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Zwei

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Am nächsten Morgen gegen acht Uhr strapazierte Wiggins die Klingel an Krolls Wohnungstür. Es dauerte über fünf Minuten, bis ihm sein übermüdeter und zerknitterter Kollege öffnete. Er hatte nur eine Boxershorts an. Trotz seiner inzwischen 45 Jahre war Krolls Körper noch erstaunlich gut in Schuss. Dies lag daran, dass er ein leidenschaftlicher Kampfsportler war, schwarzer Gürtel in Judo, Karate und Taekwondo. Das regelmäßige Training ließ dem Fett keine Chance, was bei Krolls Ernährungsverhalten schon an ein Wunder grenzte. Sein Oberkörper war muskulös, unterschied sich jedoch deutlich von den Proportionen eines Bodybuilders.

Kroll strich sich die dunkelblonden Haare aus dem Gesicht und schaute auf die Uhr. »Musst du mitten in der Nacht so einen Krach machen?«

Seine Alkoholfahne war deutlich zu riechen. »Scheiße, Kroll! Ausgerechnet heute! Musstest du dich gestern unbedingt volllaufen lassen?«

Sie gingen in die Wohnung. Kroll durchsuchte die Küchenschublade nach Kopfschmerztabletten. »Was machst du überhaupt für ein Theater? Ich habe heute noch Urlaub!«

»Hat Reis gerade gestrichen!«

Kroll sah Wiggins ungläubig an. »Ist was passiert?«

Wiggins füllte Kaffeepulver in den Filter. »Du kannst dir gar nicht vorstellen, was bei uns los ist! Gestern Nacht wurde Lachmann erschossen. Vor meinen Augen!«

Kroll setzte sich auf den Küchenstuhl. »Lachmann … welcher Lachmann?«

Wiggins wurde ungeduldig. »LACHMANN!«

»Du meinst doch wohl nicht etwa den Schriftsteller?«

»Genau den meine ich!«

Langsam konnte Kroll Wiggins’ Aufregung verstehen. Er wusste genau, was jetzt auf sie zukam. Lachmann war eine bekannte Leipziger Persönlichkeit. Natürlich erwartete die Bevölkerung eine schnelle Aufklärung. Und dann das Medieninteresse. An dieser Geschichte würden nicht nur die Lokalzeitungen dran sein, sondern alle Zeitungen im In- und Ausland. Von den Fernsehsendern ganz zu schweigen.

»Was ist passiert?«

»Du springst jetzt erst mal unter die Dusche. Hast du noch Pfefferminzbonbons?«

Vor dem Präsidium standen bereits fünf Übertragungswagen, die sich auf die angekündigte Pressekonferenz vorbereiteten. Lachmanns Leiche war noch in der Nacht obduziert worden. Auf Krolls Schreibtisch lagen bereits der Obduktionsbericht, die Berichte der Spurensicherung von Tatort und Wohnung sowie der Bericht der Kriminaltechnischen Untersuchung. Das war ungewöhnlich. Alle Kollegen hatten eine Nachtschicht eingelegt. Dies war wohl der Brisanz des Falles geschuldet. Die Kugel, die in Lachmanns Halswirbel steckte, hatte das Kaliber 7,62 ×51 nato Millimeter. Diese Munition konnte keiner bestimmten Waffe zugeordnet werden, es war jedoch das gängige Kaliber von Scharfschützengewehren. Mit großer Wahrscheinlichkeit war davon auszugehen, dass es sich bei der Tatwaffe um ein Präzisionsgewehr handelte.

Kroll blätterte die Protokolle durch. »Hast du schon mit der Lebensgefährtin gesprochen, dieser …?«

»Liane Mühlenberg! Nein, ich konnte noch nicht mit ihr reden. Sie stand gestern unter Schock. Dr. Schmidt hat sie ins St. Elisabeth-Krankenhaus eingewiesen.«

Staatsanwalt Reis betrat das Büro. »Morgen, meine Herren. Tut mir leid mit deinem Urlaub, Kroll!«

»Kein Problem, Chef!«

Der Staatsanwalt war erkennbar in Eile. »Also. Euch wurde offiziell die Leitung der Ermittlungen übertragen. Ich glaube, ich brauche euch nicht zu erklären, was hier in den nächsten Tagen und Wochen los sein wird. Natürlich richten wir eine SOKO ein. Ihr bekommt so viele Leute, wie ihr wollt.« Reis sah auf die Uhr. »In einer Stunde ist Pressekonferenz. Bereitet euch darauf ein bisschen vor. Wir müssen denen irgendwas erzählen. Ich glaube, jeder Journalist, der einen Stift oder ein Mikro halten kann, ist heute in Leipzig. Der Ansturm ist so groß, dass wir den großen Verhandlungssaal im Landgericht ausgeräumt und neu bestuhlt haben. Und das ist erst der Anfang. Vor dem Zimmer von Liane Mühlenberg im St. Elisabeth mussten wir zwei Beamte postieren, weil die selbst sie schon interviewen wollten!«

Staatsanwalt Reis saß in der Mitte. Rechts neben ihm Wiggins und links Kroll. Kroll zählte 14 Mikrofone, alle versehen mit dem Emblem der jeweiligen Rundfunk- und Fernsehanstalten auf den Speichelfängern. Eine Masse von ungefähr 120 Journalisten wartete bereits ungeduldig darauf, dass es endlich losging. Der Raum war brechend voll.

Reis begrüßte die Anwesenden und berichtete, dass dem ebenfalls im Raum befindlichen Kriminalhauptkommissar Kroll, einem erfahrenen und zuverlässigen Mitarbeiter, die Leitung der Ermittlungen übertragen worden sei. Kroll werde sie auch über den derzeitigen Stand unterrichten, natürlich stünden die Ermittlungen noch am Anfang. Die Anwesenden machten sich eifrig Notizen.

Kroll bemühte sich, nicht an seine Kopfschmerzen zu denken, was ihm dank der Tabletten auch einigermaßen gelang. Er blätterte langsam in der Akte und versuchte, sich zu konzentrieren.

