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Einleitung

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In Wien liegt die Poesie auf der Straße – eigentlich müsste man sie einsammeln und niederschreiben. Mit diesem Vorsatz begann im Herbst 2017 das Projekt »Wiener Alltagspoeten«. Wer durch Wien spaziert, in der U-Bahn fährt oder im Kaffeehaus sitzt, streift die Schicksale unzähliger anderer Menschen. Für Sekundenbruchteile sind wir Statist im Leben eines Unbekannten, doch bevor wir eine tragende Rolle einnehmen können, sind wir auch schon wieder vorbei. Dennoch nehmen wir etwas mit: einen Wortfetzen, einen Kommentar zur politischen Situation, eine Anklage gegen die Wiener Linien, dass die nächste U-Bahn schon wieder ganze fünf Minuten auf sich warten lässt. Manchmal erzählen wir unseren Freunden von diesen kurzen Begegnungen, doch zumeist geraten sie schnell wieder in Vergessenheit, wie ein Traum, den man nach den ersten wachen Momenten des Tages gewollt oder ungewollt wieder abgeschüttelt hat.

Ich begann, einige dieser Zufallsbegegnungen aufzuschreiben – zunächst nur auf meinem Handy, wo sie eine Zeitlang die Schaltkreise meines iPhones amüsierten. Irgendwann während einer kalten Nacht Ende November erstellte ich die Instagram-Seite mit dem Titel »Wiener Alltagspoeten«. Obwohl ich sechs Jahre für eine Social-Media-Plattform aus dem Silicon Valley tätig gewesen war, hatte ich damals keinen privaten Instagram-Account – und habe bis zum heutigen Tag keinen. Doch auch mir war bewusst, dass auf Instagram das Visuelle gefeiert wird, dass es um den einen, perfekten Schnappschuss geht. Um den sollte es auch bei den »Wiener Alltagspoeten« gehen: um den einen, wienerischen Wortfetzen. Jedoch ohne Bilder, ohne Filter, ja sogar ohne Farben. Schwarzer Text auf weißem Hintergrund, und dazwischen ganz viel Wiener Charme und Schmäh, das war die Idee, quasi ein Gegenentwurf zum Erfolgsrezept eines Influencers.

Tagelang unterhielt ich meine zweihundert Follower, die wahrscheinlich keine Ahnung hatten, was das überhaupt sollte – etliche davon waren frühere Arbeitskollegen in entfernten Ländern dieser Welt, die kein Deutsch, und schon gar kein Wienerisch sprachen, und die mir, weil es die Höflichkeit gebietet, zurückfolgten. Nach zwei Wochen erhielt ich eine Nachricht von einer Freundin mit dem Inhalt: »Diese Seite hat mir in meinem Leben gefehlt.« Sie war auch die Autorin der ersten Lesereinsendung, der bald darauf viele mehr folgen sollten – zum Glück, denn ich konnte schließlich nicht den ganzen Tag U-Bahnfahren oder im Kaffeehaus sitzen, in der Hoffnung, dass jemand etwas Tolles von sich geben würde.

Aus dem als kurzfristiges Experiment angelegten Projekt ist mittlerweile so etwas wie die Stimme der Stadt geworden. Auch wenn oft der Schmäh und Charme regiert, möchte ich mit der Seite die ganze Bandbreite Wiens abbilden. Dazu gehören auch negative Vorfälle, wie zum Beispiel Szenen des Alltagsrassismus, gegen die wir alle ankämpfen sollten. Während des ersten Corona-Lockdowns spiegelten die Wiener Alltagspoeten in ihren Postings die Solidarität und Hilfsbereitschaft der Stadt wider. Und auch während einer ganz besonders dunklen Stunde Wiens war die Seite da, um Trost und Zuversicht zu verbreiten, nachdem am 2. November 2020 ein Attentäter mordend durch die Innenstadt gezogen war. Bis zum heutigen Tag sind diese Postings die am meisten geteilten überhaupt.

Besonders zwei Fragen bekomme ich immer wieder gestellt: Ob hinter den »Wiener Alltagspoeten« ein großes Team steckt, und ob sich dieses Team all die Sprüche selbst ausdenkt. Beide Fragen kann ich mit Nein beantworten: Die Seite mache ich tatsächlich alleine. Ich wünschte behaupten zu können, dass ich die Sprüche erfinde – aber die Sprüche der Wiener Alltagspoeten kann man sich gar nicht ausdenken, denn sie können nur in der Wirklichkeit Wiens stattfinden.

Andreas Rainer

Wiener Alltagspoeten

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