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ОглавлениеEinführung[10][11]
Mein Angesicht kannst du nicht sehen; denn kein Mensch wird leben, der mich sieht.
(2. Mose 33.20)
Gott war für die Autoren des Alten Testaments gewaltig, überwältigend und unzugänglich. So unerträglich stellten sie ihn sich vor, dass ein gewöhnlicher Sterblicher seinen Anblick nicht überleben würde. Und doch wurde diesem Gott unterstellt, er wolle mit seinen Geschöpfen, zumindest mit einigen von ihnen, kommunizieren.
Das hatte zwei Konsequenzen: Um mit seinem auserwählten Volk sprechen zu können, brauchte Gott erstens einen Mittelsmann: Moses. Nur Moses ist autorisiert. Der göttliche Autor, der Schöpfergott, hat allein ihm die Fähigkeit verliehen, seinen Anblick zu ertragen, ihn sehen und hören zu können, und dann dem Volk wie ein Dolmetscher seine jenseitigen Nachrichten zu überbringen. Selbst er, der Allmächtige, ist auf den Mittler angewiesen, auf das Medium Moses. Nur durch dessen Vermittlung können die Israeliten das Göttliche überhaupt wahrnehmen. Ohne das Medium wäre ihr Bund mit dem neuen Gott nicht möglich; Kommunikation könnte ohne Medium gar nicht stattfinden.
Zugleich zeigt sich schon hier die Zweischneidigkeit jeder medialen Vermittlung: Es gibt keinen direkten Zugang zur Quelle, zur Wahrheit. Alles, was die Israeliten von Gott wahrnehmen, ist das, was Moses über ihn sagt. Das Medium schiebt sich zwischen die Wahrnehmenden und die wahrgenommene Sache. Nicht die Sache wird eigentlich sichtbar, sondern – und auch dies nur bei konzentriertem Hinsehen – das Medium. Aber ohne das Medium gäbe es diese Wahrnehmung überhaupt nicht.1
Zweitens aber befanden sich die Autoren dieser Erzählung in einer mediengeschichtlich beispiellosen Situation: Sie schrieben. Und zwar schrieben sie, anstatt zu modellieren oder zu malen. Die Schrift steht am Beginn des Monotheismus, der mit einer magischen Weltvorstellung aufräumen sollte, mit der Vorstellung, ein Götzenbild oder eine Ikone symbolisiere nicht nur eine Gottheit, sondern sei diese selbst. Die sogenannten Schriftreligionen sind Aufklärungsbewegungen. Geschrieben wurden sie vor allem gegen etwas, gegen die Anbetung von Bildern.
[12]Wie wird dieser Vorgang in der Bibel selbst dargestellt? Gottes Finger schreibt den Grundtext, die zehn Gebote, auf Gesetzestafeln und übergibt sie Moses, der die Tafeln vom Berg Sinai herunterbringt. Da sieht Moses unten die Israeliten ums Goldene Kalb tanzen. Vor Wut und Empörung zerschmettert er den Urtext. Doch dessen Autor zeigt Verständnis. Moses geht ein zweites Mal auf den Berg. Diesmal schreibt der Prophet selbst die Worte auf, die ihm der Autor diktiert. Dann überbringt er seinem reuigen Volk die zweite Auflage der zerstörten Erstausgabe: Die Schrift an sich also ist wertlos; sie ist eine Kulturtechnik, weiter nichts. Heilig ist der Inhalt des Textes, nicht aber das ihn bedeutende Zeichen, welches bloß auf den Inhalt verweist. Die Israeliten gehen in diesem Moment, in dem sie den Inhalt von den Zeichen seiner Wiedergabe trennen, einen gewaltigen zivilisatorischen Schritt, einen Schritt, der unsere Kulturen und unser Bewusstsein bis heute prägt.
Die Kapitel 31 bis 34 des 2. Buch Mose enthalten im Grunde alles, was zur Begründung einer Theorie des Medialen notwendig ist. Ebenso wie andere große archaische Erzählungen ist die Bibel voll von solchen Motiven. Ist nicht der Mittelsmann Moses eine Präfiguration, eine Vorwegnahme von Gottes menschgewordenem Sohn, der zwischen diesem und den Menschen vermitteln soll? Sind die Engel nicht Boten, Kuriere und göttliche Nachrichtentechniker? Das Alte Testament ist nur ein willkürlich gewähltes Beispiel unter vielen. Ebenso gut hätten wir unsere Expedition in die Medientheorie auch mit irgendeinem anderen Text beginnen können, mit der Ilias zum Beispiel oder dem Mahābhārata. Aber was ist eigentlich ein Text und:
Wozu braucht man Medientheorie?
Moses muss zwischen dem Auserwählten Volk und seinem Gott vermitteln, denn dessen bloßer Anblick würde die Israeliten töten. Die Wahrheit an sich ist als solche entweder gar nicht wahrnehmbar für die menschlichen Sinne oder so gewaltig, dass sie dem Menschen zum Verhängnis würde. Mediale Vermittlung ist deshalb eine existentielle Notwendigkeit. Dieses Motiv des Alten Testaments steht in der Ideengeschichte der Menschheit nicht allein da. In seinem berühmten Höhlengleichnis (→ S. 36) beschreibt der griechische Philosoph Platon im 4. Jahrhundert vor Christus, wie der Bewohner einer Höhle »nachdem er an das Sonnenlicht gekommen, die Augen voll Blendung haben und also gar nichts von den Dingen sehen können« würde. In Friedrich Schillers Gedicht Das verschleierte Bild zu Sais (1795) weigert sich »ein Jüngling, den des Wissens heißer Durst[13] nach Sais in Ägypten trieb«, das Verbot der direkten Teilhabe an der Wahrheit zu akzeptieren:
»Was ists,
Das hinter diesem Schleier sich verbirgt?«
»Die Wahrheit«, ist die Antwort. – »Wie?« ruft jener,
»Nach Wahrheit streb ich ja allein, und diese
Gerade ist es, die man mir verhüllt?«
Daraufhin enthüllt er das Bild der Wahrheit, welches den Sterblichen aus gutem Grund unzugänglich ist, und vegetiert schließlich infolgedessen in geistiger Umnachtung »besinnungslos und bleich« dahin. Auch hier ist uns die reine Wahrheit selbst unzugänglich. »Kein sterblicher Mensch hat meinen Schleier aufgehoben« (Schiller 1962, 507), warnt sie uns bei Schiller höchstpersönlich.
