast das g’rochen oder was?«
»G’rochen? Was?«
»Dass wir zu einem Fall ausrücken müssen!«
»Nein! Ned sag, dass das wahr ist. Ich hab’ glaubt, wir fahren jetzt ins Schweizerhaus.« Auf Pokornys Gesicht machte sich grenzenlose Enttäuschung breit.
»Tja, Pokorny, in diesem Fall ist Bier Bier und Dienst Dienst.«
Bronstein orderte über die Vermittlung einen Einsatzwagen und versuchte, Pokornys Gemaule bestmöglich zu ignorieren. »Immer dasselbe! Können diese Trottel ihre Taten ned in der Dienstzeit begehen? Das ist doch wirklich eine Frotzelei sondergleichen.«
»Du, ich werd’ eine Interpellation ans Parlament schreiben. Morde, bitteschön, ab sofort nur noch zwischen 8 und 16 Uhr.«
Pokorny verzog seine Miene zu einem schiefen Grinsen: »Wahnsinnig lustig. Ich lach‹ mich krank… Ha, das ist die Lösung! Kranklachen! Krankenstand! … Wiederschaun.«
»Du bleibst schön da. Nibelungentreue ist angesagt.«
»Komm mir nicht du auch noch mit diesem teutonischen Geschwafel. Das halt’ ich schon bei unsere Ostler ned aus.«
»Siehst, jetzt geht’s erst einmal in den Westen.«
Sie waren bei dem Wagen angelangt, und Bronstein nannte dem Fahrer die Adresse. Am Anfang der Zehetnergasse verlangsamte der Chauffeur das Tempo und hielt nach einem uniformierten Beamten Ausschau, der das Auto stoppen würde. Tatsächlich ruderte vor dem Haus Nummer 14 ein Polizist hektisch mit den Armen.
»Bitte schen, hier ist Tatort.«
Bronstein kletterte aus dem Automobil und sah angewidert auf den Mann aus Galizien. Mit einer leichten Drehung des Kopfes wandte er sich an Pokorny: »Mach du das, sonst vergesse ich mich.« Ohne Kapuszczak weiter zu beachten, betrat er das Haus.
In der Wohnung einer Frau Hellebrand sah es aus wie nach einem Granateneinschlag. Der Kleiderkasten lag umgestürzt und schwer beschädigt mitten im Raum und befand sich dabei in merkwürdiger Schräglage, da er teilweise auf dem Bett der alten Dame ruhte. Die Frau selbst war auf eine Decke gelegt worden und wimmerte in einem fort, während der herbeigeholte Arzt sich darum bemühte, sie medizinisch zu versorgen. »Na, Herr Doktor«, sagte Bronstein, während er mit seiner Kokarde wedelte, »wie schau’n wir aus?«
»Wer immer das g’macht hat, er war ein Wahnsinniger«, antwortete der Arzt, »aber ein vertrottelter Wahnsinniger. Mit so einer Anzahl an Hieben einen Menschen nicht zu töten, das ist fast auch schon wieder eine Kunst. Die Frau da hat ein Mordstrum Massl, dass s’ ned ermordet ist.«
Kurz fragte sich Bronstein, ob der Doktor ob des Wortspiels hatte witzig sein wollen, doch er fand, dies tat eigentlich nichts zur Sache. »Wie viele?«, fragte er nur.
»Insgesamt neun«, entgegnete der Mediziner, »die meisten sind so dilettantisch ausgeführt, dass sie jeweils seitwärts am Kopf abglitten. Dadurch ist dann nur minimaler Schaden entstanden.«
Schaden! Als handelte es sich um eine Sache. Aber so waren die Jünger Äskulaps ja immer. Für sie waren Patienten irgendwelche Werkstücke. Nicht umsonst sprach man von ›Behandlung‹.
»Also, wie schwer ist der Grad der Verletzungen?« In Bronsteins Stimme klang deutlich Missfallen mit.
