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II. ABSCHNITT
SEINE WANDLUNGEN
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»Die Schlange, welche sich nicht
häuten kann, geht zu Grunde. Ebenso
die Geister, welche man verhindert,
ihre Meinungen zu wechseln; sie hören
auf, Geist zu sein.«
(Morgenröthe 573)
Die erste Wandlung, die Nietzsche in seinem Geistesleben durchkämpfte, liegt weit zurück in der Dämmerung seiner Kindheit oder doch wenigstens seiner Knabenjahre.
Es ist der Bruch mit dem christlichen Kirchenglauben. In seinen Werken findet diese Trennung selten Erwähnung. Trotzdem kann sie als der Ausgangspunkt seiner Wandlungen angesehen werden, weil schon von ihr aus ein charakteristisches Licht auf die Eigenart seiner Entwicklung fällt. Seine Aeusserungen über diesen Gegenstand, den ich besonders eingehend mit ihm besprochen habe, betrafen hauptsächlich die Gründe, welche den Glaubensbruch hervorrufen. Weitaus die meisten religiös veranlagten Menschen werden erst durch intellectuelle Gründe dahin gedrängt, sich in schmerzlichen Kämpfen von ihren Glaubensvorstellungen loszusagen. Wo aber, in selteneren Fällen, die erste Entfremdung vom Gemüthsleben selbst ausgeht, da ist der Process ein kampfloser und schmerzloser; der Verstand zersetzt nur, was schon vorher abgestorben, – eine Leiche war. In Nietzsches Fall fand eine eigenthümliche Kreuzung dieser beiden Möglichkeiten statt: weder waren es nur intellectuelle Gründe, die ihn ursprünglich von den anerzogenen Vorstellungen frei machten, noch auch hatte der alte Glaube aufgehört, den Bedürfnissen seines Gemüths zu entsprechen. Vielmehr betonte Nietzsche immer wieder, dass das Christenthum des elterlichen Pfarrhauses seinem inneren Wesen »glatt und weich« angelegen habe – »gleich einer gesunden Haut«, und dass ihm die Erfüllung all seiner Gebote so leicht geworden sei wie das Befolgen einer eignen Neigung. Dieses gleichsam angeborene, unveräusserliche »Talent« zu aller Religion hielt er für eine der Ursachen der Sympathie, die ihm ernste Christen selbst dann noch entgegenbrachten, als er bereits durch eine tiefe Geisteskluft von ihnen getrennt war.
Der dunkle Instinct, der ihn hier zum ersten Mal aus lieb und theuer gewordnen Gedankenkreisen forttrieb, erwachte grade in diesem Heimathsgefühl, in diesem warmen »Zu Hause«, von dem sich Nietzsches Wesen darin umfangen fühlte. Um in machtvoller Entwicklung zu sich selbst zu gelangen, bedurfte sein Geist der seelischen Kämpfe, Schmerzen und Erschütterungen, – er bedurfte dessen, dass sein Gemüth sich die Trennung von diesem ruhigen Friedenszustand anthat, weil seine Schaffenskraft von der Emotion und Exaltation seines Innern abhängig war: hier tritt uns die Erscheinung des Schmerzheischenden in der »Decadenten-Natur« zum ersten Mal in Nietzsches Leben entgegen.
»Unter friedlichen Umständen fällt der kriegerische Mensch über sich selbst her,« (Jenseits von Gut und Böse 76) und verbannt sich selbst in eine Gedankenfremde, in der er von nun an zu einem ewigen Wandern ohne Rast und Ruhe bestimmt ist. Aber in dieser Rastlosigkeit lebt von nun an eine unersättliche Sehnsucht in Nietzsche, die nach dem verlorenen Paradies zurückstrebt, während seine Geistesentwicklung ihn zwingt, sich in grader Linie immer weiter davon zu entfernen.
Im Gespräch über die Wandlungen, die schon hinter ihm lagen, äusserte Nietzsche einmal halb im Scherz: »Ja, so beginnt nun der Lauf und wird fortgesetzt, – bis wohin? wenn Alles durchlaufen ist, – wohin läuft man alsdann? Wenn alle Combinationsmöglichkeiten erschöpft wären, – was folgte dann noch? wie? müsste man nicht wieder beim Glauben anlangen? Vielleicht bei einem katholischen Glauben?« Und der Hintergedanke, der sich in dieser Aeusserung verbarg, trat in den ernst hinzugefügten Worten aus seinem Versteck:
»In jedem Fall könnte der Kreis wahrscheinlicher sein als der Stillstand.«
Eine in sich selbst zurücklaufende, niemals stillstehende Bewegung, – das ist in Wahrheit das Kennzeichen der ganzen Geistesart Nietzsches. Die Combinationsmöglichkeiten sind keineswegs unendlich, sind im Gegentheil sehr begrenzt, da der vorwärts treibende, selbstverwundende Drang, der die Gedanken nicht zur Ruhe kommen lässt, ganz und gar der innern Eigenart der Persönlichkeit entspringt: so weit auch die Gedanken zu schweifen scheinen, so bleiben sie doch stets an die gleichen Seelenvorgänge gebunden, die sie immer wieder zurück unter die herrschenden Bedürfnisse zwingen. Wir werden sehen, inwiefern Nietzsches Philosophie in der That einen Kreis beschreibt, und wie zum Schlüsse der Mann in einigen seiner intimsten und verschwiegensten Gedankenerlebnisse sich wieder dem Knaben nähert, so dass von dem Gang seiner Philosophie die Worte gelten: siehe einen Fluss, der in vielen Windungen zurück zur Quelle fliesst!« (Also sprach Zarathustra III 23.) Es ist kein Zufall, dass Nietzsche in seiner letzten Schaffensperiode zu seiner mystischen Lehre von einer ewigen Wiederkunft gelangte: das Bild des Kreises, – eines ewigen Wechsels in einer ewigen Wiederholung, – steht wie ein wundersames Symbol und Geheimzeichen über der Eingangspforte zu seinen Werken.
