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Goldmarie und Pechmarie

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Es war ein schweres Erwachen. Gerade so wie Walter in dieser Nacht um ein paar Krumen Schlaf gebettelt hatte, so klammerte er sich an diesem Morgen mit allen Fasern an seinen Halbdämmerzustand wie ein Hungerkind an seine Brotkruste. Zweimal musste das Zimmermädchen sich räuspern und ihn verlegen stören: „Entschuldigen Sie, ich wusste nicht, dass Sie noch im Zimmer sind. Es ist schon halb zehn.“

Oh nein! In seinem zerwühlten Bett kam sich Walter vor wie das zerzauste Staatsschiff des Horaz, mit gebrochenem Mast, zerrissenem Segel, fehlenden Rudern und ohnmächtigem Steuer. So sollte er in den neuen Tag treten? „O navis. – Trägt von Neuem, o Schiff, dich in das Meer die Flut? / O, was tust du? Mit Macht strebe dem Hafen zu!“ Der sichere Hafen – Walter verkroch sich tiefer unter die Bettdecke. Doch gleich dämmerte ihm, dass ihn jemand angesprochen hatte, und er fügte sich ins Unvermeidliche. Natürlich, heute Nacht war er von dem Vorgefallenen viel zu verwirrt gewesen, um noch das rote „Bitte nicht stören“-Schild an die Tür zu hängen. War es tatsächlich schon halb zehn? War er also doch noch eingeschlafen und hatte heißhungrig die restlichen Rationen an Nachtruhe verschlungen, die ihm diese unmögliche Hochzeitsgesellschaft nicht entreißen konnte?

Stand da wirklich jemand in seinem Zimmer? Eine leibhaftige Person und kein Schreckgespenst aus seinen Träumen? Beim Erwachen von jemandem beobachtet zu werden, das war bei ihm doch gar nicht vorgesehen. Er wachte immer alleine auf. Und dann, wie konnte ihn dieses Mädchen auch noch auf Deutsch ansprechen? In einem gebrochenen Deutsch, aber doch viel besser als das der durchschnittlichen Angestellten in diesem Hotel. Weil Deutschland das Land ihrer Träume war? Mühsam richtete er sich im Bett auf und murmelte etwas wie eine Entschuldigung. Der Kopf war ihm schwer, die Augen verquollen. Welchen Anblick bot er wohl? Hastig stand er auf und hüllte sich in den Morgenmantel.

„Oh, Sie sind aber ordentlich. Das erlebe ich nur selten“, beachtete sie seine Geste. Walter sah zu dem Mädchen auf. Sie war eine Ausländerin, bestimmt als Flüchtling nach Italien gekommen. Eine Afrikanerin aus Äthiopien, unverkennbar mit ihren hervortretenden Backenknochen, der markant gezogenen Nase und dem schokoladenbraunen Teint. Nein, ordentlich, so sah sie aus, nicht er. Richtig edel, mit tiefem Blick und einem gewissen Stolz im Auftreten. Er konnte sich die Anzüglichkeiten lebhaft vorstellen, denen sie beim Saubermachen der Zimmer ausgesetzt war.

„Ordentlich? Ich und ordentlich?“ Walter lachte in jenem scharfen Ton, den ihm die letzten achtzehn Jahre beigebracht hatten. „Wenn Sie wüssten …“

Sie schien seinen Einwurf nicht zu beachten. „Ich kann auch wieder gehen. Dann mache ich Ihr Zimmer als letztes, vielleicht in einer Dreiviertelstunde.“

„Nein, nein, bleiben Sie!“, unterbrach er sie. Jetzt mit jemandem reden zu können, und das auch noch in seiner Muttersprache, das war doch ein Geschenk des Himmels.

„Dann erlauben Sie, dass ich im Bad beginne, wenn Sie nicht selbst …“

„Ach nein, lassen Sie!“, unterbrach er sie wieder. „Sie erweisen mir einen größeren Gefallen, wenn Sie einfach nichts tun und nur ein paar Minuten hierbleiben. Ich brauche jemanden zum Reden.“

Wortlos ging sie zur Zimmerbar, betätigte geschickt zwei versteckte Hebel, und aus einem Seitenfach sprang ein kleiner Plastikbecher hervor, der in wenigen Sekunden mit einem starken Espresso gefüllt war. „Da, nehmen Sie!“ Sie schaute ihn freundlich an. „Sie sehen aus, als bräuchten Sie einen Kaffee.“

Diese Schwarze war wirklich klug. Und wie gewählt sie sprach. Wahrscheinlich wäre sie Ärztin geworden, Anwältin oder Lehrerin, wenn die Verhältnisse in ihrem Land es erlaubt hätten. Walter holte einmal tief Luft und begann: „Wenn Sie wüssten, was ich heute Nacht erlebt habe!“

„Die Hochzeitsfeier, ich weiß“, meinte sie. „Ich habe selbst bis um halb vier kein Auge zugetan. Aber heute Morgen um halb sieben ging der Dienst schon wieder los.“ Walter wollte sich schämen dafür, dass er, der reiche Deutsche, zum Ausgleich bis um halb zehn in den Federn liegen konnte. Doch unverschämt drängte sich etwas anderes in den Vordergrund und stieß den hauchdünnen Abstand einer halben Nacht wie eine leere Dose beiseite. Mit Wucht drängte sich ihm auf, was er nachts um halb drei unten auf dem Flur erlebt hatte. Was war da geschehen? Das mit dem Prälaten, ja, das war der eigentliche Vorfall dieser Nacht, nicht diese überlaute Party. Er wollte anfangen zu berichten, aber zunächst kamen ihm nur einige unzusammenhängende Brocken über die Lippen. Und doch, es musste heraus, das mit den Zweien in der Lounge, mit Giovanni, dem Besuch in der Kirche, und dann … Nur von der Beichte erzählte er nicht. Natürlich nicht. Er war kein Priester mehr, aber er wusste, das Beichtsiegel ist ein absolutes Tabu. „Haben Sie vielleicht selbst etwas von dem Zwischenfall gehört?“, beendete er seinen Bericht. „Musste ein Notarzt gerufen werden?“ Was redete er da? Er war Zeuge des Elends eines Betrunkenen gewesen, weiter nichts, so hatte er es sich inzwischen zurechtgelegt.

Nein, das Mädchen schüttelte nur den Kopf, nichts hatte es gehört in der Nacht. Auch nicht heute Morgen, als die Zimmermädchen und kleinen Angestellten vom Hotelchef die Anweisungen für den heutigen Tag erhalten hatten. Alles wie immer. Außer einem: Die Wohnung des Prälaten, so hieß es, müsse Sie heute nicht saubermachen. Der verehrte Geistliche sei abends nach Subiaco gefahren, ins Tagungshaus seiner Bewegung, und werde so schnell nicht wieder zurückkehren.

Walter leerte den Espresso in einen Zug, und mit einem Blick fragte ihn die feine Afrikanerin, ob er nicht gleich noch einen zweiten zu sich nehmen wollte. Gerne tue er das, nickte er ihr geistesabwesend zu. Diese nächtliche Fahrt nach Subiaco wirkte bei ihm bereits wie ein doppelter Kaffee. Wie denn, der Prälat abgereist und nicht im Hause? In seinem Zustand hätte er keine fünf Schritte mehr gemacht, geschweige denn hundert Kilometer mit dem Auto. Und was hieß da abends, wenn ihm Walter doch erst tief in der Nacht begegnet war? Subiaco war also eine glatte Lüge. Eine Notlüge, wie Sandy gesagt hätte? Aber worin bestand dann die Not? Bloß weil ein Mann Gottes kräftig einen über den Durst getrunken hatte? Oh je, dann müsste man viele solcher Lügen erfinden, in Deutschland sicher und in Italien wohl kaum anders!

