Читать книгу Bangkok Oneway - Andreas Tietjen - Страница 4
Drei
ОглавлениеUte hatte es sich in ihrem Appartement bequem gemacht. Sie hatte eine Flasche guten französischen Rotwein geköpft – ein fast unbezahlbarer Luxus in dieser tropischen Region. Ihre Wohnung war eigentlich eine Hotelsuite. Das Grand City Hotel war ein etwas heruntergekommenes Hotel im Stadtteil Silom, und für eine ebenso heruntergewirtschaftete Zweieinhalb-Zimmer-Suite musste Ute als Dauergast zwölftausend Baht pro Monat bezahlen. Umgerechnet etwa zweihundertachtzig Euro für Miete und wöchentlichen Room-Service waren für jemanden in ihrer beruflichen Position relativ günstig, für eine Stadtwohnung in dieser Lage geradezu ein Schnäppchen. Ute hatte den Fernseher eingeschaltet, um so ein bisschen das Gefühl von Gesellschaft zu haben. Für den Bildschirm hatte sie jedoch keinen Blick übrig. Wie meistens, wenn sie sich alleine betrank – was allerdings recht selten vorkam –, räumte sie ihre Wohnung auf. Sie sortierte Dinge von einem Platz zum anderen um, fand Genugtuung darin, sich von Besitztümern zu trennen, die sie allzu lange nicht mehr benutzt hatte. Dabei sprach sie mit sich selbst, nippte gelegentlich an ihrem Glas und naschte von ebenfalls kostbaren Käsehäppchen. Dafür, dass sie einen grottenschlechten Tag hinter sich hatte, war sie in geradezu bemerkenswert guter Stimmung. Sie hatte sich perfekt auf sich selbst eingestellt, als ihr Handy klingelte. Ute runzelte die Stirn. Gewöhnlich bedeutete ein Anruf um diese Zeit, dass sie sich eiligst fertigzumachen hatte, um Touristen im Rentenalter vom Airport in die verstreut liegenden Vertragshotels des Reiseunternehmens zu begleiten. Diese Gäste benahmen sich, als wenn sie unter Feindbeschuss den nächstgelegenen Luftschutzkeller finden mussten, dabei waren sie in aller Regel mit einer luxuriösen Rundumbetreuung versorgt. Seit dem Eklat mit ihrer Vorgesetzten Stefanie Conner hatte sie diese Art von Beeinträchtigung ihres Privatlebens nicht mehr zu befürchten, trotzdem nahm Ute das Gespräch mit gemischten Gefühlen an.
»Hast du Lust, mit mir zusammen etwas essen zu gehen?«, fragte Dagmar mit unsicherem Zittern in ihrer Stimme.
»Ich lade dich ein, egal wohin!«, beeilte sie sich hinzuzufügen.
Ute war gerührt, fühlte sich jedoch gleichsam ein wenig schuldig, da sie sich den ganzen Tag lang nicht um ihren Schützling gekümmert hatte. Ute war bereits in einen bequemen Hausanzug gekleidet und ihre Weinflasche war inzwischen zu mehr als der Hälfte geleert.
»Nimm dir ein Taxi und komm zu mir rüber«, schlug sie vor. »Hier gibt es alles, was wir brauchen, und ich muss mich nicht wieder ankleiden.«
Etwas schüchtern betrat Dagmar das Appartement. Sie warf einen interessierten Blick in die Räumlichkeiten und setzte sich dann auf einen der Hocker am Küchentresen.
»Ich bin gleich so weit«, hatte ihr Ute zugerufen, bevor sie kurz in ihrem Schlafzimmer verschwand, um sich eine dünne Strickjacke über den Arm zu werfen.
»Ach übrigens. Ich habe heute eine sehr nette Dame kennengelernt, die Seife verkauft«, rief ihr Dagmar durch die offen stehende Tür nach.
»Seife? Aha.«
»Ja, und sie hat mir eine Obstseife geschenkt.«
»Obstseife? Was für eine Obstseife? Wäscht man damit Obst ab?«
»Nein, haha. Sie ist mit einem konzentrierten Obstaroma versehen. So eine stachelige, exotische Frucht.«
Ute kam zurück aus dem Schlafzimmer und nahm ihren Zimmerschlüssel aus einer Holzschale.
»So eine Frucht, von der du mir erzählt hattest, dass sie in Thailand sehr beliebt ist.«
»Ach du meinst Dragonfruit, Drachenfrucht.«
»Nein, die hieß anders, ich komme nicht drauf!« Dagmar überlegte.
»Durian, kann das sein?«
»Durian? Bist du verrückt?! Schmeiß die weg! Durian stinkt wie die Pest, in die meisten Hotels darfst du Durian nicht einmal mit hineinnehmen!«
Dagmar war verlegen. Sie öffnete ihre Handtasche und entnahm ihr das Schächtelchen.
»Hast du einen Mülleimer hier?«, fragte sie unschuldig.
»Sag mal, du spinnst wohl! Die nimmst du schön wieder mit zu dir und schmeißt sie in deinem Hotel weg.«
Ute warf einen kurzen Blick auf Dagmars Präsent.
»Ach Rambutan. Das ist Rambutan-Seife, die ist harmlos. Die kannst du behalten.
Ute setzte sich zu Dagmar an den Küchentresen und verteilte den Rest des Inhalts ihrer Weinflasche in zwei Gläser. Die beiden Frauen prosteten sich zu, genossen das teure Tröpfchen und machten sich anschließend auf ins Rooftop-Restaurant des Hotels. Auch hier oben sah es etwas rustikal aus. Es gab einen Pool, der klein, aber sehr romantisch beleuchtet war. Die geflieste Umrandung war an einigen Stellen mit Kacheln anderer Machart ausgebessert worden. Durch eine kurze Treppe auf einer weiteren Ebene erreichbar, standen wenige Tischgruppen. Etwa in der Mitte dieses Teils der Dachterrasse befand sich eine kleine Bühne, die mit Gerümpel vollgestellt war und an einem mit einer fleckigen Decke verhüllten Tisch richteten Kellner die herbeigetragenen Speisen zum Servieren her.
»Früher gab es hier jeden Abend Barbecue«, schwärmte Ute, »aber da hatte das Haus auch noch ein paar Sterne und internationale Urlauber als Gäste!«
Das Essen war trotz der Patina, die sich über das gesamte Gebäude wie ein Schleier gelegt hatte, ausgezeichnet. Essen ist überall in Thailand ausgezeichnet, hatte Ute bemerkt.
Die beiden Frauen aßen genüsslich eine Zusammenstellung kleinerer Snacks, die Ute ausgewählt hatte, und unterhielten sich gemütlich. Wie mit einem nicht ausgesprochenen Tabu belegt, wurde der verschollene Ehemann mit keiner Silbe erwähnt.
»Bist du eigentlich verheiratet? Du trägst gar keinen Ring«, fragte Dagmar neugierig.
»Ich war verheiratet, vor vielen, vielen Jahren. Das eine Mal hat mir auch gereicht.«
Gedankenverloren schüttelte Ute den Kopf.
»Und seitdem warst du immer alleine?«
»Nein, natürlich nicht. Aber wenn du die meiste Zeit deines Lebens in Hotels in ständig wechselnden Ländern zubringst, dann reicht es nur für mehr oder weniger flüchtige Beziehungen. Ist mir auch lieber so, wenn ich ehrlich bin.«
Dagmar überlegte, während sie eine gegrillte Garnele verspeiste.
»Und was ist im Moment bei dir mit Männern?«
Ute wehrte ab: »Ich habe im Augenblick andere Probleme. Außerdem bin ich langsam in einem Alter angelangt, wo Freundschaften wichtiger sind als Beziehungen. Ich habe mein Soll erfüllt. Ich habe ein Kind in die Welt gesetzt und großgezogen, damit bin ich aus dem Schneider und nur noch für mich selbst verantwortlich.«
Wieder kreisten die Gedanken in Dagmars Gehirn.
»Und was ist mit Sex?«
Sie grinste Ute frech an, die die Augenbrauen hochzog und den Kopf schüttelte.
»Also ich brauche keinen Sex! Hab ich noch nie gebraucht.«
Dagmar: »Aber Sex kann doch ganz schön sein!«
Ute blickte Dagmar spöttisch an.
»Kann! Aber du weißt nie im Voraus, wie es ausgehen wird. Für die paar Minuten, die man da mal auf seine Kosten kommen könnte, muss man heucheln und sich verleugnen. Besten Dank, da trinke ich lieber einen Schnaps und gut ist´s!«
Sie machte eine Pause, dann fuhr sie fort: »Hattest du denn mit deinem Heinz guten Sex?«
»Mit Heinz? Nein, das kann ich nun wirklich nicht behaupten. Meist war es die Mühe nicht wert!«
Ute grinste.
»Na also, wovon redest du dann?!«
»Schnaps!«, erwiderte Dagmar und streckte Ute ihr Glas fordernd entgegen.
»Aber nicht aus einem Weinglas, Schätzchen! Wollen wir uns heute wirklich ohne Gnade besaufen oder spendierst du lieber noch eine Flasche von dem mittelmäßigen, aber sündhaft teuren Italienischen?«
Zu Utes Erleichterung blieb es bei Rotwein, der auch ganz ordentlich wirkte, bei diesen Temperaturen und der spürbaren Luftfeuchtigkeit.
Die Unterhaltung war wirklich angenehm. Ute erzählte von ihrem abwechslungsreichen Leben und Dagmar fand nicht wenige Gemeinsamkeiten bei ihren Vorlieben und Einschätzungen.
Ute Radok war im Januar 1958 als Tochter eines Landarztehepaars in einer niedersächsischen Kleinstadt geboren worden. Ihre Kindheit verlief unspektakulär. Sie hatte einen zwei Jahre jüngeren Bruder, der späterhin ebenfalls Allgemeinmediziner wurde. Ute machte ein durchschnittliches Abitur und fuhr danach für ein Jahr als Au-pair in die USA. Wegen der Möglichkeit, später einmal in der Reisebranche im Ausland arbeiten zu können, absolvierte sie eine Ausbildung zur Reiseverkehrskauffrau. Ihre Jugend wurde geprägt von einem starken Freundeskreis, der sich der Hippiekultur, vielen Konzert- und Festivalbesuchen sowie dem Konsum leichter Drogen widmete.