»Sie ist nicht in Lebensgefahr, wenn S’ das wissen wollen. Aber so, wie die Hiebe ausgeführt wurden, liegt eindeutig Tötungsabsicht vor. Dass die Frau noch lebt, ist nur der Unfähigkeit des Täters zuzuschreiben. Aber ins Krankenhaus muss sie auf jeden Fall sofort, weil diese ganzen Wunden, die müssen ganz dringend gereinigt und ordnungsgemäß versorgt werden, sonst erreicht der Unhold schließlich doch noch sein Ziel.«
Bronstein nickte. »Kann ich sie trotzdem befragen?«
Als ob die Hellebrand der Unterhaltung gefolgt wäre, ließ sie just an dieser Stelle ihr Wimmern anschwellen. »Die Rosl«, stöhnte sie. Dann begann ihr Blick zu flackern, und sie wurde sichtlich ohnmächtig.
In der Zwischenzeit betrat auch Pokorny die Wohnung und verdrehte demonstrativ die Augen nach oben. »Diese Ostler! Chef, ich sag’s dir, mit denen machst ’was mit. So gebrochen sie Deutsch reden, so geschwätzig sind sie. Du kannst dir das gar nicht vorstellen: da stellst du ihnen eine ganz einfache Frage, und sie erzählen dir etwas, von dem du nur vermuten kannst, dass es ihre Lebensgeschichte ist. Wenn da unten jetzt nicht die Hausmeisterin dazugekommen wär’, ich wissert jetzt noch nicht, was mir der Simpel da mitteilen wollt’.«
»Ach ja«, schnarrte Bronstein, dessen Ungeduld abermals wuchs, »und was wollte er uns nun an Erkenntnissen übermitteln?«
Pokorny zog eine Schnute, sichtlich enttäuscht darüber, dass der Chef ihm gegenüber ebenso wenig Langmut an den Tag legte wie er selbst zuvor mit Kapuszczak.
»Die Hausmeisterin hat g’rad die Stiegen aufwaschen wollen, sagt sie, und da hat s’ hinter der Tür von der Hellebrand ein Stöhnen g’hört. Sie hat durch die Tür gerufen, ob der Alten was ist, doch die hat nicht geantwortet, sondern einfach nur weitergestöhnt. Da hat die Hausmeisterin g’schaut, ob die Tür offen ist, und das war sie nicht. Sie hat also ihren Generalschlüssel g’holt und aufg’sperrt. Das ist gegangen, weil kein Schlüssel g’steckt ist, ned wahr.«
»Und weiter?«, belferte Bronstein in dem Bemühen zu verhindern, dass Pokorny sich in nebensächlichen Details verlor.
»Na, nix weiter. Sie ist rein in die Wohnung, hat die Hellebrand in ihrem Blut liegen g’seh’n und sofort g’wusst, da hat’s was. Also ist sie rüber zum Doktor Bernecker, Zehetnergasse 9, weil der ein Telefon hat. Dort hat sie das Koat verständigt, und der Doktor ist gleich mit ihr mit, weil man ja nicht sagen hat können, wie’s um die Hellebrand steht.«
Bronstein sah den Arzt an: »Sie sind der Herr Doktor Bernecker?«
»Jawohl. Und die Frau Hellebrand ist normal ohnehin eine meiner Patienten.«
Na servus, dachte sich Bronstein. Ein praktischer Arzt! Kein Wunder, dass der so aufgeblasen ist. Seine Routine bestand darin, Kopfwehtabletten und Fußsalben zu verschreiben, da musste ein solcher Auftritt für ihn wie Ostern und Weihnachten an einem Tag sein.
»Schlüssel gibt’s übrigens keinen«, hörte Bronstein in der Zwischenzeit Pokorny fortfahren.
»Was soll das heißen?«
»Na, dass der Täter den Schlüssel mitg’nommen hat. Er hat von außen zugesperrt und gehofft, damit ein bissl Zeit zu gewinnen.« Na bitte, mitunter hatte sogar Pokorny seine hellen Momente.
»Die Hausmeisterin hat übrigens auch schon einen konkreten Verdacht«, sonnte sich Pokorny in der ihm zuteil gewordenen Aufmerksamkeit.