Ächzend drückte der Deutsche sich von der Bettkante empor und schnürte den Gürtel des Morgenmantels enger. Scheu trat das Zimmermädchen zwei Schritte zurück. „Lassen Sie mich nur schnell mal ins Bad!“, erklärte er und verschwand hinter der schmalen Tür. Drinnen war von oben bis unten alles mit großen Spiegeln ausgestattet. Eine unbarmherzige Idee. Und dann lockerte sich auch noch der Gürtel. Ach, die nackte Wahrheit seiner dünnen Ärmchen, die aus den Ärmeln hervorschauten und die nicht wie Muskeln, sondern wie schlaffes Packpapier aussahen! Dafür ein Bauch wie eine aufgeblasene Tüte, und der Rücken, oh je, der war schon richtig gebeugt, weil er seit Jahren selbst am Schreibtisch den Kopf zwischen den hochgezogenen Schultern versteckte, so als müsste jeden Augenblick ein Keulenschlag von oben kommen. Von diesen blank geputzten Spiegeln wurde ihm die Quittung dafür präsentiert, dass er schon in Schultagen Latein geliebt, Sport dagegen gehasst hatte. „Sport ist Mord, Turnen füllt Urnen!“, ach ja, im jugendlichen Leichtsinn ließ sich noch leicht spotten. Er kniff die Augen zu und schlug den Mantel enger um sich. Als er die Augen wieder öffnete, lachte ihm frech seine viel zu breite Nase entgegen, die ihm im humanistischen Gymnasium den Spitznamen „Zitterrochen“ eingebracht hatte. Damals war er irgendwie stolz darauf, denn so war er ein zweiter Sokrates, der mit der elektrisch geladenen Spürnase seiner Nachfragen die größten Vielsprecher verstummen ließ. An Tagen wie diesen lähmte ihn dieses unförmige Riechorgan allerdings nur selber. Was für ein toller Start in den ersten Urlaubstag! Er riss den Blick von seinem Konterfei los und bemerkte einen zweiten Morgenmantel in Rosa. Noch so ein Keulenschlag wie so viele in seinem Leben – kein Wunder, dass er mit seinen fünfzig Jahren schon Haltungsschäden aufwies! In diesem Hotel gab es also nur noch Doppelzimmer und keine Einzelzimmer. Wie sein Sokrates-Verstand messerscharf schloss, war ein Alleinstehender wie er hier also überhaupt nicht vorgesehen. Übrigens auch nicht beim Preis, so erinnerte sich sein von Kindertagen an auf Sparsamkeit getrimmter Geist: Doppelzimmer ist Doppelzimmer.

Diese verdammten Spiegel überall! Zu allem Überdruss starrte ihn neben dem Waschbecken jetzt auch noch sein Gesicht vergrößert aus einem Hohlspiegel an. O Gott, die Nacht war wirklich abscheulich gewesen. Wenn’s nur die unfeine Nase wäre. Die fettigen Haare standen nach allen Seiten ab, als wären sie ein Waldstück, durch das ein Tornado gefahren ist. Unter den Augen vom fehlenden Schlaf dicke Ringe und herunterhängende Tränensäcke. Aus den Ohren sprießte ein Büschel Härchen. Sie hätte er vor Antritt der Reise wenigstens noch beseitigen können. Richtig ungepflegt sah er aus, wie einer, der sowieso nichts mehr vom Leben erwarten könnte. Ein Midlife-Mann, bei dem es wahrhaftig nichts zu feiern gab, und diese Romreise, sie war doch auch bloß ein Trostpflaster seitens der Eltern. Nach einer eiligen Katzenwäsche verließ er das Bad. Zum Rasieren hatte er ohnehin keine Lust, nachdem er gestern beim Auspacken und Sortieren seiner Toilettenartikel festgestellt hatte, dass er statt Rasierschaum ein Anti-Zecken-Mittel eingepackt hatte. Typisch!

Natürlich, die Äthiopierin war weg, verschwunden aus seinem Zimmer, so geräuschlos, wie sie es vor zehn Minuten betreten hatte. Nun gut, was sollte sie auch bleiben? Sie hatte zu tun, irgendjemand las ihre durchschnittlichen Zimmerzeiten sicher in irgendein Programm ein und stellte fest, dass man noch irgendwo eine Viertelstelle einsparen könnte. Zeit für einen Plausch mit einem Langschläfer war da einfach nicht vorgesehen. Einen Plausch? Er hätte sie gerne befragt über die Schlepper in Afrika, die Bootsbesitzer an der Küste, die Todesgefahr auf dem Meer und … Ach, sie war doch sicher nur froh, dies alles hinter sich zu haben, und einem Wohlstandsdeutschen ein paar Schauergeschichten aus erster Hand zu präsentieren, dazu war sie sich doch sicher zu schade.

Walter quälte sich in die angeblich legere Kleidung, die seine Mutter ihm für die Reise besorgt hatte. In diesen bunten Farben kam er sich wie verkleidet vor. Sie passten einfach nicht zu seiner grau melierten Seele. Trotzdem, auf zum legendären Dreißig-Meter-Frühstücksbuffet des Holy Palace! Er musste doch endlich etwas haben von seinem Luxusurlaub. Ach, stattdessen irgendwo auf einer Alm oder wenigstens auf dem Dorf in einer Familienpension übernachtet zu haben, jetzt eine knarrende Holztreppe in die Stube hinunterzusteigen und dort von frischen Semmeln, kräftigem Kaffee und guter Hofmilch erwartet zu werden!

Aus einem Reflex heraus schaltete er den Fernseher ein. Als Sohn kleiner Leute wollte er bei großen Ausgaben nicht das Mindeste der Leistungen verpassen. „Lieber sich den Bauch verrenkt, als dem Wirt etwas geschenkt!“, so hieß es zuhause lachend, aber ganz ernst gemeint. Die italienischen Nachrichten liefen, die großen Weltneuigkeiten waren schon vorbei, jetzt ging es um die vermischten Meldungen, um einen Erdrutsch in Kalabrien, eine Schießerei bei der Verhaftung von Drogendealern und natürlich auch wieder um ein aufgegriffenes Flüchtlingsschiff. Da hatte er doch noch sein Drama, um das ihn die Äthiopierin gebracht hatte. Er schaute nur mit einem Auge hin. Der Hosengürtel verlangte seine volle Aufmerksamkeit, denn der Dorn wollte einfach nicht in das elende Loch. Nun musste er doch das nächstweitere nehmen. Da hatte er den Beweis, es war nicht zu leugnen: Trotz aller halbherzigen Diäten legte er seit Jahren an Gewicht zu, mäßig, aber regelmäßig, ganz wie sein Charakter nun einmal war. Von dem Palaver auf der Mattscheibe verstand er auch höchstens die Hälfte, und das ärgerte ihn, denn in der Studienzeit war er stolz auf seine Sprachkenntnisse gewesen, in die er sogar ein paar Brocken Romanesco, des römischen Dialekts, einzuflechten verstand.

Neues Thema der Nachrichten, und mit einem Mal waren Taillensorgen, wehmütige Nostalgie und Kopfbrummen wie weggefegt. Auf dem Bildschirm lief die Meldung: „Prälat Maranucci überraschend verstorben.“ Das war doch … das war doch …! Als sie sein Bild einblendeten, war kein Zweifel mehr möglich: Das war der Geistliche, den er in dieser Nacht von seinen Sünden losgesprochen hatte. Maranucci hieß er also, und was er da auf dem Boden mit letzter Kraft von ihm verlangt hatte, war eben doch nicht eine seltsame Laune mit zweieinhalb Promille, sondern die letzte Reue vor dem dunklen, dunklen Tor. Er war tot.

Schon war die Nachrichtensprecherin zum Wetter übergegangen. Walter schaltete den Apparat aus. Jetzt musste er sich erst einmal wieder auf die Bettkante setzen. Tot! In dieser Nacht, wirklich. Alles war viel schlimmer als befürchtet. Dann hatte Walter ihn womöglich als Letzter lebend gesehen. Sofort war alles wieder da, einschließlich seiner Unsicherheit: Was hätte er denn tun sollen? Jemanden verständigen? Nein, Maranucci wollte wirklich beichten, nichts anderes, und er hatte das so fest verlangt, dass Walter doch gar nichts anderes übrig geblieben war. Mitten in seine Skrupel hinein hallte auf einmal der Name Subiaco nach. Ja, so hieß es eben, exakt wie die Äthiopierin es gesagt hatte: plötzlich verstorben in Subiaco, bei der Vorbereitung einer Tagung im Haus von Gaudium et Spes. Konnte das doch irgendwie stimmen? Dass der Prälat sich in seinem Zustand mit dem Auto aus der Stadt aufgemacht hatte? Dass man vielleicht einen Alkoholunfall vertuschen wollte? Nicht unmöglich, aber kaum wahrscheinlich, so elend hatte er gewirkt. Und wenn ihn jemand anderes chauffiert hätte? Das läge nahe und würde alles auflösen, und dann wäre Walter eben doch nicht das letzte Gesicht, in das er geschaut hatte. Nur, in den Nachrichten hieß es, er sei in der Nacht verstorben und morgens tot auf seinem Zimmer aufgefunden worden, das fromme Buch der „Nachfolge Christi“ auf seinem Nachttisch. Nein, das war entschieden zu dick aufgetragen, das roch nach Lügen und Geheimnissen!

