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2. Weltmacht oder Untergang? – Nationaler und internationaler Bewegungsrahmen

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Weltreichslehre

Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts kulminierten vier wesentliche Bewegungskräfte, die die Geschicke der Großmächtediplomatie entscheidend beeinflussten und das Zeitalter des Hochimperialismus kennzeichneten:

Ganz allgemein gesprochen trugen zuerst technologische Entwicklungsschübe im Verkehr wie Eisenbahnen und der dampfgetriebene Schiffsverkehr, aber auch in der Kommunikation wie die Telegrafie und der Aufbau des Kabelnetzes bereits seit Mitte des Jahrhunderts zu besseren Austausch-, Versorgungs- und Reisemöglichkeiten zwischen den europäischen Metropolen und der kolonialen Peripherie bei. Wissenschaftliche Errungenschaften wie verbesserte medizinische Behandlungsmöglichkeiten verringerten die Gefahr von exotischen Tropen- bzw. Höhenkrankheiten in entfernten Regionen, und topografische Messsysteme erleichterten Expeditionen und die Landnahme. Militärische Entwicklungen wie das Maschinengewehr, das raucharme Pulver oder hochexplosive Geschosse stellten die Überlegenheit zwischen europäischen und indigenen Truppen sicher, wie etwa die Feldzüge der Briten gegen die zahlenmäßig weit überlegenen Truppen des Mahdi zwischen 1881 und 1899 belegen. Andererseits erhöhte die militärisch-technische Revolution aber auch die Ausgeglichenheit der militärischen Gegenüber und führte zu enormen Opferzahlen, wie der Burenkrieg (1899–1902), der russisch-japanische Krieg (1904/5) oder die Balkankriege (1912/13) zeigen.

Politisch begünstigte zudem der Zusammenbruch bzw. der langsame Niedergang alter Regime oder die Destabilisierung von Gesellschaften wie in China oder dem Osmanischen Reich die Expansion und wachsende Rivalität der europäischen Großmächte. Auch die „relative Ruhe“ der europäischen Staatenwelt nach der italienischen und der deutschen Einigung sorgte für einen größeren Wettbewerb um Besitzungen in Übersee. Vergessen werden sollten auch nicht die einzelnen Sub-Imperialismen der sogenannten men-on-the-spot, der Abenteurer, Missionare, Militär- und kolonialen Verwalter vor Ort. Sie sorgten zunehmend für eine expansive Eigendynamik an der Peripherie, die wiederum das jeweilige Mutterland zur Intervention aktivierte.

Der expandierende Schiffs- und Eisenbahnverkehr sowie eine Kommunikationsrevolution durch den Ausbau von Telegrafenverbindungen förderten eine bis dahin unbekannte globale Vernetzung, sodass nicht wenige Historiker für das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts von einem ersten Globalisierungsschub ausgehen. Für die internationalen Beziehungen hatte das zur Folge, dass gute ökonomische Beziehungen durchaus in der Lage waren, politisch divergierende Interessen zu überbrücken oder umgekehrt gemeinsame Interessen im öffentlichen Diskurs in den Hintergrund rücken zu lassen.

Hinzu kamen jedoch noch drei weitere wesentliche Faktoren: die bereits angesprochene rasante Entwicklung der Weltwirtschaft, die nach den konjunkturellen Schwankungen der 1870er-Jahre Anfang der 1880er-Jahre an Fahrt aufnahm, ein allgemein sozialdarwinistischer Zeitgeist sowie die jeweils komplexen, wenn auch unterschiedlich gelagerten innenpolitischen Gemengelagen. Daraus entwickelte sich für jede Macht ein spezifisches Kräftefeld, in dem sich außenpolitisch relevante Akteure austauschten und aus dem heraus außenpolitische Entscheidungen getroffen wurden.

„Harte Faktoren“

Nimmt man das Machtpotenzial des Deutschen Reiches im weltpolitischen Wettstreit der Großmächte in den Blick, so fallen zunächst zwei Konstanten ins Auge: 1. die geopolitische Mittellage. Im Vergleich zu den Flügelmächten England und Russland, aber auch zu Frankreich schien es massiv benachteiligt und musste stets die Koalitionen der anderen im Auge behalten. Ludwig Dehio hat dafür den treffenden Begriff der „halbhegemonialen Stellung“ geprägt. Danach bildete das Reich fraglos ein neues politisches Gravitationszentrum in der Mitte Europas. Vielen, nicht zuletzt in Deutschland selbst, erschien es geradezu prädestiniert, die Rolle eines neuen Hegemons anzunehmen. Gleichzeitig aber war es aufgrund seiner geografischen Lage inmitten der anderen Großmächte nicht stark genug, das Staatensystem insgesamt dominieren zu können. 2. Die atemberaubende Geschwindigkeit und das Ausmaß des demografischen, industriellen, kommerziellen und militärischen Wachstums. Sie rückten den geografischen Nachteil zunächst in den Hintergrund. Die Wirtschaftsdaten kannten nur eine Richtung: steil nach oben. Bis 1914 sollte das „zu spät gekommene“ Reich zur mächtigsten Macht auf dem Kontinent werden und zu den führenden Wirtschaftsnationen England und den USA aufschließen.