Als sein erstes »literarisches Kinderspiel« (Zur Genealogie der Moral, Vorrede VI) nennt Nietzsche einen Aufsatz aus seiner Knabenzeit, »über den Ursprung des Bösen«, worin er, »wie es billig ist«, Gott »zum Vater des Bösen« machte. Auch gesprächsweise erwähnte er diesen Aufsatz als Beweis dafür, dass er sich schon zu einer Zeit philosophischen Grübeleien hingegeben habe, wo er sich noch in dem philologischen Schulzwang der Schulpforte befand.
Wenn wir Nietzsche aus seiner Kindheit in seine Lehrjahre und dann in die lange Zeit seiner philologischen Thätigkeit folgen, dann erkennen wir auch hier deutlich, wie seine Entwicklung von Anfang an auch rein äusserlich unter dem Einfluss eines gewissen Selbstzwanges verläuft. Schon die strenge philologische Schulung musste einen solchen Zwang für den jungen Feuergeist enthalten, dessen reiche schöpferische Kräfte dabei leer ausgingen. Ganz besonders aber galt dies von der Richtung seines Lehrers Ritschl. Grade bei diesem wurde das Hauptaugenmerk, sowohl nach Seite der Methode wie nach Seite der Probleme, auf formale Beziehungen und äussere Zusammenhänge gerichtet, während die innere Bedeutung der Schriftwerke zurückstand. Für Nietzsches ganze Eigenart aber war es bezeichnend, dass er später seine Probleme ausschliesslich der Welt des Innern entnahm und geneigt war, das Logische dem Psychologischen unterzuordnen.
Und doch war es eben hier, in dieser strengen Zucht und auf diesem steinigen Boden, dass sein Geist so früh reife Frucht trug und Ausgezeichnetes leistete. Eine Reihe vortrefflicher philologischer Untersuchungen15 bezeichnet den Weg von seinen Studienjahren an bis zu der Baseler Professur. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass eine zu frühe Entfesselung des ganzen Geistesreichthums Nietzsches durch das Studium der Philosophie oder der Künste ihn von vornherein zu jener Zügellosigkeit verführt hätte, der sich einige seiner letzten Werke nähern. So aber gab für seine »vielspältigen Triebe« die kühle Strenge philologischer Wissenschaft eine Zeit lang das einigende und zusammenhaltende Band ab, indem es für Manches, das in ihm schlummerte, zur Fessel wurde.
In welchem Grade jedoch Nietzsches unberücksichtigte starke Talente ihn quälten und störten, während er seinen Fachstudien nachging, das empfand er darum nicht minder als ein tiefes Leiden. Namentlich war es der Drang nach Musik, den er nicht abzuweisen vermochte, und oft musste er Tönen lauschen, während er Gedanken lauschen wollte. Wie eine tönende Klage begleiten jene ihn durch die Jahre hindurch, bis ihm sein Kopfleiden jede Ausübung der Musik unmöglich machte.
Aber wie gross auch der Gegensatz war, den Nietzsches Philologenthum zu seinem spätem Philosophenthum bildete, so fehlt es doch nicht an zahlreichen vermittelnden Zügen, die von der einen Periode zu der andern überleiten.
Grade die Richtung Ritschls, welche diesen Gegensatz zu verschärfen scheint, kam in einer bestimmten Besonderheit Nietzsches Geistesart sogar entgegen, indem sie seinen Hang zum Produciren noch verstärkte und ausbildete. Es lag in ihr das Streben nach einer gewissen formell künstlerischen Abrundung und virtuosen Behandlung wissenschaftlicher Fragen, möglich gemacht durch strenge Begrenzung derselben und Concentrirung auf einen gegebenen Punkt. Bei Nietzsche stand nun das Bedürfniss, durch freiwillige und concentrirte Beschränkung einer Aufgabe, dieselbe in rein künstlerischer Weise zum Abschluss zu bringen, in engem Zusammenhang mit dem Grundtrieb seiner Natur, über das Selbstgeschaltene immer wieder hinauszugehen, es als ein endgültig Erledigtes, Vergangenes, von sich abzustossen. Für den Philologen ist ein solcher Wechsel der Aufgaben und Probleme von selbst gegeben, – den für Nietzsche charakteristischen Ausspruch: »Eine Sache, die sich aufgeklärt hat, hört auf, uns etwas anzugehen,« (Jenseits von Gut und Böse 80) – könnte ein Philologe gethan haben, denn für diesen wird thatsächlich ein aufgeklärtes Dunkel zu einer völlig erledigten Sache, die ihn nicht länger zu beschäftigen braucht. Aber es sind hiervon tief verschiedene Gründe, die Nietzsches häufigen Gedankenwechsel bedingen, und daher ist es in hohem Grade interessant zu sehen, wie sich hier die Gegensätze des Philologenthums und Philosophenthums dennoch zu berühren scheinen, und wie Nietzsche auch in dieser ihm fremdesten Verkleidung, – der nüchtern philologischen, – in dieser äussersten geistigen Selbstunterordnung, sein Selbst durchsetzte.
Der Philologe tritt einem Problem mit seiner Gesinnung, seinem innern Menschen, überhaupt nicht nahe, assimilirt es sich in keiner Weise und wird von ihm daher auch nur so lange festgehalten, als er zur Lösung der Aufgabe bedarf. Für Nietzsche dagegen bedeutete Beschäftigung mit einem Problem, bedeutete erkennen, vor allem andren: sich erschüttern lassen; und von einer Wahrheit sich überzeugen bedeutete ihm: von einem Erlebniss überwältigt werden, – »über den Haufen geworfen werden«, wie er es nannte. Er nahm einen Gedanken auf, wie man ein Schicksal auf sich nimmt, das den ganzen Menschen ergreift und in Bann schlägt: er lebte den Gedanken noch viel mehr, als er ihn dachte, aber er that es mit einer so leidenschaftlichen Inbrunst, einer so maasslosen Hingebung, dass er sich an ihm erschöpfte, – und, gleich einem Schicksal, das ausgelebt ist, fiel der Gedanke wieder von ihm ab. Erst in der Ernüchterung, wie sie naturgemäss einer jeden derartigen Erregung folgen musste, Hess er seine überwundene Erkenntniss rein intellectuell auf sich wirken; erst dann ging er ihr mit still und klar nachprüfendem Verstände nach. Sein merkwürdiger Wandlungsdrang auf dem Gebiete philosophischer Erkenntniss war durch den ungeheuren Drang nach immer neuen Emotionen geistigster Art bedingt, und daher war für ihn vollkommene Klarheit stets nur die Begleiterscheinung von Ueberdruss und Erschöpfung.