Unter diesen Gedankenstürmen hatte er sich angekleidet. Jetzt würde ein ordentliches Frühstück auch sein Denken wieder in geordnete Bahnen lenken – Taille hin, Taille her. So verließ er den Schauplatz seiner nächtlichen Kämpfe, nahm aber nicht den Aufzug nach unten, sondern ging über die Treppen, in der vagen Hoffnung, die Bewegung würde seine Geister wieder munter machen. Unbewusste Absicht oder Zufall, jedenfalls stand er so wieder unten am Eingang des Flurs, in dem … Wildes Geschrei von zwei Kindern empfing ihn. Sie spielten Fangen und rempelten ihn dabei zweimal an. Es waren auch noch Deutsche, die sich mit „Fick dich! Fick dich!“ in aller Unschuld gegenseitig anfeuerten. Ach Gott! Die Lampen leuchteten jetzt jeden Winkel taghell aus. Nun fielen auch ihm die Hinweisschilder am Anfang des Flurs auf: Konferenzsaal, Kino, Sauna … Hinten ging der Aufzug, und eine kräftige Männerstimme vertrieb endgültig jeden Grusel, der ihn überkommen konnte. Jetzt war Tag, helllichter Tag. Was er vor Augen hatte, das war wirklich, wirklich zum Anfassen, das allein. Er stand am Anfang eines stinknormalen Gangs in einem Hotel der höheren Klasse, wie es Hunderte allein schon in Rom gab. Punkt und nichts weiter. Wie sollte in ein solches Bild das hineinpassen, was seine Erinnerung mit diesem Ort verband? Und wenn sie ihn einfach täuschte, Traum und Realität miteinander verschmolz? Alles tauchte ja nur ganz verschwommen wieder auf, abgerissene Erinnerungsfetzen, vermischt mit Kopfweh, Taumeln im Halbschlaf, kratzenden, verklebten Augen und einer elenden Stimmung. Beinahe wie bei Dante am Eingang der Hölle hatte er sich verirrt im wilden, verwachsenen Wald am Rand dieses Partyinfernos. So eine Nacht würde er seinem ärgsten Feind nicht wünschen, dafür stand sie ihm noch zu schrecklich vor Augen. Hatte er nicht schon Phantasien von Welterschütterung und Gerichtsengeln gehabt? Aber was da im Einzelnen gewesen war, wie sich alles genau abgespielt hatte, wie er überhaupt in diese Szene auf dem dunklen Flur hineingeraten war, auch da ging es ihm wie Dante. Er war so müde gewesen, dass er im Nachhinein nur das eine noch mit Bestimmtheit sagen konnte: Er hatte sich auf dem Flur verirrt wie der große Florentiner in seinem Wald am Eingang zum Inferno. War dann alles andere nur Phantasie, schlecht zusammengesetzte Bilder aus einem Albtraum?

Subiaco! Dieser Ortsname klang so heiter wie Franziskus, so fromm wie Benedikt, und jetzt hatten sie ihn missbraucht, ganz eindeutig. Diese Behauptung, der Prälat sei gestern dorthin gefahren, nein, sie war keine Einbildung, das hatte er eben gehört, nach zwei Muntermachern von Espresso. Und dass diese Geschichte nicht stimmte, überhaupt nicht stimmen konnte, ja dass hier ganz bewusst und absichtlich eine Falschaussage gestreut wurde, das war ebenso real. Eine echte Lüge. Also war die Wahrheit ihr Gegenteil, und deshalb konnte es wirklich so gewesen sein, wie er sich dunkel erinnerte. Sofort war alles wieder da, glasklar und detailscharf. Keine Bruchstücke mehr, sondern jede Minute so, als würde sich das Drama in diesem Augenblick wieder abspielen: die liegende Gestalt, der Alkoholgeruch und … Zögernd schlich er bis zu der Stelle des seltsamen Beichtstuhles. Da war doch … Ja, da war doch gestern diese große Pflanze gewesen, dieser Ficus, hinter dem im Halbdunkel nur die Beine zu sehen gewesen waren. Sie war nicht mehr da. Walter ging in die Hocke und fuhr mit Zeige- und Mittelfinger über die Stelle, an der der Kopf gelegen hatte. Nicht das Geringste war auffällig. Alles nichts als ein böser Traum? Hatte er selbst zu viel getrunken, etwa mit Giovannis randvollem Grappa? Wieso hatte er keine Hilfe geholt? Nur weil der Mann ihn nach der Beichte von sich gestoßen hatte? Natürlich, da hatte ihn der Gedanke durchzuckt: So schlecht kann es ihm doch nicht gehen. War das seine eigene Absolution dafür, dass er nichts unternommen hatte? Nein, nein, solche Vorstellungen waren lächerlich. Sich jetzt nur nicht selbst verrückt machen! Wahrscheinlich hatte er die Nachrichten nur schlecht verstanden, und alles würde sich als ganz harmlos aufklären, vielleicht einfach als eine Verwechslung. Sah nicht ein italienischer Prälat aus wie der andere? Na ja, aber sicher nicht dieser Maranucci samt seinem Spazierstock mit dem Adlergriff! „Stock und Hut stehn ihm gut. Aber Mutter weinet sehr …“ Ach, werd’ nicht kindisch!

Überhaupt, er war doch zum Frühstücken nach unten gegangen. Sich erst einmal auf die wesentlichen Dinge konzentrieren und nicht die Welt neu erfinden wollen! „Essen hält Leib und Seele zusammen“, hätte seine Mutter ihn jetzt eingeladen, kräftig zuzulangen. Ach, wie einfach war noch ihre Welt, beneidenswert einfach. Gähnende Leere hatte er im Speisesaal erwartet, jetzt um zehn nach zehn. Als gut erzogenem Deutschen wäre es ihm ein bisschen peinlich, sich zwischen den blendend weißen Tischen mit quietschenden Sohlen auf dem marmornen Schachbrettmuster des weiten Saales zum Riesenbuffet zu bewegen, das alles im Oval umgab. Vielleicht wäre das Buffet ja auch schon längst weggeräumt und es gäbe nur einen Kaffee aus dem Automaten und ein paar abgepackte Cornetti, die nach Fabrik schmeckten. Und in seiner Verlegenheit hätte er dann auch noch die kunstvoll in der Mitte aufgebauten Teller und Tassen umgestoßen, hätte sich mit hochrotem Kopf umständlich beim Nächstbesten entschuldigt, anstatt nach dem Chef zu verlangen und ihm so die Leviten wegen heute Nacht zu lesen, dass ihm Hören und Sehen verging.

Nichts von alldem, er verwechselte ein biederes kirchliches Bildungshaus mit dem „Anything goes“ der Schicken und Betuchten an diesem Ort. In der Empfangshalle herrschte Gedränge, ein ständiges Kommen und Gehen, ein geschäftiges Check-in und Check-out, ein Dutzend Sprachen, kleine Grüppchen, bereit zur Eroberung der Ewigen Stadt, andere auf ihr Handy starrend – ein Hotel wie so viele auf der ganzen Erde. Allenfalls ein Häuflein unternehmungslustiger Ordensschwestern jenseits der siebzig deutete auf die Stadt Rom. Oh, hatte da ein Konvent große Gebäude, die mangels Nachwuchs leer standen, günstig abgestoßen und leistete sich zum Professjubiläum der Oberin einmal Rom vom Feinsten? Nun gut, so kam es Walter, sie hatten es sicher mehr verdient als er. Wahrscheinlich hatten sie in ihrem Krankenhaus jemanden bis zur letzten Stunde hingebungsvoll Tag und Nacht gepflegt. Der dankbare Ehemann hatte ihnen fünf Tage Rom spendiert, und da hatten sie – vielleicht ein bisschen zu seiner Überraschung – gleich Ja gesagt. Hauptsache, in diesem Augenblick erinnerte nichts mehr an die gespenstische Leere von heute Nacht.

Walter schlängelte sich zwischen drei befreundeten Pärchen hindurch, die sich aus purem Überschwang in die Reisetaschen boxten und dann ein paar Schritte Fangen spielten. Auch aus dem Speisesaal wehte ihm ein lebhaftes Stimmengewirr entgegen. Die Hochzeitsgesellschaft! Sie war allmählich aus den Federn gekrochen, wenn sie überhaupt je am frühen Morgen noch in sie hineingekommen war, und jetzt gab es einen Brunch für alle, die nicht bereits wieder das Weite gesucht hatten. So sehr er diese irren Feiernden heute Nacht verflucht hatte, so sehr war er ihnen dankbar. Hauptsache keine drückende Stille! Wirklich, noch in Alltagskleidung und gezeichnet von den Strapazen der Nacht war das eindeutig Hautevolee, italienischer Geldadel, eine Ansammlung von Erfolgsmenschen, die das italienische Chaos bestens zu nützen verstanden. Von solchen Leuten wusste jeder, was er zu tun hatte, selbst bei Kleinigkeiten wie der Frage, ob jetzt Mango- oder Papaya-Saft besser zur Salsiccia passte. Walter beobachtete bei sich den typischen Aufblick kleiner Leute auf die oberen Zehntausend, so als lebten sie in einer höheren Sphäre des Himmelsgewölbes. Nein, jetzt nicht dieses Schema, aus der Kindheit eingeprägt! Nicht dieses dumme Vorurteil vom sorglosen Reichtum, erst recht nicht, nachdem er erlebt hatte, wie gnadenlos sie sich heute Nacht zugedröhnt hatten. Da musste der Lärm von innen erstickt werden.

