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Eis.Kalt.Tod!
ОглавлениеDie Deckenbeleuchtung erlosch und ohrenbetäubender Jubel ließ die Arena erbeben. Tausende entzündete Wunderkerzen tauchten die steilen Ränge in ein zauberhaftes Licht. Auf dem Videocube flackerte das Logo der Detroit Red Wings auf, ein weiß-rotes Wagenrad mit mächtigen, engelsähnlichen Schwingen.
»Zu Gast in unserer Stadt: Der elfmalige Stanley-Cup-Sieger, das Original-Six-Team aus der NHL! Hier sind aus Detroit, Michigan, USA: die Reeeeed Wiiiiings!«
Die letzten Worte des Hallensprechers gingen fast unter im donnernden Applaus der dreizehntausend. Von Verfolger-Spots eingefangen, fuhren die Spieler in festgelegter Reihenfolge aufs Eis. Der Hallensprecher nannte ihre Namen und Trikotnummern.
Die ganz in Rot gekleideten Spieler fuhren gemächlich über die Eisfläche und versammelten sich in einer Spielfeldhälfte, einige machten leichte Dehnübungen. Die vollen Ränge beeindruckten die Profis nicht sonderlich, sie alle hatten bereits in noch größeren Arenen gespielt, allein die bei nahezu jedem Heimspiel der Red Wings ausverkaufte Joe Louis Arena fasste mehr als zwanzigtausend Zuschauer.
Als der letzte Spieler der Red Wings aufs Eis fuhr, nahm der Applaus noch einmal zu, und der Spieler mit der Trikotnummer 43 drehte mit erhobenen Armen eine Runde, in einer Hand den Schläger, in der anderen den Helm.
»Torben Scherzer!«, riefen Zigtausend im Chor und klatschen rhythmisch, »Torben Scherzer!«
Eine Kamera fing Scherzers Gesicht ein und warf es auf den Videocube, so dass jeder die Rührung des blonden Mannes sehen konnte. Scherzer fuhr zur Mittellinie und verbeugte sich kurz in die vier Himmelsrichtungen, dann glitt er rüber zu seinen Mitspielern.
Nun erschien auf dem Videocube das blau-weiße Logo der Hamburg Sailors, das
eine unter dem Bugspriet eines Segelschiffes angebrachte Galionsfigur zeigte, eine Frau mit goldenem Haar und im blauen Kleid. Das Gejohle der Zuschauer wurde ohrenbetäubend.
»Ahoi Matrosen!«, rief der Hallensprecher.
»Ahoi Käpt'n!«, kam es aus dreizehntausend Kehlen zurück.
»Hier ist der deutsche Eishockeymeister, hier ist unser Team, hier sind die Hambuuuuurg Saiiiiilooooors!«
Die Halle tobte. Während Kunstschnee vom Hallendach fiel, fuhren die zweiundzwanzig in marineblau-weiß gekleideten Spieler nacheinander aufs Eis. Der Hallensprecher nannte jeden Name jedes Spielers, doch er war nicht zu hören – es war zu laut.
»Das ist der Wahnsinn. Ich hoffe, dass die Halle diesem begeisternden Jubel standhält«, sprach der Kommentator des TV-Bezahlsenders ins Mikrofon. »Die Stimmung ist fantastisch, liebe Eishockeyfreunde, grandios. Gänsehaut-Atmosphäre kurz vor dem Beginn einer ganz besonderen Eishockey-Partie. Ein sportlicher Leckerbissen für die Freunde der schnellsten Mannschaftssportart, und das nicht nur hier in Hamburg. Die Sonderstellung dieses Freundschaftsspiels unterstreicht nicht zuletzt der Umstand, dass die Deutsche Eishockey Liga kurzerhand den Spielplan geändert und sämtliche für den heutigen Dienstagabend angesetzten Pflichtspiele verschoben hat, so dass die Eishockeyfreunde in ganz Deutschland das Spiel bei uns live verfolgen können. Man muss sich das einmal vorstellen: Sagenhafte fünfundsechzigtausend Ticketanfragen gingen auf der Geschäftsstelle der Sailors ein, man hätte die Arena gleich fünf Mal ausverkaufen können. Und das ist kein Wunder, denn seit dem Gewinn der Deutschen Meisterschaft vor knapp sechs Monaten ist die Metropolregion Hamburg geradezu verrückt nach den Matrosen. Es ist ja auch der absolute Wahnsinn, was der Verein in seiner gerade mal zweijährigen Geschichte erreicht hat. Ein wahres Eishockey-Märchen, das die Gebrüder Grimm nicht besser hätten erzählen können, wenn es diese Sportart zu ihrer Zeit bereits gegeben hätte. Erinnern wir uns, liebe Zuschauer, dass das Eishockey in Hamburg am Boden lag, nachdem der US-amerikanische Mehrheitseigner und Hauptgeldgeber des Vorgängervereins der Sailors sein Engagement praktisch über Nacht zurückgezogen hatte. Von neuen Investoren in Millionenhöhe war weit und breit nichts zu sehen, und nachdem der Hamburger Senat die durch Steuergelder finanzierte Unterstützung zum Aufrechterhalten des Spielbetriebs ausgeschlossen hatte, schien alles vorbei zu sein. Doch dann ging alles ganz schnell: Ein saudischer Öl-Multi gönnte sich anstatt eines weiteren Profi-Fußballclubs in England oder Frankreich einen Eishockeyverein in der höchsten deutschen Spielklasse. Neuer Name und neue Lizenz, neuer Trainer und ein weitestgehend neuer Kader - – und los ging es mit den Sailors, die gleich in ihrer ersten Saison das Halbfinale der Play-Offs erreichten, um dann in ihrem zweiten Jahr im letzten Spiel einer dramatischen Best-of-Seven-Finalserie die Meisterschaft einzufahren.«
Mittlerweile war der letzte Spieler der Hamburger aufs Eis gefahren. Die Deckenbeleuchtung wurde wieder eingeschaltet und die Verfolger-Spots erloschen, das Gejohle ebbte ab und die Zuschauer setzten sich auf ihre Plätze.