»Ah so?«
»Ja. Die Hellebrand hatte eine Aftermieterin. Ein junges Mensch namens Rosa Pichler. Und die soll einen ganz unguten Patron als Gspusi g’habt haben. Irgendeinen Karl. Die Hausmeisterin meint, die zwei seien notorische Neger gewesen, weil sie jeder ehrlichen Arbeit ausgewichen seien.«
»Und die Frau Hellebrand? Hat die ein Gerstl?«
»Na ja, laut Hausmeisterin ist sie nicht gerade arm. Ob’s aber für einen versuchten Raubmord reicht, das weiß die Hausmeisterin natürlich nicht.«
»Natürlich nicht«, schob Bronstein ironisierend nach. In Wien war es gleichsam amtsbekannt, dass Hausbesorger stets besser über den Besitzstand eines Mieters Bescheid wussten als dieser selbst. Doch er beschloss, es vorerst dabei zu belassen, denn entscheidend in dieser Angelegenheit war die Aussage der Hellebrand selbst. Und die wurde, immer noch bewusstlos, eben von den Sanitätern abgeholt.
Bronstein vergewisserte sich, dass die beigezogenen Kollegen den Tatort penibel aufgenommen hatten, dann verkündete er Pokorny eine wichtige Erkenntnis: »Das Schweizerhaus schaffen wir doch noch!«
»Und was machen wir mit dem Christkindl da draußen?«, fragte Pokorny und deutete mit dem Daumen über die Schulter in die Richtung, in der er Kapuszczak vermutete.
»Am besten nix.« Bronstein nickte den anwesenden Beamten zu und verließ, nachdem er sich noch einmal umgesehen hatte, die Wohnung. Pokorny folgte ihm auf dem Fuß.
Am nächsten Morgen war die Hellebrand so weit wieder hergestellt, dass sie Bronstein im Spital Rede und Antwort stehen konnte. Doch die Unterredung erwies sich rasch als recht einseitig. Beim circa siebzehnten Fluch wider das flüchtige Paar gab Bronstein den Versuch, Näheres über den Tathergang zu erfahren, erst einmal auf, zumal als Interludium zwischen den Flüchen gebetsartig die Wortfolge »Mein Schmuck! Mein ganzer schöner Schmuck!« kam. Und er überlegte, sich Baldriantee bringen zu lassen.
Immerhin amüsierte ihn angesichts der Ausführungen der Alten der Bericht, der am Vortag in der Abendzeitung erschienen war. Die ›mittellose Frau‹, die um ihrer ›wenigen Habseligkeiten willen‹ fast ermordet worden wäre, vermisste eine stattliche Zahl an Pretiosen. Der Reihe nach zählte sie eine goldene und eine silberne Herrenuhr, eine Uhrkette, zwei Paar goldene Ohrgehänge, drei Ringe, eine goldene Halskette und ein Paar goldene Manschettenknöpfe auf. Zudem beklagte sie den Verlust eines Überziehers und eines Paars ihrer Schuhe. Den ersten Teil der Nachricht vermochte Bronstein ja noch nachzuvollziehen. Die Kollegen hatten kein einziges Schmuckstück vorgefunden, sodass jemand, der seine Juwelen üblicherweise wie seinen Augapfel hütete, auch ohne näheres Nachdenken wissen mochte, was ihm geraubt worden war. Aber dass die Frau aus dem Stand sagen konnte, es fehle ein Mantel und ein Paar Frauenschuhe, das verwunderte ihn dann doch.
»Woher wissen S’ das mit dem Mantel und den Schuhen?«, fragte er daher.
»Weil das Luder damit ab’pascht ist«, kam es postwendend retour.
Nach leidlich zwei Stunden hatte Bronstein endlich einen Überblick über das Vorgefallene. Offensichtlich hatte sich die 20jährige Rosa Pichler bei der Hellebrand eingeschlichen, um festzustellen, ob es bei der Dame etwas zu holen gab. Und da dies der Fall gewesen war, schmiedete sie mit ihrem Geliebten den Plan, die Alte zu berauben. Hellebrand sagte aus, sie habe eben Bier holen wollen, und als sie zurückgekommen sei, habe sie den Liebhaber der Pichler gesehen, wie dieser mit einem Hackebeil ihren Kasten zertrümmerte. »Dort hab’ ich ja meinen Schmuck aufbewahrt, ned?!« Als das Pärchen erkannte, dass die Hellebrand früher als erwartet wieder eingetroffen war, beschloss es, die Zeugin zu beseitigen.
