Читать книгу Geschichte der Juden in Deutschland 1781-1933 - Andreas Reinke - Страница 9

Einleitung

Оглавление

Geschichte und Kultur der Juden in Deutschland erfreuen sich seit geraumer Zeit eines wachsenden Interesses in der Öffentlichkeit. Sie sind Thema einer seit Jahren ständig steigenden Zahl von Forschungen und Publikationen, die sich in vielfältiger Weise mit den unterschiedlichen Aspekten jüdischen Lebens in Deutschland von dessen Anfängen bis in die Gegenwart hinein befassen. Waren jüdische Geschichte und Kultur lange Zeit in Deutschland ein Thema, das vorwiegend am Rande oder außerhalb der akademischen Forschung betrieben wurde, so hat sich dies spätestens seit den beginnenden Neunzigerjahren des zurückliegenden Jahrhunderts deutlich verändert. In dieser Zeit wurden eine Reihe von Einrichtungen begründet, die sich der Erforschung jüdischer Geschichte und Kultur sowie der Vermittlung dieser Erkenntnisse in eine breitere Öffentlichkeit hinein widmen. Diese Einrichtungen orientieren sich an den in den USA entwickelten „Jewish Studies“ und setzen sich aus eigenen Studiengängen oder auch speziell ausgerichteten Professuren sowie eigenständigen Forschungseinrichtungen zusammen. Breite Resonanz und ständig steigende Besucherzahlen verzeichnen auch die in jüngerer Zeit gegründeten jüdischen Museen, deren Anliegen es ist, einem vornehmlich nichtjüdischen Publikum Kenntnisse über jüdische Kultur, Tradition und Geschichte zu vermitteln.

Dies ist weniger selbstverständlich als es auf den ersten Blick scheinen mag. Vor 1933 war die Beschäftigung mit jüdischer Geschichte das Arbeitsgebiet einiger weniger jüdischer Spezialisten, die – zumeist von der nichtjüdischen Öffentlichkeit wenig beachtet – sich der Erforschung jüdischer Vergangenheit in ihren vielfältigen Erscheinungen widmeten. In einer nichtjüdischen Öffentlichkeit und unter nichtjüdischen Historikern wurde die Geschichte der Juden in Deutschland erst nach 1945 allmählich zu einem interessanten und gewichtigen Thema, „nachdem – und weil – Deutsche versucht hatten, die Juden auf dem europäischen Kontinent auszurotten“ (Trude Maurer). Insofern ist, um eine Formulierung von Reinhard Rürup aufzugreifen, ein „unbefangener Blick auf die deutsch-jüdische Geschichte heute nicht mehr möglich“ und jede Beschäftigung mit ihr kann von deren gewaltsamem Ende im Nationalsozialismus nicht absehen. Dies sollte jedoch nicht zu einer deterministisch geprägten Sichtweise verleiten, die die über Jahrhunderte währende Geschichte der Juden in Deutschland lediglich als „Vorgeschichte“ der Shoah interpretiert und sie gleichsam zwangsläufig in Auschwitz enden lässt.

Dies gilt auch, und vielleicht in besonderem Maße für den Zeitraum, der hier in den Blick genommen werden soll. Die Geschichte der Juden in Deutschland vom ausgehenden 18. Jahrhundert bis in das erste Drittel des 20. Jahrhunderts gilt – auch im europäischen Vergleich – als eine Erfolgsgeschichte, war sie doch vor allem mit der Emanzipation, d. h. der rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Gleichstellung der jüdischen Bevölkerung verbunden. Nirgendwo sonst gelang einer über Jahrhunderte hinweg marginalisierten und am Rande der Gesellschaft lebenden Bevölkerungsgruppe innerhalb von zwei oder drei Generationen ein solch rasanter sozialer Aufstieg wie den in Deutschland lebenden Juden. Spätestens im Kaiserreich bildeten sie eine der Kerngruppen des städtischen Bürgertums in Deutschland, die sich rasch und in hohem Maße akkulturierte. Aus Juden in Deutschland wurden sehr schnell deutsche Juden, deren Selbstverständnis gleichermaßen durch ihre Zugehörigkeit zur deutschen Nation wie auch zur jüdischen Religion und Kultur geprägt war.