Genug der Amateur-Psychologie! Wie war das: sich auf die wesentlichen Dinge konzentrieren und nicht die Welt neu erfinden wollen? Entschlossen zu guter Laune, mischte er sich unter die Leute am Buffet – in deutlichem Abstand von der Hochzeitsgesellschaft noch gut fünfzig Hotelgäste aus aller Welt, darunter ein ganzer Clan aus Saudi-Arabien oder sonst irgendwo aus dem Mittleren Osten mit tief verschleierten, dafür aber nicht weniger selbstbewussten Frauen, die heute sicher irgendwo bei Gucci oder Loro Pina Großeinkäufe tätigen würden. Also Weltbürger sein und mitmischen. Auf ins Getümmel und erst einmal das Buffet bestaunt, das tatsächlich in einer eindrucksvollen Reihe von Essbarem bestand, aus der Küche der ganzen Welt zusammengetragen: Marinierter Seidentofu, Sushi in allen Variationen, leicht angebratener Maniok mit verschiedenen Dips und fünfzehn Sorten Tee, aber als Höhepunkt selbstverständlich italienische Köstlichkeiten aller Art, darunter eine Unzahl von Brot- und Brötchensorten, Ciabatta und Ciabattina, Focaccia und Grissini, Walnussbrot, Tramezzini mit allen möglichen Füllungen und schon am Morgen eine Bruschetta. Sie alle bildeten einen Kranz rund um einen gewaltigen Laib Pane Pugliese und straften den Stolz seiner Landsleute Lügen, nach dem Deutschland zwar nur eine Politik, aber hundert Brotsorten kenne, während umgekehrt Italien …

Schluss, endlich etwas zu sich nehmen, den Kopf wieder klar bekommen! Walter, der dem Schlaraffenland im Oval der Vitrinen, Tische und Regale ringsum noch nicht recht traute, kehrte den Spartaner in sich heraus und griff sich bloß ein Panino Ciabatta, ein wenig Käse, einen Joghurt und natürlich einen Kaffee, immerhin bereits den dritten für heute, und das, obwohl er sich erst vor einer guten halben Stunde aus den Federn gequält hatte.

Er schaute sich in dem Getümmel um. Nach einigen hierhin und dorthin herumirrenden Blicken wirkte eine Gestalt auf ihn wie ein Magnet auf die Kompassnadel: Das da vorne, das war die Braut, gar keine Frage. Nun ganz unfeierlich in Jeans und T-Shirt. Gut, Edel-Jeans und Seiden-T-Shirt, ganz so ein Trampel in Sachen weiblicher Bekleidung war er nun auch wieder nicht. Ihre Frisur war immer noch ganz wie aus der Brautfrisuren-Galerie, nur nicht mehr so perfekt in jeder Strähne und natürlich ohne die Perlen, die gestern den Schleier ersetzten. Dafür deutlich übernächtigt, ganz so wie der Rest der Gäste. Ein paar gehörige Tropfen Schadenfreude konnte Walter sich nicht versagen. Doch schon ergriff eine andere Gefühlsregung Besitz von ihm, ebenso menschlich, aber ein paar Grad nobler: Aus dem Staub seiner müden Glieder erhob sich Bewunderung, ja Anbetung. In diesem Land, wo man selbst eine schlichte Pasta anbeten durfte, war sie in diesem Moment sicher erlaubt. Was für eine Frau! Bei ihrem Anblick schmolz also alles Niedrige in ihm dahin. Sein Groll von heute Nacht wurde weggefegt von dieser sanften Macht, die von ihr ausging. Nun gut, es war natürlich eher ein leises Prickeln als der genau gezielte Pfeil des Cupido. Wenn Sandy für etwas gut gewesen war, dann dass er seitdem weitgehend immunisiert war gegen allzu heftige Anwandlungen dieser Art. Gelernt hatte er außerdem die lebenswichtige Lektion, dass Schönheit und Gutheit keineswegs zusammengehen, den alten Griechen zum Trotz. Nicht dass jede Bellezza gleich eine Kleopatra war, wohl aber dass stets damit zu rechnen war, dass sie, von Blicken, Komplimenten und Bevorzugungen verwöhnt, achtlos und mit leichtem Sinn zertrat, was andere mühevoll aufgebaut hatten. Ja, da fand er sich eher in seinem Horaz wieder, der sich mit seinen fünfzig Lenzen zu alt für die weiche Gewalt dieser Art vorkam. Aber immerhin, Prickeln blieb Prickeln und ließ auch wieder keine Warnlampe angehen. Er genoss einfach den Augenblick aus der sicheren Distanz dessen, der dieser Frau gewiss niemals näherkommen würde. Endlich einmal wieder ein Gesicht sehen und nicht wie bis vor kurzem im Corona-Masken-Zauber nur einen schmalen Schlitz für Stirn und Augen! Oh ja, gerade ohne Brautkleid und Brautstrauß strahlte ihre Erscheinung nur umso mehr, trotz der Ringe um die Augen. Diese Augen voller Glück, Wärme und Lebenslust, diese Bewegungen, geschmeidig und fest zugleich! Wohin sie sich begab, bildete sie sogleich den Mittelpunkt. Wer sie sah, begriff, warum der Braut eine Krone gebührt. Ein Tag im Leben nichts als Licht, Liebe, Fülle. Ach, wenn sie gestern bei seiner Ankunft auf ihn zugetreten wäre, wenn sie ihn um Verständnis für die bevorstehende laute Nacht gebeten hätte, ihn vielleicht sogar zum Fest hinzugebeten hätte, oh … Wäre er da nicht bestechlich gewesen? Ohne ihre Stimme zu kennen, hätte Walter ihr die Tosca in einer Aufführung an den römischen Originalschauplätzen zugetraut, und er hätte sich eine Karte gesichert zu gleich welchem Preis – und das wollte bei seiner Sparsamkeit wirklich etwas heißen!

Noch während er sie beobachtete, wurde sie auf einmal unruhig. Ihr Kopf wandte sich in alle Richtungen, ihre Blicke suchten jemanden in der Menge. Da, sie hatte ihn gefunden und lief mit federndem Schritt hin. Doch die gesuchte Person war nicht ihr frisch angetrauter Mann, sondern eine Frau, etwas älter als sie. Von der Braut am Arm beiseite gezogen, drehte diese für einen kurzen Moment Walter das Gesicht zu. Die Ähnlichkeit war unverkennbar. Das war eine Schwester oder zumindest eine Cousine. Umso schlagender war der Gegensatz in der Erscheinung. Wieder hielt Walter den Atem an, doch nun nicht vor dem Inbild der Weiblichkeit, sondern …

Was war es? Es gab ihm einen Stich ins Herz. Diese andere war nicht weniger zu Schönheit, Liebreiz und Ausstrahlung geboren. Doch irgendetwas war auf ihrer Lebensreise zu Bruch gegangen, und geblieben war nur noch ein trauriges Gegenbild der Glücklichen. Ja, sie lachte der Braut nicht entgegen, ihre Züge blieben verschlossen. Etwa Ende dreißig war sie, kalt, platinblond, kurze, anliegende Haare, schon wieder ordentlich geschminkt, ein männlicher Typ mit abweisenden Zügen. Ach, an einem Jubel teilnehmen zu müssen, wenn einem nach Schreien zumute ist! Goldmarie und Pechmarie. War sie frisch geschieden oder was war? Die Ärmste! Die Braut legte ihr den Arm um die Schulter und führte sie ein wenig auf und ab, abseits vom Frühstücksgetümmel. Irgendetwas Wichtiges hatte sie mit ihr zu besprechen. Doch schon hatte Walter die beiden aus den Augen verloren. Er hatte ja selbst noch etwas Wichtiges zu besprechen.

Oh ja, das war jetzt unumgänglich, er musste den Hotelmanager auf heute Nacht ansprechen. So etwas darf man einfach nicht herunterschlucken. Walter erkundigte sich bei einer Bedienung am Buffet nach ihm. So ein Zufall, der Chef war persönlich zugegen. Die Küchenangestellte deutete mit der Hand auf einen Herrn da hinten, der an seinem Business Outfit auf den ersten Blick als Leiter des Holy Palace zu erkennen war. Ein quirliger Mann Mitte vierzig, ein kleiner Kerl, der umso mehr seine Wichtigkeit unter Beweis stellte, ganz Chef selbst noch in der Art, seinen rechten Fuß mit der Ferse in den Boden zu rammen, mit kleinen, hierhin und dorthin springenden Augen, denen nichts entgehen durfte, dabei leicht übergewichtig und mit unablässigen Gesten, die nichts zu bedeuten schienen. Gerade schob er sich hinter die Kaffeebar, dicht neben ein blutjunges Mädchen im Dress der Bediensteten, die einen Cappuccino nach dem anderen fabrizierte, und schäkerte mit ihm herum. Ach so, ein bisschen Macho-Gehabe hat selbstverständlich Vorrang vor solchen Kleinigkeiten wie der Einhaltung der Nachtruhe! Was hatte der da denn neben der Espressomaschine zu suchen? Natürlich hatte er es auf die Kleine abgesehen. Er drückte ihr den Ellbogen in die Seite, hakte sie dann ein und zog sie noch enger an sich. Na ja, in Deutschland wäre das aber schon an der Grenze zur Belästigung! Sie ließ es mit sich geschehen, ein unverbindliches Lächeln auf den Lippen. Er war der Chef. Jetzt beugte er sich nach unten. Unter dem Tresen befand sich ein kleiner Kühlschrank mit einigen Flaschen. Er nahm einen Prosecco heraus, goss sich hastig ein Trinkglas voll und leerte es in einem Zug. Das Mädchen hatte den Augenblick genutzt und war verschwunden.