»Der ist mit dem Hackl auf mi losgangen, als wollt’ er mich schlachtigen. Ich hab mich natürlich g’wehrt mit Händ’ und Füß’, und g’schrien hab ich wie am Spieß. Dann hab’ ich mir denkt, solang‘ ich mich noch beweg’, hören die ned auf`, mich zu malträtieren, und so hab’ ich demonstrativ g’röchelt, die Augen verdreht und mich nimmer g’rührt. Dann haben s’ wirklich aufg’hört. Ich hab’ noch mitg’kriegt, wie das ausgschamte Mensch mein Mantel anzieht und meine Schuh, und dann sinds‹ raus. Wohin, das weiß ich nicht.«
Ja, das wusste auch Bronstein nicht. Noch nicht. Doch andererseits mochte es nicht sonderlich schwer sein, den beiden auf die Schliche zu kommen, denn sie wirkten alles andere als professionell. Man brauchte nur ein Auge auf die amtsbekannten Hehler zu werfen, dort würden die beiden früher oder später auftauchen, da sie, nach allem, was bislang über sie bekannt war, über keinerlei Barmittel verfügten, die Sore daher schnellstmöglich versilbern mussten.
Zudem war die Pichler keine Unbekannte. Obwohl erst 20 Jahre alt, hatte sie bereits hinlänglich unter Beweis gestellt, was für ein Früchtchen sie war. Mit 13 war sie aus dem Heim ausgebüchst, und seitdem pendelte sie ohne Unterlass zwischen Häfen und Kriminal. Auch diesmal, so war Bronstein überzeugt, würde es nicht lange dauern, bis die Pichler wieder gesiebte Luft atmen würde.
Zwischenzeitlich hatte Pokorny auch in Erfahrung gebracht, um wen es sich bei Pichlers Geliebtem handelte. Der Mann hieß Karl Matauschek und war 22 Jahre alt. Im April des Vorjahres war er aus der Volkswehr entlassen worden und seitdem ohne Arbeitsverhältnis geblieben. Wie die beiden bislang ihren Lebensunterhalt bestritten hatten, konnte nicht eruiert werden, aber für Bronstein lag der Verdacht nahe, dass die beiden sich darauf spezialisiert hatten, arglosen Vermietern das Geld aus der Tasche zu ziehen. Offenbar verlief diese Tour eine Zeit lang ganz erfolgreich, doch jede Serie kam einmal an ihr Ende. Diesmal erwies sich der Bogen als überspannt. Matauschek und Pichler würden keinesfalls weit kommen, aber sie würden für ihre Untaten fraglos lange sitzen.
Tatsächlich begann das Netz um die beiden immer enger zu werden. Alle Beherbergungsunternehmen waren angewiesen, sofort Meldung zu erstatten, falls ein junges Pärchen bei ihnen ein Zimmer begehrte. Die Bahnhöfe wurden ebenso überwacht wie alle Hehler und Pfandleihanstalten. Und Bronstein hatte in der Galerie verbreiten lassen, dass es für Hinweise auf die beiden ein namhaftes Sümmchen geben würde. In der Tat kam am Donnerstag ein Kleinganove in das Präsidium und verlangte Bronstein persönlich zu sprechen. Nachdem dieser ihm versichert hatte, dass seine Information, so sie sich als stichhaltig erweisen würde, dem Staat tatsächlich eine ansprechende Remuneration wert sein würde, erklärte der Mann, jemand, auf den die Beschreibung Matauscheks passe, sei vor einer guten Stunde in der Leopoldstadt bei einem jüdischen Pfandleiher gewesen. Bronstein wiederholte, sollte sich diese Aussage als richtig herausstellen, werde man sich erkenntlich zeigen, und ließ den Mann stehen. Mit einem Dienstwagen fuhr er an die angegebene Adresse. Dort befand sich ein abgetakeltes Geschäft, auf dem groß der Name Mordechai Tajtelbaum geschrieben stand. Bronstein betrat den Laden, und eine Erscheinung wie aus einem antisemitischen Flugblatt tauchte unter dem Ladentisch hervor. Ein schier endloser weißer Rauschebart hing dem Mann fast bis zum Bauchnabel und verdeckte die untere Hälfte des Gesichts, während die obere durch ein schieres Wagenrad von Hut unsichtbar blieb. Die Gestalt schleppte sich mühsam auf Bronstein zu und linste den Kriminalisten unsicher an. Dabei gab sie einige Worte von sich, deren Bedeutung Bronstein verschlossen blieb. »Herr Tajtelbaum?«, fragte Bronstein.