Ein vom Vorgang seiner Vermittlung abgetrennter, also nicht medial gedachter Inhalt ist, um weiter mit Schiller zu sprechen, »nimmermehr erfreulich«. Früh schon in der Kulturgeschichte der Menschheit hat sich ein Gefühl dafür entwickelt, dass die Wahrnehmung des Menschen nicht gleichzusetzen ist mit der ihn umgebenden Wirklichkeit, dass er der Wahrheit nicht unmittelbar teilhaftig werden kann. Das ist sehr weitgehend Konsens in der Geschichte der Philosophie. Aber es gibt verschiedene Möglichkeiten, mit diesem Grunddilemma umzugehen. Einer zufolge ist eine mittelbare Erkenntnis der Welt möglich. Dieser Denkweg versteht Mediation, Medien, Medialität als Voraussetzung der Möglichkeit von Wahrnehmung und Erkenntnis. Ein anderer Ansatz verneint diese Möglichkeit jedoch zur Gänze. Die Welt ist dann bloße Illusion, reines Scheingebilde. Dieses Verständnis der Welt führt zu keiner fruchtbaren Theorie der Erkenntnis, der Kommunikation oder der Wahrnehmung. Doch ganz egal, welche von beiden Reaktionen die richtige ist: In keinem Fall ist die Welt einfach so, wie sie sich für uns scheinbar darstellt. Das Wissen um diesen Umstand ist so fundamental, so essentiell, dass sich durchaus argumentieren ließe, dass es eben diese Erkenntnis von der Unmöglichkeit einer unmittelbaren Erkenntnis, von einer nicht-medialen Wahrnehmung ist, die das Menschsein eigentlich ausmacht und definiert. Der Mensch ist demnach dasjenige Wesen, das weiß, dass das von ihm Wahrgenommene nicht einfach die Wirklichkeit ist.
Noch ein dritter Ansatz soll hier vorab Erwähnung finden. Es ist der des (radikalen) Konstruktivismus (→ S. 125), einer Theorie, die den Medien nicht die Rolle als Mittler einer unabhängig von ihnen bestehenden Wirklichkeit zuschreibt. Der (stets mediale) Wahrnehmungsvorgang selbst ist es[14] hingegen, der nach Meinung radikaler Konstruktivisten das Wahrgenommene erst erzeugt und so die Welt eigentlich erschafft, die wir wahrzunehmen glauben.
Schon dieser sehr flüchtige Blick auf die Bedeutung von Medien und auf ihre Rolle in unserer Wahrnehmung der Welt zeigt, dass es sich lohnt, ihre Funktion und Wirkungsweise einer genaueren Betrachtung zu unterziehen. Genau dies haben sich Medientheorien zur Aufgabe gemacht. Medientheorien sind notwendig, sobald man sich bewusst macht, dass in der Kommunikation zwischen einem Ich und einem Du ein Drittes steht – eben das Medium. Die Klärung von Funktionen und Eigenschaften des Medialen wird unumgänglich, sobald ich verstehe, dass meine gefühlte Teilhabe an der mich umgebenden Wirklichkeit nicht so direkt und unkompliziert abläuft, wie es mir erscheint, solange ich meine Wahrnehmungsweisen nicht infrage stelle.
Fassen wir also zusammen: Medien vermitteln zwischen mir und der Welt und zwischen mir und anderen Menschen. Ohne sie könnte ich weder Menschen noch die Welt erkennen. Zugleich beeinflussen und prägen Medien diese Wahrnehmung, welche sie selbst ermöglichen. Sie sind nie neutral oder frei von Haltungen und Perspektiven, von Filterungen, Wichtungen und Wertungen. Nach Meinung etwa der erwähnten konstruktivistischen Theoretiker stellen sie sogar die Wirklichkeit selbst überhaupt erst her. Und schließlich können Medien Daten nicht nur übertragen und vermitteln, sondern auch speichern – einige über kürzere Zeiträume (z. B. Schallwellen), andere über längere Zeiträume (z. B. die Pyramiden). Was unsere Wahrnehmung und Erkenntnis so grundlegend bestimmt wie Medien es tun, das bedarf einer näheren Untersuchung und einer theoretischen Reflexion.
Im selben Moment, in dem sich das Zeichen von seiner Bedeutung löst, in dem also die Skulptur eines Kalbs nicht mehr Gott selbst ist und ein Baum und das Wort »Baum« nicht mehr ein und dasselbe sind, entsteht ein Bewusstsein für die Zeichenhaftigkeit der Sprache. Um allgemeiner auch für nonverbale Zeichensysteme (wie z. B. das System der Verkehrszeichen, für Musik oder für die Körpersprache) Aussagen treffen zu können, sprechen wir künftig nicht von »Sprache«, sondern vom »Code«. Ein Code ist ein System von Zeichen. Eine konkrete, zusammenhängende und abgrenzbare Anordnung von Zeichen eines Codes (z. B. das Alte Testament, das Goldene Kalb, die Verkehrszeichen einer Stadt, eine Symphonie oder eine Pantomime) ist ein Text.