Aber selbst in dieser Erschöpfung verlassen ihn seine Probleme nicht, der Ueberdruss gilt nur ihren Lösungen, durch welche die Quelle der Erschütterung momentan verschüttet worden ist. Die gefundene Lösung war deshalb für Nietzsche jedesmal ein Signal zu einem Gesinnungswechsel, denn nur so liess sich das Problem festhalten, die Lösung von neuem versuchen. Mit wahrem Hass verfolgte er hinterher Alles, was ihn zu ihr getrieben, Alles, was ihm geholfen hatte, sie zu finden. Da »eine Sache, die sich aufgeklärt hat, aufhört, uns etwas anzugehen«, so wollte Nietzsche im Grunde nichts von der endgiltigen Aufklärung eines Problems wissen, und jenes Wort, das scheinbar die volle Befriedigung erfolgreichen Denkens zum Ausdruck bringt, bezeichnete für ihn die Tragik seines Lebens: er wollte nicht, dass; die Probleme seiner Forschung jemals aufhören sollten, ihn etwas anzugehen, er wollte, dass sie fortfahren sollten, ihn im Tiefsten seiner Seele aufzuwühlen, und daher war er gewissermaassen der Auflösung gram, die ihm sein Problem raubte, daher warf er sich jedesmal auf sie mit der ganzen Feinheit und Ueberfeinheit seiner Skepsis und zwang sie schadenfroh, – seines eigenen Leids und des Schadens, den er sich damit zufügte, froh! – ihm seine Probleme wieder herauszugeben. Deshalb kann man von vorn herein mit einem gewissen Recht von Nietzsche sagen: was innerhalb einer Denkrichtung, einer Betrachtungsweise diesen leidenschaftlichen Geist dauernd festhalten, was einen neuen Wandel und Wechsel unmöglich machen soll, das muss im letzten Grunde unaufklärbar für ihn bleiben, es muss der Energie aller Lösungsversuche widerstehen, seinen Verstand an tödtlichen Räthseln aufreiben, – an Räthseln gleichsam kreuzigen. Als endlich in der That auf diesem; Wege die Erschütterung seines Innern stärker geworden war, als die durch sie gewaltsam gespornte Verstandeskraft, da erst gab es für ihn kein Entrinnen und kein Entweichen mehr. Doch da verlor sich auch nothwendig das Ende in Dunkel, Schmerz und Geheimniss: in eine Besessenheit der Gedanken durch die Gefühlserregungen, die einem stürmischen Meere gleich über ihnen zusammenschlugen.
Wer Nietzsches Zickzack-Pfaden bis zuletzt folgt, der tritt dicht an diesen Punkt heran, wo er sich, im Grauen vor einer letzten Aufklärung und Problemlösung, endgiltig in die ewigen Räthsel der Mystik hinabstürzt. —
Die Geistesbegabung Nietzsches zeichnete sich aber noch durch zwei Eigenschaften aus, die in gleicher Weise dem Philologen wie später dem Philosophen zu statten kamen. Die erste war sein Talent für Subtilitäten, seine Genialität in der Behandlung feinster Dinge, die von einer zarten und sichern Hand angefasst sein wollen, um nicht verwischt und entstellt zu werden. Es ist dasselbe, was ihn später nach meinem Dafürhalten als Psychologen noch mehr fein als gross erscheinen lässt, – oder lieber: am grössten im Erfassen und Gestalten von Feinheiten. Höchst bezeichnend ist dafür der Ausdruck, den er einmal (Der Fall Wagner 3) von den Dingen gebraucht, wie sie sich dem Blick des Erkennenden darstellen: »Das Filigran der Dinge«.
In Verbindung mit diesem Zuge steht die Neigung, Verborgenem und Heimlichem nachzuspüren, Verstecktes ans Licht zu ziehen – ; der Blick für das Dunkel, und die instinctiv ergänzende Anempfindung und Nachempfindung, wo dem Wissen Lücken bleiben. Ein grosser Theil von Nietzsches Genialität beruht hierauf. Es hängt dies aufs engste mit seiner hohen künstlerischen Kraft zusammen, in der sich der Blick für das Feine und Einzelne in wundervoller Weise zu einem grossen, freien Schauen des Zusammenhanges, des Gesammtbildes erweitert. Im Dienste strengphilologischer Kritik hat er dieses Talent geübt, um aus den Texten das Verblasste und Vergessene gewissenhaft herauszulesen,16– aber in diesem Bemühen ist er zugleich schon über seine rein gelehrten Studien hinausgeführt worden. Der Weg, auf dem dieses geschah, führt uns zu seiner bedeutendsten philologischen Arbeit, zu der Arbeit über die Quellen des Diogenes Laertius.