Vorbei an den gefüllten Frühstückstischen, trat Walter quer durch den Raum auf ihn zu: „Kann ich Sie einen Augenblick sprechen?“ Erstaunt blickte der Angesprochene auf. Er erfasste mit einem Blick seine Beschwerde, noch bevor Walter auch nur den Mund auftun konnte. Der Manager wippte einmal auf den Fußballen hoch, trat selbstbewusst auf ihn zu und breitete die Arme aus: „Oh, mein lieber Gast. Ich glaube, ich schulde Ihnen etwas. Sie sehen aus, als wäre es Ihnen heute Nacht etwas zu laut geworden.“ Walter verstand das als Einladung, endlich seinen Frust loszuwerden, und er ließ einen Platzregen an Empörung auf ihm niedergehen. Da beging der Verantwortliche für alles an diesem Ort einen strategischen Fehler. Er meinte nämlich – und das zu allem Überdruss auch noch ein bisschen süffisant –, Walter hätte doch einfach herunterkommen und mitfeiern sollen. Die Leute hätten sicher nichts dagegen gehabt. Denselben Rat hatte ihm schon Giovanni heute Nacht gegeben. Diese Brautfee dagegen, also die Einzige, von der er die Einladung vielleicht angenommen hätte, hatte natürlich nicht im Traum daran gedacht. Nun konnte der so missglückt Eingeladene erst recht alles loswerden, was deutsche Touristen bei ähnlichen Anlässen zu sagen pflegen: Unverschämtheit, Vier-Sterne-Hotel und ein gepfefferter Kommentar auf booking.com. Der Manager kannte diese Litanei schon auswendig und beschwichtigte ihn: „So sind wir Italiener eben, lebensfroh und laut. Aber genau dafür sind Sie doch über die Alpen gekommen, oder?!“

„Aber dafür lasse ich mir noch lange nicht meinen Schlaf rauben! In meiner Verzweiflung bin ich schließlich hier nach unten gekommen.“ Man konnte den Knacks beinahe hören, den es bei dieser Bemerkung machte. Plötzlich war dieser Walter Hanseler nicht mehr bloß die Zimmernummer 417, er war jemand, der ein ernsthaftes Problem darstellte. Augenblicklich veränderte sich etwas im Gehabe des Chefs. Für Bruchteile einer Sekunde huschte ein Schatten über sein Gesicht. War das also nun Walters strategischer Fehler gewesen, diese Tatsache überhaupt zu erwähnen? Er wollte sich doch einfach über den Höllenlärm in der Nacht beschweren, weiter nichts. Weiter nichts? Schon hatte der Leiter des Hotels sich wieder gefangen, aber seinem Gast entging nicht, dass sein Ton nun fester wurde, vielleicht sogar härter: „Mein Name ist Arturo d’Avola, ich bin der Manager dieses Hotels. Kommen Sie doch bitte in mein Büro! Es liegt mir viel daran, dass wir diese Angelegenheit bereinigen, ein für alle Mal.“ Mit festem Griff zog er ihn an den Tischen vorbei, schlängelte mit ihm an einer Gruppe steinreicher verschleierter Orientalinnen vorbei, ohne sie auch nur zu berühren, bewahrte dabei auch noch geschickt Walters Frühstücksteller und Cappuccino vor achtlosen Ellbogenbewegungen allzu dynamischer Gäste, schob ihn schließlich durch eine Tür in sein Büro und ließ ihn Platz nehmen: „So, und jetzt erzählen Sie die Geschichte doch am besten ganz genau.“

Was wollte er? Was hatte das äthiopische Zimmermädchen berichtet? War dieser Manager womöglich dieser Typ, der heute in aller Herrgottsfrühe ihnen allen die Information eingeschärft hatte, der Prälat sei frühzeitig von der Hochzeit aufgebrochen und nach Subiaco gefahren? Fragte sich bloß warum. Nur weil jeder Hotelchef jeden Ermittler als erstes mit der Bitte überfällt: kein Aufsehen, keine Presse, keine Verbindung des Todesfalls mit dem guten Namen des Hauses? In schnell heruntergeschriebenen Krimis vielleicht, aber in Wirklichkeit, was war denn da schon dabei, wenn ein älterer Mann in seiner Wohnung den letzten Atemzug tat? Es sei denn, es war kein natürlicher Tod. Wer könnte dann aber an einer solchen Vertuschung ein Interesse haben? Das Hotel sicher nicht. Also die Gäste. Zahlungskräftige Gäste. Etwa wie die Familien der Brautleute. Klar, die Feier hatte sein Haus mit Unsummen überschwemmt, da konnte er schon einmal eine kleine Ungenauigkeit unter die Leute bringen, worum ihn das zahlungskräftige Familienoberhaupt gebeten hatte. War so etwas in diesen Kreisen nicht gang und gäbe, und das nicht nur im Land, wo die Zitronen blühen? Was hieß das aber für Walter? Infolge seines strategischen Fehlers wusste der Manager, dass er spät in der Nacht noch einmal heruntergekommen war. War ihm auch bekannt, dass der Prälat da noch in der Lounge saß, vielleicht sogar, mit wem er ins Gespräch vertieft war? Natürlich musste er das wissen, so jemandem wie dem da entging nichts in seinem Haus. Deshalb war das mit Subiaco ja auch Lüge und nicht Irrtum. Deshalb auch sein Stimmungsumschwung, als er begriff, Walter war Zeuge. Belastungszeuge für ihn und die Leute, die hinter ihm standen. Dieser Gast da war mehr als einer der ständigen Querulanten von jenseits der Alpen, sehr viel mehr. Er konnte dieses Kartenhaus namens Subiaco mit einem Satz zum Einstürzen bringen. Strategischer Fehler – warum nur war Walter so unvorsichtig gewesen, diese Katze auf dem heißen Blechdach aus dem Sack zu lassen? Jetzt musste er alles tun, um eine Mitwisserschaft zu bagatellisieren. D’Avola spielte sofort mit und vermied es sichtlich, auf seinen nächtlichen Ausflug aus dem Zimmer einzugehen. Das tat er so nachdrücklich, dass Walter davon sicher mehr profitierte als jeder andere Gast mit einer Hotelbeschwerde in ähnlichen Umständen. Denn ohne Diskussion wurde ihm ein kostenloses Upgrade für seinen gesamten weiteren Aufenthalt angeboten, und zwar nicht nur mit einem etwas breiteren Fernseher, sondern ein richtiger Sphärensprung im Himmelsgewölbe, von dem er eben am Buffet nur träumen konnte. Ganz ohne Aufpreis erhielt er eine richtige Eineinhalbzimmer-Suite mit Blick auf den Cupolone des Petersdomes. „Heute Abend können Sie die Suite bereits beziehen. Wir wollen eben, dass unsere Gäste zufrieden wieder abreisen. Ende gut, alles gut, wie Sie sagen.“ Er kannte diese Redewendung sogar auf Deutsch, in einem etwas vernuschelten Deutsch. „Das ist uns schon etwas wert.“ „Das“, dieser Preis war nun deutlich ausgesprochen, das war sein Schweigen, und zwar nicht das bei der Hotelbewertung, sondern eben das zur Subiaco-Version. Wenn er sich da nicht täuschte! Nicht mehr darüber nachzudenken, ganz still und nur bei sich, nein, zumindest das konnte man nicht von ihm verlangen.