»Gestern Abend um genau 20 Uhr 20 wurde der Schriftsteller Willi Lachmann in der Sächsischen Pfeifenstube im Petersteinweg erschossen. Der Schuss wurde von der gegenüberliegenden Straßenseite abgegeben. Der Täter verwendete ein Präzisionsgewehr, das überwiegend im militärischen Bereich und bei der Polizeiarbeit eingesetzt wird. Die Kugel durchschlug die Schaufensterscheibe und traf Herrn Lachmann im Genick, er war sofort tot. Wir haben daraufhin die Wohnung des Opfers durchsucht und konnten feststellen, dass sie aufgebrochen war. Ob etwas entwendet wurde, können wir noch nicht sagen. Wir sind in dieser Frage auf Informationen der Lebensgefährtin des Autors angewiesen, die jedoch noch nicht ansprechbar ist, weil sie immer noch unter Schock steht. Ich darf Sie bitten, hierauf bei der Ausübung Ihrer Arbeit Rücksicht zu nehmen.« Kroll sah in die Menge. »Das war’s von meiner Seite erst einmal. Haben Sie noch Fragen?«

»Der Schuss war sehr präzise! Gehen Sie von einem Profikiller aus?«

»Wir gehen von einem geübten Schützen aus.«

»Hatte der Mord etwas mit der Arbeit Lachmanns zu tun?«

»Das können wir noch nicht sagen.«

»Wurden Wertsachen entwendet?«

»Der abschließende Bericht der Spurensicherung liegt noch nicht vor.«

»In welche Richtung ermitteln Sie?«

»In alle Richtungen!«

Plötzlich kehrte Ruhe ein. Die Journalisten schienen sich damit abgefunden zu haben, dass zumindest am heutigen Tage keine weiteren Informationen zu erlangen waren und waren gedanklich bereits damit beschäftigt, die spärlichen Informationen von Kroll zu einem spannenden Artikel oder einem interessanten Bericht zu verarbeiten.

In der ersten Reihe meldete sich Heiner Porwall von der Morgenpost, der in der Branche nur Pottwal genannt wurde. Sein Äußeres war abstoßend: Er war extrem übergewichtig, seine schwarzen Haare klebten an Kopfhaut und Schläfe und wurden durch eine Mischung aus Fett und Schweiß fixiert. Sein spärlicher und lückenhafter Bartwuchs legte rote Ekzeme im Gesicht frei, die wohl auf fehlende Hygiene zurückzuführen waren. Seine Zähne waren braun und krumm, er roch nicht nur aus dem Mund, sondern aus allen Poren. Daher war es auch kein Zufall, dass trotz des überfüllten Saales die beiden Plätze links und rechts neben ihm frei waren.

»Ich hätte da mal eine Frage an den Staatsanwalt!«

Reis sah in seine Richtung.

»Wäre es nicht sinnvoll gewesen, wenn der Leiter der Ermittlungen sich den Tatort einmal angesehen hätte?«

Der Staatsanwalt blieb gelassen. »Herr Hauptkommissar Kroll hatte am gestrigen Tage noch Urlaub und hielt sich daher leider nicht in Leipzig auf.«

Pottwal sah sich um, um sich zu vergewissern, dass er die ungeteilte Aufmerksamkeit genoss. »Das ist aber eigenartig! Nach meinen Informationen saß er gestern bis ein Uhr im McCormacks und hat anschließend das Taxi über die Motorhaube bestiegen!«

Im Saal brach ein ohrenbetäubendes Gelächter aus.

»Wenn mir dieses fette Schwein das nächste Mal über den Weg läuft, bringe ich es eigenhändig um! Aber besser mit einer Zange, weil man diesen stinkenden Bakterienberg nicht anfassen kann, ohne einen Seuchenalarm auszulösen! Der ist doch die personifizierte Schweinegrippe! Dem sind jetzt wohl alle Fettliposomen ins Gehirn gekrochen!«

Kroll beruhigte sich erst im Büro wieder, weil ihn Wiggins letztendlich mit dem Argument besänftigen konnte, dass die Journalisten jetzt sicherlich über wichtigere Dinge zu berichten hätten als über sein Trinkverhalten. Sie hofften beide, dass er recht behielt.

»Wir müssen unbedingt diese Liane Mühlenberg sprechen«, kam Kroll zurück zum Thema, »aber die ist ja nicht vernehmungsfähig!«

Wiggins dachte einen Moment nach. »Lass mich alleine zu ihr gehen. Schließlich sind wir befreundet. Ich werde das nicht als offizielle Vernehmung hinstellen, sondern als ganz normalen Krankenbesuch.«

Kroll fasste sich an die Stirn. »Scheiße, Wiggins! Ich hab ganz vergessen, dass du mit Lachmann befreundet warst. Tut mir leid. Wie kommst du denn überhaupt mit der Sache klar?«

Wiggins zuckte mit den Schultern. »Schwer zu sagen. Bisher hatte ich noch keine Zeit zum Nachdenken. Ich muss jetzt ohnehin versuchen, die Gefühle außen vor zu lassen. Sonst könnte ich den Fall doch gleich abgeben. Und das will ich ganz bestimmt nicht. Das bin ich Willi und Liane einfach schuldig.« Er griff nach seiner Jacke und ging zur Tür. »Und was machst du jetzt?«

»Ich gehe auf die Buchmesse!«

Kroll betrat das neue Messegelände durch den Haupteingang in der Glashalle. Diese überdimensional große Halle mit den nicht enden wollenden gläsernen Wänden und dem runden Dach bildete den Mittelpunkt des Leipziger Messegeländes. An den Seiten der oberen Etage befanden sich die Zugänge zu den fünf eigentlichen Messehallen. In der Glashalle waren während der Buchmesse keine Verlage angesiedelt, sondern sie wurde für kulinarische Genüsse, Veranstaltungen von Funk und Fernsehen sowie kleinere Programme von Ausstellern genutzt.

Schon auf dem Weg zum Messegelände merkte Kroll, dass die Buchmesse auch in diesem Jahr gut besucht war. Er reihte sich in den Besucherstrom ein, der sich an der rechten Seite der Halle in Richtung des anderen Endes bewegte. Er wusste, dass sich der Verlag des Autors, der Zeitraub-Verlag mit Sitz in München, in der Messehalle fünf befand. Er fuhr die Rolltreppe zur Gangway hoch und bog rechts ab, immer den anderen hinterher. Als er in der gesuchten Messehalle angekommen war, betrachtete er noch einmal seinen Plan. Der Stand von Zeitraub war eigentlich ganz einfach zu erreichen. Links an der Wand entlang und dann zweiter Gang rechts. Zur genaueren Identifizierung des Verlagsstandortes brauchte Kroll seinen Plan allerdings nicht mehr. Es war nämlich genau das eingetreten, was er befürchtet hatte: Sämtliche Medienvertreter, die schon bei der Pressekonferenz im Präsidium anwesend waren, hatten sich offensichtlich dazu entschlossen, den Rest des Tages am Stand des Zeitraub-Verlages verbringen zu wollen. Die Reporter und Journalisten standen mindestens in Fünferreihen vor der Ausstellungsfläche, und Kroll konnte erkennen, dass der Stand mit Scheinwerfern ausgeleuchtet wurde.