»Wenn ich mir überlege, was wir damals so weggekifft haben ... Und heute rauche ich nicht mal mehr Zigaretten. War aber eine tolle Zeit!«
Ute füllte die beiden Gläser mit Rotwein nach. Während sie einen großen Schluck davon nahm, wehte ihr ein Windzug eine ihrer leicht gewellten dunkelbraunen, mit einzelnen grauen Haaren durchsetzten Strähnen ins Gesicht.
»Meine gesamte Jugendzeit über war ich hin und her gerissen zwischen meiner Clique und meinen Berufszielen. Ehrgeizig war ich. Ehrgeizig und zielstrebig war ich mein ganzes Leben lang, doch jetzt werde ich langsam müde. Diese Zicke Stefanie Conner hat mir irgendwie den Schneid abgekauft. Soll ich gegen so eine Person kämpfen?«
Sie nahm noch einen Schluck Wein, so als ob sie den bitteren Geschmack dieser Erkenntnis herunterspülen wollte.
»Ich habe internationales Tourismus-Management studiert. Wie organisiere ich mich jetzt mal am besten?«, äffte sie ihre Chefin nach. »Okay, dann ist halt jetzt die nächste Generation dran, das einzureißen, was unsere Generation aufgebaut hat.«
Utes Leben war geprägt von einem unstillbaren Fernweh, das sie nie ganz zur Ruhe kommen ließ. Sie hatte verschiedene Partner, davon zwei feste Beziehungen. Als sie gerade vierundzwanzig geworden war, wurde sie schwanger und heiratete Jochen, den Vater ihrer Tochter Caroline. Nach vier Jahren Elternzeit bekam Ute eine interessante Stellung bei einem Touristikkonzern angeboten, womit jedoch auch häufige Reisen im In- und Ausland verbunden waren. Dies belastete die Ehe stark.
Mit dreiunddreißig – da war ihre Tochter gerade achteinhalb Jahre alt – trennten sie und Jochen sich einvernehmlich, drei Jahre später ließen sie sich scheiden. Caroline blieb bei ihrem Vater, während Ute erst in eine kleine Wohnung nach Hamburg zog und kurz darauf eine Stelle als Reiseleiterin in Thailand antrat. Obwohl sie sich selten sahen und Caroline damals auf eigenen Wunsch zu ihrem Vater gezogen war, hatte sie stets ein gutes Verhältnis zu ihrer Tochter. Ute arbeitete nun schon seit mehr als vierundzwanzig Jahren im Ausland und kam seitdem selten zu Besuch in ihre Heimat.
»Immer, wenn ich in Deutschland bin, habe ich das Gefühl, dass ich einen Schwarz-Weiß-Film sehe«, sagte sie nachdenklich.
Die beiden Frauen lehnten, mit ihren Weingläsern in den Händen, an der Begrenzungsmauer der Dachterrasse und bewunderten die nächtliche Großstadtkulisse. Unten fuhren einige Feuerwehrautos mit Sirene und Blaulicht – richtiger gesagt: Rotlicht – vorbei. Neugierig beugten sie sich vor und blickten in die Tiefe. Die Autos bogen aus einer Nebenstraße langsam in die Silom Road ein und beschleunigten dann ihre Fahrt. Schläuche lagen verknäult auf der Ladefläche.
Dagmar schüttelte den Kopf.
»Das sieht aber auch ganz schön rödelig aus!«
Ute, die sofort erfasste, wovon die Rede war, antwortete entschuldigend: »Die sind sicherlich nicht zum Aufrollen und Trocknen der Schläuche gekommen.«
Dagmar nachdenklich: »Dann löschen die hier mit abgestandenem Wasser?«
Ute: »Ja, da holt man sich ruckzuck eine bakterielle Infektion!«
Sie blickten sich an und prusteten los vor Lachen.
»Du schläfst heute hier bei mir«, bestimmte Ute. »Da draußen lauert die Gefahr in Form von biologischen Kampfmitteln und du bist schon zu betrunken für den Heimweg!«
*
Sie saßen in einem schönen Restaurant im Stadtteil Bangsu direkt am Chao Phraya Fluss. Es war Utes Vorschlag gewesen, Dagmars einundsechzigsten Geburtstag hier mit einem kleinen Candle-Light-Dinner zu feiern. Der ursprüngliche Plan der Urlauberin war, diesen Tag zusammen mit ihrem Ehemann Heinz in der wunderschönen Lampang River Lodge in Nordthailand zu begehen, doch nun hatte das Schicksal diesen unspektakulären Ort für ebendies Ereignis auserwählt. Das Lokal war ein echter Geheimtipp, den nur wenige Ausländer kannten. Beinahe ländlich wirkte die Umgebung, obwohl man mit der Expressfähre nicht einmal eine halbe Stunde bis ins Stadtzentrum brauchte. Auf der Holzterrasse, auf der etwa zehn Sitzgruppen Platz fanden, bestand die Beleuchtung ausschließlich aus verschiedenartigen Kerzenleuchtern. Die vielen liebevoll platzierten Dekorationsgegenstände boten einen geschmackvollen Eindruck der ganzen Bandbreite traditionellen Kunsthandwerks. Das Ambiente wurde abgerundet durch leise Untermalung mit klassisch thailändischer Musik. Einzig das etwas unbeholfene Personal wirkte eine Spur deplatziert.
Während die beiden Frauen schweigend in der Speisekarte nach einem angemessenen Gericht suchten, fragte Dagmar unvermittelt:
»Ob die hier wohl Wein haben? Wenn wir schon meinen Geburtstag feiern, dann auch bitteschön richtig!«
Ute ließ ihren Blick abschätzend in die Runde schweifen.
»Mit Sicherheit nicht, aber ich kann ja mal fragen.«
Der herbeigerufene Kellner war überfordert. Grinsend wiederholte er Utes Anliegen, ohne jedoch die geringsten Anstalten zu machen, näher darauf einzugehen. Stattdessen notierte er die Speisebestellung und eilte zurück in die Küche. Ute machte eine »Bitte-was-habe-ich-gesagt?!«-Handbewegung. Sie nahm ein Plastikfläschchen Sketolene aus ihrer Handtasche und sprühte sich die Beine mit dem Moskitospray ein. Einige Minuten später jedoch trat der Oberkellner an den Tisch heran und wollte wissen, ob die beiden Damen wirklich nach Wein gefragt hatten. Seine Stellung war daran zu erkennen, dass er einen schwarzen Anzug trug und beim Gehen immer eine Hand, mit der Handfläche nach außen gewandt, auf den Rücken hielt. Das war dann aber bereits alles, was er mit einem Ober gemein hatte, in anderen Belangen erwies er sich als Niete. Er erkundigte sich, was für ein Wein gewünscht war.
»Was haben Sie denn da?«, fragte Ute.
»Rotwein und Weißwein«, antwortete der Mann unsicher.
»Rotwein?« Ute sah Dagmar fragend an.
»Rotwein!«, nickte Dagmar.
Der Oberkellner verschwand wieder im Restaurantgebäude und einen Augenblick später sahen die beiden, dass sich der Kellner auf eine alte Honda schwang und damit von dannen knatterte. Ein paar Minuten später war er wieder da, eine Plastiktüte mit einer Weinflasche darin in der Hand.
»Und wenn wir noch eine Flasche bestellen?«, raunte Dagmar ihrer Freundin zu.
»Dann wird er erneut losfahren und im nächsten Family Mart eine weitere Flasche kaufen«, antwortete sie lakonisch.
Nun kam eine junge Kellnerin mit dem Wein und zwei normalen Wassergläsern an den Tisch. Sie lächelte freundlich und versuchte, den Korken mithilfe eines riesigen, Furcht einflößenden Messers aus dem Flaschenhals zu pulen. Das Prozedere dauerte etwa zehn Minuten, dann gab sie verlegen grinsend auf und holte Hilfe aus dem Gebäude. Der Oberkellner kam, in der Hand einen richtigen Korkenzieher. Zwar aus brüchigem, quietschgelbem Plastik, aber immerhin ein echter Korkenzieher. Er schraubte die Spirale schulmeisterlich erklärend etwa einen halben Zentimeter in den Korken hinein, übergab an die Kellnerin und verschwand wieder. Die junge Frau drehte das Gerät noch einen weiteren Zentimeter in den Flaschenhals und hebelte schließlich mühsam einen Brocken des Verschlusses aus der Halsöffnung heraus.
»Das ist ja nicht mit anzusehen!«, kommentierte Dagmar.
»Du darfst sie nun auf keinen Fall unterbrechen«, flüsterte Ute. »Da muss sie jetzt selbst durch, sonst verliert sie ihr Gesicht!«
Weitere zehn Minuten später war der Korken in zwei Häufchen Krümel aufgelöst. Eins davon war über den ganzen Tisch verteilt, das andere schwamm in der Flasche. Inzwischen hatten die beiden Frauen ihre Hauptspeisen bereits verzehrt. Die Kellnerin goss Utes Glas bis zum Rand voll, verbeugte sich verlegen lächelnd und ging.
»Und ich?«, fragte ihr Dagmar hinterher. Beide Frauen fingen an zu lachen. Ute fischte die Korkkrümel mit einem Löffel aus dem Glas und Dagmar füllte das ihre selbst halb voll.
»So, nun lass uns aber mal endlich auf deinen Geburtstag anstoßen! Ich wünsche dir alles Gute, gute Gesundheit und natürlich, dass du deinen Heinz bald wieder in deine Arme schließen wirst. Ach Quatsch, was rede ich. Ich bin lausig in solchen Ansprachen, du weißt schon, was ich meine. Ich wünsche dir, dass du glücklich bist!«
Die beiden Frauen stießen mit ihren Gläsern an.