Emanzipation, Akkulturation und Konfessionalisierung sind die zentralen Leitbegriffe, mit denen sich die wesentlichen Merkmale der Entwicklung der jüdischen Minderheit im Deutschland des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts beschreiben lassen. Die Emanzipation der Juden stand in vielen europäischen Staaten seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert auf der politischen Tagesordnung. Im europäischen Kontext der Emanzipation der Juden nahm Deutschland in mehrfacher Hinsicht eine besondere Rolle ein. Nicht nur wurde hier erstmals der Gedanke der Beseitigung des „minderen Status“ der jüdischen Bevölkerung formuliert und umzusetzen versucht. Anders als in anderen, zumeist westeuropäischen Staaten wurde in Deutschland fast über ein Jahrhundert lang eine intensive Auseinandersetzung über diese Frage geführt, die wohl wie kaum eine andere die politische Öffentlichkeit teilte und auch innerhalb der verschiedenen politischen Lager heftig umstritten war. Die Voraussetzungen, unter denen die rechtliche Gleichstellung und soziale Integration der Juden in den einzelnen deutschen Ländern im Verlaufe des 19. Jahrhunderts vollzogen wurden, waren allerdings sehr unterschiedlich. So gab es Länder mit einem vergleichsweise hohen Anteil an Juden, während in anderen kaum oder gar keine Juden lebten. Auch im Hinblick auf die wirtschaftliche und politische Entwicklung differierten die Länder häufig; während in einigen noch im Vormärz weitgehend traditionelle agrarische Strukturen vorherrschten, hatten sich in anderen bereits protoindustrielle und zunehmend auch industrielle Produktionsweisen durchgesetzt. Der Einfluss dieser Faktoren auf den Verlauf der Debatten und Auseinandersetzungen um die Emanzipation der Juden war erheblich, und sollte in seiner Wirkkraft keinesfalls unterschätzt werden.

Mit der schrittweise eingeführten Gleichberechtigung der jüdischen Bevölkerung in Deutschland ging ein grundlegender Wandel des Selbstverständnisses dieser Bevölkerungsgruppe einher. Für die Emanzipation der Juden in Deutschland charakteristisch war die Tatsache, dass sie an Voraussetzungen und Bedingungen geknüpft war, deren Erfüllung der Gewährung der Gleichstellung vorausgehen sollten. Bereits die ersten (nichtjüdischen) Befürworter der Emanzipation, wie etwa der preußische Beamte Christian Wilhelm von Dohm, sahen in der weitgehenden Anpassung der Juden an ihre nichtjüdische Umwelt eine wesentliche Voraussetzung für die Gewährung gleicher Rechte. Innerhalb der jüdischen Bevölkerung wurde dies – trotz mancher Zweifel – von einem wachsenden Teil akzeptiert und auch praktisch umgesetzt. Juden suchten in zunehmendem Maße am wirtschaftlichen, sozialen, politischen und kulturellen Leben ihrer nichtjüdischen Umwelt zu partizipieren und deren (vornehmlich in bürgerlichen Lebenswelten definierten) Normen und Werte zum zentralen Bestandteil der eigenen Lebensführung zu machen. Dieser Prozess der Adaption soziokultureller Werte und Verhaltensweisen, in der älteren Forschung lange Zeit mit dem Begriff der „Assimilation“ belegt, wird mittlerweile zunehmend als ein sich wechselseitig beeinflussendes Verhältnis beschrieben, das sich treffender mit dem Begriff der „Akkulturation“ fassen lässt. In dem Maße, in dem Juden Normen und Verhaltensweisen bürgerlicher Lebensführung übernahmen, waren sie nicht nur passiv, sondern auch aktiv an der Herausbildung entsprechender Lebensformen und kultureller Verhaltensweisen in Deutschland beteiligt.