Die Person nickte und schickte eine neuerliche Wortfolge auf die Reise, die nun freilich anders klang. Offenbar hatte Tajtelbaum, nachdem er mit seinem ersten Versuch keinen Erfolg gehabt hatte, eine andere Sprache ausprobiert.
»Wie wäre es mit Deutsch?«, schlug Bronstein vor.
»Oj, Deitsch hot mar dar Barscheffer nit gegeben«, radebrechte Tajtelbaum. »Gavaritje Ruski? Ukrajnski?«
Auch ohne zu wissen, was »gavaritje« bedeuten mochte, ahnte Bronstein, dass hier Russisch- oder Ukrainischkenntnisse gefragt waren. Dieser Kapu-irgendwas aus Hietzing, der kam doch aus der Ukraine. Vielleicht vermochte der sich mit dem Manne zu verständigen. »Bin gleich wieder da«, raunte Bronstein und verließ das Geschäft, einen »was fir a Goj«murmelnden Tajtelbaum zurücklassend.
Leidlich eine Stunde später war Kapuszczak endlich aus Hietzing in der Leopoldstadt eingetroffen. Zuvor hatte er Bronstein am Telefon versichert, des Ruthenischen mächtig zu sein. In der Tat erhellte sich Tajtelbaums Miene, nachdem Kapuszczak sich in dieser Sprache bei ihm vorgestellt hatte. Auf die simple Frage des Uniformierten nach Karl Matauschek kam ein halber Roman aus Tajtelbaums Mund, den Kapuszczak penibel übersetzte. Fazit der Darlegungen war, dass Matauschek tatsächlich den gesamten Schmuck der Hellebrand bei Tajtelbaum habe versetzen wollen. Dieser hatte dem Geschäft auch zugestimmt, allerdings einschränkend gemeint, nicht über genügend Barmittel zu verfügen, um Matauschek sofort zufriedenstellen zu können. Daher sei vereinbart worden, dass Matauschek in drei Stunden wiederkomme, zu welchem Zeitpunkt man das Geschäft abschließen könne.
Kapuszczak hatte eben seine Übersetzung beendet, als die Tür aufging und ein 22jähriges Milchgesicht in die Runde blickte. Eine Schrecksekunde lang bewegte sich Matauschek nicht, dann sprang er auf die Straße, warf die Tür zu und suchte sein Heil in der Flucht. Kapuszczak setzte ihm nach und riss ihn achtzig Meter vom Geschäft nieder. Dabei platzte Matauscheks Manteltasche auf und einige Ringe und Ohrgehänge kollerten über das Trottoir. Kapuszczak fixierte den Ganoven, dieweilen Bronstein, der nun auch herangekommen war, das Diebesgut aufhob. Er sah Matauschek lange an, dann schüttelte er nur den Kopf. »Was für ein Trottel«, murmelte er.