Der Hauptkommissar schlängelte sich an der Meute vorbei und erreichte die Rückseite des Messestandes, eine Wand aus Pressspanplatten. Zwischen dem Ende der Holzkonstruktion und der seitlichen Standbegrenzung machte er einen circa 40 Zentimeter breiten Spalt ausfindig, der nur mit einem gespannten Tuch verschlossen war. Kroll löste die seitliche Befestigung des Tuches und betrat die Ausstellungsfläche. Sofort wurde er vom Licht der Scheinwerfer geblendet. Eine junge Dame im Hosenanzug und mit strengem Seitenscheitel kam mit erbostem Gesichtsausdruck auf ihn zu. Er hielt ihr seinen Ausweis direkt vor die Augen, was dazu führte, dass sie sich zögerlich wieder von ihm abwandte und er die Szenerie aus nächster Nähe beobachten konnte.

Der Geschäftsführer des Zeitraub-Verlages, Elmar Gutbrot, saß lässig zurückgelehnt in einem Regiestuhl und stellte sich geduldig den Fragen des Reporters. Die Kamera, die ständig vor seinem Gesicht herumfuhr, schien ihn nicht im Geringsten zu stören. Obwohl Gutbrot die 50 noch nicht lange überschritten hatte, schien alles an ihm grau zu sein: graue nach hinten geglättete Haare, grauer gepflegter Schnauzer, dunkelgraues Brillengestell, grauer Anzug. Gutbrot war erkennbar darum bemüht, einen sehr gepflegten und korrekten Eindruck zu vermitteln. Kroll war der Meinung, dass er dabei übers Ziel hinausgeschossen war und eher steril wirkte.

Der Kommissar wollte die Aufnahme nicht stören. Er hielt sich abwartend in seiner Ecke auf und beobachtete das Treiben vor ihm. Verstehen konnte er nur Bruchstücke, das war ihm aber auch egal, er konnte erahnen, was Inhalt des Gespräches war.

Es dauerte noch ungefähr zehn Minuten, bis der Reporter seinem Kameramann ein Zeichen gab, dass das Interview beendet sei. Kroll nutzte den Moment, um sich Gutbrot zu nähern. Er zeigte ihm seinen Ausweis und bat um ein Gespräch.

»Hallo, Kroll! Nicht mehr auf der Motorhaube?«, dröhnte es aus der Menge.

Es war offensichtlich, dass Gutbrot den Kommentar nicht einordnen konnte und das Gelächter hielt sich zu Krolls Beruhigung in Grenzen.

Elmar Gutbrot betrachtete Krolls Ausweis im Stile eines Grenzsoldaten. Dann gab er ihm das Papier zurück und sah ihn bedeutungsvoll an. »Herr Hauptkommissar, Ihnen dürfte nicht entgangen sein, dass der tragische Tod von Willi Lachmann, den wir als sein Verlag natürlich sehr bedauern, ein außerordentlich großes Medieninteresse hervorgerufen hat! Ich bin der Auffassung, die Öffentlichkeit, die internationale Öffentlichkeit, sollte jetzt ihrem Recht, ihrem Grundrecht auf Informationsfreiheit, entsprechende Beachtung finden. Ich gehe davon aus, dass Ihre Fragen noch ein wenig warten können, bis ich das Informationsbedürfnis der Presse befriedigt habe.«

Kroll wurde ungeduldig. »Herr Gutbrot! Es ist noch keine 20 Stunden her, dass Willi Lachmann ermordet wurde. Ich leite die Ermittlungen und ich bin mir sicher, dass auch Sie nichts auf dieser Welt mehr interessiert, als dass wir seinen Mörder schnell finden! Ich erwarte Sie in zehn Minuten am Bayerischen Stand in der Glashalle.« Kroll verließ den Zeitraub-Verlag. Diesmal benutzte er nicht den Hintereingang. Demonstrativ zwängte er sich durch die Journalisten.

Seine Hoffnung, er könnte am Bayerischen Stand einen Latte Macchiato bekommen, erfüllte sich nicht. Die Alternative – Weißbier – stellte sich ihm nicht. Er trank grundsätzlich im Dienst keinen Alkohol, und bei der Menge Restalkohol, die er noch in seinem Blut vermutete, wäre ein Bier ohnehin verheerend gewesen. Er entschied sich für eine Cola Light.

Kroll lehnte sich an einen Bistrotisch und beobachtete das muntere Treiben um ihn herum. Wenige Meter von ihm entfernt führte eine Gruppe Jugendlicher, die als Mangafiguren verkleidet waren, eine Art Tanz auf.

Der Geschäftsführer brauchte exakt zehn Minuten. Er entdeckte Kroll sofort und stellte sich zu ihm an den Tisch. Anzug und Krawatte saßen korrekt.

Kroll kam gleich zur Sache. »Wann haben Sie Lachmann zuletzt gesehen?«

Gutbrot musste nicht lange überlegen. »Gesehen habe ich Lachmann seit Wochen nicht mehr. Ich bin doch nur sein Verleger. Die Arbeitskontakte laufen alle telefonisch oder per Mail. Hauptansprechpartner ist hierbei unser Lektorat.« Er machte mit dem Handballen den Tisch sauber. »Natürlich waren wir für heute auf der Buchmesse verabredet, er wollte gegen zehn bei uns vorbeikommen.«

Kroll beobachtete ihn einen Moment. »Lachmanns Tod scheint Sie persönlich nicht zu berühren?«

»Das mag für Sie jetzt eigenartig klingen, aber Lachmann und ich hatten ausschließlich beruflich miteinander zu tun. Keine persönliche Beziehung und erst recht keine Freundschaft oder etwas in der Art. Er war unser Autor. Nicht mehr und nicht weniger. Natürlich bedauere ich seinen Tod. Aber ich habe in erster Linie ein Geschäft zu betreiben und die Zeiten sind nicht einfacher geworden!«

Kroll stellte fest, dass er sein Gegenüber nicht besonders sympathisch fand. Er nippte an seiner Cola. »Unterhalten wir uns doch mal übers Geschäft.«