Der Chef des Hauses jonglierte aber noch viel gewandter mit der heißen Kartoffel: Er begann zu reden und zu reden, ohne dabei Subiaco auch nur zu erwähnen: „Ach, wissen Sie, wir haben ja auch unsere eigenen Sorgen, wenn ich Sie damit behelligen darf. Heute Nacht ist Prälat Maranucci verstorben, völlig überraschend. Der, dem wir dieses Hotel verdanken und der zum Dank hier in einem abgetrennten Teil eine großzügige Wohnung erhielt.“ Dann schwärmte er von seiner alten Freundschaft mit Alessandro Maranucci, davon, dass dieser so anders war als diese … er bat ironisch um Verzeihung, diese italienischen Durchschnittspriester, die vielleicht Kollektengelder erbetteln konnten, aber keine wirklich großen Sachen zu stemmen in der Lage waren. Anders der Prälat. Jahrelang hatte ja der Palazzo die Konten von Gaudium et Spes tief in die roten Zahlen sinken lassen. Aber die alten Herren aus den großen 50er Jahren! Ja, echte Herren waren sie, denn sie hatten damals ihre Bewegung immer noch fest im Griff. Sie bekamen feuchte Augen, wenn sie von ihren Nationalkongressen, Manifesten und Aktivistenschulungen schwärmten. Gut, aber das waren die Vorkonzilszeit und die Umbrüche Ende der sechziger und siebziger Jahre, als die Bewegung dem italienischen Katholizismus ein modernes Gesicht geben wollte. Als Gaudium et Spes kurz vor der Insolvenz stand, sprach der Prälat sein Machtwort. Vier Fünftel des Palazzo wurden abgetrennt, aufwendig saniert und zu einem Vier-Sterne-Hotel umgebaut. „Sie finden hier einen Luxus, den haben Sie selbst im Hotel Savoy nicht!“ Die Gelder dafür … Nun, der Prälat hatte ja seine Beziehungen, übrigens auch nach Deutschland, wo man schon lange nach einem Pied-à-terre für Kongresse in Rom suchte, mondäner und professioneller als diese Schwesternhäuser, die doch immer noch etwas von einem mittelalterlichen Pilgerhospiz an sich hatten und wo es einem passieren konnte, dass es zum Mittagessen das „Ave“ von Lourdes gab anstelle eines kräftigen Aperitifs. „Und dann die nächtliche Schließung um spätestens zehn, halb elf Uhr! Wollen die uns alle zu Mönchen und Nonnen machen?“ Sogar der Name des Hotels ging auf das Konto des Prälaten. Nachts um halb zwei, in seiner Wohnung und nach der zweiten Flasche seines besten Roten, war Maranucci die Erleuchtung gekommen: „Holy Palace, ja so nennen wir das Hotel. Wow-Effekt. Das ist frech und vertreibt jeden katholischen Mief. Die Kirche öffnet ihre Paläste, und heraus kommt das Schlaraffenland für alle. Die Leute sollen aus dem Staunen gar nicht mehr herauskommen, was sie alles an diesem Ort geboten bekommen.“

„Tausend Extras vielleicht, dafür aber eine Klimaanlage auf den Zimmern, die eher einer Heizung gleicht, und Fenster ohne Schallisolierung!“, konnte Walter sich nicht verkneifen einzuwenden. „Typisch Italien: Außen hui, innen pfui!“

Wieder erfasste ihn der Redeschwall dieses Mannes. Er müsse wirklich verstehen, die Verbindung von Hotel und Kirche, das sei der Renner, gerade für Hochzeiten der Upperclass. Eine einzige solche Hochzeit wie die gestrige, und die Gehälter der Angestellten seien bis zum Ende des Monats bezahlt! Dabei ließ er auch einfließen, dass dieser jeden Euro einzeln umdrehende Deutsche natürlich auch nur die einfachste Basic-Version für einen Aufenthalt in diesem Palast gebucht hatte, und da dürfe man eben auch nicht alles erwarten. So ging es in einem fort, und dabei merkte Walter wohl, dass d’Avola nicht bloß zum Spaß mit jemandem wie ihm seine kostbare Zeit vertrödelte. Für ein kleines Amüsement hatte er ja seine Schäkereien mit dem Mädchen an der Kaffeebar. Nein, er wollte in Walter das Bild eines rauschenden Hochzeitsfestes aufbauen, bei dem man am Ende kaum mehr Mann und Frau unterscheiden konnte, geschweige denn einen Priester von einem anderen. So ganz nebenbei tauchte dann die Geschichte von einem zweiten Priester auf, aus der weiteren Verwandtschaft des Bräutigams. Sprich: Der Deutsche sollte annehmen, er habe ihn mit dem Prälaten verwechselt. Diese Einflüsterung geschah nur in zwei Nebensätzen und gleichzeitig so überzeugend, dass Walter sich für Momente zu fragen begann, ob er sich nicht vielleicht wirklich in der Person geirrt hatte. Diese ganze Nacht war doch ein einziger Albtraum gewesen, und wie sollte er einen völlig Fremden nach einer kurzen Begegnung zwischen zwei und vier Uhr nachts zuverlässig identifizieren können? Der junge Mann! Ja, den müsste er wiederfinden, diesen Typ, der da neben dem Prälaten in der Lounge gesessen hatte. Wer war das? Klar war nur eines, das müsste er auf eigene Faust herausfinden, hinter dem Rücken der Hotelverwaltung und aller, die vielleicht auch noch ihre Hände mit im Spiel hatten.

Walter setzte ein fast ebenso undurchsichtiges Grinsen wie d’Avola auf. Nachahmung ist alles! Er verabschiedete sich, verließ das Büro und betrat wieder den Frühstückssaal. Im Hintergrund stand ein Großbildschirm, auf dem das Video der gestrigen Hochzeit lief. „Ornella e Massimo“, die schwungvoll gezeichneten Namen des Brautpaares waren gerade von einer Flut roter Herzen überschwemmt. Ah, Ornella also hieß die Schöne. Wirklich kein Allerweltsname. Jetzt erschien der Priester und rückte in effektvollem Zoom langsam näher. In einem langen, leichten und wirkungsvoll wallenden Gewand und mit machtvoller Geste hob er das Buch des Evangeliums weit in die Höhe. Dabei reckte er seine zuvor breit ausgestreckten Ellbogen senkrecht empor, schwenkte das Evangeliar wie einen Fußballpokal nach allen Seiten und verband die Geste mit einem breiten Lächeln. „Das Bad in der Menge!“, kam Walter. Ein richtiges Vollbad, und dabei wirkten die liturgischen Gewänder wie die schaumbesetzten sanften Wellen, die den geliebten Körper streichelten. Nun begann der Zelebrant zu predigen. Worte waren nicht zu verstehen, das Video war auf Stumm geschaltet. Umso deutlicher sprachen die Lippen. Das erste Wort war wie ein Kuss: „Dio! Gott!“ In langgezogener Geste hauchte Maranucci das Wort, als wäre er der Heilige Geist in Person. Dann tauchte er in seine Performance ein. Seine Lieblingsgeste war es, die Arme weit auszubreiten, so als sei er der Christus von Rio de Janeiro. Gerne neigte sich sein Kopf nach vorn, so als habe er eine neue Bergpredigt zu halten und könnte auf die versammelte Menge herabschauen. Ständig wanderten seine Hände, mal nach vorn, mal zur Seite, dann donnerten sie auf das Pult, schließlich verschränkte er sie vor der Brust. Die Augen rollten, kniffen sich zusammen, starrten wie der Verdammte Michelangelos und verwandelten sich plötzlich wieder in ein spöttisches Lächeln – alles war nur Theater. Dann sprangen sie wieder hierhin und dorthin, wohl weil er in der Menge ein bekanntes Gesicht ausgemacht hatte. Er genoss den Auftritt, verschmolz geradezu mit seinem bewundernden Publikum. Zwölf Stunden später war er tot. Auf dem Video erschien er doch noch als ein Ausbund an Vitalität und Kraft. Eine versteckte Krankheit, die zum Tode führte? Bei dem, niemals!