Im Zuge des durch die Emanzipation in Gang gesetzten Akkulturationsprozesses unterlag auch das traditionelle, primär religiös geprägte Selbstverständnis der in Deutschland lebenden Juden einem grundlegenden Wandel. Die über Jahrhunderte hinweg an den Bestimmungen des Religionsgesetzes ausgerichtete Lebensführung wurde zunehmend in Frage gestellt, erwies sie sich doch in den Augen vieler nur noch als schwer vereinbar mit den Ansprüchen und Herausforderungen, die sich aus den veränderten politischen, sozialen und kulturellen Rahmenbedingungen ergaben. In vielen jüdischen Gemeinden kam es daher in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu teilweise heftigen Auseinandersetzungen um die tradierten religiösen Bestimmungen, in deren Gefolge sich unterschiedliche religiöse Strömungen herausbildeten. Radikalen Reformern stand eine traditionsorientierte Neoorthodoxie gegenüber, während sich die überwiegende Mehrheit der in Deutschland lebenden Juden der liberalen bzw. der konservativen Strömung verbunden fühlte, die beide eine eher als moderat zu bezeichnende Reform praktizierten. Eine zunehmende Pluralisierung kennzeichnete mithin das religiöse Leben der jüdischen Gemeinden Deutschlands im 19. Jahrhundert, in denen wesentliche, bis in die Gegenwart hinein einflussreiche Positionen religiösen Selbstverständnisses formuliert und praktiziert wurden. Sowohl die Reformbewegung als auch das konservative Judentum, die heute vor allem im religiösen Leben der amerikanischen Juden eine wesentliche Rolle spielen, haben ihre Wurzeln im Deutschland des 19. Jahrhunderts.

Der vorliegende Überblick zur Geschichte der Juden in Deutschland orientiert sich an den genannten Leitbegriffen, mit deren Hilfe sich die Entwicklung der jüdischen Minderheit im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert strukturieren lässt. Die Darstellung ist chronologisch aufgebaut, wobei der zeitliche Rahmen sich im Wesentlichen an der für die soziale und politische Geschichte Deutschlands gängigen Periodisierung orientiert, in Einzelfällen jedoch etwas andere Akzente setzt, die der Geschichte der Juden angemessener erscheinen. Das Jahr 1780, das hier als Einstieg gewählt wurde, stellt in der allgemeinen Geschichte Deutschlands sicherlich keinen markanten Einschnitt dar. Innerhalb der Geschichte der Juden in Deutschland jedoch kann es als ein wichtiger Wendepunkt zwischen vormoderner jüdischer Existenz und den Anfängen ihrer Modernisierung angesehen werden, die einen grundlegenden Wandel jüdischer Lebenswelten im 19. Jahrhundert zur Folge hatte.

Die Zeit zwischen 1780 und der Revolution von 1848, die Thema des ersten Kapitels ist, stand ganz im Zeichen der beginnenden Emanzipation der jüdischen Minderheit. Die ersten Maßnahmen einzelner deutscher Staaten, Juden im Rahmen einer grundsätzlichen politischen und sozialen Erneuerung der bestehenden Verhältnisse gleichzustellen, waren begleitetet von heftigen öffentlichen Debatten um Ziele und Maßnahmen der angestrebten „bürgerlichen Verbesserung“ der Juden. Das im Gefolge des Wiener Kongresses in Deutschland dominierende restaurative politische Klima brachte es mit sich, dass weite Teile der in den Jahren nach 1800 eingeführten emanzipatorischen Maßnahmen wieder zurückgenommen wurden. Mehrfach kam es in diesem Zeitraum zu gewalttätigen Ausschreitungen gegen Juden in Deutschland, in denen sich auch der Protest gegen die beginnende Gleichstellung der jüdischen Minderheit artikulierte. Erst seit den 1830er-Jahren wurde in der Öffentlichkeit sowohl von nichtjüdischer wie von jüdischer Seite wieder verstärkt die Forderung nach einer vollständigen Emanzipation erhoben, die aber erst während der 1848er-Revolution wenigstens teilweise in die Tat umgesetzt wurde.