»Lachmann war natürlich unser bestes Pferd im Stall, wie Sie sich sicherlich denken können. Wir reden über den erfolgreichsten deutschen Autor seit Simmel. Selbstverständlich hat unser Verlag mit seinen Titeln gut verdient. Vor allem hat er andere Titel mitgezogen. Wir müssen uns jetzt genau überlegen, wie es weitergeht.«

»Aber die Titel, die Sie schon haben, werden doch jetzt bestimmt Ihre Bestsellerquoten noch einmal übertreffen.«

Gutbrot nickte. »Ja, aber das ist doch nur ein kurzfristiger Effekt.« Er lächelte verlegen. »Was glauben Sie denn, warum ich mich gerade so rührend um die Medienvertreter kümmere? Wir müssen jetzt für den Absatz sorgen!«

Kroll konnte sich die Provokation nicht verkneifen. »Also profitieren Sie erst einmal von Lachmanns Tod.«

Gutbrot sah ungeduldig auf die Uhr. »Ich sagte doch bereits, ein kurzfristiger Effekt. Wir planen langfristig.«

Er wollte sich bereits abwenden, aber Kroll ließ ihn nicht gehen. »Ist es denn überhaupt sicher, dass Lachmann auch die nächsten Bücher bei Zeitraub veröffentlicht hätte?«

»Wir standen gerade in Verhandlungen, ihn dauerhaft an uns zu binden. Die Gespräche standen unmittelbar vor dem Abschluss. Ich denke, die offenen Punkte hätten wir noch während der Buchmesse klären können.«

Kroll sah ihn an. »Das ist ja interessant!«

Der Verleger sah wieder auf die Uhr. »Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen würden?«

Kroll ließ ihn gehen.

Liane Mühlenberg hatte das Rückenteil ihres Bettes hochgefahren. Sie lag da und starrte an die Decke des Zimmers. Die Farbe ihrer Haut unterschied sich kaum von dem weißen Kopfkissen, auf dem zerwühlt ihre langen schwarzen Haare lagen. Ihre braunen Augen waren gerötet. Die Nase und die Oberlippe waren wund. In der rechten Hand zerknüllte sie unaufhörlich ein Taschentuch.

Wiggins setzte sich auf die Bettkante und wandte sich ihr zu. Ganz langsam wanderten ihre Augen von der Zimmerdecke zu ihm herüber. Sie sah ihn an. Ein hilfloser, ein flehender Blick. Wiggins ergriff ihre Hand und drückte sie leicht. »Geht’s wieder, ich meine … so einigermaßen?«

Liane nickte. Wasser lief aus ihrer Nase. Sie wischte es ab. »Ich kann immer noch nicht glauben, was gestern passiert ist. Es sollte doch ein so schöner Abend werden … dann die Scheibe … und dann … dann …« Sie atmete schwer. »Er wird mir so sehr fehlen. So unendlich viel.«

Wiggins kämpfte mit den Tränen. Er wollte nicht weinen. Liane brauchte jetzt eher einen Halt, als dass sie Mitleid wollte. Und gerade er. Irgendwann würde sie erfahren, dass er Willi Lachmanns Mörder finden musste. Er wollte keine Schwäche zeigen.

»Er wird uns allen fehlen!« Wiggins sah sich im Zimmer um. »Du musst jetzt erst mal hier rauskommen. Das macht die ganze Sache auch nicht besser, wenn du den lieben langen Tag herumliegst.«

Liane nickte. »Ich darf morgen raus. Heute habe ich noch so einen Tropf bekommen. Aber morgen bin ich wohl so weit. Kannst du dich jetzt ein bisschen um mich kümmern?«

Sie sahen sich lange an. »Wer kann das getan haben, Wiggins?«

»Das wissen wir noch nicht.«

Liane trank einen Schluck stilles Wasser. »Hilfst du mit, den Mörder zu finden?«

Wiggins zögerte einen Moment. Er versuchte, beruhigend zu wirken. »Kroll und ich haben die Leitung. Wir bilden eine SOKO mit vielen Kollegen.«

»Ihr werdet den Mörder doch finden, oder?«

»Ganz bestimmt … aber du musst uns dabei helfen!«

Sie sah Wiggins fragend an. »Ich … wieso ich? Ich hab doch gar keine Ahnung, wer das getan haben könnte.«

»Du warst nicht nur Willis Lebensgefährtin, du warst auch beruflich seine rechte Hand. Wir werden sicherlich eine Menge Fragen haben … aber ruh dich erst mal aus. Das hat Zeit bis morgen!«

Liane nickte.

Wiggins hatte sich fest vorgenommen, heute und ganz bestimmt nicht im Krankenhaus dienstlich zu werden. Aber da sie jetzt schon einmal beim Thema waren, überwältigte ihn sein kriminalistischer Spürsinn und er konnte sich zumindest eine Frage nicht verkneifen. »Hatte Willi Feinde?«

»Feinde will ich nicht sagen. Willi war sehr erfolgreich und da gibt es natürlich viele Leute, die etwas vom Kuchen abhaben wollen …« Sie griff wieder zum Taschentuch. »Hat das Zeit bis morgen?«

Wiggins bereute sofort, dass er sich zu dieser Frage hatte hinreißen lassen. »Aber natürlich!«

Er sah auf die Uhr und küsste sie auf die Wange. »Ich komm dich morgen besuchen!«

Die erste Sitzung der SOKO ›Autor‹ war auf 13 Uhr angesetzt. Die Leitung hatte Staatsanwalt Reis. Weiter waren zugegen die Hauptkommissare Kroll und Wiggins, die Kommissare Volker Schöck und Oskar Jäger sowie sechs weitere Beamte. Der Staatsanwalt begrüßte die Anwesenden und teilte ihnen zunächst mit, dass Hauptkommissar Kroll die Leitung der SOKO übertragen worden sei. Ihm war unmittelbar zu berichten. Mit Hilfe eines Beamers, der Fotos vom Tatort, von der Leiche, aus der Gerichtsmedizin, aus Lachmanns Wohnung und aus den Akten an die Wand warf, erläuterte er den bisherigen Stand der Ermittlungen. Danach übergab er an Kroll.

»Ich muss euch ja höchstwahrscheinlich nicht erklären, dass wir noch völlig im Dunkeln tappen. Der Tote war ein erfolgreicher Autor. Das heißt, wir sollten einen Schwerpunkt der Ermittlungen auf sein berufliches Umfeld legen.«

Er sah Schöck und Jäger an. »Volker und Oskar. Ihr seid die besten Recherchefreaks hier. Macht euch doch mal über die ganze Literaturszene schlau. Sein Verlag, Konkurrenz, wer hat welche Rechte und so weiter. Das private Umfeld grasen Wiggins und ich ab.«

Drei weitere Mitarbeiter beauftragte Kroll mit der üblichen Routinearbeit: Befragung der Anwohner des Tatortes, der Freunde und Familie, Auswertung der Spuren am Tatort und in der Wohnung. Die restlichen drei Beamten wurden mit der Aktenfresserei betraut: Durchsicht sämtlicher Akten des Bundeskriminalamtes und der Landeskriminalämter nach ähnlichen Fällen.