Während sie auf den Gefangenenwagen warteten, fragte Bronstein unvermittelt: »Wieso können Sie eigentlich Ruthenisch?«
»Weil bin aufwachsen dort.«
»Ich hab’ geglaubt, Sie sind so ein strammer Deutschnationaler! Wenn Sie Ruthenisch besser sprechen als Deutsch – und das tun Sie –, warum sind Sie dann überhaupt hierhergekommen?«
Kapuszczak zögerte eine Weile, als müsse er jedes seiner Worte sorgfältig abwägen. Dann erst antwortete er. »20 Jahre ich war Österreich dort. Nach Ende Monarchie und Anfang Republika, war Feind, obwohl immer bin Ruthene gewesen. Niemand mehr redete mit mir. Blieb nur Emigracija.«
So war das also mit den Kapuszczaks, Narutinskys, Woprschaleks und Szentszerenyis. Sie hatten, historisch gesehen, auf das falsche Pferd gesetzt und eine Rechnung bezahlen müssen, für die jemand anderer verantwortlich zeichnete. Und jetzt gerierten sich diese Männer als Deutschnationale, in der Hoffnung, diesmal auf das richtige Pferd zu setzen. In Wirklichkeit, so wusste Bronstein, hatten diese Menschen ihre Heimat schon verloren, als sie sich bereit erklärt hatten, einem Herrn zu dienen, der von den Landsleuten als Fremdkörper empfunden worden war. Und so waren sie selbst zu Fremdkörpern geworden – dort wie hier. Bronstein bemühte sich um ein mitfühlendes Lächeln und klopfte Kapuszczak auf die Schulter. »Das haben S’ eben sehr gut g’macht. Gratulation, Herr Kollege.«
Es ging hart auf 6 Uhr abends, als Bronstein den Verhörraum betrat. Matauschek saß da wie das sprichwörtliche Häuflein Elend und versuchte verzweifelt, ein Zittern seiner Hände zu unterdrücken.
»Wo ist s’, die Deinige?«
Matauschek schüttelte heftig den Kopf. »Die Rosa, die kriegts ihr ned a no!«
»Sei ned dumm, Bua. Ohne die Klunker kummt die ja eh ned weit. Und wenn wir s’ jetzt kassieren, dann macht s’ wenigstens ned noch einen Blödsinn.«
Matauschek bemühte sich um eine Steher-Pose.
»Hörst, Bürscherl. Du hättest die Alte fast umbracht, ist dir das klar? Jetzt hast noch eine Chance, dass d’ mit Raub und Körperverletzung im Affekt davonkommst. Das sind, na, drei bis vier Jahr, und des vielleicht ned amoi am Felsen. Aber wennst bockig bist, dann machen wir ganz schnell einen versuchten Mord mit schwerem Raub draus. Das sind dann 15 Jahr Stein. Mindestens. Also überleg’ dir gut, ob du parierst oder ned.«
Matauschek entglitten die Züge: »15 Jahr’?«
Bronstein nickte gewichtig.
»Taborstraßen 2. Im Hinterhaus. Da is’ so eine verlassene Schupf’n, da hamma übernachtet. Und dort wartet sie auf mich.« Die letzten Worte waren fast tonlos aus Matauschek herausgekommen. Gleich danach vergrub er sein Gesicht in seinen Händen und fing tatsächlich zu schluchzen an.
»Ich hab das alles ned wollen«, greinte er, »ich wollt’ doch nur das Geld. Die Rosl hat g’sagt, mit dem Gerstl von der Alten können wir wieder ein halbes Jahr gscheid leben. Ich hab ja ned g’wusst, dass die alte Vettel ihr’n depperten Kasten zusperrt. Ich hab g‹rüttelt wie ein Wilder, aber der is einfach ned aufgangen. Also hab i des Hackl g’nommen, mit dem das Holz für’n Ofen g’macht wird. Und dann war’s auf einmal wieder da, und i hab ned g’wusst, was i jetzt machen soll. In meiner Angst hab’ i aufg’rieben. Ich hab’ g’hofft, die fallt uns in Ohnmacht. Aber na, die hat zum Schreien ang’fangen, und da wollt ich nur, dass sie ruhig ist. Des war alles.«
»Na servas, ein Gemütsmensch«, resümierte Bronstein angewidert. Dann fuhr er fort: »Und wie bist auf den Tajtelbaum kommen?«
»Den kenn ich noch vom Krieg. Der hat in Galizien eine illegale Schnapsbrennerei g’habt, bei der die Armee aus und eingangen ist. Und im 18er Jahr ist er mit uns in den Westen g’flüchtet, weil er Angst g’habt hat, die Polen hängen ihn am nächsten Baum auf. Und seitdem lebt der da in der Leopoldstadt. Der stellt keine Fragen, wenn man ihm was vorbeibringt.«
Eigentlich musste er diesem Vorwurf nachgehen, dachte Bronstein, aber jemand wie Tajtelbaum war ohnehin gestraft genug vom Leben, also konnte man diesen Hinweis getrost außer Acht lassen. Auch mit Matauschek war er eigentlich fertig.