»Wenn ich dich nicht hätte, dann wäre das jetzt ein ganz deprimierender Tag!« Dagmar kämpfte eine Träne herunter. »Aber dank deiner Hilfe und all dem, was du für mich tust, ist das alles jetzt im Moment nur halb so schlimm für mich. Und dann dieser Blick auf den Fluss ...«
Sie nahmen jede einen kräftigen Schluck von dem Rotwein und verzogen gleichzeitig das Gesicht.
»Vielleicht wird er besser, wenn man Eiswürfel in den Wein gibt«, versuchte Ute.
»Ja, und vielleicht etwas Salz und Pfeffer!«, ergänzte Dagmar. Sie fingen an zu lachen und sahen sich eine Weile einfach nur an.
»Oh mein Gott, ich habe ja noch ein Geschenk für dich. Wie konnte ich das vergessen?!«
Ute schaute in ihre Handtasche und förderte einen mit violetten Orchideenblüten bedruckten Briefumschlag zutage. Freudig erregt öffnete Dagmar das Kuvert und entnahm ihm einen Gutschein für einen Wellnessnachmittag im Seven Eden Spa der berühmten Siri Sathorn Residence.
Ute bemerkte das Zögern und beeilte sich, Dagmar zu beruhigen.
»Keine Angst, ich werde dich nicht alleine ins Paradies schicken. Wenn du nichts dagegen hast, werde ich dich begleiten. Ich kenne die Geschäftsführerin des Eden sehr gut von meiner Arbeit her und bekomme natürlich auch einen kleinen Rabatt dort. Das sind so die Privilegien für uns Mitarbeiter der Reisebranche, nicht dass du denkst, dass ich hier in Bangkok nur im Luxus schwelge.«
Diesen wirklich schönen Abend, der Dagmar ihre riesengroßen Sorgen um den Ehemann für ein paar Stunden in den Hintergrund zu drängen erlaubte, beendeten die beiden Frauen in einer neu eröffneten kleinen Bar. Die Sidewalk Liquor Bar befand sich nur wenige Meter von Utes Hotel entfernt. Sie hatten für den Weg dorthin mit viel Glück die letzte Expressfähre erreicht. Dagmar war beeindruckt von der Flussfahrt durch die von Millionen Lichtern erhellte Riesenmetropole. An den Ufern des Stroms reihten sich die vornehmsten Häuser, Hotels und Institutionen und wetteiferten miteinander mit modern-tropischem Charme und urbaner Eleganz. Dagmar lehnte mit glasigen Augen an der Reling und bewunderte die Szenerie wie ein Kind, das den Weihnachtsbaum betrachtet. Ob ihr Heinz wohl jemals Bangkok von dieser schönen Seite erleben würde? Ob er überhaupt einen Sinn für Derartiges hatte? Sicherlich drehten sich seine Gedanken eher um praktischere Dinge. Wie die hier wohl den ganzen Strom erzeugten und verteilten, ob die Architekten und Baustatiker den gleichen Standards folgten wie in westlichen Ländern, und natürlich, ob die Rollläden dieselbe Qualität aufwiesen wie die, die er in seiner Firma hergestellt hatte.
»Na, ist alles in Ordnung mit dir?«, hatte Ute gefragt und sie hatte geseufzt und mit dem Kopf genickt.
Nun saßen sie an einem kleinen Blechtisch mit pinkfarbenem Tischdeckchen und lasen die lange Liste der angebotenen Getränke.
»Schau mal, die haben geschrieben: Enyoy Ur Drink.«
Ute schmunzelte.
»Ja, und der hier heißt Longi Sland. Weißt du schon, was du nimmst?«
Dagmar überlegte noch.
»Ja, ich probiere mal Cocktails Go Beach.«
Ute nach einer Weile: »Finde ich nicht, wo hast du denn das gelesen?«
»Steht doch da ganz groß auf der Aufstelltafel.«
Ute blickte auf, las und lachte.
»Da steht COCKTAILS 60 B EACH, also jeder Cocktail kostet 60 Baht!«
Die Qualität der Cocktails entsprach dem unterirdischen Einheitspreis. Die Bloody Mary war mit Kirsch- statt mit Tomatensaft gemacht, in der Piña Colada fehlte der Ananassaft und der Mojito sah aus wie mit Blue Curaçao gefärbt. Eines konnte man ihnen aber nicht nachsagen, nämlich dass an Alkohol gespart wurde.
»Die Drinks schmecken so gruselig, dass man sie nur betrunken erträgt!«, stellte Dagmar fest. »Lass uns die ganze Palette durchtrinken, ich hab da drüben eine Toilette entdeckt.«
»Alkohol ist aber auch keine Lösung!«, gab Ute zu bedenken.
»Alkohol ist keine Lösung«, wiederholte Dagmar leicht lallend. »Aber zum Betrinken ist Alkohol allemal geeignet!«
Als Dagmar sich gegen zehn Uhr am Vormittag auf den Weg in die Stadt machen wollte, wurde sie an der Rezeption gefragt, wie lange sie noch im Hotel zu wohnen gedachte. Erst bei dieser Gelegenheit erfuhr sie, dass eine Übernachtung mehr als sechzig Euro kostete. Die Rabatte, die Reiseveranstalter wie Martan Travel in Anspruch nahmen, wurden Einzelreisenden nicht gewährt. Ein Problem mehr, dachte Dagmar und verlängerte zunächst um eine weitere Nacht. Wenn man schon Unglück hat, dann kommt meist auch noch Pech dazu.
Ute hatte ihr am Vorabend wieder ein paar Ausflugsziele vorgeschlagen. Von ihrem Hotel aus konnte sie zu Fuß zur Ratchaprasong gehen, der berühmten Straßenkreuzung, an der sich so bekannte Einkaufszentren wie das 2010 bei Unruhen zerstörte Central-World-Einkaufszentrum, das Central Chidlom, Gaysorn- und die Amarin Plaza befanden. Gegenüber sorgte der Erawan Shrine für einen nicht endenden Menschenauflauf von Gläubigen, die sich von ihren Räucherstäbchen- und Blumenspenden Hilfe bei ihren Alltagsproblemen erhofften oder sich für zuteilgewordene Unterstützung beim Hindu-Gott Brahma bedankten.
Dagmar sah sich das bunte Treiben von dem in luftiger Höhe über der Straße verlaufenden Sky-Walk an. Es war ein Kommen und Gehen von Menschen aller Schichten. Viele von ihnen schienen hier ihren Weg von oder zur Arbeit zu unterbrechen, vielleicht auch ihre Arbeitspausen dort nutzbringend zu gestalten. Anderen sah man die Dringlichkeit ihrer Hilfegesuche an Kleidung und Gesichtern an. Über die Einzäunung um die vierköpfige Brahmafigur herum wurden Berge von Blumengirlanden getürmt. Qualmende Kerzen und unzählige Räucherstäbchen hüllten die gesamte Kreuzung in Rauchschwaden. Der monotone Singsang einer Folkloregruppe und eine Vielzahl von kleinen Glöckchen konkurrierten mit dem Getöse des Verkehrs auf der sechsspurigen Thanon Rama I.
Dagmar lief der Schweiß den Nacken herunter. Sie suchte sich ein nettes Café in einer der Shopping-Malls und bestellte sich einen Eiskaffee. Sie überlegte, ob sie sich zur Sicherheit eine Toilette suchen sollte, verwarf diese Idee aber wieder. Wenn man in Thailand den ganzen Tag lang schwitzt, dann muss man fast nie auf die Toilette. Wenn doch einmal, dann ist der Urin bernsteinfarben, zähflüssig und riecht konzentriert, dachte sie und musste schmunzeln. Komisch, auf was für Gedanken man kommt, wenn man alleine in solch einer fremden Stadt herumläuft.
Dagmar blieb noch eine Weile in dem Café sitzen und grübelte. So kann es nicht weitergehen, sagte sie sich, sonst werde ich noch verrückt. Ich muss irgendetwas tun, um mich abzulenken. Sie kratzte den Schaum ihres Getränkes mit einem langen Löffel aus dem Glas. Als sie ihr Portemonnaie aus der Handtasche nahm, um zu bezahlen, fiel ihr die Visitenkarte des Rettungsassistenten in die Hand. Er hatte sie nach dem Motorradunfall gebeten, sich zu melden. Kurzerhand nahm Dagmar ihr Handy und wählte die angegebene Nummer. Der Mediziner war sehr erfreut über den Anruf und erläuterte die Arbeit seiner Organisation. Als Dagmar auf den Motorradunfall zu sprechen kam, fragte der Sanitäter, ob sie den Hergang schildern könnte und bereit wäre, als Zeugin aufzutreten. Der Unfallverursacher sei bisher nicht gefunden worden und die Polizei war im Begriff, die ganze Angelegenheit zu den Akten zu legen, wenn nicht noch sachdienliche Hinweise oder Zeugenaussagen kämen.
»Wird er denn wieder gesund werden?«, fragte Dagmar besorgt.
»Wer?«
»Na, der Motorradfahrer.«
»Oh nein, der ist gleich nach der Einlieferung ins Hospital verstorben. Er hatte wohl zu schwere Kopfverletzungen.«
Dagmar war erschüttert.
»Dann ist ja seine Familie jetzt noch ärmer dran als vorher.«
»Ja, davon kann man ausgehen, da nun wahrscheinlich der einzige Ernährer wegfällt.«
Dagmar überlegte. Sie stellte sich in Gedanken eine ältere, verhärmte Frau in verschlissener Kleidung vor, die umringt war von einer ganzen Schar ausgehungerter, weinender Kinder.
»Hatte er Familie?«, wollte sie wissen. Der Mann am Telefon konnte diese Frage nicht beantworten, da er dafür Unterlagen einsehen musste, die sich in einem anderen Raum befanden.
»Wenn Sie Zeit und Lust haben, dann besuchen Sie mich doch einfach in unserem Office«, schlug er vor.