Nachdem Kroll seine Gruppeneinteilung vorgenommen hatte, ergriff Wiggins das Wort. »Ich hatte heute schon Gelegenheit, mit Liane Mühlenberg zu sprechen. Frau Mühlenberg war die Lebensgefährtin des Toten und gleichzeitig seine berufliche rechte Hand. Man könnte sie dementsprechend als seine Managerin bezeichnen. Natürlich stand sie noch unter Schock und konnte nicht viel sagen. Aber sie hat da so eine Andeutung gemacht, dass es viele Leute gibt, die von Lachmanns Erfolg profitieren wollten. Vielleicht ist das ja ein Hinweis!«

Alle machten sich Notizen. Kroll beraumte die nächste Sitzung auf den morgigen Tag an, wieder um 13 Uhr.

Bevor Kroll und Wiggins auf die Buchmesse gingen, machten sie noch einen kleinen Abstecher in das Büro des Staatsanwaltes. Die Sekretärin füllte am Computer das Formular VORLADUNG aus und klickte auf ›Drucken‹. Dann verschwand sie für eine Minute im Büro ihres Chefs und gab Kroll das unterzeichnete Schriftstück.

Der Stand des Zeitraub-Verlages war nicht mehr so stark von den Medien belagert wie am Vormittag. Die Situation schien sich zu normalisieren. Elmar Gutbrot stand vor einem Bücherregal und redete angeregt mit einem Journalisten, der sich eifrig Notizen machte. Kroll hatte keine Lust zu warten, bis Gutbrot sein Interview beendet hatte. Er hielt ihm das weiße Blatt Papier vors Gesicht.

»Herr Gutbrot, das ist eine Vorladung der Staatsanwaltschaft. Sie sind als Zeuge zu einer Vernehmung geladen. Ich darf Sie bitten, mich auf das Präsidium zu begleiten.«

Der Verleger blickte Kroll entgeistert an und suchte nach Worten. Seine Blicke wechselten zwischen Kroll und dem Journalisten hin und her. »Können Sie mir bitte erklären, was das zu bedeuten hat?«

Kroll wandte sich an den Reporter. »Sie brauchen wir jetzt nicht mehr, danke!«

Anschließend beantwortete er Gutbrots Frage. »Das will ich gerne tun. Wir spielen hier nicht Räuber und Gendarm, sondern wir müssen einen Mord aufklären. Und ich habe überhaupt keine Lust, mich hinter irgendwelchen Interviewwünschen von Medienleuten anzustellen.« Krolls Stimme wurde schärfer. »Und überhaupt keine Lust habe ich, dass meine Fragen nicht beantwortet werden und dass die Hälfte mir verschwiegen wird, nur weil Sie es für wichtiger halten, Ihre PR-Show abzuziehen, als den Tod Ihres Autors aufzuklären!«

Gutbrot entschied sich für den geordneten Rückzug. Er sprach mit leiser Stimme. »Verstehe! Aber bitte, meine Herren. Können wir das nicht hier besprechen? Ich versichere Ihnen, dass wir nicht gestört werden.«

Kroll sah auf die Uhr. »Wir gehen jetzt sofort zum Bayerischen Stand.«

Gutbrot sah die Polizisten fragend an. Kroll wusste immer noch nicht, wie er die Andeutungen von Liane Mühlenberg verstehen sollte und ob es überhaupt Andeutungen waren. Er entschloss sich, Gutbrots Demut auszunutzen, um einen Schuss ins Blaue zu wagen. Sein Ton wurde wieder schärfer.

»Herr Gutbrot. Bei unserem Gespräch heute Vormittag haben Sie mir erzählt, die Vertragsverlängerung mit Lachmann sei nur noch Formsache. Inzwischen haben wir aber erfahren, dass Ihr Verhältnis nicht so harmonisch war! Und wir fragen uns nun natürlich, warum Sie uns wichtige Informationen verschweigen.«

Gutbrot murmelte vor sich hin. »Das hat Ihnen doch bestimmt dieser Zwerg vom Zuckerblume-Verlag erzählt.«

Krolls Augen blitzten auf. Er gab vor, darüber im Bilde zu sein. »Wir möchten die Geschichte aber auch gerne von Ihnen hören.«

Gutbrot fühlte, ob sein Krawattenknoten richtig saß. »Kennen Sie die Abenteuer der lustigen Teppichflieger?«

»Aber natürlich!«, antwortete Wiggins. »Pille, Palle und Pulle wirbeln den ganzen Orient durcheinander. Ich lese die Geschichten immer meinem Neffen vor.«

Gutbrot lachte. »Unser Haus ist sehr erfolgreich, was das Segment Belletristik für Heranwachsende und Erwachsene angeht. Unser Schwachpunkt ist seit Langem das Kinderbuch. Ich habe deshalb sehr intensiv meine Fühler ausgestreckt, um den Zuckerblume-Verlag zu übernehmen, natürlich wegen der Teppichflieger.« Gutbrot machte eine Pause und sah die Kommissare an. Dann fuhr er fort. »Dieser Verlag besteht aus vier Gesellschaftern. Mit dreien stand ich kurz vor einer Einigung. Der vierte Gesellschafter, der gleichzeitig Geschäftsführer ist, hat sich mit Händen und Füßen gewehrt. Aber das war mir egal. Eine Dreiviertelmehrheit hätte mir auch gereicht. Die Gesellschafter verschenken natürlich ihre Anteile nicht. Im Gegenteil: Die lassen sich das richtig gut bezahlen! Und dafür hätte unser Haus Fremdkapital bei einer Bank aufnehmen müssen.«

»Verstehe«, bemerkte Wiggins, der ahnte, was jetzt kommen würde.

Gutbrot fuhr fort. »Bei den Banken sitzt das Geld auch nicht mehr so locker wie früher. Unsere Hausbank hat die Kreditierung der Mittel von einer wesentlichen Bedingung abhängig gemacht. Der Vertrag mit Lachmann musste verlängert werden, um die Liquidität unseres Verlages mittelfristig zu gewährleisten.«

»Und genau da begannen die Probleme«, orakelte Kroll.