Walters Frühstück war beendet, dann doch noch ganz unspartanisch nach zweimaligem Nachfassen. Sein Auge suchte noch einmal die Braut, aber dieser kleine Augenschmaus blieb ihm versagt. „Gezeigt, nicht gegeben!“ Blieb also nur der Rückweg auf das ach so geliebte Zimmer. Wie von selbst führte ihn dabei der Weg ein weiteres Mal über diesen fatalen Flur im Erdgeschoss. Wieder gelangte er an die Stelle, wo Prälat Maranucci am Boden gelegen hatte, ging aber rasch weiter. Wenige Schritte weiter gelangte er zu einer eleganten Wohnungstür. „Maranucci, Alessandro“ stand mit großem Schwung auf dem Eingangsschild. Er schätzte den Abstand zum Ort, wo er gelegen hatte, und er war sich sicher: So schlecht ging es dem alten Priester heute Nacht noch nicht, dass er die wenigen Meter bis hierher nicht mehr bewältigt hätte. Infarkt, so hieß es. Und wenn sie dabei ebenso schwindelten wie bei diese Subiaco-Geschichte, die sie der Öffentlichkeit auftischten? Wenn Walter Priester geblieben, vor allem wenn er ein Priester der alten Generation gewesen wäre, dann hätte er in seinem Alter sicher bereits Hunderte in den Tod begleitet, hätte dabei eine immense Erfahrung gewonnen und auch als Nicht-Mediziner sofort beurteilen können: Herzinfarkt, ja oder nein? Sein Urteil hätte Gewicht gehabt. In Walters Zeit in der Seelsorge wurde er nur dreimal zu einem Sterbenden gerufen. Sonst hielt dies niemand für nötig, ja es dachte ganz schlicht keiner daran, ihn anzurufen. Man alarmierte die Rettungssanitäter, den Notarzt, man schaffte den Unglücklichen ins Krankenhaus, man nahm Maßnahmen vor, lebensrettend oder nicht, man fragte nach der Patientenverfügung, und irgendwann war es eben vorüber. Vorschriftsgemäß stellte ein Arzt den Totenschein aus, und schon ging das Ganze in die Hände irgendeines Bestattungsinstitutes über. Als Priester, ja, da hatte er erst bei der Beerdigung zu tun. Mangels eigener Erfahrung musste er die Todesursache Maranuccis also erst einmal glauben, zumindest bis auf Weiteres. Was er als Augenzeuge bestätigen konnte, war lediglich, dass der Prälat stark nach Alkohol gerochen hatte. Wirklich? Und wenn auch, deutlich zu viel getrunken hatten zu diesem Zeitpunkt sicher die meisten auf der Hochzeitsparty. Daran war doch im Nachhinein nichts wirklich zu verheimlichen, zumal der Prälat nicht gerade wie ein Asket und Kostverächter wirkte. Klar war nur: Irgendjemand, wer auch immer, wollte auf jeden Fall den Ort und vielleicht auch die Ursache des Todes verschleiern. Und das gelang nur, wenn viele in Rom und in Subiaco mitspielten und den Mund hielten, so wie es d’Avola tat und wie er dies dem Zimmermädchen eingeschärft hatte.

Zuerst war es nur etwas wie Neugier, die Walter Hanseler an dieser Stelle weiterbohren ließ. Doch inzwischen überraschte ihn eine Selbstbeobachtung: Die Geschichte fing an, ihn zu packen. Und dabei geschah etwas mit ihm: Seine Jugend kehrte zurück, ganz allmählich und auf leisen Sohlen. Denn endlich, endlich packte etwas ihn wieder, und damit traute er sich auch etwas Großes zu. Niemand in dieser großen Stadt konnte ihm bei seiner Frage helfen, warum sie diese Subiaco-Lüge auftischten. Er wusste aber auch: Er war berufen, hinter das Dunkel der Lüge zu leuchten. Jetzt nicht weiter herumspekulieren! Sieh dich einfach am Ort des Geschehens noch etwas um!

Nachdenklich fixierte er das „Maranucci, Alessandro“-Schild. Welches Drama hatte sich heute Nacht hinter dieser Tür abgespielt? Was stimmte hier nicht? Vor der verschlossenen Tür würde er die Antwort sicher nicht finden. Also weiter! Gespannt bewegte sich Walter bis zum Ende des Flurs. Dort stieß er auf eine Glastür mit der Aufschrift: Gaudium et Spes. Centro Amministrazione. Hier also endete das Hotel, und jenseits der Tür begann die zentrale Verwaltung dieser katholischen Laienorganisation, die diesen imposanten Palazzo vor siebzig Jahren einmal als ihren Sitz erworben hatte. Andere Zeiten!

Langsam drückte Walter Hanseler die Klinke nach unten. Natürlich war abgesperrt. Die Leute im Büro wollten ja nicht ständig Besuch von chronisch neugierigen Hotelgästen erhalten. Er wollte sich schon wieder abwenden, da sprang drinnen das Licht an, es waren gedämpfte Schritte zu hören, endlich öffnete sich die Tür, allerdings nur einen Spalt breit. Dahinter das fragende Gesicht einer Frau, vielleicht Anfang sechzig. „Wer sind Sie? Was wollen Sie?“ Er war also nicht der Einzige im Holy Palace, dessen Neugier stärker war als Misstrauen, Vernunft und Berechnung. Nur weshalb diese Schärfe in der Stimme, weshalb dieses „Scher dich zum Teufel“-Gesicht, beherrscht und eingeübt aus Hunderten ähnlicher Fälle?

„Ich bin Priester. Priester aus Deutschland, das heißt …“ Wie konnte ihm das nur herausrutschen? Reagierte er auf die abweisende Haltung der Dame mit einem Bluff? Sie musterte ihn von oben bis unten. Endlich hatte er die Prüfung bestanden, denn sie ließ ihn eintreten. Margherita Costanzi, so stellte sie sich vor, die Generalassistentin der Bewegung Gaudium et Spes. „Was kann ich für Sie tun?“ Die übliche Floskel, sehr geschäftsmäßig und mit professioneller Distanz. Jene Haltung, die ihm immer abgegangen war. So auch jetzt, als er stotterte: „Also … Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Eigentlich bin ich nur Hotelgast hier.“

Costanzi fiel ihm ins Wort: „Sehen Sie, ich will nicht unhöflich sein, aber Sie müssen begreifen, wir haben hier schrecklich viel zu tun, und dann, gerade heute Morgen, ein Unglücksfall, eine Ausnahmesituation, wenn Sie vielleicht ein andermal …“ Oh, wie selbstbeherrscht! Ach, wie kühl!

Nun war es an Walter, sie zu unterbrechen. Ihr Widerstand weckte Kräfte, diese eben erst wiedergewonnenen Jugendkräfte. Hier musste er durch, hier würde er sich nicht wegschicken lassen. Es roch nach Wahrheit unter sieben Deckeln. Er griff zur Waffe der Schmeichelei. „Gestatten Sie mir nur ein kleines Wort der Erläuterung! Sie werden es nicht bereuen. Bis gestern war Ihr Prälat Maranucci mir ein Unbekannter. Aber eben beim Frühstück, da lief das Video der Hochzeit gestern. Zuerst schaute ich nur aus Langeweile hin. Wissen Sie, ich bin ja alleine in Rom, und fremde Leute anzuquatschen mag ich überhaupt nicht.“ Nun gut, das war jetzt seine kleine Subiaco-Lüge, denn was tat er denn gegenüber Costanzi anderes als genau dies? Rasch überdeckte er seinen Schwachpunkt mit einer Flut von Superlativen, wie die Zelebration des Prälaten, seine Predigt und sein ganzes Auftreten ihn beeindruckt hatten. Und dann der Schock heute Morgen, die Todesnachricht im Fernsehen.

Ein Fan, ein neuer Gönner der Bewegung aus dem Land des Wohlstands jenseits der Alpen? Die Verantwortliche der Bewegung gab ihm ein Zeichen, ihm durch den Flur in ihr Büro zu folgen. Wie rasch hatte doch sein Bluff von wegen dieses charismatischen Priesters auf dem Video gewirkt! Hatte er wirklich so gut geheuchelt? Oder kam ihr sein Starkult entgegen? Im Entlangschreiten wirkte der Flur wie aus der Vorher-Nachher-Werbung eines Immobilienbewirtschaftungsunternehmens. Draußen im geleckten Hotel war alles Nachher, hier im kirchlichen Büro dagegen war seit Jahrzehnten nichts renoviert worden: am Boden ausgetretener, grau gewordener Teppichboden, an den Wänden verblasste Fotos von Höhepunkten im Leben der Bewegung, hübsch nach Jahrzehnten geordnet: aus den 50er-Jahren Nationalkongresse mit fahnenschwenkenden Jugendlichen und die segnende Hand von Pius XII., dann 1965 die Väter des Zweiten Vatikanischen Konzils im Petersdom bei der Verabschiedung der Pastoralkonstitution Gaudium et Spes, Erinnerungen aus den stürmischen 70er-Jahren mit einer Bandmesse vor gelangweilt dreinschauenden Langhaarigen und einer Demonstration gegen den NATO-Doppelbeschluss. Manche Fotos waren im Wechselrahmen zur Seite gerutscht, andere stark vergilbt. Die 80er-Jahre fehlten ganz, so als wäre im Flur kein Platz mehr für sie. Dafür ging es nun um die Ecke, und dort folgte eine ganz andere Fotostrecke: viel großflächiger, in repräsentativen Rahmen, Profiaufnahmen, eigentlich Werbefotos, immer wieder mit Maranucci im Mittelpunkt. Unverkennbar, er selbst war jetzt die Bewegung: inmitten Tausender junger Menschen, erhöht und mit großer Geste der Umarmung; am Altar herausgehoben aus einem Chor unzähliger Konzelebranten; strahlend am Schreibtisch mit einem Bestseller aus seiner Hand; vor allem aber Begegnungen mit Ministerpräsidenten, dem Generalsekretär der UNO und natürlich allen Päpsten der letzten dreißig Jahre.