Komplizierter wird die Sache in dem Moment, in dem der Begriff »Medium« hinzukommt. Denn die Zeichen sind nur ein Teil dessen, was da vermittelnd zwischen uns und die Welt tritt. Und selbst dieser einfache [15]Satz ist medientheoretisch unsicher. Denn es gibt mit den bereits erwähnten radikalen Konstruktivisten auch sehr ernstzunehmende Medientheoretiker, die die Welt (und auch uns selbst) eher als das Produkt eben dieser Zeichen verstehen. Aber zurück zum Begriff des »Mediums«. Die Codes (z. B. die Schrift), die Datenträger (z. B. das Buch), die Kulturtechnik (z. B. das Lesen), die zur Übertragung oder Speicherung von Daten verwendete Technik (z. B. der Buchdruck), die Kanäle, durch die diese Daten transportiert werden (z. B. Verlage und Buchhandel), die technischen (z. B. die Druckerpresse) und selbst die gesellschaftlichen Apparate und Institutionen (z. B. die Schulen oder Bibliotheken), ja sogar das Geld, die Wahrheit oder die Liebe – all dies ist schon irgendwann einmal in irgendeiner Theorie der Medien als »Medium« bezeichnet worden. Und auch in der Geschichte von Moses und den Zehn Geboten würden verschiedene Medientheoretiker unterschiedliche Medien erkennen – die einen sähen in Moses den Mittler oder Mediator, das Medium also, andere in den Steintafeln, wieder andere in der Schrift, in der verwendeten Sprache oder in der Institution des Gesetzes selbst.
Der Begriff »Medium« ist geradezu bizarr schillernd, widersprüchlich und unscharf, fast schon beliebig. Wie sich zeigen wird, ist dies allerdings nicht ohne Grund so. Und dass dies in den Kulturwissenschaften kein Sonderfall ist, zeigt schon ein Hinweis auf die Spannweite der Bedeutungen von Begriffen wie »Kunst« oder »Kultur«. Auf den Versuch einer allgemeingültigen Definition des Begriffs »Medium« (und erst recht auf den Versuch einer Definition von »Theorie«)2 wird hier deshalb zunächst verzichtet. Stattdessen werden verschiedene Medienbegriffe ins Visier genommen.
Seit wann gibt es Medientheorien?
In den ersten Medientheorien, die aus heutiger Sicht als solche gelten, etwa bei Platon (→ S. 32), taucht der Begriff »Medium« selbst gar nicht auf. Die mythischen Erzählungen, die irgendwann einmal in Schriftform gegossen wurden, wie etwa die Bibel oder die Ilias, besitzen aber durchaus medientheoretisches Potenzial, wie die eingangs nacherzählte Episode von Moses und den Gesetzestafeln zeigen sollte. Dass darin Fragen von Autorschaft und Erzählstrategien, von Mündlichkeit und Schriftlichkeit verhandelt werden, deutet darauf hin, dass medientheoretische Fragestellungen auch damals, vor 3.000 oder 5.000 Jahren, als ganz existentiell und wesentlich in ihrer Bedeutung betrachtet wurden. Was darin verhandelt [16]wird, trägt heute die Bezeichnungen »Medium«, »Kulturtechnik« oder »Kommunikationsstruktur«. Heutige Medientheorien und moderne oder postmoderne Medienphilosophie beziehen sich folglich immer auf eine Philosophiegeschichte, in der viele ihrer Grundfragen schon gestellt sind. Es sind besonders die ungelösten Probleme aus der Geschichte der Erkenntnistheorie, die heute im Gewand dieser Theorien wiederkehren.
Doch auch der Begriff des »Mediums« ist schon uralt. Begriffsgeschichten sind zwar immer fragwürdig, weil sich Bedeutungen nicht sinnvoll von dem kulturellen Zusammenhang trennen lassen, der ihnen erst Sinn verleiht. Und dieser unterliegt häufigen Wandlungen. Legt man aber Wert darauf, eine Geburtsstunde für die heutige Bedeutung des Begriffs »Medium« festzulegen, so ließe sich diese wohl am sinnvollsten bei Aristoteles ansetzen. Im siebten Hauptstück des zweiten Buchs von De animus schreibt er:
Democritus ist hier unrichtig, indem er meynt, daß wir, wenn das Medium, (durch das wir sehen,) ein Vacuum wäre, weit deutlicher sehen würden, ja, daß wir selbst eine Ameise im Himmel, (durch das Auge,) unterscheiden würden. Denn dieß ist ganz unmöglich. Weil das Sehen nur dadurch geschieht, daß das Sinnorgan, (von Außen,) leidet. (Mithin von Etwas äußerem afficirt wird.) Daß es von der Farbe (dem gefärbten Gegenstande,) der gesehen wird, (unmittelbar) afficirt werde, ist gar nicht möglich. (Weil dann der Gegenstand uns zu nahe, und mithin, eben deswegen, für uns nicht sichtbar wäre.) Es bleibt daher nichts übrig, als, daß er durch ein Medium afficirt werde. Folglich ist ein solches Zwischending, (ein Medium,) nothwendig. Wenn es aber zu einem Vacuum würde, würde nicht nur nichts deutlich, sondern vielmehr gar nichts gesehen werden. (Aristoteles 1794, 132)
Schon bei Aristoteles, dem Urvater abendländischen Denkens, findet sich also die Überlegung, dass wir ohne Vermittlung eines »Zwischendings«, eines Mediums, nichts wahrnehmen könnten. Die gewählte Aristoteles-Übersetzung stammt aus der Zeit der Französischen Revolution, weil sich mit diesem Beginn der Neuzeit im engeren Sinne auch unser modernes Verständnis von Medien ausformt. Medien und ihre Funktionen hat es immer gegeben. Doch erst mit dem Aufkommen des Buchdrucks, mit der Reformation und der darauffolgenden Alphabetisierung weiter Bevölkerungsteile entsteht ein Bewusstsein für das Massenmedium als solches. In der Wahrnehmung von Medien ist dies die zweite Zäsur. Die erste Zäsur war die Erfindung der Schrift selbst, das Aufkommen der Schriftreligionen Judentum, Christentum und Islam sowie die ersten Reflexionen über die Schrift und das Mediale bei Aristoteles, Sokrates und Platon.