Der Kommentator sagte: »Sowohl für die Sailors als auch für die Red Wings haben die Spielzeiten gerade erst begonnen. Noch sind beide Teams vom Höhepunkt des Leistungsvermögens ein ganzes Stück entfernt, doch man muss sich nichts vorzumachen: Gegen diese mit Topstars gespickte Mannschaft aus der mit Abstand stärksten Eishockey-Liga der Welt dürfte für die Matrosen selbst in diesem Freundschaftsspiel, in Torben Scherzers offiziellem Abschiedsspiel, nicht viel zu holen sein.«
Die Spieler beider Mannschaften stellten sich an den blauen Drittellinien auf und nahmen die Helme ab. Die Zuschauer wurden aufgefordert, sich zu erheben. Die Nationalhymnen wurden abgespielt, erst die amerikanische, dann die deutsche. Anschließend fuhren die Spieler unter dem Applaus der Zuschauer vom Eis, nur die Torhüter und jeweils zwei Angreifer und drei Verteidiger beider Mannschaften blieben zurück.
»Die Starting-Six beider Teams stehen auf der Eisfläche«, sagte der Kommentator »Torben Scherzer ist nicht darunter, das wäre dann auch wohl zu viel des guten Willens des Detroiter Headcoachs für den gerade mal Einundzwanzigjährigen gewesen. Die us-amerikanische und kanadische Gemeinschaftsliga NHL und die deutsche DEL sind ja nun wahrlich zwei Paar Schuhe, und obgleich Torben Scherzer die Hamburger Fans verzauberte und auch in den anderen deutschen Eishockeyarenen für Staunen gesorgt hatte, so muss der junge Bursche in seiner neuen Heimat erst mal sportlich ankommen.«
Der Hauptschiedsrichter gab das Spiel mit dem Bully im Mittelkreis frei. Der Spieler der Red Wings eroberte den Puck und spielte sofort zu einem Verteidiger zurück, der mit dem Spielaufbau begann.
Die Zuschauer sahen fasziniert zu, mit welch hohem Tempo die Roten ihr Spiel aufzogen. Wie an unsichtbaren Schnüren gezogen glitt der Puck über die Eisfläche, nahezu jeder Pass kam an und die Kombinationen riefen immer wieder Szenenapplaus hervor. Die Red Wings waren das dominierende Team und hatten die Sailors fest im Griff. Die Hamburger kamen nur selten ins gegnerische Drittel, doch sie versuchten alles und die Zuschauer hielten den Lärmpegel in der Halle konstant hoch. An einen Sieg der Matrosen glaubte niemand ernsthaft, doch ein Tor der Marineblau-Weißen wollten alle sehen.
Auf dem Videocube stand die Zeit, die im ersten Drittel bereits gespielt worden war: 17:57. Noch knapp zwei Minuten, und die Sirene würde ertönen und die Mannschaften zum ersten Mal in die Kabinen schicken. Es stand 0:2. Nach dem Beinstellens eines Spielers der Red Wings wurde das Spiel unterbrochen und die erste Zeitstrafe gegen Detroit verhängt. Während der Spieler ausdruckslos auf der Strafbank Platz nahm, sangen die Zuschauer In Hamburg sagt man Tschüs und winkten höhnisch. Je ein Spieler der Sailors und der Red Wings stellten sich zum Bully auf, bei ihnen der Linienrichter. Er hielt den Puck in der Hand, um durch dessen Fallenlassen das Spiel fortführen zu lassen, während der Hauptschiedsrichter einige Meter entfernt stand, um sich vom regelkonformen Einwurf des Pucks zu überzeugen.