Denn die Beschäftigung mit dieser Schrift wurde für ihn der Anlass, dem Leben der alten griechischen Philosophen und seiner Beziehung zum Gesammtleben der Griechen nachzugehen. In seinen späteren Werken kommt er einmal darauf zu sprechen (Menschliches, Allzumenschliches I 261). Man sieht es, wie er über den Trümmern der Ueberlieferung gesessen und gegrübelt haben mag, in die Lücken, in die entstellten Theile die verlornen Gestalten hineindichtend, sie nachschaffend und entzückt wandelnd »unter Gebilden von mächtigstem und reinstem Typus«. Er schaut hinein in die Dämmerung jener Zeiten »wie in eine Bildner-Werkstätte solcher Typen«. Und es ergreift ihn wunderbar, sich vorzustellen, dass dort die Ansätze gelegen haben mögen zu einem noch höhern Philosophentypus, wie ihn vielleicht Plato »von der sokratischen Verzauberung frei geblieben« gefunden hätte. Dies Alles ist aber mehr als ein blosser Uebergang vom Philologen zum Philosophen. Was sich da in seinen sehnsüchtig schaffenden Gedanken verrieth, während er gezwungen war, trockene Kritik zu üben, legt schon den letzten und höchsten Punkt seines Ehrgeizes bloss; nicht umsonst ist es gewesen, dass Nietzsche in die Philosophie nicht auf dem Wege abstracter philosophischer Fachstudien eintrat, sondern auf dem einer tiefen Auffassung des philosophischen Lebens in seiner innersten Bedeutung. Und wenn wir das Ziel bezeichnen wollten, welchem durch alle Wandlungen hindurch die Kämpfe dieses unersättlichen Geistes galten, so vermöchten wir dafür kein bezeichnenderes Wort zu finden als das von der ersehnten Entdeckung »einer neuen, bis dahin unentdeckt gebliebenen Möglichkeit des philosophischen Lebens«. (Menschliches, Allzumenschliches i 261.)
So steht jene rein philologische Schrift dicht vor der ganzen Reihe der späteren Werke, – einer kleinen, in der Mauer halb verborgenen Pforte vergleichbar, die in ein umfangreiches Gebäude einführt. Wenn wir sie öffnen, streift unser Blick schon die lange Flucht der Innenräume, bis zum letzten, zum dunkelsten. Und wer hier auf der Schwelle stehen bleibt und hindurchblickt, der vermag der gewaltigen Kraft nicht ohne Staunen zu gedenken, die Stein um Stein zu einem Ganzen fügte: einer Kraft, die jeden Einzeltheil mit verschwenderischem Reichthum ausschmückte, ihn spielend zu so zahllosen Seitengängen und verborgenen Verstecken ausbaute, als beabsichtige sie ein Labyrinth, – und die dennoch mit eiserner Consequenz stets in gerader Grundlinie an ihrem Werke weiter schuf.
An seinen griechischen Studien ging aber Nietzsche nicht nur die Ahnung seines innerlichsten Strebens und die erste Fernsicht auf das Ziel seiner geheimen Sehnsucht auf, sondern sie wiesen ihm auch den Weg, auf dem er sich diesem Ziel nähern konnte. Denn sie waren es, die ihm das ganze Culturbild des alten Hellenenthums zeigten, die ihm jene Bilder einer versunkenen Kunst und Religion entrollten, in deren Anschauen er in durstigen Zügen »frisches volles Leben« trank. So stellt er seine philologische Gelehrsamkeit in den Dienst culturhistorischer, ästhetischer, geschichtsphilosophischer Forschung und überwindet ihren Formalismus.
Es verwandelt und vertieft sich für ihn damit die Bedeutung der Philologie, »die zwar weder eine Muse noch eine Grazie, aber eine Götterbotin ist; und wie die Musen zu den trüben, geplagten, böotischen Bauern niederstiegen, so kommt sie in eine Welt voll düsterer Farben und Bilder, voll von allertiefsten und unheilbarsten Schmerzen, und erzählt tröstend von den lichten Göttergestalten eines fernen, blauen, glücklichen Zauberlandes«.
Diese Worte sind der Antrittsvorlesung Nietzsches an der Baseler Universität »Homer und die Klassische Philologie« (24) entnommen, die (Basel 1869) nur für Freunde gedruckt worden ist. Zwei Jahre später erschien (Basel 1871) eine andere kleine Schrift derselben Geistesrichtung: »Sokrates und die griechische Tragödie«, welche indessen fast vollständig, mit nur äusserlichen Umstellungen des Gedankenzusammenhangs, in das 1872 veröffentlichte erste grössere philosophische Werk Nietzsches: »Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik« (Leipzig, E. W. Fritsch, jetzt C. G. Naumann)17 aufgenommen worden ist. In diesen beiden Arbeiten baute Nietzsche seine culturphilosophischen Ausführungen noch auf streng philologischer Grundlage auf; und sie alle haben dazu beigetragen, seinen Namen unter den philologischen Fachgenossen zu verbreiten. Dennoch bezeichnen sie schon den Weg, den er, von seinem ursprünglichen Fachstudium aus, durch Kunst und Geschichte hindurch, zurückgelegt hatte, um schliesslich in die geschlossene Weltanschauung einer bestimmten Philosophie einzutreten. Es war die Weltanschauung Richard Wagners, die Verknüpfung seines Kunststrebens mit Schopenhauers Metaphysik. Wenn wir das Werk aufschlagen, so befinden wir uns mitten im Bannkreis des Meisters von Bayreuth.