In diesem Zeitraum zwischen der flächendeckenden Verbreitung des ersten technisch hergestellten Massenmediums Buch und der für dessen Rezeption erforderlichen Kulturtechnik des Lesens im Europa des 16. und [17]17. Jahrhunderts, einerseits, und dem Aufkommen der ersten technischen Bilder (der Fotografie und dem Film) und der ersten elektrischen Medientechniken (Telegrafie und Radio) im 19. und 20. Jahrhundert, andererseits, beginnt sich eine andere Vorstellung vom Medium zu formen. Medien scheinen nun ein Eigenleben anzunehmen. Obwohl auch die ersten explizit als »Medientheorie« bezeichneten Thesen genau zu dieser dritten Zäsur im frühen 20. Jahrhundert formuliert werden, gab es zuvor im weitesten Sinne schon eine moderne Medientheorie avant la lettre, eine, die sich ihrer selbst nur noch nicht bewusst war. In dieser Zeit bildet sich nun etwas heraus, was sich aus heutiger Sicht »Medienwissenschaft« nennen ließe:
Noch zögerlich in den 1930er Jahren auf beiden Seiten des Atlantiks, aber deutlicher schon in den späten 1950er Jahren und massiv um die Jahrtausendwende entstehen immer wieder Programme von Medienwissenschaften genau dann, wenn wir Medienübergänge, also den massiven Durchbruch eines oder mehrerer neuer technischen Medien zu beobachten haben. Der Übergang Stummfilm/Radio/Tonfilm ab Ende der 1920er Jahre prägt in den USA den Begriff; der Übergang Radio/Fernsehen in den 1950er Jahren generiert die ersten Entwürfe von Medienwissenschaft; mit dem dritten, dem Übergang Fernsehen/ Computer/Internet in den 1990er Jahren erleben wir die Inflation von Medienwissenschaftskonzepten, vor denen wir heute stehen. (Hagen 1988, 88)
In den 70er- und 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts ereignet sich eine weitere, vierte Zäsur, der medial turn. Medienwissenschaften und vor allem Medientheorien rücken nun zur modischen Leitwissenschaft auf. Die mediale Bedingtheit unserer Wahrnehmung gerät in den Mittelpunkt zahlreicher Theorien und Wissenschaften, bis hin zu den von den Geisteswissenschaften zuvor weitgehend unbehelligten Naturwissenschaften. Wenn es nun Schallplatten gibt, die sprachliche Texte wiedergeben können, wird plötzlich klar, dass auch die Schrift ein Code ist, der nicht ohne Einfluss auf das mit seiner Hilfe und in ihm inhaltlich Formulierte bleiben kann, dass auch die Schrift und das Buch nur Medien sind, Medien, die sich zufällig vor der Schallplatte und dem Radio etabliert haben. Woher »wissen wir eigentlich«, fragt beispielsweise Vilém Flusser, dass die »großen Schriftsteller (inklusive dem Autor der Heiligen Schrift) nicht lieber auf Tonband gesprochen oder gefilmt hätten?« (Flusser 1992c, 7) Der Geist als Gegenstand der Geisteswissenschaften wird von Friedrich Kittler (→ S. 207) infrage gestellt – zugunsten einer Fokussierung auf Codes, Kanäle und Medientechniken. Plötzlich erschüttert erstens ein im Grunde lange schon bekannter Umstand die Art und Weise, wie Wissenschaft betrieben und Kunst geschaffen wird: dass nämlich unser Denken vom Code, in dem es stattfindet, abhängt, und unsere Wahrnehmung von medialen Prägungen. Zweitens gelingt erst zu diesem Zeitpunkt, um die [18]Mitte des 20. Jahrhunderts, der unvoreingenommene Blick auf die Medien an sich, das heißt losgelöst von den von ihnen transportierten Inhalten. Rückblickend erscheint dies verwunderlich. Denn
wenn wir uns in der öffentlichen wie der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit vor allem auf den Inhalt von Kommunikationen konzentrieren, gleicht das dem hypothetischen Versuch, die Bedeutung des Automobils zu verstehen, indem man ignoriert, daß es ein neues Transportmittel gibt, und sich statt dessen auf eine detaillierte Untersuchung der Namen und Gesichter von Passagieren konzentriert (Meyrowitz 1990, 56).
Erst die aus dieser Erkenntnis entstehende Umorientierung markiert den Beginn einer Medientheorie im engeren, heutigen Sinn.
Heute schließlich haben, fünftens, die Alltäglichkeit der Nutzung immer leistungsfähigerer Gadgets, die in immer mehr Bereiche des Lebens eindringen, sowie die Allgegenwart des Internets zu einer Relativierung der großen, sinnstiftenden Medientheoriegebäude der 80er- und 90er-Jahre mitsamt ihrer apokalyptischen oder utopischen Prophezeiungen geführt.
Nochmals die hier vorgeschlagenen Zäsuren, welche uns helfen sollen, die Geschichte von Medientheorien übersichtlich zu strukturieren:
1 von den Anfängen der Mediennutzung bis zu den großen Epen, Schriftreligionen und zur klassischen griechischen Philosophie (um die Zeitenwende)
2 bis zu Buchdruck, Reformation und Alphabetisierung (16.–18. Jahrhundert)
3 bis zu den technischen Bildern und den elektrischen Medientechniken (19.–20. Jahrhundert)
4 bis zum medial turn und dem Aufstieg der Medientheorien zu Leitwissenschaften (1970er/-80er Jahre)
5 Relativierung der Großtheorien; das Internet als dominantes Verbundmedium (seit den 1990er Jahren)
Was sind Medien?
Schon an der Frage, was überhaupt ein Medium sei, zerschellt der Traum von einer einheitlichen Wissenschaft oder Theorie von den Medien. Wie das Aristoteles-Zitat oben zeigt, stellte man sich in der Antike und in der Folge der aristotelisch und platonisch beeinflussten Lehren in Europa (einschließlich des Katholizismus) unter »Medien« zunächst physische Stoffe wie Luft oder Wasser vor. 1675 ging Isaac Newton noch von einem ätherischen Stoff aus, der die Bewegung des Lichts und damit das Sehen ermögliche. Dieser Stoff galt ihm als Medium.
[19]Parallel dazu waren Medien aber immer auch Sendboten des göttlichen Willens. Der Götterbote Hermes ebenso wie der Erzengel Gabriel, der Prophet Mohammed oder Jesus Christus: Sie alle überbringen göttliche Nachrichten.3 Für Katholiken übernimmt die Jungfrau Maria allerlei Fürbitten, die offenbar einer medialen Vermittlung bedürfen. Von Anbeginn an hat unsere Vorstellung vom Medium also auch religiöse Züge: Das Heilige, die Wahrheit selbst zu sehen, ist uns unmöglich oder verboten. Mittler sind nötig. Das können Engel, Propheten oder Priester sein – oder eben Schriften oder andere Datenspeicher.