»In Ordnung, bringt ihn in die Zelle. Jetzt holen wir uns seine Eva.«
Die Pichler leistete keinerlei Widerstand, als die Beamten kurz vor 7 Uhr den halbverfallenen Schuppen stürmten. »Na ja«, zuckte sie mit den Schultern, »wieder einmal Logis auf Staatskosten. Was wird’s denn werden? Wiener Neustadt? Für’n Mittersteig geht’s sich ja wahrscheinlich ned aus, was?«
»Wohl kaum. Unter drei Jahr geht’s dermalen ned ab.«
»Das hab’ ich mir gleich denkt. Der Trottel! Was geht der auch mit dem Hackl auf die Alte los? Ohne den Blödsinn wär’n wir im Frühling wieder draußen.«
»Na ja«, grinste Bronstein, »Frühling wird schon passen. Im 24er Jahr dann.«
»Oaschloch!«
»Nein, Drecksloch. So heißt das, wo du jetzt hinkommst, du faule Frucht.«
Die Pichler wollte noch etwas erwidern, doch Bronstein wandte sich ab und hieß die Uniformierten, die Pichler auf die Elisabethpromenade zu bringen. Er erinnerte sich an die Aktendeckel. Bald würde er wieder einen schließen können. Und mit dem weinerlichen Matauschek und der stahlharten Pichler mochten sich die Geschworenen herumplagen.
Es verging eine halbe Ewigkeit, ehe Bronstein wieder über den Fall Pichler/Matauschek stolperte. Ende Oktober bekam er eine Vorladung für den Schwurgerichtssaal, wo am 5. November gegen die beiden verhandelt werden würde, weshalb er, wie im Übrigen auch Pokorny und Kapuszczak, seine Aussage würde machen müssen. Unwillkürlich ertappte er sich bei der Frage, ob Letzterer überhaupt in der Lage sein würde, einem Verhör in deutscher Sprache folgen zu können. Wäre doch zu peinlich, wenn ein Staatsbeamter einen Dolmetscher für die Staatssprache benötigen würde.
Unvermittelt wurde er aus seinen Gedanken gerissen. »Da ist jemand für Sie, Herr Oberleutnant«, sagte der Bürodiener. Bronstein bedeutete ihm, die betreffende Person vorzulassen. Ein unscheinbares Ding von leidlich 20 Jahren kam in devoter Haltung auf ihn zu. Die Frau wartete, bis sie mit Bronstein allein im Raum war. Dann kramte sie in ihrem Korb herum und zog ein abgewetztes Stück Papier hervor. »Das soll ich Ihnen bringen«, flüsterte sie und reichte es ihm über den Tisch.
Bronstein schlug das Kuvert auf und registrierte, dass er einem Schlaganfall näher war als einem geregelten Herzschlag. Seine Augen blickten auf eine Korrespondenzkarte, die vor über einem Jahr im ukrainischen Tarnopol abgestempelt worden war. Mit zittrigen Fingern, für die ihn selbst Matauschek auf der Liesl bedauerte hätte, las er die wenigen Worte, die dort geschrieben standen.
»Lieber David. Es geht mir gut. Mach Dir keine Gedanken. Sobald die Stürme sich gelegt haben, sehen wir uns wieder. Wir leben in spannenden Zeiten. Nutzen wir sie. Ich liebe Dich! Deine stets an Dich denkende Jelka.«
Er schloss die Augen und spürte, wie sich zwei dünne Bäche ihren Weg über seine Wangen bahnten. »Ich hab das alles ned wollen«, dachte er.