Durch ihn erst vollzog sich für Nietzsche die volle Verschmelzung von Philologenthum und Philosophenthum, wurde erst jenes Wort wahr, womit er seinen »Homer und die klassische Philologie« schliesst, indem er einen Ausspruch des Seneca umkehrt: »philosophia facta est quae philologia fuit,« »damit soll ausgesprochen sein, dass alle und jede philologische Thätigkeit umschlossen und eingehegt sein soll von einer philosophischen Weltanschauung, in der alles Einzelne und Vereinzelte als etwas Verwerfliches verdampft und nur das Ganze und Einheitliche bestehen bleibt.«
Der Zauber, der Nietzsche auf Jahre hinaus zum Jünger Wagners machte, erklärt sich namentlich daraus, dass Wagner innerhalb des germanischen Lebens dasselbe Ideal einer Kunstcultur verwirklichen wollte, welches Nietzsche innerhalb des griechischen Lebens als Ideal aufgegangen war. Mit der Metaphysik Schopenhauers trat im Grunde nichts anderes hinzu, als eine Steigerung dieses Ideals ins Mystische, ins unergründlich Bedeutungsvolle, – gleichsam ein Accent, den es durch die metaphysische Interpretation alles Kunsterlebens und Kunsterkennens noch erhielt. Diesen Accent empfindet man am deutlichsten, wenn man den »Sokrates und die griechische Tragödie« vergleicht mit der Ergänzung und Erweiterung, die derselbe in dem Hauptwerk: »Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik« erhalten hat. In diesem Buche sucht Nietzsche alle Kunstentwicklung auf die Bethätigung zweier entgegengesetzter »Kunsttriebe der Natur« zurückzuführen, die er nach den beiden Kunstgottheiten der Griechen als das Dionysische und das Apollinische bezeichnet. Unter ersterem versteht er das orgiastische Element, wie es sich in den wonnevollen Verzückungen, in der Mischung von Schmerz und Lust, von Freude und Entsetzen, in der selbstvergessenen Trunkenheit Dionysischer Feste auslebte. In ihnen sind die gewöhnlichen Schranken und Grenzen des Daseins vernichtet, scheint das Individuum wieder mit dem Naturganzen zu verschmelzen; zerbrochen ist das Principium individuationis; »der Weg zu den Müttern des Seins, zu dem innersten Kern der Dinge liegt offen« (86). Näher gebracht wird uns das Wesen dieses Triebes durch die physiologische Erscheinung des Rausches. Die ihm entsprechende Kunst ist die Musik. Den Gegensatz bildet der formenbildende Trieb, der in Apollo, dem Gott aller bildnerischen Kräfte, verkörpert ist. In ihm vereinigt sich maassvolle Begrenzung, Freiheit von allen wilderen Regungen und weisheitsvolle Ruhe. Er muss als der erhabene Ausdruck, als »die Vergöttlichung des »Principii individuationis« (16) betrachtet weiden, »dessen Gesetz das Individuum, d. h. die Einhaltung der Grenzen desselben, das Maass im hellenischen Sinne ist« (17). Die Macht des durch ihn symbolisirten Triebes offenbart sich physiologisch in dem schönen Schein der Welt des Traumes. Seine Kunst ist die plastische des Bildners.
In der Versöhnung und Verbindung dieser beiden sich anfänglich bekämpfenden Triebe erkennt Nietzsche Ursprung und Wesen der attischen Tragödie, die als die Frucht der Versöhnung der beiden widerstrebenden Kunstgottheiten ebenso sehr dionysisches als apollinisches Kunstwerk ist. Entstanden aus dem dithyrambischen Chor, der die Leiden des Gottes feierte, ist sie ursprünglich nur Chor, dessen Sänger durch die dionysische Erregung so verwandelt und verzaubert wurden, dass sie sich selbst als Diener des Gottes, als Satyrn, empfanden und als solche ihren Herrn und Meister Dionysos schauten. Mit dieser Vision, die der Chor aus sich erzeugt, gelangt sein Zustand zu apollinischer Vollendung. Das Drama als »die apollinische Versinnlichung dionysischer Erkenntnisse und Wirkungen« ist vollständig. »Jene Chorpartien, mit denen die Tragödie durchflochten ist, sind also gewissermassen der Mutterschoss des eigentlichen Dramas« (41); sie sind das dionysische Element desselben, während der Dialog den apollinischen Bestandteil bildet. In ihm sprechen von der Scene aus die Helden des Dramas als die apollinischen Erscheinungen, in denen sich der ursprüngliche tragische Held Dionysos objectivirt, als blosse Masken, hinter denen allen die Gottheit steckt.
Wir werden am Schlüsse unseres Buches sehen, in welch eigenthümlicher Weise Nietzsche ganz zuletzt noch einmal auf diesen Gedanken zurückgriff, indem er seine verschiedenen Entwicklungsperioden und Gesinnungswandlungen so darzustellen versuchte, als seien sie nicht unmittelbare Aeusserungen seines Geistes gewesen, sondern gewissermaassen nur willkürlich vorgehaltene Masken, »apollinische Scheinbilder«, hinter denen sein dionysisches Selbst, göttlich überlegen, das ewig gleiche geblieben sei. Die Ursachen dieser Selbsttäuschung werden wir am Schlüsse erkennen.
Die Bedeutung, die Nietzsche dem Dionysischen beimisst, ist charakteristisch für seine ganze Geistesart: als Philolog hat er mit seiner Deutung der Dionysoscultur einen neuen Zugang zur Welt der Alten gesucht; als Philosoph hat er diese Deutung zur Grundlage seiner ersten einheitlichen Weltanschauung gemacht; und über alle seine spätem Wandlungen hinweg taucht sie noch in seiner letzten Schaffensperiode wieder auf; verwandelt zwar, insofern ihr Zusammenhang mit der Metaphysik Schopenhauers und Wagners zerrissen ist: aber sich doch gleich geblieben in dem, worin schon damals seine eignen verborgenen Seelenregungen nach einem Ausdruck suchten; verwandelt erscheint sie zu Bildern und Symbolen seines letzten, einsamsten und innerlichsten Erlebens. Und der Grund dafür ist, dass Nietzsche im Rausch des Dionysischen etwas seiner eignen Natur Homogenes herausfühlte: jene geheimnissvolle Wesenseinheit von Weh und Wonne, von Selbstverwundung und Selbstvergötterung, – jenes Uebermass gesteigerten Gefühlslebens, in welchem alle Gegensätze sich bedingen und verschlingen, und auf das wir immer wieder zurückkommen werden.
Den schärfsten Contrast zum Dionysischen und der aus ihm geborenen Kunstcultur bildet die Geistesrichtung des theoretischen, aller Intuition entfremdeten Menschen, die auf den Namen des Sokrates getauft wird. In der »Geburt der Tragödie« sucht Nietzsche die Entwicklung dieser Geistesrichtung von Sokrates an durch die Philosophie und Wissenschaft aller Jahrhunderte bis auf unsere Zeit in grossen Zügen zu schildern. Mit Sokrates, dessen Vernunftlehre sich gegen die ursprünglichen hellenischen Instincte kehrte, um sie zu zügeln, – »schlägt der griechische Geschmack zu Gunsten der Dialektik um«, und es beginnt jener Triumphzug des Theoretischen, das durch Vernunft-Einsicht die letzten Gründe des Seins zu erforschen und dasselbe corrigiren zu können vermeint. Diesem Optimismus hat erst Kants Kritik ein Ende bereitet, indem sie auf die Grenzen des theoretischen Erkennens hinwies und, wie Nietzsche später witzig bemerkt, die Philosophie zu einer »Enthaltsamkeitslehre« reducirt, »die gar nicht über die Schwelle hinwegkommt und sich peinlich, das Recht zum Eintritt verweigert« (Jenseits von Gut und Böse 204). Dadurch schaffte sie, nach Nietzsche, Raum für die Regeneration der Philosophie durch Schopenhauer, der endlich einen Zugang zum unerforschten Sein und zu dessen Umgestaltung auf dem Wege der intuitiven Erkenntniss erschlossen habe.