Dieser Tradition entstammt auch der Sprachgebrauch vom Medium als dem besonders begabten Empfänger übersinnlicher Information. Bis ins frühe 20. Jahrhundert wird unter einem Medium vor allem ein Mensch verstanden, der dank besonderer Begabung, durch Trance, Hypnose, Drogen, Nahtoderfahrungen, Hysterie oder andere ekstatische Begleitumstände in der Lage ist, mitzuteilen, was anderen Menschen nicht offenbar wird: verborgenes, geheimes Wissen, die Zukunft etc. Als Franz Anton Mesmer Ende des 18. Jahrhunderts diese Formen von Volksglauben, gestützt durch die gleichzeitige Erforschung der Elektrizität und die Entdeckung der »tierischen Elektrizität« durch Luigi Galvani, vorgeblich naturwissenschaftlich fundiert, als er Formen von Hypnose als »animalischen Magnetismus« gesellschaftlich akzeptabel und salonfähig zu machen versucht, werden seine Versuchspersonen ganz selbstverständlich als »Medien« bezeichnet.
Ein Indiz dafür, dass der Begriff des Mediums im Sinne von Durchlässigkeit für etwas verwendet worden ist, findet sich in Georg W. F. Hegels Wissenschaft der Logik von 1812 – fast beiläufig wird da erwähnt, dass so, wie das Wasser im Körperlichen die vermittelnde Funktion eines Mediums hat, im Bereich des Geistigen die Zeichen bzw. die Sprache diese mediale Funktion übernehmen […]. Das Medium ist ein Tor zur Welt des Symbolischen (Hartmann 2010, 273).
Ab 1870 fotografiert der Arzt Jean Martin Charcot in der berühmten Nervenheilanstalt Salpêtrière in Paris Hysterikerinnen. Seine Modelle, wie die durch die Sessions und Fotos berühmt gewordene Augustine, waren Patientinnen und Darstellerinnen zugleich.4 Vor allem aber verkörperten sie etwas Unheimliches, scheinbar ihnen selbst Unzugängliches: Sie sind Medien, die etwas transportieren und vermitteln. Die Fotografie selbst als »Medium« zu bezeichnen, wäre damals aber noch niemandem eingefallen. Und noch als der Parapsychologe Albert von Schrenck-Notzing 1929 [20]Fotos von »Materialisationsphänomenen« (z. T. in Anwesenheit von Thomas Mann) macht und ausstellt, wird keineswegs die Fotografie selbst als »Medium« bezeichnet, sondern vielmehr immer noch die fotografierten Personen, die diese Phänomene des sogenannten »physikalischen Medionismus« hervorbringen.
Doch dann, etwa zu Beginn des 20. Jahrhunderts, setzt sich allmählich die Bedeutung von »Medium« durch, die wir heute zuallererst mit dem Begriff verbinden: ein technisches Kommunikationsmittel, stets im Zusammenhang mit seinen kulturellen, politischen, sozialen und wirtschaftlichen Bedingtheiten und Bedingungen gedacht.
Die Wiederbelebung und Umprägung des alten Begriffs vom »Medium« haben wir dann, es muss gesagt werden, der Werbewirtschaft zu verdanken:
»Medien«, »media« – das ist, streng diskurshistorisch betrachtet, ein Konzept aus der amerikanischen Mikroökonomie der Werbewirkungsforschung und nicht etwa aus soziologischen Diskursen. Die Werbewirtschaft und niemand sonst musste in dem Begriff »Medien« den Epochenübergang markieren, der sich mit den Überlagerungen von Print, Plakat, Leuchtschrifttechniken, Film und Radio in den 1920ern ereignete. […] Kurzum: Nicht eine Wissenschaft, sondern die Medien selbst, nämlich der mikroökonomische Diskurs ihrer Werbeagenturen, haben das Pluraletantum der Medien in die Welt gesetzt. (Hagen 2011, 89–92)
Ein Medium nach unserem heutigen Sprachgebrauch ist zunächst einmal eine Instanz, die Kommunikation ermöglicht. Nie jedoch sollte vergessen werden, dass die religiösen (Zugang zu geheimem Wissen) und naturwissenschaftlichen (Trägersubstanz für chemische oder physikalische Reaktionen) Bedeutungen auch im heutigen Gebrauch des Begriffs immer noch mitschwingen, wenn auch meist unbewusst.
Medien im heutigen Sinne sind unverzichtbar in der Kommunikation mit anderen Menschen. Doch welche Funktion genau nehmen sie in diesem Prozess ein? In den klassischen Kommunikationstheorien werden verschiedene Funktionen voneinander abgegrenzt. Die meisten dieser Theorien sehen folgende Instanzen vor: einen Sender, einen Empfänger, einen Code, einen Kanal, eine Umwelt, Geräusche – und eben ein Medium. Soweit herrscht weitgehende Übereinstimmung. Doch Kommunikationsund Medientheorien sind immer Ausdruck einer hinter ihnen stehenden, umfassenderen Grund- und Geisteshaltung, einer bestimmten Philosophie oder Ideologie. Deshalb ist bei jeder Beschäftigung mit Medientheorien ein Blick auf Philosophie und Ideengeschichte unumgänglich. Auch diese Einführung in die Medientheorien wird deshalb einige wichtige philosophische und vor allem erkenntnistheoretische Positionen und Entwicklungen[21] kurz rekapitulieren, als deren Ausdruck oder Neuformulierung auch die zeitgenössischen Medientheorien verstanden werden müssen.