»Ich könnte Ihnen bis dahin weitere Informationen beschaffen und Sie würden mir die Möglichkeit geben, ein bisschen Werbung für unsere kleine private Hilfsorganisation zu machen.«
So kam es, dass Dagmar schon kurze Zeit später in einem hell getünchten Raum im Stadtteil Klong Toey in einer kunstlederbezogenen Sitzecke saß und sich angeregt mit dem Rettungsassistenten Elmar Trepkau unterhielt. Elmar hatte sein Medizinstudium unterbrochen, um sich für eine kleine Organisation zu engagieren, die sich bemühte, eine dramatische Lücke im Rettungssystem der Hauptstadt zu füllen. Sie nannten sich Seelensammler. Da sich die thailändischen Krankenhäuser selbst finanzieren mussten und kaum ein Thailänder eine Krankenversicherung vorweisen konnte, rückten Rettungswagen in der Regel erst nach Klärung der Kostenübernahme zu Unfällen aus. Die Organisation finanzierte sich aus Spenden. Sie hatten einfache Rettungsfahrzeuge, mit denen sie schnell zur Stelle waren und Erste Hilfe leisteten. Anschließend verbürgten sich die Seelensammler, die offiziell Medical Emergency Volunteers hießen, für die Bezahlung von notwendigen medizinischen Behandlungen und regelten die Versorgung durch Angehörige oder durch eigene Mitarbeiter.
»Na, dann wollen wir mal schauen«, murmelte Elmar und schlug einen Aktenordner auf. Er las Dagmar daraus vor:
»So ... Bamrung Artmak, geboren am 15.8.2515, also 1972 nach christlicher Zeitrechnung, am Soundsovielten bei einem Motorradunfall mit Beteiligung des unbekannt flüchtigen Fahrers eines Toyota City Ace mit schweren Kopfverletzungen sowie Fraktur der Wirbelsäule ... und so weiter ... eingeliefert im Sathorn Hospital ... den Folgen seiner Verletzungen erlag. Ich erinnere mich, dass es ziemlich lange gedauert hat, bis wir ihn einliefern konnten. Wir haben seinen Angehörigen in einem Dorf in der Nähe von Sawankhalok – das ist nicht weit von Sukhothai entfernt – Bescheid gegeben. Bamrung ist verheiratet und hat wohl auch Kinder. Die Verwandten sind leider finanziell nicht in der Lage, den Leichnam in ihr Dorf überführen und dort bestatten zu lassen.«
Dagmar schluckte betroffen.
»Und was passiert dann mit der Leiche?«
»Moment, hier steht etwas ...« Elmar blätterte in den Dokumenten.
»Hier: Die Leiche wurde verbrannt und anonym beigesetzt.«
»Es fand also nicht einmal irgendeine Zeremonie statt? Und die Familie konnte auch nicht nach Bangkok kommen?«
Elmar schüttelte bedauernd den Kopf. Dagmar schwieg bestürzt. Wieder malte sie sich die Situation dieser armen Familie irgendwo in der thailändischen Provinz aus.
»Und was ist mit dem Motorrad passiert?«
Elmar deutete aus dem Fenster.
»Das hat uns die Polizei hier auf den Hof gestellt. Es sieht gar nicht einmal so übel aus. Die Plastikverkleidung ist gebrochen. Der Blinker und der Spiegel fehlen, aber sonst ... Wahrscheinlich springt die Mühle sogar sofort an.«
»Bekommt dann die Familie wenigstens das Moped?«, fragte Dagmar.
»Wenn sie es abholt. Wir können so etwas nicht leisten. Für solche Dinge reichen unsere Mittel und unsere Kapazitäten nicht aus. Wir versuchen, Menschenleben zu retten, alles andere sprengt einfach unsere Möglichkeiten.«
Dagmar war erschüttert.
»Ich hätte nie gedacht, dass die Menschen in diesem Land so gleichgültig miteinander umgehen!«
»Nein, so dürfen Sie das nicht sehen«, widersprach Elmar vehement. »Dieses Land hat sich erst vor wenigen Jahren von einem Entwicklungsland zu einem modernen Staat mit internationalem Niveau gemausert. Das geht in solch kurzer Zeit nicht ohne Defizite. Früher gab es eine kleine superreiche Oberschicht und eine riesige Masse an gleichmäßig armen Menschen. Heute haben wir eine große und wirtschaftlich bedeutende Mittelschicht, wenige Superreiche und kaum noch Menschen, die so arm sind, dass ihnen die Grundlagen für ein normales Leben fehlen. Das wird natürlich mit einem gewissen Maß an Egoismus und Rücksichtslosigkeit bezahlt, jedoch keineswegs schlimmer, als wir es in unserer eigenen Heimat haben. Durch die teilweise noch lückenhafte Infrastruktur fällt das nur leider stärker ins Gewicht als bei uns. Nehmen wir mal als Beispiel den Motorradunfall von Herrn Bamrung Artmak. Das thailändische Rechtssystem hinkt entwicklungsmäßig noch viele Jahre europäischem Recht hinterher. Hier herrschen noch viel stärker überbrachte Vorstellungen von Schicksalseinflüssen. Ob an diesem Unfall nun der geflüchtete Autofahrer oder Herr Bamrung Schuld hatte, ist gar nicht entscheidend. Wahrscheinlich hätte der Autofahrer aufgrund seiner mutmaßlich besseren wirtschaftlichen Situation die alleinige Schuld zugesprochen bekommen. Da Motorradunfälle häufig tödlich enden, würde dem Unfallgegner vermutlich eine sehr hohe Geldstrafe auferlegt werden, möglicherweise sogar zusätzlich eine Haftstrafe. Diese Strafe würde nicht deshalb verhängt, weil er gegen irgendwelche Regeln der Straßenverkehrsordnung verstoßen hatte, sondern alleine deswegen, weil er durch seine Anwesenheit am Unfallort mitursächlich für den Tod des Unfallopfers war. Das ist für unser Rechtsempfinden absurd, aber hier in Thailand denkt man nun mal so. So ist es doch klar, dass sich nach einem Unfall jeder Beteiligte so schnell wie möglich aus dem Staub macht. Kein Mensch kümmert sich um die Versorgung der Opfer – es könnte ja dazu führen, dass man in die Schuldfrage hineingezogen würde!«
Dagmar hörte sich Elmars Ausführungen interessiert an. Ihre Gedanken kreisten um ihren Mann. Ob dieses schwer nachvollziehbare Verhalten der Thailänder eine Erklärung dafür war, dass ihr Heinz so völlig ohne jede geringste Spur verschwunden war? Sie erzählte dem jungen Mediziner von ihrem Mann, doch auch Elmar hatte keine Idee, in welcher Richtung Dagmar ermitteln sollte.
»Wo würden Sie denn in Bangkok nach einem Vermissten suchen?«
Elmar überlegte.
»Na ja, das Naheliegendste wäre doch, dass ihm etwas zugestoßen ist und dass er jetzt in irgendeinem Krankenhaus liegt.«
»Wie viele Krankenhäuser gibt es denn in Bangkok?«
Elmar holte tief Luft und machte eine ausholende Armbewegung.
»Wir arbeiten alleine mit vierundfünfzig Hospitälern zusammen. Und das sind längst nicht alle.«
»Vierundfünfzig?!«
Dagmar schluckte. Sie stellte sich vor, wie sie wochenlang durch eine völlig fremde Großstadt irrte und versuchte, ohne Sprachkenntnisse Ärzte und Krankenschwestern zu befragen. Ihr Ohnmachtsgefühl wuchs ins Unermessliche.
»Und wenn ich das Moped zu der Familie des Verunglückten bringen würde?«
»Nur zu! Die würden Sie sicherlich mit offenen Armen empfangen.«
»Ich mache Ihnen einen Vorschlag«, bot sie dem Mediziner unsicher an. »Ich kümmere mich um das Motorrad und Sie versuchen, so viele Krankenhäuser wie möglich nach meinem Mann abzusuchen.«
»Ich werde mich gerne für Sie umtun. Das würde ich zwar auch ohne Gegenleistung machen, aber darüber, dass die Familie auf diese Weise wenigstens die wenigen Habseligkeiten des Verstorbenen erhält, freue ich mich natürlich.«
*
»Hast du Lust auf etwas Nachtleben?«, fragte Ute durchs Mobiltelefon.
»Ich habe Lust zu allem, was mich irgendwie aus dieser deprimierenden Situation herausholt«, erwiderte Dagmar.
So schlenderten Dagmar, Ute und Rainer Holl zunächst durch die Soi Patpong, drei Nebenstraßen der Thanon Silom, die eine Mischung aus Touristen-Nepp-Trödelmarkt und heruntergekommenem Puff- und Anmachbar-Viertel darstellten.
»Musst du mal gesehen haben«, hatte Rainer Dagmar gegenüber behauptet, die er gleich von Anfang an geduzt hatte. »Nicht unbedingt ein weiteres Mal, aber einmal solltest du schon hier gewesen sein.«
Das Gedränge in den engen Gassen war dermaßen unangenehm, dass sich das Trio entschloss, schnellstmöglich weiterzuziehen. Sogar Kinderwagen wurden von käsigen Touristen in fadenscheiniger Schlabberkleidung quer durch die Menge geschoben. Die drei kämpfte sich ihren Weg durch die Menschenmassen, um dann fluchtartig in das nächstverfügbare Taxi zu steigen. Anschließend ging es in eine Diskothek, die sich im vierundzwanzigsten Stockwerk eines Hotels befand. Dagmar war vom Ambiente des 24NightFly völlig begeistert, sie tanzte für ihr Leben gerne. Während Ute und Rainer in einer mit weißem Leder bezogenen Sitzecke saßen und Cocktails tranken, bewegte sich Dagmar ausgelassen zu moderner Popmusik. Nach einer Weile ging sie an die Bar und bestellte sich ein Bier. Dann kehrte sie zu den anderen beiden zurück.
»Das macht total Spaß, warum tanzt ihr nicht?«, fragte sie außer Atem.
»Ich habe noch nie getanzt«, antwortete Ute barsch. »Ich bin damals auch ohne dieses Fruchtbarkeitsritual schwanger geworden.