In den Jahren 1873-1876 veröffentlichte Nietzsche im Geist und Sinn seines vorhergehenden Werkes, unter dem Gesammttitel: »Unzeitgemässe Betrachtungen«, vier kleinere Schriften, – bestimmt: »gegen die Zeit, und dadurch auf die Zeit und hoffentlich zu Gunsten einer kommenden Zeit«, zu wirken. Die erste derselben, die den Titel führte: »David Strauss, der Bekenner und der Schriftsteller«, bestand in einer vernichtenden Kritik des damals überaus gefeierten Buches »Der alte und der neue Glaube«, und einer energischen Befehdung des einseitigen Intellectualismus unserer modernen Bildung. Von dauernderem Interesse ist die zweite höchst werthvolle Schrift: »Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben«, deren Grundgedanke in Nietzsches letzten Werken, wenn auch modificirt, aber darum nicht weniger deutlich wiederkehrt als seine Auffassung des Dionysischen. Das Wort Historie bezeichnet hier den Begriff des Gedankenlebens, ganz allgemein gefasst, im Gegensatz zum Instinctleben; – Erkennen des Vergangenen, Wissen vom Gewesenen, im Gegensatz zur vollen Lebenskraft des Gegenwärtigen und Werdenden. Die Schrift behandelt die Frage: »Wie ist das Wissen dem Leben unterthan zu machen?« und präcisirt den Standpunkt des Verfassers in dem Satze: »Nur soweit die Historie dem Leben dient, wollen wir ihr dienen.« Sie dient ihm aber nur so lange, als gegenüber den zersetzenden, belastenden und überall eindringenden Einflüssen des Gedanklichen die wichtigste Seelenfunction im Menschen noch völlig intact geblieben ist. »… die plastische Kraft eines Menschen, eines Volkes, einer Cultur… ich meine jene Kraft, aus sich heraus eigenartig zu wachsen, Vergangenes und Fremdes umzubilden und einzuverleiben, Wunden auszuheilen, Verlorenes zu ersetzen, zerbrochene Formen aus sich nachzuformen« (10). Sonst entsteht in uns ein Chaos fremder, uns nur zugeströmter Reichthümer, die wir nicht zu bewältigen, nicht zu assimiliren im Stande sind, und deren Mannigfaltigkeit daher das Einheitliche und Organische unserer Persönlichkeit schwer gefährdet. Wir werden dann zum passiven Schauplatz durcheinanderwogender Kämpfe, in denen sich die verschiedensten Gedanken, Stimmungen, Werthurtheile unaufhörlich befehden; wir leiden unter den Siegen der Einen wie unter den Niederlagen der Andern, ohne im Stande zu sein, unser Selbst zu ihrer Aller Herrn zu machen.
Hier findet sich zum ersten Mal eine Hindeutung auf Nietzsches so viel besprochenen Decadenzbegriff, der in seinen späteren Werken eine so grosse Rolle spielt. Nicht umsonst gemahnt uns diese erste Beschreibung der Decadenzgefahr an die von uns gegebene Schilderung seines eignen Seelenzustandes; – wir können hier schon den seelischen Ursprung derselben deutlich erkennen: es ist die geheime Qual, die es diesem leidenschaftlichen Geist verursachte, den steten Andrang überwältigender Erkenntnisse und Gedankenströmungen auszuhalten, – Gewalt, mit der all sein Denken und Wissen auf sein Innenleben einwirkte, so dass die Fülle innerer einander widerstreitender Erlebnisse die geschlossenen Grenzen der Persönlichkeit zu sprengen drohte. Er sagt selbst im Vorwort (V) zu jener Schrift: » – Auch soll … nicht verschwiegen werden, dass ich die Erfahrungen, die mir jene quälenden Empfindungen erregten, meistens aus mir selbst und nur zur Vergleichung aus Anderen entnommen habe.«18 Was er in sich selbst vorfand, das wurde ihm zur allgemeinen Gefahr des ganzen Zeitalters, – und steigerte sich später sogar zu einer Todesgefahr für das ganze Menschenthum, die ihn zum Erlöser und Erretter aufrief. Die Folge aber dieses Umstandes ist ein eigenthümlicher Doppelsinn, der durch die ganze Schrift hindurch geht und einem kundigen Nietzsche-Leser sofort auffällt: da nämlich dasjenige, was am herrschenden Zeitgeist seine Bedenken hervorrief, doch etwas wesentlich Anderes war als sein eigenes Seelenproblem, so wendet er sich ohne Unterschied gegen zwei voneinander völlig verschiedene Dinge: Einmal gegen die Verkümmerung eines vollen, reichen Seelenlebens durch den erkältenden und lähmenden Einfluss einseitiger Verstandesbildung: »Der moderne Mensch schleppt zuletzt eine ungeheure Menge von unverdaulichen Wissenssteinen mit sich herum, die dann bei Gelegenheit ordentlich im Leibe rumpeln, wie es im Märchen heisst« (36). »Im Inneren ruht dann wohl die Empfindung jener Schlange gleich, die ganze Kaninchen verschluckt hat und sich dann still gefasst in die Sonne legt und alle Bewegungen ausser den nothwendigsten vermeidet… Jeder, der vorübergeht, hat nur den einen Wunsch, dass eine solche »Bildung« nicht an Unverdaulichkeit zu Grunde gehe« (37). – Das andere Mal aber gerade gegen die allzu heftige, aufreizende und aufrührerische Einwirkung des Gedanklichen auf das psychische Leben, gegen den dadurch hervorgerufenen Kampf zusammenhangloser wilder Triebkräfte.