Je nach übergeordnetem Weltbild verschieben sich die Schwerpunkte in der ihm zuzuordnenden Medientheorie. Dies zeigt sich besonders deutlich anhand des jeweils verwendeten Begriffs vom Medium: Was in der einen Theorie als »Kanal« gilt, wird in der anderen als »Medium« bezeichnet. Zur Erläuterung hier nochmals das Beispiel von Moses und den zehn Geboten: Eine intuitive Zuordnung der Begriffe (noch vor dem Versuch, diese zu definieren) ergäbe etwa folgendes Bild:
Kommunika- tionstheoreti- scher Begriff | Sender | Code | Medium | Kanal | Empfänger | Message |
Beispiel zehn Gebote | Gott | Schrift | Steintafel | Moses | Israeliten | Gebote |
Abbildung 1: Der Kommunikationsakt »Moses bringt den Israeliten die zehn Gebote«
Doch ganz offensichtlich ist schon diese einfache Aufstellung unbefriedigend. In welcher Sprache sind die Gesetze verfasst? Ist sie Teil des Codes, des Mediums, des kulturellen Wissens oder der Umwelt? Welche Rolle kommt den Kulturtechniken des Schreibens und des Lesens zu? Macht es einen Unterschied, ob Gott den Text selbst schreibt oder Moses ihn nach Diktat anfertigt? Welche Rolle spielen die Wege und Steige, die Moses geht, um den Berg herab zu gelangen? Sind sie Teil des Kanals? Welche Position nimmt der Griffel oder der Meißel ein, mit dem Moses den Text eingraviert? Besteht der Text aus den Buchstaben auf den Tafeln oder gehört zu ihm die gesamte Erzählung von der Entstehungsgeschichte der Gebote und ihrer Übermittlung? Gehören dazu auch die Vorgeschichte, das kulturelle Umfeld und die historische Situation (d. h. der Kampf gegen den Götzendienst und der Pakt zwischen Gott und den Israeliten)? Welchen Unterschied würde es machen, wenn der Text seine Empfänger nie erreicht hätte (weil z. B. auch die zweite Tafel zerbrochen oder Moses beim Abstieg verunglückt wäre)? Wäre das Medium dann trotzdem noch ein Medium? Und für wen?
Spätestens hier wird deutlich, wie komplex die Angelegenheit wirklich ist. Verschiedene Interpreten würden den Kommunikationsvorgang »zehn Gebote« ganz unterschiedlich analysieren und kategorisieren. Als Sender ließe sich neben Gott auch Moses verstehen, denn schließlich war er es ja, der den Text geschrieben hat. Der Code kann die Schrift sein, die hebräische Sprache, die Textsorte des Gebots etc. Am umfassendsten jedoch ist[22] der Begriff »Medium«: Im Gegensatz zu unserer vereinfachenden Darstellung gibt es ganz unterschiedliche medientheoretische Positionen, die hier jeweils das Folgende zum Medium zählen würden:
Moses
die Steintafeln
den Meißel
die Schrift
die hebräische Sprache
die Gebote
die Religion
den Weg, den Moses geht
Moses’ Füße
Das heißt, nahezu alle Instanzen des Kommunikationsprozesses lassen sich aus dem einen oder anderen Blickwinkel als Medium verstehen, als dasjenige, was vermittelt.
Es ist nicht die Ausnahme, sondern der Normalfall medialer Kommunikation, dass dabei mehrere Medien wie russische Matrjoschka-Puppen ineinander enthalten sind. Der Läufer von Marathon5, dessen Körper selbst die Nachricht gespeichert hatte, ist die seltene Ausnahme von der Regel. Doch sowohl Moses, als auch die Steintafeln, die Schrift, die hebräische Sprache oder die Textsorte »Gesetz« können als ineinander verschachtelte Medien betrachtet werden. Bei der – ursprünglich durchaus nicht zum reinen Vergnügen betriebenen – Übermittlung von Nachrichten durch Brieftauben beispielsweise ist es ähnlich: Ist das Medium nun die Taube selbst oder der Brief, den sie trägt? Ist es der Text, der die Nachricht transportiert, oder kommt nicht vielmehr der medialen Nachrichtentechnik »Brieftaubensport« als Institution eine Bedeutung zu? Feine Differenzierungen bringen uns hier kaum weiter – sondern eher ins Gestrüpp spitzfindiger Begriffsungetüme als akademischem Selbstzweck. Es führt also kein Weg daran vorbei, den Begriff »Medium« in seiner Vieldeutigkeit zu akzeptieren und dabei anzuerkennen, dass er auf unterschiedlichen Abstraktionsebenen zugleich Gültigkeit besitzen kann.
[23]»Entsprechend mehrdeutig fällt die Liste dessen aus, was als »Medien« bezeichnet worden ist«, schreibt Dieter Mersch (2006, 10 f.) und listet auf: Körper, Stimme, Schrift, Buchdruck, Holzschnitt, Fotografie, Schallplatte, Radio, Film, Fernsehen, Instrumente, Werkzeuge, Proben, Präparate, Apparate, Waffen, Kleidung, Uhren, Geld, Brillen, Häuser, Belüftungssysteme, Konsumgüter, Straßen, Kutschen, Autos, Flugzeuge, Licht, Luft, Wasser, materielle Kommunikationsträger, Liebe, Kunst, Relais, Transistoren, Computerhardware.
So erschreckend verwirrend, allumfassend und deshalb auch bedeutungsarm eine solche Auflistung sein mag, so zeigt sie doch dreierlei:
1) Eine solche Heterogenität lässt sich nur dadurch erklären, dass Medientheorien Bestandteile ganz unterschiedlicher Zugänge zur Deutung der Welt sind. Nur in diesen Kontexten also werden sie sich sinnvoll erklären lassen. In diesem Sinn hat eine übergeordnete kulturwissenschaftliche Theorie von den Medien eine ideologiekritische Funktion: Sie muss die Zusammenhänge jeweiliger Medientheorie mit der umfassenderen Weltanschauung in ihrem Hintergrund aufdecken und erläutern. Die Aufgabe des vorliegenden Buches ist es, die Wirrnis ein wenig zu lichten, die unterschiedlichen Theoriefragmente und Begrifflichkeiten zu sichten und zu sortieren.