Das Leben in den jüdischen Gemeinden im ausgehenden 18. Jahrhundert sowie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war bestimmt von den Aktivitäten der jüdischen Aufklärungsbewegung bzw. der sich seit den 1830er-Jahren formierenden Reformbewegung. Auf ihre Initiative hin waren bereits gegen Ende des 18. Jahrhunderts neue jüdische Schulen gegründet worden, in denen anders als in den traditionellen jüdischen Schulen nicht mehr ausschließlich religiöses, sondern weltliches Wissen vermittelt wurde. Im Umfeld dieser Schulen wurden dann seit dem beginnenden 19. Jahrhundert auch die ersten Gottesdienstreformen eingeführt, die den jüdischen Gottesdienst in seinem äußeren Ablauf stärker am Vorbild des christlichen Gottesdienstes ausrichten wollten und auch einige liturgische Elemente, die als nicht mehr zeitgemäß empfunden wurden, beseitigten bzw. durch andere ersetzten. Sowohl die Gründung der Reformschulen als auch die nach und nach in einzelnen Synagogen eingeführten Gottesdienstreformen lösten in einigen Gemeinden Kontroversen zwischen Befürwortern und Gegnern der Reformen aus, in denen Letztere vor allem einen Verstoß gegen Tradition und Überlieferung sahen. Im Verlauf dieser Konflikte begann sich auch die Rolle und Funktion der jüdischen Gemeinde allmählich zu verändern, deren traditionelle religiöse und soziale Autorität angesichts der beginnenden Pluralisierung des religiösen Lebens im Abnehmen begriffen war.

In der Periode zwischen der 1848er-Revolution und der Gründung des Deutschen Reiches (1869/71), die im zweiten Kapitel behandelt wird, stand erneut die Frage der Emanzipation der Juden auf der politischen Tagesordnung. So kam es in den ersten Wochen und Monaten der Revolution noch einmal zu einer Welle antijüdischer Ausschreitungen, in denen sich der (zumindest regional begrenzte) Protest gegen die in Aussicht genommene Gleichstellung artikulierte. Im weiteren Verlaufe der Revolution war in einer Reihe von deutschen Staaten die Emanzipation der Juden eingeführt worden, die jedoch schon bald wieder zurückgenommen oder eingeschränkt wurde. Erst in den 1860er-Jahren begannen einzelne Länder, nach und nach noch bestehende Beschränkungen aufzuheben, und mit der Gründung des Norddeutschen Bundes bzw. des Deutschen Reiches wurden Juden in ganz Deutschland formal gleichgestellt. Trotz dieser zögerlichen Emanzipationspolitik begannen Juden sich seit dieser Zeit verstärkt am öffentlichen Leben zu beteiligen. Die beginnende Industrialisierung ermöglichte einem wachsenden Teil der jüdischen Bevölkerung den sozialen Aufstieg in das untere und mittlere Bürgertum. Wirtschaftliche und soziokulturelle Verbürgerlichung waren hierbei eng miteinander verknüpft und prägten in zunehmendem Maße die Lebenswelt der deutschen Juden.

Nach den heftigen religiösen Auseinandersetzungen während der Dreißiger- und Vierzigerjahre konsolidierten sich die Verhältnisse in den jüdischen Gemeinden in der Folgezeit. Die wesentlichen religiösen Strömungen (Liberale, Konservative und (Neo-)Orthodoxie) richteten in den großen Gemeinden eigene Gottesdienste ein und stellten Rabbiner ihrer Wahl an. Parallel hierzu eröffneten sie in der Zeit zwischen 1854 und den beginnenden 1870er-Jahren jeweils eine eigene Lehranstalt zur Ausbildung von Religionslehrern und Rabbinern. Die Verwaltungen der jüdischen Gemeinden versuchten in religiösen Fragen eine neutrale Haltung einzunehmen und konzentrierten sich in ihrer Tätigkeit zunehmend auf den Auf- und Ausbau des Kultus- und des Wohlfahrtswesens. Die nach der Jahrhundertmitte erkennbare Ausdifferenzierung und Institutionalisierung dieser Bereiche wurde durch das Engagement der Gemeindemitglieder ermöglicht, die durch regelmäßige Beiträge und Spenden die Arbeit solcher Einrichtungen wie der Rabbinerseminare erst ermöglichten. In ihnen manifestierte sich sowohl der Stolz auf den erreichten sozialen Erfolg, wie auch ein neues Selbstverständnis als Deutsche jüdischer Konfession, das in der jüdischen Öffentlichkeit zunehmend dominierte.