Es ist ein Unterschied wie zwischen Seelenstumpfsinn und Seelenwahnsinn. In Nietzsche selbst pflegten die abstractesten Gedanken sich in Gemüthsmächte umzusetzen, die ihn mit unmittelbarer und unberechenbarer Gewalt fortrissen. In dem von ihm gezeichneten Bilde unseres Zeitalters mussten sich ihm daher die beiden entgegengesetzten Wirkungen des Intellectuellen vermischen, und in Bezug auf die eine von ihnen, – auf die chaotische Entfesselung des Seelenlebens, – verschmolzen ihm in ähnlicher Weise zwei verschiedene Ursachen mit einander. Es handelt sich nämlich nicht nur um die rein intellectuellen Einflüsse, nicht nur um die Gefahr des Verstandesmässigen für das Instinctmässige, sondern auch um die uns vererbten und einverleibten Einflüsse längst verflossener Zeiten, die, einst einer intellectuellen Quelle entsprungen, jetzt nur in der Form von Trieben und Gefühlsschätzungen in uns leben.
Der geschlossenen Persönlichkeit droht also nicht nur die Gefahr, die von aussen kommt, sondern auch diejenige, die sie in sich trägt, die mit ihr geboren ist, – jene »Instinct-Widersprüchlichkeit«, die das Erbe aller Spätlinge ist, denn – Spätlinge sind Mischlinge.
Die Ueberwindung des Nachtheils, den die »Historie« in diesem Sinn, – erlernt oder erlebt, – bringen kann, liegt in der Hinwendung auf das Unhistorische. Unter dem Unhistorischen versteht Nietzsche die Rückkehr zum Unbewussten, zum Willen des Nichtwissens, zum Horizont-Abschliessenden, ohne das es kein Leben gibt. »Jedes Lebendige kann nur innerhalb eines Horizontes gesund, stark und fruchtbar werden« (11)… »Das Unhistorische ist einer umhüllenden Atmosphäre ähnlich, in der sich Leben allein erzeugt«… Es ist wahr: erst dadurch, dass der Mensch denkend, überdenkend, vergleichend, trennend, zusammenschliessend jenes unhistorische Element einschränkt, erst dadurch dass innerhalb jener umschliessenden Dunstwolke ein heller, blitzender Lichtschein entsteht, also erst durch die Kraft, das Vergangene zum Leben zu gebrauchen und aus dem Geschehenen wieder Geschichte zu machen, wird der Mensch zum Menschen: aber in einem, Uebermaasse von Historie hört der Mensch wieder auf« (12 f.). Seine Kraft misst sich an dem Maass des Historischen, das er verträgt und besiegt, – an der Kraft des Unhistorischen in ihm: »Je stärkere Wurzeln die innere Natur eines Menschen hat, um so mehr wird er auch von der Vergangenheit sich aneignen oder anzwingen; und dächte man sich die mächtigste und ungeheuerste Natur, so wäre sie daran zu erkennen, dass es für sie gar keine Grenze des historischen Sinnes geben würde, an der sie überwuchernd und schädlich zu wirken vermöchte; alles Vergangene, eigenes und fremdestes, würde sie an sich heran, in sich hineinziehen und gleichsam zu Blut umschaffen. Das was eine solche Natur nicht bezwingt, weiss sie zu vergessen; es ist nicht mehr da, der Horizont ist geschlossen und ganz, und nichts vermag daran zu erinnern, dass es noch jenseits desselben Menschen, Leidenschaften, Lehren, Zwecke gibt.« (11) Ein solcher Geist treibt Historie auf alle drei Weisen, auf die sie überhaupt getrieben werden kann, ohne ihr nach irgend einer der drei Richtungen hin zu verfallen: er schaut sie an als Monumentalgeschichte, indem er seinen Blick auf den grossen Gestalten der Vorzeit ruhen lässt und sie auf sein Werk und sein Wollen bezieht, ohne sich jedoch an sie zu verlieren: als begeisternde Vorgänger und Genossen. Er vertieft sich in antiquarische Geschichte, indem er alles Vergangene durchwandert! wie die Stätte seines eignen Vorlebens, – wie Jemand, der die Stätte seiner eignen Kindheit betritt, an welcher ihm auch das Geringste werthvoll und bedeutsam erscheint: – » – er versteht die Mauer, das gethürmte Thor, die Rathsverordnung, das Volksfest wie ein ausgemaltes Tagebuch seiner Jugend und findet sich selbst in diesem Allen, seine Kraft, seinen Fleiss, seine Lust, sein Urtheil, seine Thorheit und Unart wieder. Hier Hess es sich leben, sagt er sich, denn es lässt sich leben, hier wird es sich leben lassen, denn wir sind zäh und nicht über Nacht umzubrechen. So blickt er, mit diesem »Wir«, über das vergängliche wunderliche Einzelleben hinweg und fühlt sich selbst als den Haus-, Geschlechts- und Stadtgeist« (28). Er wird endlich drittens auch kritisch auf die Geschichte blicken, um zum Aufbau einer Zukunft eine Vergangenheit umzubrechen, und hierzu bedarf er der grössten Lebenskraft, denn grösser als die Gefahr, ein Schwärmer oder ein Sammler zu werden, ist die, ein Verneinender zu bleiben. »Es ist immer ein gefährlicher, nämlich für das Leben selbst gefährlicher Process:… Denn da wir nun einmal die Resultate früherer Geschlechter sind… ist (es) nicht möglich sich ganz von dieser Kette zu lösen… Wir bringen es im besten Falle zu einem Widerstreite der ererbten, angestammten Natur und unserer Erkenntniss… wir pflanzen eine neue Gewöhnung, einen neuen Instinct, eine zweite Natur an, so dass die erste Natur abdorrt. Es ist ein Versuch, sich gleichsam a posteriori eine Vergangenheit zu geben, aus der man stammen möchte, im Gegensatz zu der, aus der man stammt… Aber hier und da gelingt der Sieg doch, und es gibt … einen merkwürdigen Trost: nämlich zu wissen, dass auch jene erste Natur irgend wann einmal eine zweite Natur war und dass jede siegende zweite Natur zu einer ersten wird« (33 f.). – Man kann diese drei Betrachtungsweisen der Historie in gewissem Sinne auf drei Perioden von Nietzsches eigener Entwicklung anwenden, indem man mit der antiquarischen, die dem Philologen zukommt, den Anfang macht, darauf die monumentale Auffassung folgen lässt, die ihn veranlasst, als Jünger zu Füssen grosser Meister zu sitzen, und endlich seine spätere positivistische Periode als die kritische bezeichnet. Nachdem aber Nietzsche auch diese letztere überwunden hatte, verschmolzen ihm alle drei Standpunkte zu einem einzigen, auf dem, wie sich zeigen wird, die in dieser Schrift enthaltenen Gedanken in geheimnissvoller und ergreifender Weise wiederkehren sollten, in der extremen und paradoxen Zuspitzung des Satzes: das Historische sei unterthan dem individuellen Leben, dessen ständige Bedingung das Unhistorische ist. – Die starke Natur, die er als zugleich historisch und unhistorisch beschreibt, ist somit ein Erbe aller Vergangenheit und dadurch ungeheuer in der Fülle des Erlebens, aber ein Erbe, der seinen Reichthum wahrhaft fruchtbar zu machen weiss, weil er ihn wahrhaft besitzt, über ihn gebietet, – nicht von ihm besessen und beherrscht wird. Ein solcher Erbe und Spätling ist dann immer zugleich der Erstling einer neuen Cultur und, als Träger der Vergangenheit, ein Gestalter der Zukunft: der Reichthum, den er ausstreut, trägt noch den künftigen Zeiten Früchte. Er ist einer von den grossen »Unzeitgemässen«, welche in die fernste Vergangenheit niedertauchen, in die fernste Zukunft hinausweisen, in ihrer Zeit aber immer als Fremdlinge dastehen, obgleich in ihnen die Gegenwart ihre höchste Kraft sammelt und ausgibt.
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Die philologischen Arbeiten Nietzsches sind: Zur Geschichte der Theognideischen Spruchsammlung, im Rheinischen Museum, Bd. 22; Beiträge zur Kritik der griechischen Lyriker, I. Der Danae Klage von Simonides, im Rhein. Mus., Bd. 23; De Laertii Diogenis Fontibus, im Rhein. Mus., Bd. 23 und 24; Analecta Laertiana, im Rhein. Mus., Bd. 25; Beiträge zur Quellenkunde und Kritik des Laertius Diogenes, Gratulationsschrift des Pädagogiums zu Basel. Basel 1870. – Certamen quod dicitur Homeri et Hesiodi e codice Florentino post H. Stephanum denuo ed. F. N., in den Acta societatis philologae Lipsiensis ed. Fr. Ritschl, Vol. I; dazu der florentinische Tractat über Homer und Hesiod, ihr Geschlecht und ihren Wettkampf, im Rhein. Mus, Bd. 25 und 28. Auch rührt das »Registerheft« zu den ersten 24 Bänden des Rheinischen Museums (1842-1869) von ihm her, das er nach Ritschls Disposition zusammenstellte.
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Er hat so gelesen, wie er es einmal »gut lesen« nennt: » – das heisst langsam, tief, vor- und rücksichtig, mit Hintergedanken, mit offen gelassenen Thüren, mit zarten Fingern und Augen lesen – « (Einführende Vorrede zur neuen Ausgabe der Morgenröthe 11.)
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Dieses Buch erregte bei seinem Erscheinen das lebhafteste Missfallen der philologischen Zunft; hatte der Verfasser es doch gewagt, seinen Ausführungen nicht nur die Lehren des verpönten Philosophen Arthur Schopenhauer, sondern auch die künstlerischen Anschauungen des damals noch ebenso geschmähten »Zukunftsmusikers« Richard Wagner zu Grunde zu legen. Ein junger philologischer Heisssporn, Ulrich v. Wilamowitz-Möllendorf, der jetzt zu den hervorragenden Vertretern der classischen Philologie in Deutschland gehört, machte sich in nicht besonders glücklicher und geschmackvoller Weise zum Sprachrohr zünftiger Einseitigkeit. Ohne der Eigenart des Nietzscheschen Buches irgendwie gerecht zu werden, griff er es in der Broschüre »Zukunftsphilologie! eine erwidrung auf F. N.'s »gebürt der tragödie«, Berlin 1872, von einem beschränkt philologischen Standpunkte auf das heftigste an. Für den Angegriffenen traten in die Schranken derjenige, an den vor Allen das Buch gerichtet war, Richard Wagner, der Künstler, in einem in der »Norddeutschen Allgemeinen Zeitung« vom 23. Juni 1872 abgedruckten offenen Briefe an Friedrich Nietzsche, und Erwin Rohde, der bereits damals von seiner tiefen Kenntnis des griechischen Alterthums die vollgiltigsten Proben abgelegt hatte. In der ausgezeichnet geschriebenen Streitschrift: »Afterphilologie. Sendschreiben eines Philologen an Richard Wagner«, Leipzig 1872, stellte er sich auf den von dem Gegner gewählten Boden und wies die von diesem gemachten Einwände und Beschuldigungen zurück, worauf v. Wilamowitz dann noch mit einer Duplik, »Zukunftsphilologie! Zweites Stück, eine erwidrung auf die rettungsversuche für F. N.'s »gebürt der tragödie«, Berlin 1873, antwortete.
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Vergleiche die einführende Vorrede zur Neuen Ausgabe des zweiten Bandes von Menschliches, Allzumenschliches, wo es IV heisst: » – was ich gegen die »historische Krankheit« gesagt habe, das sagte ich als Einer, der von ihr langsam, mühsam genesen lernte – .