2) Schon an diesem Punkt wird klar, dass es nicht eine Medientheorie geben kann, sondern nur Medientheorien im Plural. Nicht nur verfolgen die unterschiedlichen Medientheorien ganz verschiedene Ansätze und Erklärungs- und Deutungsziele; sie sind auch Theorien sehr unterschiedlicher Reichweite und überlappen einander schon deshalb, weil jede Theorie Bestandteil, Ableitung und praktische Anwendung eines philosophischen Ansatzes – meist sogar mehrerer – ist. Im Grunde muss deshalb von einem Geflecht von Theorien und Einflüssen gesprochen werden. Ein Beispiel: Vilém Flussers Kommunikologie (→ S. 155) ist unter anderem stark geprägt vom Denken Edmund Husserls, Martin Bubers und Marshall McLuhans (→ S. 86). Letzterer wiederum weist ebenfalls deutliche phänomenologische Einflüsse auf, steht aber in einer anderen Tradition.
3) Es kann nicht verwundern, dass sich bei einer solchen Gemengelage Theorien unterschiedlichster Reichweite und Herkunft bis zur Unkenntlichkeit durchdringen und vermischen. Dies gilt für ganz andere Theorien allerdings nicht weniger, und es bedarf wohl nicht einmal der Erwähnung, dass der folgende Ausschnitt aus der Geschichte der Medientheorien vereinfachend ist und nicht der tatsächlichen Komplexität von Einflussnahmen und Geltungsansprüchen in den Medientheorien gerecht werden kann.
4) Ein einführendes Lehrwerk wie das vorliegende muss den Versuch unternehmen, so gut es eben geht, sowohl das große Ganze im Auge zu behalten als auch einige ausgewählte Ansätze weitestgehend präzise und verständlich darzustellen. Hier wird die Auswahl zugunsten einiger besonders fruchtbarer und anregender medienphilosophischer Theorien im engeren Sinne getroffen werden.
[24]
Abbildung 2: Einige Einflüsse auf Marshall McLuhan und Vilém Flusser
Verwirrende Disziplinen
Wann immer im deutschsprachigen Raum eine internationale Konferenz zu medientheoretischen Fragen stattfindet, muss den ausländischen Teilnehmern erst einmal eine verwirrende deutsche Terminologie erklärt werden, die einer ebenso wirren Geschichte der theoretischen Auseinandersetzung und wissenschaftlichen Beschäftigung mit Medien entspricht.
Zeitungswissenschaft/Kommunikationswissenschaft
Den Beginn einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Medien in Deutschland markiert die Gründung des zeitungswissenschaftlichen Instituts an der Universität Leipzig 1916. Dass man sich damals entschloss, sich den Printmedien wissenschaftlich zuzuwenden, dass man sie überhaupt in ihrer Medialität zu erfassen begann, dürfte durchaus mit dem Aufkommen der technischen Bilder (Fotografie seit 1826, Film seit 1888)[25] und den elektrischen Medien (Telegrafie seit 1833, Hörfunk ab 1906) zusammenhängen: Erst der Umstand, dass nun Inhalte, neuerdings sogar das gesprochene Wort, anders als in gedruckter Form verbreitet werden konnten, führte dazu, dass ein Bewusstsein dafür entstand, dass Bücher und Zeitungen ebenfalls Medien sind. Ein Gattungsbegriff wie »Medien« ergibt schließlich erst dann Sinn, wenn er mehr als eine Art enthält.
Bereits in den 1930er-Jahren begann die Zeitungswissenschaft konsequenterweise, ihre Zuständigkeit zu erweitern und auszudehnen. Der Film und der Hörfunk wurden nun ebenfalls zu ihren Forschungsgegenständen. Aus der Zeitungswissenschaft entwickelte sich die Publizistik, die Wissenschaft vom Veröffentlichen und von den Veröffentlichungen. Damit war bereits eine Weichenstellung vorgegeben. Denn der Blick auf das Veröffentlichen bedingt die Untersuchung von Öffentlichkeit an sich. Diese traditionellste Form von Medienwissenschaft ist daher klar den Gesellschaftswissenschaften zuzurechnen; da sie sich häufig mit Fragen der Rezeptionsforschung befasst, macht sie sich zumeist Methoden der quantitativen und empirischen Sozialforschung zu Eigen.
Die technischen Massenmedien Film, Hörfunk und Fernsehen verändern und erweitern den Forschungsgegenstand schließlich so grundlegend, dass sich aus Zeitungswissenschaft und Publizistik die Kommunikationswissenschaft entwickelt, die einen viel weiter gefassten Anspruch erhebt: Zum einen widmet sie sich sozialwissenschaftlich der Massenkommunikation, das heißt der Funktion und Wirkung von Massenmedien wie Plakaten, Zeitungen, Film, Hörfunk und Fernsehen in der Gesellschaft. Zum anderen jedoch wird ihr Gegenstand ganz allgemein die Kommunikation unter Menschen. Die Mutterdisziplinen, die bei der Ausformung dieser Forschungsrichtung Pate stehen, sind eher geisteswissenschaftlicher Art. Linguistik, Semiotik (→ S. 174), Philosophie und Psychologie liefern hier methodisch die Instrumentarien.
Beide Ausprägungen der Kommunikationswissenschaft werden später, im Verbund mit philosophischen Disziplinen wie der Erkenntnistheorie, auf das Fach einwirken und das mitbegründen, was wir heute unter »Medientheorie« verstehen.
Medienwissenschaft
Die geisteswissenschaftlich geprägte Erforschung individueller Kommunikation, d. h. derjenige Zweig der Kommunikationswissenschaft, der sich nicht der Sozialforschung zurechnet, dessen Gegenstand weniger die Gesellschaft als vielmehr das Individuum sowie dessen Kommunikationsweiund[26] Mediennutzungsverhalten sind, verbindet sich seit den 1970er-Jahren mit den geisteswissenschaftlichen Fächern der Literatur- und Theaterwissenschaft sowie der Kunstgeschichte zu dem, was seither als »Medienwissenschaft« verstanden wird: Die Medien rücken nun als Gegenstand der Analyse in den Mittelpunkt. Parallel dazu gibt es jedoch auch hier eine zweite, anders orientierte Ausrichtung, nämlich eine soziologisch orientierte Medienwissenschaft, die sich als Weiterentwicklung der ebenfalls sozialwissenschaftlich geprägten Spielart der Kommunikationswissenschaft versteht. Doch nun haben sich die Kräfteverhältnisse deutlich verkehrt: War die klassische Kommunikationswissenschaft eine empirische Sozialwissenschaft, die auch einen am Individuum orientierten, eher geisteswissenschaftlich orientierten Zug aufwies, so versteht sich Medienwissenschaft weit überwiegend als geistes- und kulturwissenschaftliche Disziplin, bei der eine sozialwissenschaftliche Orientierung eher als Ausnahme denn als Regel zu verstehen ist.