»Ganz genau. Der Geschäftsführer des Zuckerblume-Verlages ist quasi zum Gegenangriff übergegangen und wollte Lachmann als Autor für sich gewinnen.« Gutbrot schien einen Moment die Kontrolle zu verlieren. »Lachmann hatte doch immer diese sch… übertriebene soziale Einstellung. Das hat die Gegenseite natürlich ausgenutzt. Der Zwerg von Zuckerblume hat dem Lachmann ständig ein schlechtes Gewissen eingeredet, nach dem Motto, ob er es verantworten könne, dass sein Erfolg dafür missbraucht wird, dass ein kleiner ehrlicher und ehrbarer Verlag einfach geschluckt wird. Na ja, und irgendwann hat er Lachmann selbst ein Angebot unterbreitet. Das ist kein besonders großes Kunststück, weil die Absatzzahlen ja so gut wie garantiert sind. Da macht jede Bank mit.«

»Und wie hat Lachmann reagiert?«, fragte Kroll.

Gutbrot lachte auf. »Lachmann. Der entscheidet doch inzwischen gar nichts mehr selbst. Das macht doch jetzt alles seine rechte Hand, diese Frau Mühlenberg! Lachmann …«, der Verleger bohrte mit dem Zeigefinger Löcher in die Luft, »der hat sich Bedenkzeit ausgebeten und im Hintergrund fing seine hübsche Freundin an zu zocken. Die versuchte natürlich, den einen Verlag gegen den anderen auszuspielen!«

Für einen Moment trat Ruhe ein. »Also hat der Zuckerblume-Verlag zumindest mittelbar von Lachmanns Tod profitiert«, überlegte Kroll laut. »Ohne Lachmann als Flaggschiff haben Sie jetzt keine Mittel mehr, um ihren Konkurrenten zu schlucken!«

Zum ersten Mal kam etwas, das wie ein makaberes Lächeln aussah, auf Gutbrots Gesicht. »Natürlich! Jetzt können wir diesen Verlag nicht mehr übernehmen … er behält seine Teppichflieger!«

Die Gedanken des Verlegers wurden durch eine Bemerkung von Wiggins unterbrochen. »Aber wenn Lachmann tatsächlich gewechselt wäre. Das wäre für Sie doch einer Katastrophe gleichgekommen.«

Gutbrot holte durch die Nase Luft und ließ sich leicht nach hinten fallen. »Glauben Sie mir, Herr Kommissar. Natürlich wären wir über einen Abgang von Lachmann alles andere als erfreut gewesen. Aber es wäre auch ohne ihn weitergegangen. Anders als bei Zuckerblume.«

Kroll wollte die Befragung beenden. »Jetzt noch eine letzte Frage für heute. Wo waren Sie eigentlich gestern Abend … so ab 19 Uhr?«

Der Geschäftsführer des Zeitraub-Verlages sah ihn überrascht an. Er konnte sich die Frage nach seinem Alibi nicht erklären, beschloss aber, keine Diskussion zu beginnen. »Ich war mit den Mitarbeitern meines Verlages in Auerbachs Keller. Das können Sie leicht überprüfen!«

Der Stand des Zuckerblume-Verlages war voller Teppichflieger. In jedem Regal, auf jedem Poster und auf jedem Tisch waren die Gesichter der drei Abenteurer zu entdecken. Die Ausrichtung des Verlages war unschwer zu erkennen. Um den Stand spielten Kinder, die T-Shirts und Basecaps mit dem Aufdruck von Pille, Palle und Pulle hatten.

Kroll und Wiggins fiel es nicht schwer herauszufinden, wen Gutbrot wohl mit Zwerg gemeint hatte. Der Geschäftsführer des Verlages, Werner Eigenrauch, dürfte geradeso die Einssechzig-Marke erreicht haben. Er war dick und rund, und sein Mondgesicht wurde von einem mächtigen Schnauzer zerteilt, der ein haariges Gegenstück zum äußerst spärlichen Haupthaar bildete.

Kroll zeigte ihm seinen Ausweis. »Mein Name ist Hauptkommissar Kroll und das ist mein Kollege Wiggins. Können wir Sie einen Moment sprechen?«

»Sie hat doch bestimmt der graue Pfau geschickt!«, raunzte er ihnen entgegen.

»Mir scheint, dass Sie und Herr Gutbrot sich nicht besonders nahestehen«, stellte Wiggins trocken fest.

Eigenrauch machte eine abwehrende Handbewegung. »Hören Sie mir bloß auf mit diesem Schnösel! Macht einen auf Graf Rotz, spielt den vornehmen Pinkel und benimmt sich wie die Axt im Wald! Irgendeiner hat so was mal Kaschmir-Proll genannt. Besser kann man den gar nicht beschreiben!« Er ging zu Kroll und rollte sich auf den Füßen nach vorne, sodass er auf den Zehenspitzen stand. Mit unterdrückter, zischender Stimme redete er weiter. »Und dieser Amateur wollte meinen Verlag übernehmen! Ausgerechnet der! Der hat doch bis heute nichts zustande gebracht. Sein Verlag ist doch ’ne bessere Pommesbude. Irgendwann ist dem der Lachmann zugelaufen. Reiner Zufall! Auch ein blindes Huhn findet mal ein Korn. Ja ja, und auf einmal war er der Verleger! Wissen Sie, wie sich das entwickelt hat?«

Eigenrauch gab die Antwort auf seine Frage gleich selbst. »Lachmann hat seine ersten fünf Romane nur sehr schleppend verkauft. Höchstens 2.000 Stück pro Jahr. Der graue Pfau war drauf und dran, ihn aus dem Programm zu nehmen. Und dann fielen die Bücher durch irgendeinen dummen Zufall einem Redakteur vom Fernsehen in die Hände. Und die haben sie verfilmt. Zur besten Sendezeit, Sonntagabend um 22 Uhr im Zweiten. Und das hat den Zeitraub-Verlag nach oben geschossen. Wie eine Rakete! Das war einfach nur Glück! Und der graue Pfau läuft jetzt als der Mann mit dem goldenen Näschen durch die Literaturszene und lässt sich feiern, als sei er der größte Entdecker seit Kolumbus. Das ist doch einfach nur lächerlich!«

Eigenrauch lief einen Halbkreis und stieß dabei eine Kaffeetasse um, die auf einem Tisch stand. Seine Mitarbeiter kannten die Situation schon. Eine junge Dame riss einige Tücher von einer Küchenrolle ab und beseitigte das Malheur.