»Was ist das für eine tolle Musik?«, wandte sich Dagmar an Rainer.
»Das nennt sich, glaube ich, Techno. Das wird wohl von Maschinen gemacht und nicht von Menschen.«
»Techno ist Marschmusik für Kinder!«, spottete Ute.
»Na hör mal, zwischen Marschieren und Tanzen ist ja wohl noch ein himmelweiter Unterschied! Außerdem: Mir gefällt´s und ich bin schließlich kein Kind mehr!«
Ute rollte mit den Augen.
»Was hörst denn du für Musik?«, fragte Dagmar.
»Ich höre gar keine Musik – höchstens mal ganz leise.«
»Ich finde, dieses Techno hat etwas Hymnisches«, fuhr Dagmar fort.
»Etwas Hymnisches, ja?!«
»Na ja, man kann gut danach tanzen«, bemerkte Rainer abschätzend. »Und man kann gut Mädchen abschleppen ... oh! Ist mir so rausgerutscht!«
Schuldbewusst sah er Ute an, die nur den Kopf schüttelte.
»Rainer ist Junggeselle aus Leidenschaft, musst du wissen!«
Sie leerte ihr Glas und hielt es Rainer entgegen. Ohne eine Frage zu stellen, ging der damit in Richtung Bar, um Nachschub zu holen. Dagmar wippte mit dem ganzen Körper zur Musik.
»Diese fette Kick zu den Sythie-Flächen haut wirklich rein!«, schwärmte sie Ute vor.
»Fette Kick? Sythie-Flächen? Wovon redest du um Himmels willen?!«
Ute sah ihre Begleitung fassungslos an.
»Ja, ich bin musikalisch vorgebildet. Meine Tochter ist mit einem Musiker verheiratet.«
»Deine Tochter?«
»Ja ich habe eine Tochter. Eine Tochter und zwei Enkelsöhne, Benjamin und Ole. Und einen Schwiegersohn, der der Leadsänger der berühmten Los Spaccos ist.«
Ute, die ihre lederne Umhängetasche soeben nach einem Labello durchsucht hatte, sah Dagmar fassungslos an.
»Los Spaccos? Verarscht du mich jetzt gerade ein bisschen?«
»Nein, ich verarsche dich ganz und gar nicht!«
Dagmar machte eine pathetische Handbewegung.
»Die europaweit bekannte und erfolgreiche Band Los Spaccos hatte zwei richtige Hits: Es gibt so viel Scheiße auf der Welt – und alles kostet Geld – und alles kostet Geld und Du bist aus der Welt – Du bist nicht mal hier da. Zwei Hits, unendlich viele Flops und ein Groupie mit Namen Sarah – das ist meine Tochter. Und diesem Groupie hat der untalentierte, hässliche und eingebildete Leadsänger Dennis Vieregge – genannt Hupe – die Unschuld, die Jugend, das gesamte Sparvermögen und seiner Mutter den Verstand geraubt.«
Dagmar nahm einen großen Schluck Singha-Bier.
»Ach ja, Spaßpunk nennen die ihre Musik. Spaßpunk! Als sie ihn dann endlich zusammen mit einem anderen Groupie im Bett erwischt hatte, haben Heinz und ich eine Flasche Champagner geköpft. Wir haben so laut gejubelt, dass die Nachbarn die Polizei wegen Ruhestörung gerufen haben. Nachdem wir denen die Situation erläutert hatten, hat das ganze Stadtviertel ein Fest gefeiert, mit Kapelle und Feuerwerk. Tja, zu früh gefreut! Meine schlaue Tochter war schwanger und verzieh diesem Vollidioten.«
»Und jetzt haben sie zwei Kinder«, vervollständigte Ute.
»Die Jungs sind wirklich süß. Die kommen voll nach der Oma – mütterlicherseits.«
»Und ist jetzt alles in Ordnung? Ich meine jetzt, wo deine Tochter und der – na, der Musiker – eine Familie sind, ist euer Verhältnis besser geworden?«
Dagmar wiegte ihren Kopf.
»Zu Sarah ja. Das ist deutlich entspannter als vorher. Aber dieser Punk ist jetzt auch noch spießig geworden. Das ist nicht zum Aushalten. Ein klapperdürres Pickelgesicht mit durch Flüssigbaustahl gefestigtem Irokesenschnitt, der mit einer Obi-Heckenschere die Buchsbaumeinfriedung seines Parkplatzes trimmt. Er wischt sich seine Popel an den speckigen Leopardenleggins ab und ich muss mir Filzpantoffeln anziehen, damit ich sein geöltes Eichenparkett nicht zerkratze. Ja sag mal, spinn ich?!«
Rainer kam mit zwei Gläsern und einer Bierflasche zurück.
»Ich hab mein Bier doch noch gar nicht alle«, protestierte Dagmar.
»Mach hin. Das Zeug muss weg. Bier hält sich nicht so lange.«
Rainer fingerte eine violettsilbrig glänzende CD aus seiner Gesäßtasche hervor und hielt sie Dagmar hin.
»Hier. Das war kein Techno, sondern Lounge-Musik. Lounge-Sensation 2015, habe ich dir eben mal vom DJ brennen lassen. Was die jetzt gerade spielen, könnte aber Techno sein.«
»Du kennst hier wohl jeden, was?«
Dagmar nahm die CD erfreut entgegen und steckte sie in ihre Handtasche.
»Zumindest in den Rotlichtvierteln ist er bekannt wie ein bunter Hund«, knurrte Ute.
»Hey, was bist du denn so gereizt?«
Rainer setzte sich und wischte sich ein paar Tropfen verschütteter Cola mit Mekong von seinen Hosenbeinen.
»Wenn du wieder mal Stress mit Stäffenny hast, musst du ihn bitteschön nicht an uns auslassen.«
»Ich habe keinen Stress mehr mit Stäffenny! Das hat sich ausgestresst!«
Mit bitterem Gesichtsausdruck nahm Ute einen großen Schluck aus ihrem Glas.
»Wie jetzt? Hast du doch selbst gekündigt?«, fragte Rainer erstaunt.
»Sie ist mir ein paar Sekunden zuvorgekommen und hat mich rausgeschmissen!«
Dagmar mischte sich ein:
»Wer ist denn diese Stäffenny?«
Ute sah erst Rainer und dann, nach kurzem Zögern, Dagmar an. Dann fing sie an zu erklären:
»Stefanie Conner ist meine Vorgesetzte beziehungsweise war meine Vorgesetzte.«
»Sie hat ihr den Job ausgespannt, dieses Miststück!«, fügte Rainer hinzu.
»Das stimmt doch gar nicht, Rainer!« Ute wandte sich wieder Dagmar zu.
»Ich war jahrelang Reiseleiterin hier in Thailand. Zunächst waren die Rundreisen noch relativ abenteuerlich. Es wurde in mehr oder weniger schlechten Bussen gefahren, viel Improvisation und Spontaneität war gefordert und auch die Gäste waren darin einbezogen. Ich erinnere mich zu gerne an eine Tour, auf der der Bus nicht anspringen wollte. Hätten wir auf einen Ersatz gewartet, dann wäre uns ein ganzer Tag verloren gegangen, also packten alle Gäste mit an, um den Bus anzuschieben. Nach jedem Stopp wieder aufs Neue. Wir haben da ein richtiges Zeremoniell draus gemacht, mit beschwörendem Einreden, Räucherstäbchen und Blumenschmuck am Kühlergrill. Gegen Ende der Reise hatte unser Hokuspokus tatsächlich Wirkung gezeigt und das Fahrzeug sprang wieder von selbst an. Es war eine tolle Zeit. Dann ging mir der Wandel der Thailandtouristen mehr und mehr auf die Nerven. Ich wechselte in andere Länder wie Indien, Nepal und Indonesien. Als die Stelle der Niederlassungsleiterin Thailand vakant wurde, rief mich die Firma nach Bangkok. Vier Jahre lang saß ich fast ausschließlich in einem klimatisierten Büro und bekam kaum etwas vom Sonnenlicht mit. Deshalb beantragte ich eine Versetzung auf eine andere Stelle irgendwo im Konzern. In den letzten Jahren hatte es Veränderungen in der Firmenzentrale gegeben. Wir sind an die Börse gegangen und all die guten Leute, mit denen ich von Beginn an zu tun hatte, alle, die ich kannte und die mich kannten, sind abgewandert. In leitende Positionen waren Manager vorgedrungen, die vom Reisen und von den Besonderheiten der fremden Länder überhaupt keine Ahnung hatten. Es wurde ständig alles umorganisiert, nur des Umorganisierens wegen. Und dann kommt da auf einmal dieses blondierte Fräulein Conner angewackelt, Beautycase größer als ihr Reisekoffer, und will unserem seit Jahren eingespielten Team erklären, wie man Reiseleitung macht. ›Nennt mich einfach Stäffenny, ganz unkompliziert. Wir repräsentieren Spaß und gute Laune.‹ Dieses Weibsstück hatte mich von Anfang an auf dem Kieker. Erstens, weil ich all das in- und auswendig kannte, was sie erst noch mühsam erlernen musste und zweitens, weil ich beliebt bin. Bei den Kollegen, den Gästen und den Geschäftspartnern. Stefanie Conner ist eine Siebenundzwanzigjährige ohne jegliche Auslandserfahrung und ihr wurde die Leitung von Martan Travel Thailand übertragen. Ich musste ihre Fehler korrigieren und davon gab es viele. Ist doch klar, dass sie damit ein Problem hat! Im ersten halben Jahr hat sie mich noch auf Rundreise geschickt, weil sie zu wenige Leute hatte, aber seitdem lässt sie mich nur noch die Drecksarbeit machen und schikaniert mich, wo sie kann.«
»Du hast keine Protegés mehr in dem Laden«, warf Rainer ein. »Ich hätte sofort das Handtuch geworfen, wenn ich gesehen hätte, was da auf mich zukommt. Du warst ja der Meinung, dass alles wieder wie früher werden würde. Wird es aber nicht, Schätzchen!«
*
Ute hatte Brötchen organisiert, es gab Filterkaffee und echten Käse.