Mit der Gründung des Deutschen Reiches begann eine bis zum Vorabend des Ersten Weltkrieges reichende neue Phase in der Geschichte der deutschen Juden, die Gegenstand des dritten Kapitels ist. In dieser Zeit erreichte der soziale Aufstiegsprozess der jüdischen Bevölkerung seinen Höhepunkt. Juden gehörten nunmehr in überdurchschnittlichem Maße zu den Kerngruppen des Wirtschafts- und Bildungsbürgertums und nahmen aktiv am politischen, sozialen und kulturellen Leben dieser Sozialgruppen teil. Mehr Juden als jemals zuvor strebten an die Universitäten, um eine akademische Ausbildung zu absolvieren, auch wenn ihnen – wie etwa in Preußen – der Zugang zu staatlichen Ämtern weiterhin versperrt blieb. Zwar waren im Zuge der Reichsgründung die meisten noch bestehenden rechtlichen Einschränkungen gegenüber Juden aufgehoben worden, doch galt dieses Prinzip nicht in allen Ländern des Reiches. Hinzu kam, dass sich nur wenige Jahre nach der Reichsgründung unter dem Eindruck der so genannten Gründerkrise die antisemitische Bewegung formierte, die die vollzogene Gleichstellung der jüdischen Bevölkerung radikal in Frage stellte und dies mit einer antiliberalen Grundhaltung verknüpfte. Auch wenn es dem Antisemitismus im Kaiserreich nicht gelang, sich als dauerhafter politischer Faktor in der Öffentlichkeit zu etablieren, so zeigte sich doch, dass antijüdische Ressentiments in weiten Teilen der nichtjüdischen Bevölkerung auf Resonanz stießen und besonders in krisenhaften Situationen leicht zu mobilisieren waren.

Als Antwort auf die vorhandenen antisemitischen Exklusionsstrategien in der Gesellschaft des Kaiserreichs gründeten Juden eine Reihe von eigenen Organisationen, um sich damit weitere Handlungsspielräume im sozialen und politischen Gefüge des Wilhelminischen Reiches zu schaffen. Waren es anfangs kleinere Vereinigungen wie etwa studentische und gesellige Vereine, die vor allem das jüdische Selbstbewusstsein stärken wollten, so entstand mit dem 1893 gegründeten „Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ (CV) die größte jüdische Vereinigung in Deutschland. Ihr zentrales Anliegen war die Bekämpfung und Abwehr des Antisemitismus. Während der CV die Gleichstellung der Juden im Kaiserreich mit politischen und juristischen Mitteln zu erreichen versuchte, sah die fast gleichzeitig sich formierende zionistische Bewegung die Lösung der „Judenfrage“ in der Schaffung eines eigenen jüdischen Staates. Damit standen sich zwei diametral entgegengesetzte Konzepte jüdischer Identität gegenüber, die das Leben in den jüdischen Gemeinden in der Folgezeit zunehmend bestimmten: Bot der CV vor allem denjenigen eine politische und organisatorische Heimat, die sich vorrangig als deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens verstanden, sahen sich die Mitglieder der Zionistischen Vereinigung für Deutschland vorrangig als Juden an. Neben die Pluralisierung des religiösen Lebens trat somit zunehmend auch eine weltanschaulich-ideologische Differenzierung der jüdischen Öffentlichkeit in Deutschland, die ihren Niederschlag in einer Vielzahl von Vereinen und Organisationen fand, die auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene agierten.