Was dann geschah, sahen viele Zuschauer bloß aus den Augenwinkeln. Andere bekamen es unmittelbar mit, doch selbst ihnen blieb keine Zeit, zu begreifen, was gerade passierte. Denn es ging schnell. Rasend schnell.
Ein Körper stürzte durch den offenen Videocube hindurch und schlug auf der Eisfläche auf, fast genau auf dem Anspielpunkt in der Spielfeldmitte. Die verschiedenen Geräusche in der Halle verschluckte den dumpfen Aufprall des Körpers und das nahezu zeitgleiche Zerbersten von Knochen. Graue Hirnmasse rutschte übers Eis, Gesichtsfetzen und Schädelteile mit Haarbüscheln – der Großteil des Kopfs hatte sich in unzählige Puzzleteile zerlegt.
Jeder in der Arena sah hin. Und doch verstand niemand sofort, was geschehen war, kein einziger Verstand war schnell genug, um das Absurde augenblicklich zu begreifen. Die Anfeuerungsrufe auf den Rängen endeten und drückende Stille breitete sich aus.
Doch nur kurz. Dann gellten die ersten Schreie, hoch und spitz, und diese hysterischen Schreie waren es, die nach und nach alle aus der Starre herausrissen.
Eine Leiche. Im dunkelblauen Anzug und weißem Hemd. Die Arme waren bizarr verdreht, ein Unterschenkel stand im rechten Winkel ab, das Becken schien einen Schritt neben dem Oberkörper zu liegen.
Das Entsetzen schwappte durch das Oval wie eine gewaltige Welle, die Schreie und das Kreischen schwollen an zum Orkan. Viele Menschen brüllten nach einem Arzt, andere stammelten Worte oder Gebete, die niemand außer ihnen vernahm. Einige erbrachen sich, mehrere wurden ohnmächtig. Eltern hielten ihren Kindern die Augen zu oder zogen sie fest an sich heran, fremde Menschen fassten einander an im instinktiven Verlangen nach Halt. Doch die meisten starrten bloß.
Die Spieler verließen fluchtartig das Eis, die Auswechselbank leerte sich in Sekundenschnelle. Der Spieler von der Strafbank sauste übers Eis, weit am zerschmetterten Körper vorbei, und folgte den anderen in die Katakomben.
Auf den Rängen verstummten die ersten Schreie und dem Entsetzen folgte fassungsloses Staunen. Immer mehr Blicke wanderten nach oben, hinauf zum Hallendach, von wo der Körper herabgefallen war. Doch dort war nichts ungewöhnliches zu sehen.
Etliche Zuschauer eilten aus der Halle, rein in die Gänge, raus aus der Arena. Dass das Chaos ausblieb, lag daran, dass die meisten Menschen in der Halle blieben. Allen war bewusst, dass sie gerade Zeugen einer grauenvollen Szene geworden waren, und das machte die Abscheu faszinierend.
Zwei Sanitäter betraten das Eis. Sie versuchten, so schnell wie möglich zu dem Körper zu gelangen, doch einer rutschte nach nur zwei Schritten aus, fiel hinten über und schlug mit dem Hinterkopf gegen die abgerundete Kante der Spielfeldbande. Er schrie nicht mal auf, sondern klatschte aufs Eis, als habe er gerade den finalen Rettungsschuss gefangen. Unter seinem Kopf färbte sich die Eisfläche rot.
Der andere Sanitäter bekam weder davon noch vom Aufschrei aus mehreren hundert Kehlen etwas mit. Geschickt hielt er das Gleichgewicht, und als er am Ziel angelangt war, riss er die graue, zusammengefaltete Decke auseinander und breitete sie mit einem einzigen Wurf über dem deformierten Körper aus. Unmittelbar danach rutschte auch er aus und schlug der Länge nach hin. Seine Hand landete auf etwas Schwammigem – Gehirn!, kreischte es in seinem Kopf – und er schrie erschrocken auf. Er sah, dass sein Kollege von zwei Männern vom Eis getragen wurde, und er machte seinen Job bereits zu lange um nicht zu wissen, dass die schlaff herunterhängenden Arme und Beine nichts Gutes verhießen.
»Bitte bewahren Sie die Ruhe«, sagte der Hallensprecher mit dünner Stimme. »Es ist alles unter Kontrolle. Verlassen Sie die Halle langsam und nehmen Sie Rücksicht, achten Sie vor allem auf die Kinder. Befolgen Sie unbedingt die Anweisungen der Ordner. Vielen Dank!«