Der Verleger ließ sich nicht ablenken. »Und dann hält dieser Schnösel noch meinen sogenannten Partnern Geldscheine unter die Nase und meint, er könne meinen Verlag schlucken! Das müssen Sie sich einmal vorstellen. Unfassbar!«

Kroll versuchte, den Redeschwall zu unterbrechen. »Herr Eigenrauch …«

»Wissen Sie, wie die Teppichflieger entstanden sind?« Wieder ließ der Verleger die Kommissare nicht zu Wort kommen. »Das war kein dummer Zufall! Dahinter stand ein Konzept! Ich habe den Autor von einem kleinen unbedeutenden Verlag herübergeholt. Ich habe sein Talent erkannt. Ich habe in die Werbung investiert. Ich bin ins Risiko gegangen. Da war zunächst nichts mit Fernsehen. Die kamen erst, als wir die Bestsellerlisten bereits gestürmt hatten. Und nicht umgekehrt!«

Kroll nahm erneut Anlauf, eine Frage zu stellen. »Was uns interessieren würde …«

Die Polizisten schienen für Eigenrauch Luft zu sein. »Und ausgerechnet dieser Schaumschläger, dieser Amateur, dieser Langweiler, dieses personifizierte Unentschieden bildet sich ein, meinen Verlag übernehmen zu können? Dass ich nicht lache! Mein Lebenswerk! Und wissen Sie, was das Schönste ist …«

Kroll wurde jetzt energisch. »Herr Eigenrauch! Wir wären Ihnen sehr dankbar, wenn Sie jetzt einfach unsere Fragen beantworten würden!«

Der Verleger atmete durch. »Natürlich … bitte verzeihen Sie. Mit mir sind wohl ein wenig die Pferde durchgegangen. Ich denke, Sie kommen wegen des Todes von Willi Lachmann. Wie kann ich Ihnen helfen?«

Krolls Ton wurde wieder sanfter. »Zunächst würde uns interessieren, wann Sie Lachmann zuletzt gesehen haben.«

Eigenrauch überlegte. »Das war … Moment … ja genau. Letzten Freitag. Wir haben zusammengesessen und geredet.«

»Ich nehme an, Sie wollten die Möglichkeiten einer zukünftigen Zusammenarbeit ausloten«, schaltete sich Wiggins ein.

»Ja, das war der Grund.« Eigenrauch wurde melancholisch. »Der Lachmann war ein guter Mensch. Der hatte sein Herz noch am rechten Fleck! Obwohl der reich war wie ein Scheich, schien den Geld überhaupt nicht zu interessieren. Wissen Sie, was der in dieser Stadt alles für die alten Menschen getan hat?«

Kroll und Wiggins bestätigten mit einem Nicken. Eigenrauch lachte kurz auf. »Ich glaube, wenn der die Mühlenberg nicht gehabt hätte, hätte der Zeit seines Lebens von der Hand in den Mund leben müssen.«

»Wie weit waren denn die Gespräche vorangeschritten?«, wollte Wiggins wissen.

»Ich glaube nicht, dass er zu uns gekommen wäre. Ich glaube außerdem nicht, dass Sie sich nur annähernd vorstellen können, von wie viel Verlagen so ein Autor angebaggert wird. Da reden wir nicht nur über Leipzig, sondern über die großen Kaliber aus Hamburg und München.«

Kroll konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. »Ich glaube, es ging Ihnen gar nicht darum, Lachmann an Ihren Verlag zu binden.«

»Natürlich nicht«, bestätigte Eigenrauch. »Ich wollte ihm nur klarmachen, dass er sich endlich von diesem dämlichen grauen Pfau trennen sollte. Man kann doch an den Fingern einer Hand abzählen, dass der Zeitraub-Verlag ohne Lachmann bei den Banken höchstens noch einen Kredit für ’ne Fanta kriegt.«

»Und?«, fragte Wiggins.

Der Verleger zuckte mit den Schultern. »Ich denke, er hatte großes Verständnis für unsere Situation. Und wie ich bereits sagte: Lachmann hatte eine gesunde soziale Einstellung. Aber wer weiß. Ich glaube, da fragen Sie besser Frau Mühlenberg.« Er hielt einen Moment inne. »Die Arme. Wie geht es ihr überhaupt?«

Die Kommissare beantworteten die Frage nicht. »Halten Sie sich bitte zu unserer Verfügung, Herr Eigenrauch. Auf Wiedersehen.«

Die Polizisten fuhren ins Büro und sahen die Unterlagen durch, die sich auf ihren Schreibtischen angesammelt hatten. Wiggins versuchte, im Internet etwas über die Verlage Zeitraub und Zuckerblume herauszufinden. Als er auf die Uhr sah, stellte er erschrocken fest, dass es 19 Uhr war. »Oh Schreck, schon so spät. Ich muss los. Ich will noch mit Nicole ins Kino.«

Kroll sah von der Akte auf. »Na dann! Viel Spaß und schöne Grüße!«

Wiggins hatte die Bürotür fast erreicht, als diese aufflog und ein Mitarbeiter der Kriminaltechnischen Untersuchung hereinstürmte. Er reckte triumphierend einen länglichen Gegenstand in die Höhe. »Wisst ihr, was das ist?«

Kroll und Wiggins sahen sich verständnislos an. Kroll ergriff schlussendlich erneut das Wort. »Sehr schwere Frage! Das ist ein Kugelschreiber.«

Peter grinste. »Hier, nimm den mal in die Hand.«

Koll ergriff den Kuli. Ihm fiel auf, dass er ein wenig breiter und schwerer war als die herkömmlichen Schreiber mit Werbeaufdruck, die er kannte. Aber das war nichts Ungewöhnliches. Es hätte auch ein teures Modell sein können. Die waren alle schwerer und dicker als die Plastikware.

Er gab den Kugelschreiber ratlos Wiggins, der ihn aufmerksam untersuchte.

»Versuch mal, damit zu schreiben!«, forderte der Kollege von der KU Wiggins nahezu triumphierend auf.

Wiggins probierte auf die Kappe zu drücken. Sie war unbeweglich. Instinktiv drehte er an der unteren Hälfte des Stiftes und die Mine kam zum Vorschein. Wiggins kritzelte einige Wellen auf einen Block und sah den Kollegen von der Spurensicherung fragend an.