Medientheorie(n)
Die geistes- und kulturwissenschaftliche Orientierung der Medienwissenschaft brachte eine Fokussierung auf das Medium als zentralen Faktor im Kommunikationsprozess mit sich sowie eine Hinwendung zur Medialität als grundlegender Eigenschaft und Bedingung von Wahrnehmung. Der medial oder mediatic turn → S. 180) machte in den 1980er-Jahren die Medientheorie plötzlich zur – vonseiten der Schulakademiker zunächst verpönten – Leitwissenschaft für alle, nicht nur für die geistesund gesellschaftswissenschaftlichen Disziplinen. Die Differenzierung der Medienwissenschaft in ihre drei Zuständigkeitsbereiche Medienanalyse (strukturalistischer oder diskursanalytischer Provenienz), Mediengeschichte (oder -archäologie), sowie Medientheorie im engeren Sinn bestimmt seither das Geschehen. Diese Medientheorie ist im Kern eine Wiederkehr zum Teil Jahrtausende alter philosophischer Grundunterscheidungen und -fragestellungen.
Wo Medienwissenschaften der Status und Titel einer universitären Disziplin ist (deren Plural immer noch eine Restturbulenz signalisiert), war Medientheorie die längste Zeit ein Geschehen, das sich – wenngleich […] meist nicht unter diesem Namen – in verschiedensten Wissensdomänen (der Philosophie, den Naturwissenschaften, den Künsten) seit längerer Zeit ereignet hat und immer noch ereignet. Daher ist Medientheorie (über eine Laufzeit von mindestens 2500 Jahren) überhaupt nicht an die Existenz einer akademischen Medienwissenschaft gebunden (ja sie muss nicht einmal an Universitäten stattfinden bzw. [27]sich in Büchern und Aufsätzen niederschlagen, d. h. wissenschaftsförmig sein), kann (und sollte) aber sehr wohl deren bevorzugter Gegenstand im Rahmen einer historisch-epistemologischen Betrachtung sein. (Pias 2011, 18 f.)
Medienphilosophie(n)
Die in diesem Buch skizzierten Medientheorien lassen sich allesamt als anregende, spekulative Medienphilosophien beschreiben. Mit ihnen kehren teilweise uralte erkenntnistheoretische Fragestellungen im neuen Gewand des modisch-postmodernen Dekors zurück. Aber es geht ihnen unverkennbar um Grundfragen menschlicher Kommunikation und des menschlichen Zusammenlebens. Die Kritik der Schulphilosophie an dieser Art neuen Philosophierens war häufig harsch. Und doch greift der Vorwurf des alten Weins in neuen Schläuchen nicht: Dass unter vollständig veränderten Lebens- und Kommunikationsbedingungen die alten, ungelösten Fragen im neuen Gewand erscheinen, spricht nicht gegen, sondern vielmehr für die Relevanz des neuen Blickwinkels auf die Grundsatzfragen menschlicher Verständigung. In wesentlichen Punkten ist Medienphilosophie, wie sie besonders seit Marshall McLuhan, Vilém Flusser und Jean Baudrillard betrieben wird, ganz zu Recht die Leitwissenschaft der heutigen Welt geworden. Ein immer wieder aufblitzender Zug von unseriösen (bis größenwahnsinnigen) Welterklärungsversuchen und endzeitlicher Spekulation gehört da wohl durchaus dazu. Analyse und Programm, Welterklärung und Millenarismus lassen sich in einer Zeit, in der jede Beschreibung von Phänomenen bereits im Verdacht unzulässiger Sinngebung und Konstruktion steht, nicht mehr trennscharf unterscheiden.
Auch mit dieser schematischen Verkürzung und Vereinfachung ist letztlich noch nicht viel an Klarheit gewonnen. Denn auch innerhalb der philosophischen Medientheorien gibt es eine Vielzahl sich widersprechender und einander ausschließender Ansätze, die alle mehr oder weniger ausdrücklich einen Anspruch auf Gesamtgeltung erheben – und darauf, die Welt der Medien, ihrer Produktion und Rezeption, ihrer kommunikativen, weltkonstruierenden und gesellschaftsbildenden Aspekte allein und vollständig erklären zu können.
Dennoch hier ein grob schematisierter Stammbaum der modernen Medienwissenschaften:
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Abbildung 3: Schematischer Stammbaum der Medienwissenschaften
1 Martin Buber spricht in diesem Zusammenhang vom »Mittlertum des Du aller Wesen« (Buber 1995, 71). Die verantwortungsvolle Beziehung zwischen Menschen deutet er als Gleichnis für die Beziehung zu Gott, weil zu diesem keine unvermittelte Beziehung möglich ist. Mehr dazu im Kapitel über Vilém Flusser.
2 S. hierzu Weber 2010, 18–27.
3 S. hierzu: Krämer 2008.
4 Ein Umstand, der wie zur Illustration der Simulationsthese von Jean Baudrillard geschaffen ist: Das Simulakrum als Darstellung der Realität und Realität in einem. Doch dazu mehr im Kapitel über Jean Baudrillard (? S. 182).
5 Im Jahr 490 v. Chr. fand nahe der ca. 40 km von Athen entfernt gelegenen Kleinstadt Marathon eine Schlacht zwischen Persern und Athenern statt, welche die Athener unter ihrem Feldherrn Miltiades für sich entscheiden konnten. Der Legende nach überbrachte der attische Soldat Pheidippides der Bevölkerung von Athen die gute Nachricht, indem er die gesamte Strecke am Stück lief und unmittelbar nach Überbringung seiner Nachricht »νενικέκαμεν« (»Wir haben gesiegt«) tot zusammenbrach. Läufer als Boten waren damals der Stand der militärischen Nachrichtentechnik.