In der Zeit zwischen dem Ersten Weltkrieg und der nationalsozialistischen Machtergreifung im Jahre 1933, die im vierten Kapitel behandelt wird, sahen sich die in Deutschland lebenden Juden mit widersprüchlichen Entwicklungen konfrontiert. Einerseits waren mit der Ausrufung der Weimarer Republik erstmals alle noch bestehenden rechtlichen Einschränkungen gegenüber der jüdischen Bevölkerung beseitigt worden. In einem bis dahin nicht gekannten Ausmaße nahmen Juden nun an vielen Bereichen des sozialen und kulturellen Lebens der Republik aktiv teil, und dies zum Teil an prominenter Stelle. Andererseits erlebte die antisemitische Bewegung seit Kriegsbeginn einen erheblichen Aufschwung und konnte sich in der Folgezeit als politische Kraft dauerhaft etablieren, indem sie eine grundsätzlich ablehnende Haltung gegenüber der Republik mit einer durch und durch antisemitisch geprägten Sichtweise verband. Anders als im Kaiserreich griffen antisemitische Kräfte nunmehr auch zum Mittel der Gewalt und sahen sich hierin durch die passive oder manchmal auch aktive Zustimmung wachsender Teile der nichtjüdischen Öffentlichkeit bestätigt. Ein Indikator, an dem diese Entwicklung erkennbar wird, sind die in der Endphase der Weimarer Republik zunehmenden Wahlerfolge der NSDAP, der Partei, die den Antisemitismus zu einem zentralen Anliegen ihres politischen Programms erklärt hatte.

Vor dem Hintergrund dieser ambivalenten Entwicklung gestaltete sich das Leben in den jüdischen Gemeinden und der jüdischen Öffentlichkeit. Auch wenn viele, die dem Judentum durch ihre Herkunft verbunden waren, sich vom Judentum ab- und anderen Identitätsentwürfen zuwandten, so gewann gleichzeitig in der Zeit zwischen dem Ersten Weltkrieg und den beginnenden Dreißigerjahren das Leben in den jüdischen Gemeinden und der jüdischen Öffentlichkeit eine neue Dynamik und Intensität. Eine jüngere, von den Erfahrungen des Krieges geprägte Generation deutscher Juden wollte sich ihrer durch Religion, Geschichte und Kultur geprägten jüdischen Herkunft vergewissern und hieraus eine moderne jüdische Identität gewinnen. Dieses „jüdische Projekt der Moderne“ (Shulamit Volkov) nahm Bezug auf eine Vielzahl von Quellen: religiöse, kulturelle und historische Elemente hatten ebenso wie moderne Konzepte von Ethnizität, Gemeinschaft und Geschlecht ihren Platz in diesen Prozessen. Den Gemeinden kam darüber hinaus aufgrund der wachsenden Verarmung weiter Teile der jüdischen Bevölkerung in den Jahren zwischen dem Ersten Weltkrieg und dem Ende der Weimarer Republik mit ihren Einrichtungen der Sozialfürsorge neue Bedeutung zu. In zunehmendem Maße sahen ihre Mitglieder sich gezwungen, die Leistungen und Angebote der innerjüdischen Wohlfahrtspflege in Anspruch zu nehmen, die in dieser Periode zwangsläufig expandierte und ihr Angebot an Hilfsmaßnahmen modifizierte und differenzierte.

Es waren somit sowohl innere wie äußere Faktoren, die das Leben der in Deutschland lebenden Juden in den Jahren zwischen 1914 und 1933 nachhaltig prägten. Der Einfluss der jüdischen Deutschen auf die weiteren politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen blieb gering, obgleich sie von diesen in einem weitaus stärkeren Maße als die meisten nichtjüdischen Deutschen betroffen waren. Stellte der Antisemitismus das Zusammenleben von deutschen Juden und Nichtjuden stärker und radikaler als in dem vorangegangenen Jahrhundert in Frage, so ahnte vermutlich im Jahre 1933 kaum jemand von ihnen, dass dies nur wenige Zeit später in der Shoah enden würde.

Geschichte der Juden in Deutschland 1781-1933

Подняться наверх