Der tat immer noch geheimnisvoll. »Fällt euch wirklich nichts auf?«

Kroll wurde ungeduldig. »Komm schon, Peter! Wiggins will noch ins Kino und ich habe ebenfalls nicht vor, heute im Büro zu übernachten!«

Peter erkannte, dass er allmählich die Katze aus dem Sack lassen musste. »Zieh doch mal die Kappe runter!«

Das ließ sich leicht bewerkstelligen. Zum Vorschein kam das metallene Ende eines USB-Sticks.

»Ich weiß nicht, wer bei Lachmann eingebrochen hat«, erklärte Peter, »aber mit Sicherheit hatte der nicht viel Ahnung von Computern!«

Zwischen Kroll und Wiggins wanderten verblüffte Blicke hin und her. Dann wandte Kroll sich an seinen Kollegen. »Und … habt ihr euch die Dateien schon in der Spurensicherung angeguckt?«

Peter nahm den Stick und steckte ihn in den Computer unter Wiggins’ Schreibtisch. Der Laufwerksbuchstabe F:\ wurde dem Stift vom Rechner zugeteilt. Peter klickte sich mit der Maustaste zum Ziel. »Da ist eigentlich nicht so viel drauf. Ihr müsst euch sowieso noch in Ruhe ansehen, was für euch wichtig ist.« Er klickte weiter. »Hier, das wollte ich euch zeigen! Diese Datei ist überschrieben mit ›Stichpunkte/Roman/neu‹. Lachmann hat sie vor ziemlich genau einem Jahr angelegt.«

Er deutete auf den Bildschirm, und Kroll und Wiggins beugten sich vor. Die Datei enthielt die folgenden Wörter:

Eimnot

L.E.

AGMS

Goran

Kroll las die Begriffe laut und langsam vor.

Wiggins starrte auf den Bildschirm wie das Kaninchen auf die Schlange. »Das gibt’s doch nicht. Der wollte einen Roman über Peter Eimnot schreiben!«

»Peter Eimnot?«, fragte der Kollege von der Spurensicherung.

»Liest du denn überhaupt keine Zeitung?«, rüffelte ihn Kroll. »Eimnot hat doch über Wochen und Monate die Schlagzeilen sämtlicher Zeitungen beherrscht! Das ist der Typ, der vor knapp zwei Jahren aus dem Knast entlassen wurde, weil sich nach 16 Jahren Haft herausgestellt hat, dass er unschuldig war.«

»Ist ja gut«, raunzte der Kollege freudlos und verließ das Büro. »Ich wollte eh schon lange Feierabend machen!«

»Und was bedeuten die anderen Begriffe?«, fragte Wiggins konzentriert.

»Keine Ahnung. L.E. ist doch so eine Bezeichnung für Leipzig. Das schreiben die Medien doch immer in Anlehnung an L.A.«

Wiggins dachte nach. »Kann sein. Kann auch was anderes sein. Und was bedeutet AGMS?«

»Du kannst Fragen fragen. Woher soll ich das wissen?«

Wiggins ließ sich nicht irritieren. »Und wer soll dieser Goran sein?«

»Ich hoffe, das kann uns Liane Mühlenberg erzählen.«

Wiggins sah zum wiederholten Male auf die Uhr. »Ich muss jetzt los. Die Werbung haben wir schon verpasst! Bis morgen.«

Kroll wandte seinen Blick nicht vom Bildschirm. Immer wieder las er die vier Begriffe. Was hatten sie zu bedeuten? Hatten sie überhaupt etwas zu bedeuten? Eimnot! Die Geschichte kannte er nur aus der Presse. Ein tragischer Fall von Justizirrtum. Ohne Frage ein guter Stoff für einen Roman. So etwas kam doch bestimmt an. Ein Mord, unaufgeklärt, ein Unschuldiger hinter Gittern, die Fehler der Justiz: alles sicherlich wunderbare Zutaten für einen Bestseller. Aber wurde Lachmann deswegen getötet? Und L.E.? Leipzig. Natürlich hatte Eimnot in Leipzig eingesessen, natürlich wurde das Verbrechen in Leipzig verübt, aber musste Lachmann sich das unbedingt notieren?

Kroll sah immer noch auf den Bildschirm. AGMS. Das musste eine Abkürzung sein. Aber für was? Er ging ins Internet und googelte sich durch. 215.000 Begriffe. Aber die Ergebnisse waren wenig erhellend: Anglo-German Medical Society, Avant-Garde Marketing Solutions oder Annual General Meetings. Das machte alles keinen Sinn. Das Internet würde ihn wohl nicht weiterbringen. Zumindest nicht auf die Schnelle.

Seine Gedanken waren gerade zu Goran übergewechselt, als ihn der Klingelton seines Handys aus den Überlegungen riss. Er schaute aufs Display. Claudia blinkte auf. Kroll zögerte einen Moment, bevor er auf die grüne Taste drückte. »Hallo, Claudia!«

Sie meldete sich verzögert. »Hallo, Kroll … ich wollte mich nur mal melden.«

»Ja …« Claudia machte eine lange Pause, bevor sie weiterredete. »Du warst gestern in Kiel …«

»Du hast mich also gesehen?«

Wieder eine lange Pause. »Es ist nicht, wie du denkst, Kroll …«

»Du weißt also, was ich denke?«

Ihre Stimme wurde noch leiser. »Ich kann’s mir vorstellen …«

Erneut entstand eine lange Pause, die Kroll unterbrach. »Hat sich echt gelohnt, die Fahrt nach Kiel.«

»Warum hast du nicht gesagt, dass du kommst?«

Kroll lag eine zynische Bemerkung auf den Lippen. Er schluckte sie hinunter. Es war schon genug Porzellan zu Bruch gegangen. Es machte keinen Sinn, den Scherbenhaufen noch weiter aufzutürmen.

»Ich brauch Zeit, Kroll …«

Kroll verdrehte die Augen. Das hatte er in dieser oder ähnlicher Form bereits zigmal gehört. Er wusste genau, dass diese Aussage der Anfang vom Ende war. »O.K. … du kannst dich wieder melden … wenn du meinst, dass du genug Zeit hattest, um zu wissen, ob dein Neuer der Richtige ist.«

Claudia ging auf die Bemerkung nicht ein. »Mach ich … Kroll?«

»Ja?«

»Ach nichts! Mach’s gut!«

»Mach’s gut!« Kroll sah wieder auf den Bildschirm. Er konnte sich aber nicht mehr konzentrieren. Für einen Moment überlegte er, ob er sich die Akte Eimnot noch bringen lassen sollte, verwarf den Gedanken aber schnell. Er fuhr den Computer herunter und ging nach Hause.

Messewalzer

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