»Wir Expats brauchen hier in Bangkok auf nichts zu verzichten«, hatte sie Dagmar vorgeschwärmt. Expat nannten sich die Ausländer, die in fremden Ländern eine neue Heimat suchten, ohne dort jemals wirklich Wurzeln zu schlagen. Gefrühstückt wurde am Küchentresen in Utes Hotelsuite. Nach einer durchzechten Nacht, zunächst in der Diskothek und später noch in einer Szenebar, die fast ausschließlich von jungen Thailändern der gehobenen Mittelschicht besucht wurde, hatte Dagmar ein weiteres Mal bei Ute auf der Couch übernachtet. Die beiden Frauen unterhielten sich über das Leben in einer exotischen Riesenmetropole, aber natürlich wurde auch wieder das Verschwinden von Dagmars Ehemann Heinz thematisiert.
»Hast du überhaupt schon einmal versucht, ihn auf seinem Handy anzurufen?«, fragte Ute.
Hektisch suchte Dagmar ihr eigenes Mobiltelefon hervor und wählte die Nummer ihres Mannes. Nach einer Automatenansage in thailändischer Sprache wurde auf Englisch mitgeteilt, dass der Teilnehmer vorübergehend nicht erreichbar sei.
Ute machte ihrem Schützling ein Angebot.
»Warum ziehst du nicht vorläufig bei mir ein?«, schlug sie vor. »Dein Hotelzimmer wird dich auf Dauer ein Vermögen kosten und für eine gewisse Zeit reichen meine zwei Schlafräume und die große Wohnküche wohl auch für zwei Personen.«
Dagmar zögerte, bevor sie dankbar einwilligte. Sie fühlte sich wohl und sicher in Gegenwart ihrer neuen Freundin, andererseits hatte dieser Schritt etwas Definitives, sich einzurichten auf eine längerfristige Situation. Allzu gerne wollte sie aber daran glauben, dass ihr Heinz plötzlich und guter Dinge wieder auftauchen würde. Martan Travel hatte sich im Bemühen um das Wohlergehen seiner Kunden nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Davon, dass man eine Obhutspflicht seinen Gästen gegenüber hatte, wollte man in der Zentrale Bangkok nichts wissen. Frau Conner war für Dagmar nicht zu sprechen oder ließ sich durch ihre Mitarbeiter verleugnen. Diese wiederum stellten Preisnachlässe für die verpatzte Rundreise und Entschädigungszahlungen in Aussicht, die später mit der deutschen Zentrale ausgehandelt werden müssten. Für die momentane Situation und für jedwede Fürsorge wollte sich niemand zuständig fühlen. Ute war wütend über das Verhalten ihres ehemaligen Arbeitgebers, war aber aufgrund ihres fristlosen Rausschmisses, verbunden mit einem Hausverbot in allen Niederlassungen von Martan Travel Thailand, nicht in der Lage, Entscheidungen herbeizuführen.
»Natürlich haben die keine personellen Kapazitäten mehr für Notfälle«, entrüstete sie sich. »Nachdem so viele Mitarbeiter gekündigt haben.«
*
Gegen halb elf am Vormittag wurde Dagmar telefonisch zu einem Gespräch auf die zuständige Polizeidienststelle gebeten. In einem hellen, holzvertäfelten Büro wurde sie von einem gepflegt aussehenden Offizier in blank gebügelter Uniform zu den Einzelheiten über das Verschwinden ihres Mannes befragt. Es war ein Dolmetscher und Bevollmächtigter der deutschen Botschaft anwesend, der Dagmar ein gewisses Gefühl von Sicherheit vermittelte. Die bekannten Fakten stellten eine mehr als dürftige Grundlage für weitere Nachforschungen dar. Der Polizeibeamte ließ keinen Zweifel daran aufkommen, dass er im Grunde genommen nicht den geringsten Fahndungsansatz erkennen konnte.
»Wir werden das Foto Ihres Mannes veröffentlichen und dann auf Hinweise hoffen«, hatte er gesagt. Nach dem etwa halbstündigen Gespräch lud der Botschaftsmitarbeiter Dagmar zu einem Kaffee ein und sprach einige wichtige Aspekte für die weitere Zeit in Thailand an.
»Wir haben für Sie ein Visum für die Dauer der Nachforschungen beantragt«, erklärte er.
Damit konnte sich Dagmar quasi unbefristet in dem Land aufhalten und musste sich nicht auch noch mit Fragen der Aufenthaltserlaubnis herumschlagen. Für eventuelle finanzielle Engpässe wurde ebenso Hilfe in Aussicht gestellt wie für die bevorstehende behördliche Kommunikation mit ihrer Heimatstadt. Der Beamte drückte noch einmal sein Bedauern über die unglückliche Situation aus, dann verabschiedete er sich freundlich.
*
Als Dagmar, wie verabredet, mit ihrem gesamten Gepäck in Utes Hotelappartement erschien, war diese gerade damit beschäftigt, ihrerseits einen Koffer zu packen.
»Was ist los?«, fragte Dagmar verunsichert.
»Mach dir keine Gedanken, ich muss nach Sukhothai fahren. Möglicherweise wartet dort ein Job auf mich. Rainer hat mich gerade angerufen, ich soll übermorgen am frühen Vormittag dort vorsprechen.«
»Nimmst du mich mit?«, fragte Dagmar bittend.
Ute unterbrach ihre Reisevorbereitungen und zögerte einen Moment lang.
»Warum nicht? Wir müssen dort aber übernachten.«
Dagmar war erfreut und erleichtert. Sofort begann sie, eine Reisetasche zu packen.
»Sagtest du Sukhothai?«, fragte sie Ute plötzlich.
Ute nickte wortlos und Dagmar fing an, hektisch zu werden.
»Wir müssen ein Motorrad mitnehmen. Das ist ganz wichtig!«
Sie nahm ihr Mobiltelefon und wählte die Nummer des Sanitäters Elmar Trepkau.
»Hey, was erzählst du da?! Von was für einem Motorrad redest du?«, warf Ute ein.
Dagmar erzählte Elmar aufgeregt von der bevorstehenden Reise nach Sukhothai, unterbrochen von Utes Protesten.
»Wir fliegen mit Bangkok Airways, versuch da mal, ein Motorrad mit an Bord zu nehmen. Von was für einem verdammten Motorrad faselst du da eigentlich die ganze Zeit?!«
Zwölf Stunden später saßen die beiden Frauen in einer schäbigen Sitzgruppe, die so etwas wie eine Hotellobby im Grand City Hotel darstellen sollte, und warteten auf einen Fahrer namens Khun Pravat. Khun Pravat besaß einen alten, aber sorgsam gepflegten Pick-up der Marke Isuzu. In vielen Jahren hatte er immer wieder Fahrten im Auftrag von Martan Travel erledigt und so waren er und Ute bestens miteinander bekannt.
»Als wir hier in Bangkok diese schwere Überschwemmung hatten, ist Pravats Haus völlig zerstört worden«, erzählte Ute, während die beiden Frauen auf den Fahrer warteten. »Der arme Kerl tat uns im Office richtig leid, da wir ihn und seine ganze Familie seit Jahren gut kannten und wussten, dass es bei denen gerade so zum Leben reicht. Wir haben dann eine kleine Umlage gemacht und ihm damit geholfen, seine Behausung wiederherzustellen.«
»Gibt es denn keine Gebäudeversicherungen in Thailand?«, fragte Dagmar erstaunt.
»Wo denkst du hin?! Hier wird fast gar nichts versichert. Außerdem gibt es Pravats Haus offiziell überhaupt nicht. Er hat es selbst gezimmert – selbstverständlich ohne jegliche Genehmigung. Es steht auf einem Grundstück, das irgendeinem Onkel gehört, der Karriere bei der Armee gemacht hat. Früher war dort eine Mangobaum-Plantage. Der Onkel hatte sich nicht mehr für die Bäume interessiert und dann haben halt seine diversen Verwandten zur Säge gegriffen und eine illegale Siedlung angelegt. Der Mensch muss ja schließlich irgendwo wohnen.«
»Und du hast der Familie des Fahrers Geld für den Wiederaufbau gegeben? Das finde ich aber höchst anständig von dir!«
»Ich habe ihm ein bescheidenes Martan-Darlehn verschafft und er zahlt die Anleihe brav in kleinen Raten zurück. Wir können uns auf unsere Thailänder wirklich verlassen. Das geht alles ohne große Förmlichkeiten. In Deutschland wird bei Katastrophen viel Wirbel gemacht, aber wahrhaft praktische Hilfe gibt es dort doch überhaupt nicht!«
»Na ja, bei uns gibt es aber auch kaum Naturkatastrophen«, gab Dagmar zu bedenken. »Dazu kommt, dass unsere Häuser alle viel massiver sind als hier. So ein gemauertes Haus bleibt bei einer Überschwemmung komplett stehen und schwimmt nicht den nächsten Fluss herunter, wie in Asien.«
Khun Pravat war ein richtiger Kauz, eigensinnig, manchmal stur, aber er war zuverlässig und loyal.
Zwar war Ute immer noch etwas grantig über Dagmars Extratour und verärgert über sich selbst darüber, dass sie sich hatte überreden lassen, aber der Zweck dieser Aktion stimmte sie ein wenig versöhnlich. Khun Pravat fuhr langsam rückwärts in die Einfahrt des Hotels, auf der Ladefläche des Fahrzeugs ein verbeultes Motorrad. Er hatte es in der Zentrale der Medical Emergency Volunteers abgeholt und sich die näheren Umstände erklären lassen. Er kannte die Adresse der Familie, für die das Moped bestimmt war, und er war instruiert worden, wie er Dagmar bei ihrer Mission unterstützen sollte.
Ute nahm auf dem Beifahrersitz Platz und Dagmar zwängte sich auf die enge Rückbank, auf der sich Gepäck stapelte.