Nur einige Details sollen diese Entwicklung veranschaulichen:

Tabelle 1: Bevölkerungsentwicklung in Millionen Einwohner

Land Landfläche (in qkm) 1881 1899 1909 1913 Wachstum in %
Russland 5377444 72,5 106,2 125,3 175,1 + 141,5
USA 9420670 50,1 74,4 85,8 97,3 + 94,2
Deutsches Reich 540777 45,2 54,3 60,6 66,9 + 48,0
Österreich-Ungam 677667 46,6(1890) 46,7 50,8 52,1 + 22,3
Japan 421300 39,9(1890) 43,8 49,1 51,3 +28,6
Frankreich 536464 36,9 38,5 39,3 39,7 +7,5
England 314869 34,5 38,1 45,0 45,6 +32,1
Italien 312352 30,0(1890) 32,3 34,4 35,1 +17,0
Zahlen gerundet aus: M. Neher, Der Imperialismus, S. 25; P.M. Kennedy, Aufstieg und Fall, S. 308.

Zwischen 1880 und 1913 stieg die Bevölkerung um 48 % auf 66,9 Millionen und rangierte damit an dritter Stelle hinter den beiden Riesenstaaten Russland und den USA. Im Vergleich zum Bildungsniveau stellte das Kaiserreich aber das Zarenreich weit in den Schatten. Das deutsche Bildungssystem galt als einzigartig in der Welt, wovon die gesamte Wirtschaft des Landes profitierte. Was Deutschland im Zeitalter des Imperialismus auszeichnete, war dessen Industriepotenzial. Das spiegelte sich insbesondere in der deutschen Kohleförderung, der Eisen- und Stahlproduktion wider. Überall schloss das Reich zur „einstigen Werkbank der Welt“, Großbritannien, auf oder überholte dieses.

Tabelle 2: Industriepotenzial (Referenzwert Großbritannien in 1900 = 100)

Land/Region 1880 1900 1913
Europa 196,2 335,4 527,8
Österreich-Ungarn 14,0 25,6 40,7
Frankreich 25,1 36,8 57,3
Deutsches Reich 27,4 71,2 137,7
Italien 8,1 13,6 22,5
Russland 24,5 47,5 76,6
Großbritannien 73,3 100,0 127,2
USA 46,9 127,8 298,1
Japan 7,6 13,0 25,1
Well 320,1 540,8 932,5
Auszug aus: P.M. Kennedy, Aufstieg und Fall, S. 311.

Tabelle 3: Eisen- und Stahlproduktion (in Millionen Tonnen)

Land 1880 1890 1900 1910
Eisen Stahl Eisen Stahl Eisen Stahl Eisen Stahl
Deutsches Reich 2,7 1,5 4,7 3,1 8,5 7,3 14,8 13,1
Frankreich 1,7 1,4 2,0 1,4 2,7 1,9 4,0 2,9
England 7,9 3,7 8,0 5,3 9,1 6,0 10,2 7,6
USA 3,8 1,3 9,2 4,3 13,8 10,2 27,3 26,1
Zahlen gerundet aus: L. Zimmermann, Der Imperialismus, S. 4.

Noch beeindruckender wirkte die deutsche Leistungsfähigkeit auf dem Gebiet der neueren Industriezweige: der elektrotechnischen, optischen und chemischen Industrie. Chemische Konzerne wie Bayer oder Hoechst oder Elektrokonzerne wie Siemens oder AEG beherrschten den Weltmarkt nach Belieben. Bis zum Kriegsausbruch stieg der deutsche Anteil an den Industrieerzeugnissen der Welt auf 14,8 % und überholte damit Großbritannien (13,6 %). So war es kein Wunder, dass Publizisten wie Friedrich Naumann (1860–1919), Historiker wie Heinrich von Treitschke (1834–1896) und Friedrich Meinecke (1862–1954) oder Soziologen wie Max Weber (1864–1920) unisono eine selbstbewusstere Rolle Deutschlands in der Welt sowie eine „nationale Wirtschaftspolitik“ anmahnten. Kaum zu vermeiden war auch, dass Interessengruppen wie der Alldeutsche Verband, die Deutsche Kolonialgesellschaft oder der deutsche Flottenverein einen Willen zur Weltgeltung propagierten, damit das Ausland irritierten und die eigene Regierung in Zugzwang brachten.

Deutsche Außenpolitik des Wilhelminischen Kaiserreich 1890–1918

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