Nun saßen sie einander im bescheidenen Büro Costanzis gegenüber. Kaum dass sie Platz genommen hatten, schoss sie nervös auch schon wieder hoch, um das auf Kipp gestellte Fenster energisch zu schließen. Die Regale waren prall gefüllt mit Aktenordnern, sorgfältig beschriftet und nach irgendeinem farblichen System geordnet: eine Reihe grün, eine gelb, eine schwarz. Darüber standen zwei Regalmeter unzähliger Verlautbarungen der CEI, der italienischen Bischofskonferenz. Neben der letzten Neuerscheinung in dieser Reihe blieb gerade einmal zwei Handbreit Platz. Damit musste ein Teddy Vorlieb nehmen, der als Schweizer Gardist plenis coloribus gekleidet war, die Lanze in der Hand. Wer anders als Mitarbeiter Costanzis mit einem großen Herzen und Sinn für heitere Leichtigkeit hatten ihr das einmal geschenkt, vielleicht zu ihrem … ja, wohl zu ihrem sechzigsten Geburtstag. Nur diese schmale Lücke gönnte sie dem pelzigen Herzensbrecher, wie das Häuschen eines Wachsoldaten. Dabei musste der Teddy-Gardist auch noch mit dem Gesicht unverwandt die herandrängende Flut italienischer Bischofsworte fixieren, als wären es die marodierenden Söldner des Sacco di Roma 1527. Bei aller Tapferkeit, nicht anders wie damals war schon absehbar, wann sie ihm auch noch sein winziges Refugium nehmen würden. Standhafter Teddy-Soldat, arme unschuldige Kreatur! Bei diesem Anblick wurde es Walter selbst schon mulmig.

Costanzis Herz hing an etwas anderem, das war nicht schwer zu erraten. Denn auf ihrem Schreibtisch stand eine zarte Herz-Mariä-Statue mit einer weißen Rose davor, und man brauchte nicht viel Phantasie, um zu begreifen, dass in diesem Büro eine Frau wirkte, die die aufreibende und oft auch nervtötende Arbeit der Generalassistentin einer großen Laienbewegung wirklich als Dienst an einer Welt der Reinheit und Heiligkeit verstand. Eine Fromme mitten in der Welt, das war sie und verkörperte damit genau das, was ihrer Bewegung als Ideal vorschwebte. Wie viel Selbstverleugnung mochte das kosten, zumindest wieviel Selbstbeherrschung. Etwas verschämt stand auf dem Boden eine Magnum-Flasche Rosé-Schaumwein, sicher ebenfalls ein Geschenk zum runden Geburtstag. „Santa Margherita“ hieß er und war „brut“, also perlend, aber mit kaum Restsüße – wie passend! Generalassistentin, ein großspuriger Titel, aber bedeutete der nicht einfach Mädchen für alles? Anmeldungen fürs Jahrestreffen registrieren, Teilnehmerbeiträge kontrollieren, Ärger sedieren und am Ende alles dokumentieren, dabei aber immer in der zweiten oder noch häufiger in der fünften Reihe stehen und mithelfen, dass Maranucci am Ende den ihm gebührenden tosenden Applaus erhält? „Ich durfte ihm dienen – nach dem Preis für mich darf keiner fragen.“

Hastig wischte sie sich die Augen. Nun, da sie Walters Blicke auf sich gerichtet sah, tat sie jedoch, als sei ihr nur ein Staubkorn hineingeraten, und fing auch gleich an: Ja, habe er es also bereits erfahren, was da heute Nacht in Subiaco geschehen sei? Und sie hatten ihn doch alle so geliebt, so verehrt. Der Prälat Gaudium, ihr Vater, ihr Inspirator, ihr … Ihre Worte gingen in Schluchzen über. Mit einem Mal war sie wie verwandelt, es hätte nicht viel gefehlt, und Walter hätte ihr den Arm um die Schulter gelegt oder ihr wenigstens ein Papiertaschentuch gereicht. Ja, der Prälat, eine große Gestalt, die viele Menschen inspiriert und geführt hatte, ihnen Vorbild gewesen war, war plötzlich und unerwartet … Moment mal, plötzlich und unerwartet, das klang so nach blindem Geschick, nach den unerforschlichen Plänen des himmlischen Vaters, nach salbungsvollen Worten bei einer Beerdigungsansprache. Wenn aber jemand sehr Irdisches seine Hand im Spiel hätte? In diesem Hotel wurde doch nur gemauert: dieser gewandte Signor d’Avola, nach seiner Anweisung die Angestellten und jetzt auch hier, eine Tür weiter, diese Generalassistentin, die vielleicht noch eine ganz andere Seite hatte als das trauernde Herz. Ob sie sich nicht noch viel mehr sorgte um den Ruf ihrer Bewegung, um mögliche Skandale, um das Wissen um … um was? Was spukte in seinem Kopf herum? War denn alles in ihm durch diese schreckliche Nacht durcheinandergebracht worden? Was traute er dieser edlen Seele alles zu? Doch Walter setzte sein Spiel fort: „Ich sehe, Sie sind von seinem Tod tief getroffen. Das tut mir unendlich leid. Doch ich darf sagen, ich kann Ihre Gefühle wenigstens von fern nachempfinden. Wie gesagt, ich habe den Prälaten gerade erst auf diesem Video gesehen und bin doch ganz fasziniert von dem … ja, es ging etwas von ihm aus, etwas Einzigartiges. Wenn schon ich ihn nicht vergessen kann, wie dann Sie, Signora Costanzi, nach vielen Jahren …“

„Nach siebenunddreißig Jahren in der Bewegung“, fiel die Generalassistentin ihm ins Wort. „Nach siebenunddreißig wunderschönen Jahren, und jetzt auf einmal …“ Wieder schluchzte sie. Nun legte ihr Walter doch die Hand auf den Arm, vorsichtig und teilnahmsvoll. Sein Mienenspiel bemerkte sie dabei glücklicherweise nicht, denn die Augen wanderten nach allen Seiten, ob er nicht doch einen Anhaltspunkt fände, an welcher Stelle er weitersuchen könnte. Für heute war dieses Büro abgefrühstückt, da gab es nichts mehr zu holen – er lachte bei diesem Bild in sich hinein, wenn er an das Riesen-Frühstücksbuffet nebenan dachte, das er gerade einmal zu drei Prozent genutzt hatte. Doch jetzt spielte die Musik hier, und schon kam ihm der rettende Einfall: „Ich sagte Ihnen schon, ich bin auch Priester, ein bisschen verweltlicht, ja, man sieht es mir nicht an, und auch sonst … Jedenfalls dachte ich, ich würde gerne … Ja, ich weiß, es ist noch etwas früh, aber können Sie mir sagen, wann die Beerdigung stattfinden wird? Vielleicht kann ich es ermöglichen, daran teilzunehmen. Es wäre mir ein Bedürfnis.“

Die Frau hob den Kopf: „Oh, das ist sehr freundlich von Ihnen, sehr teilnahmsvoll. Es ist schön, wenn die Priester so zusammenhalten, auch wenn sie aus ganz verschiedenen Ländern stammen. Wissen Sie, wir sind hier eine Laienorganisation, unsere Stärke sind die dreihunderttausend Mitglieder, unsere Aktivisten, die in allen Berufen stehen und ein christliches Zeugnis dafür geben, dass Gottes grenzenlose Barmherzigkeit das Antlitz der Erde verwandelt. Wir sind also Laien, aber wir haben unsere Priester gern und lassen nichts auf sie kommen. Wir verehren sie. Wir dulden nicht, dass schlecht über sie geredet wird.“

So schnell ihr die Tränen in die Augen geschossen waren, so schnell waren sie auch wieder getrocknet. Stattdessen klangen ihre letzten Sätze schon wieder wie aus einer Festrede. „Wir dulden nicht“, weshalb hatte sie das noch hinzugefügt? Oh, genügend Stoff zum Nachdenken würde ihm diese kurze Visite sicher noch bieten.

„Also, der Termin der Beerdigung, Sie wissen ihn noch nicht?“

„Nein, dafür ist alles noch zu frisch. Aber ich kann Ihnen schon sagen, er wird in seiner Heimat beerdigt, einem kleinen Städtchen in der Toskana, dreißig Kilometer südwestlich von Florenz. Das war sein ausdrücklicher Wunsch, so tief verwurzelt war er in Heimat und Familie. Ganz ein Mann aus dem Volk, so war er immer gewesen. Also, wenn Sie wollen, sende ich Ihnen eine Nachricht.“

Walter Hanseler sah sie an. Auf einmal war er nicht mehr scheu und selbstzweiflerisch, er setzte schon beinahe ein Pokerface auf. „Ach, wissen Sie, Signora Costanzi, ich wohne ja hier im Hotel, ich schaue einfach kurz morgen noch einmal vorbei. Dann wissen Sie sicher bereits Genaueres.“ Er verbeugte sich förmlich, und die Signora begleitete ihn zum Ausgang. Beim Abschied stand sie in der Tür, und diese drückte sich immer von selbst zu, so dass die Generalassistentin sie mehrmals wieder aufstoßen musste. Zwischen Tür und Angel.

Holy Palace

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