»Wird’s gehen?«, fragte Ute und versuchte vergeblich, ihren Sitz eine Idee weiter nach vorne zu rücken. Dann stellte sie Pravat und Dagmar gegenseitig vor. Als der Fahrer den Namen Dagmar hörte, verzog sich sein Gesicht zu einem breit gespannten Grinsen, dicht an der Grenze zum lauten Losprusten. Dagmar registrierte das. Es machte sie unsicher. Der Mann suchte Halt für seinen Blick in belanglosen Dingen am Straßenrand.
»Was hat er?«, fragte Dagmar ihre Freundin.
»Was meinst du?«, erwiderte diese.
»Der Fahrer macht sich doch irgendwie lustig über mich! Nachdem du mich ihm vorgestellt hast, kann er sich doch kaum zurückhalten, um nicht loszulachen. Ist etwas mit mir?«
Ute sah den Thailänder prüfend an, dann fragte sie ihn einfach. Nun war es vorbei mit seiner Beherrschung. Unter lautem Lachen erklärte er Ute, dass Dagmar auf Thailändisch Hundearsch bedeutete. Dak Mah – Arsch Hund. Wieso hatten diese Farang immer so komische Namen? Auf dieses Wortspiel war Ute selbst noch nicht gekommen, obwohl sie derartige Übersetzungsvarianten sehr mochte und sich, seitdem ihre thailändischen Sprachfähigkeiten doch recht passabel geworden waren, köstlich darüber amüsieren konnte.
»Weißt du, warum die Barmädels ihre männlichen Verehrer meistens Darling nennen?«, klärte sie Dagmar auf. »Sie sagen Dak Ling. Das klingt für Ausländer so, als ob sie die englische Aussprache nicht richtig hinbekämen, in Wirklichkeit bedeutet es Affenarsch. Frauen betiteln sie mit Madame, also Mah Dam, Hund schwarz, schwarzer Hund. Von diesen Wortspielchen gibt es Hunderte. Dazu kommen ein unschuldiger Gesichtsausdruck und ein zuckersüßes Lächeln und schon ist die Verarsche perfekt.«
Die Fahrt mit dem Pick-up ging zunächst durch den morgendlichen Berufsverkehr und damit nur im Schneckentempo vorwärts. Die Autos standen in Dreierreihen in beiden Richtungen. Nichts rührte sich. Die Fahrer der verschiedenen Wagen waren mit allen möglichen Dingen beschäftigt, nur fahren taten sie nicht. Dann ging es plötzlich weiter – bis zur nächsten Ampel, der nächsten Kreuzung oder dem nächsten Lieferwagen, der in Seelenruhe mitten auf der Straße entladen wurde.
»Wenn wir mal irgendwo an einer Toilette ...«
»Das fällt dir jetzt ein?!«
»Na ja, im Moment ist es noch nicht dringend, aber wenn wir in diesem Tempo weiterfahren ...«
Endlich erreichten sie den Tollway, den Highway in Richtung Norden. Damit ging es zwar kein bisschen schneller vorwärts, die Wahrscheinlichkeit auf eine Toilettenpause rückte jedoch in weite Ferne.
Dagmar beugte sich zwischen den Lehnen der Vordersitze hindurch nach vorne.
»Erzähl mir etwas über Sukhothai«, bat sie Ute, um die endlos dahinschleichende Zeit zu überbrücken.
»Was soll ich sagen? Sukhothai ist eine hässliche Stadt; völlig verdreckt und rückständig. Es gibt kaum Restaurants, in denen das Essen genießbar wäre. Die Menschen sind lethargisch und unfreundlich. Der Historical Park wird total überbewertet. Die Ruinen aus schmutzig-schwarzem Laterit stehen einsam und verlassen in einem riesigen, halbherzig gepflegten Areal herum und warten darauf, von dem tropischen Klima endgültig aufgefressen zu werden. Ich bin jedes Mal froh, wenn ich meine Touristen da durchgeschleust habe und endlich weiter nach Norden fahren kann.«
»Im Reiseführer wird das aber ganz anders beschrieben«, wunderte sich Dagmar.
»Es kommt darauf an, welchen Reiseführer du hast und wie du ihn liest.«
Ute blickte nach vorne, wo sich der Verkehr langsam seinen Weg bahnte. Hier in den Außenbezirken löste sich der Stau allmählich auf und ihr Fahrzeug nahm an Geschwindigkeit zu.
»Die Landschaft um Sukhothai herum ist wirklich schön. Es gibt viele nette Dörfer und Kleinstädte dort, aber Sukhothai selbst ist ein Drecksnest. Durch die versifften Straßen schlürfen Backpacker in unmoderner, verschlissener Kleidung und Frisuren aus der Bravo von 1974. Sie zotteln entlang der gleichen Tempelfragmente und latschen über die gleichen Andenkenmärkte wie die von ihnen verachteten Neckermanntouristen. Einzig die Restaurants teilen sie sich nicht mit denen. Während die Reisebusse längst weiter in Richtung Lampang oder Ayuthaya abgedonnert sind, treffen sich die Backpacker in American Cafes oder Toni´s Place bei Bier, Sandwiches und Pizza und tauschen Abenteuergeschichten aus; je lauter, desto wahrheitsgetreuer. Mir gehen ja schon meine Kaffeefahrten auf die Nerven, aber von diesen Rucksackgeizhälsen angepöbelt zu werden, ist der Gipfel an Demütigung, den sich ein Resident von seinen eigenen Landsleuten gefallen lassen muss.«
Dagmars Blase machte sich wieder stärker bemerkbar und der Fahrer erhörte ihr Hilfeersuchen und hielt auf freier Strecke am Straßenrand an.
»Gibt’s hier Schlangen?«, fragte Dagmar noch ängstlich, bevor sie sich hinter einen Strauch hockte und dort Erleichterung fand. Kaum war sie jedoch eingestiegen und der Pick-up wieder bei normaler Geschwindigkeit angelangt, bog Khun Pravat in den betonierten Hof einer Raststätte ein, um seine obligatorische Mittagspause zu machen.
»Das gibt es doch nicht!«, protestierte Dagmar. »Hätte er das nicht sagen können? Ich wäre da draußen in der Wildnis fast aufgefressen worden und fünf Minuten später halten wir vor einem modernen Restaurant mit gefliestem Badezimmer.«
»Tja, das mit der Transferleistung ist so eine Sache bei unseren lieben Thailändern!«, kommentierte Ute mit einem Seitenblick auf Khun Pravat.
Am späten Nachmittag erreichten sie Nakhon Kalok, ein bezauberndes Städtchen mit vielen kleinen Geschäften, einem schönen Markt und einem winzigen Bahnhof, an dem zweimal am Tag ein Zug hielt. Nur wenige Augenblicke später stoppte Pravat den Wagen am Rande der staubigen Landstraße. Aus einem einfachen Holzhaus steckten zunächst zwei, dann weitere vier und schließlich noch einmal zwei Kinder neugierig ihre Stupsnasen heraus.
»Oh Gott! Acht Bälger!«
Dagmar sah Ute entsetzt an. Pravat ging ohne zu klopfen hinein und rief etwas auf Thailändisch. Nach einer Weile kam er zurück und führte eine verstört dreinblickende Frau heraus, die sich ihre Hände an einer schmutzigen Schürze abwischte. Die Frau sagte nichts. Sie lächelte nicht, schaute die beiden Langnasen nur verschüchtert an. Der Fahrer redete unaufhörlich auf die arme Frau ein. Er wies auf das Motorrad, doch die Mutter ließ ihren Blick nicht von den Fremden. Weitere Frauen kamen aus der Hütte und drückten sich schüchtern an die Hauswand. Im Nu waren noch mehr Kinder und Erwachsene dazugestoßen und umringten die Fremden.
»Ist das alles Familie der Witwe?«, fragte Dagmar.
Ute gab die Frage thailändisch übersetzt an Khun Pravat weiter, der sich wiederum bei der Frau erkundigte. Es stellte sich heraus, dass die Witwe des Motorradfahrers selbst drei Kinder hatte, die anderen waren einfach Freunde und Nachbarn.
»Thailänder fürchten nichts mehr als Einsamkeit«, erklärte Ute.
Nun wurden Kokosnüsse gebracht, mit einer imposanten Machete aufgeschlagen und den beiden Frauen gereicht. Die Flüssigkeit aus dem Inneren der Nüsse war kühl und herrlich erfrischend. Die Witwe stand weiterhin wortlos vor ihnen und guckte angespannt zu, wie sich die beiden Frauen mit Kokosmilch bekleckerten. Dagmar und Ute hatten das große Bedürfnis, so schnell wie möglich weiterzufahren. Nun wurde das lädierte Moped abgeladen und von Jugendlichen begutachtet. Erst als die drei wieder im Pick-up saßen, wurde ein Päckchen mit Reiskuchen durch die offene Seitenscheibe gereicht und die Witwe ließ Pravat übersetzen, dass sie sich bedankte und Glück und Buddhas Segen für die beiden Frauen wünschte.
Dagmar hatte sich nicht vorstellen können, dass ihre gut gemeinte Aktion in einer dermaßen befangenen und verklemmten Situation enden würde. Während sie schweigend durch das Wagenfenster auf die in der Abenddämmerung schimmernden Reisfelder blickte, kreisten ihre Gedanken um die thailändische Familie. Die ganze Szenerie hatte einen so trostlosen Eindruck auf sie gemacht, gleichwohl wirkten die Menschen genügsam und zufrieden in ihrem bescheidenen Dasein. Das Unglück über den Tod des Familienvaters und Ehemanns schien als schicksalsgegeben akzeptiert worden zu sein. Die Leute waren offensichtlich völlig mittellos, hatten jedoch sich selbst, viele Freunde und Nachbarn. Der Verlust eines Menschen wurde schnell durch eine Vielzahl anderer Menschen ausgeglichen. Bei mir sieht das ganz anders aus, dachte Dagmar. Was, wenn Heinz nicht mehr zurückkommen würde? Dagmar hatte niemanden, der diese Lücke ausfüllen könnte. Sie hatte eine Tochter, die mit Mann und Kindern weit weg von ihrem Zuhause lebte und mit sich selbst genug zu tun hatte, statt sich auch noch um sie zu kümmern. Zu den Nachbarn hatte sie eher oberflächliche Beziehungen und wirkliche Freunde besaß sie gar nicht. Der Bekanntenkreis bestand ausschließlich aus Heinz’ Seilschaften, ohne ihn würde dieser sich bald in Wohlgefallen auflösen. Je mehr Dagmar grübelte, desto klarer wurde ihr, dass sie wirklich allein stand auf der Welt.
Ute hatte ein schönes Mittelklassehotel ausgewählt und dort zwei Einzelzimmer gebucht. Khun Pravat hatte den Damen noch das Gepäck bis vor die Rezeption getragen und dann den Heimweg angetreten. Nach einem erfrischenden Duschbad und dem Wechseln der Kleidung trafen sich die beiden Freundinnen in der Hotellobby. Ute organisierte ein Tuk-Tuk, ein dreirädriges Mini-Taxi auf Basis eines normalen chinesischen Motorrades und gleich darauf knatterten sie durch die laue Nacht in Richtung Innenstadt. Das Restaurant, das Ute ausgewählt hatte und das angeblich das einzige in der ganzen Stadt war, wo man halbwegs genießbares Essen bekam, war zu einer unbewohnten Ruine mutiert. Ratlos schlenderten sie die Straße entlang und landeten schließlich auf dem Nachtmarkt, wo sie sich an einen schmutzigen und mit kleinen Wasserpfützen bedeckten Blechtisch setzten. Das Essen war wirklich nicht berauschend, aber die Atmosphäre glich diesen Mangel aus. An vielen Tischen innerhalb und außerhalb der Markthalle saßen sowohl Thailänder als auch ausländische Touristen, die speisten, tranken und sich laut unterhielten.
Die beiden Frauen blieben nach dem Essen noch eine Weile sitzen und löschten ihren Durst mit wässrigem Draftbeer.
»Lass uns zurück ins Hotel fahren und uns dort noch einen Absacker genehmigen«, schlug Ute vor. »Es war ein anstrengender Tag und morgen habe ich mein Vorstellungsgespräch.«
Sie schlenderten den Nachtmarkt entlang in Richtung Hauptstraße, von wo aus sie eine Rikscha zurück zum Hotel nehmen wollten. An unzähligen Ständen wurden Souvenirs für Touristen, aber auch Kleidung und Gebrauchsgegenstände für die Einheimischen angeboten.
»Schau mal dort. Das sind doch wunderschöne Handtaschen.«
Dagmar nahm eine der ledernen Taschen prüfend in die Hand. Sie drehte und wendete sie, begutachtete die Aufteilung der Fächer im Inneren, schnupperte an dem Material. Unschlüssig warf sie einen Blick in Utes Richtung.
»Kannst du kaufen, nur musst du dich bald entscheiden«, kommentierte die. Als Dagmar nochmals daran roch und die Nase leicht rümpfte, ergänzte sie: »Feinstes Dackelleder, mundgegerbt von Reisbauern aus dem Norden!«
Dagmar sah sie entgeistert an.
»Dackelleder?!«
»Ja, in Thailand isst man Hunde, wusstest du das nicht? Pekinese mit sieben Köstlichkeiten, Pudel flambé, Wok Chow-Chow oder Pitbull stinksauer. Nur vier Beispiele.«
»Madame, eighthundred Baht only for you!«, schaltete sich die junge Verkäuferin ein.
Dagmar hängte das gute Stück verunsichert zurück an den Verkaufsständer und ging weiter.
»Achthundert Baht!«, murmelte sie. »Die spinnt ja wohl!«
»Das sind höchstens zwanzig Euro.« Ute schüttelte den Kopf. »Außerdem musst du natürlich handeln. Die hättest du bestimmt für vierhundert bekommen; zu Hause zahlst du dafür ein kleines Vermögen. Das war schließlich echtes Leder und die Verarbeitung war auch tadellos.«
»Ja, Hundeleder! Nein danke!«
»Das war doch nur ein Witz! Nun mach doch nicht so ein Gesicht, wir sind hier im Urlaub! Zumindest heute und morgen.«
Dagmar hatte sehr unruhig geschlafen. Seit dem Verschwinden ihres Mannes verursachten ihr unbekannte Hotelzimmer ein Gefühl von Beklemmung. Sie hatte das Licht im Badezimmer brennen und die Tür einen guten Spaltbreit offen stehen gelassen. Später frühstückte sie alleine im Restaurant des Nam Yom Resort und wartete darauf, dass Ute von ihrem Termin zurückkam. Gegen Mittag brachen die beiden Damen zu einer ausgiebigen Besichtigungstour des berühmten Sukhothai Historical Park auf. Ute hatte keine Lust darauf, sich in einen der engen und klapprigen Busse zu zwängen, die zudem um diese Zeit mit Hunderten von in blauweißen Uniformen gekleideten Schülern überquollen. Stattdessen winkte sie ein merkwürdiges dreirädriges Kabinengefährt herbei, das sich ebenfalls Tuk-Tuk nannte und auf dessen Bank hinter dem Fahrersitz sie Platz nahmen. Das Vehikel fuhr knatternd und ruckelnd los; Dagmar fühlte sich darin wie bei einer Karussellfahrt. Unterwegs erläuterte Ute, was sie nun erwarten würde, schilderte in wenigen Sätzen die Geschichte Sukhothais und dessen Bedeutung für Thailand. Das Fahrzeug begann immer stärker zu stottern, bis es schließlich ganz zum Stehen kam.
»No Pompen!«, entschuldigte sich der Fahrer, kletterte von seinem Sitz und ging zur Hinterseite des Gefährts. Aus einer Kiste nahm er ein spitzes Werkzeug, mit dem er sich dann am Vorderrad zuschaffen machte. Es gab ein zischendes Geräusch, was darauf schließen ließ, dass Luft aus dem Reifen entwich.
»Khun tam arai, kah? Was machen Sie da?«, fragte Ute gereizt.
»Mai mi bpanhaa! Kein Problem«, antwortete der verlegen grinsend. Dann erklärte er den Frauen, dass der Benzintank so gut wie leer war und dass dadurch, dass die Luft des Vorderrades zur Hälfte abgelassen war und damit das Tuk-Tuk vorne tiefer lag, die letzten Tropfen des kostbaren Sprits in den Vergaser laufen konnten. Sie kamen tatsächlich noch zwei Kilometer weit bis zu einem Verkaufsstand, an dem Benzin in ausgedienten Getränkeflaschen am Straßenrand verkauft wurde. Tanken auf thailändisch!
Auch wenn Ute eine Führung über das Parkgelände in eher zynischer Tonlage vollzog, war Dagmar doch sehr von den vielen historischen Tempeln und Ruinen angetan. Die gesamte Atmosphäre in flimmernder Mittagshitze empfand sie als exotisch und inspirierend. Ute lästerte über die Touristen, die in der Hitze wie Geisteskranke umherirrten. Teils latschten sie mit Kameralinsen vor den Augen den unaufhörlich quasselnden Reiseleitern hinterher, anderenteils jedoch krochen sie, vor Erschöpfung japsend, von Schatten zu Schatten. Besonders argwöhnisch beäugte Ute die Rucksacktouristen, die sich in Shorts und T-Shirts auf dem Rasen fläzten und ihrerseits über die Gruppentouristen spotteten. Rucksacktouristen waren für Ute ein rotes Tuch.
»Wenn ich eine hinter indischem Ohm-Kostüm versteckte Wabbelfigur ausgerechnet am Bangkoker Changpier fachkundig die Auslagen der Essensstände begutachen und durch Drücken den Reifegrad der Früchte prüfen sehe, dann weiß ich genau, welchen Reiseführer die Dame in ihrem Gepäck hat«, stänkerte sie.
Die beiden Frauen schlenderten weiter in Richtung Ausgang und Dagmar zwängte sich unter dem Rüssel eines lebensgroßen, steinernen Elefanten hindurch. Aus ein paar Metern Entfernung beobachteten dies ein paar Gärtnerinnen, die augenblicklich laut anfingen zu kichern.
»Ben arai kah?«, rief Ute ihnen zu.
Die Frauen erschraken zunächst darüber, dass eine Europäerin Thai sprach, dann aber lieferten sie die Erklärung für den Spaß, den sie hatten. Ute grinste Dagmar an.
»Erwartest du noch Nachwuchs?«, fragte sie amüsiert.
»Nachwuchs? Hier? Ich verstehe nicht!«
»Na, ob du schwanger bist? Wenn eine Frau in Thailand unter dem Rüssel eines Elefanten hindurchgeht, dann erhofft sie sich davon eine leichte, schmerzfreie Geburt.«
Zusammengekauert saßen sie auf schmalen Holzbrettern auf der Ladefläche eines zum Bus umgebauten Lkw und ratterten in Richtung Neustadt. Ute war nicht vollends bei der Sache. Sie war sich nicht sicher, ob sie einen guten Eindruck bei der Firma gemacht hatte oder ob ihre Gesprächspartner nur einfach sehr höflich gewesen waren. Ungewöhnlich fand sie auch, dass sie zu einem weiteren Gespräch am folgenden Tag eingeladen worden war. So ganz hatte sie nicht realisieren können, um welch eine Art von Tätigkeit es überhaupt ging. Der Konzern hatte nichts mit der Reisebranche zu tun. Soweit sie es verstanden hatte, sollte sie ausländischen Mitarbeitern oder Geschäftspartnern Reisen und Übernachtungen innerhalb Thailands organisieren.
»Willst du noch einmal in die Stadt, oder wollen wir uns wieder auf der Hotelterrasse einen Absacker genehmigen?«, fragte Ute.
»Mir wäre das Hotel recht«, antwortete Dagmar erschöpft. Ihr taten die Füße vom Laufen weh und nach mehreren Stunden Aufenthalt in der brütenden Hitze fühlte sie sich verzehrt und ausgelaugt.