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I

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Die Lampe hat sich geleert,

das Öl ist verbraucht,

das Tamburin ist verstummt,

der Tänzer schlafen gegangen,

das Feuer erloschen und kein

Rauch erhebt sich mehr,

die Seele ist im einen

es gibt keine Dualität mehr


Kabir


Der Bauer Saddik Ramesh krepierte am Mittwoch den 23. Januar 2006. Er ließ seine Frau Shakina und die zwei halbwüchsigen Kinder Ragha und Mana zurück. Vor nicht allzu langer Zeit waren es drei Kinder gewesen, von den bei der Geburt verstorbenen einmal abgesehen, Savita, die älteste Tochter hatte er vor einem Jahr verloren und dies war eine der Ursachen seines Freitodes. Zweiundvierzig Jahre wurde er alt, als er in auswegloser Lage die scharfen Reste des Unkrautvernichtungsmittels Roundup hinunterwürgte. In seiner letzten Nacht wälzte er sich mit schrecklichen Bauchschmerzen auf seiner Tscharpoi. Die verzweifelten Fragen seiner Frau wies er mit einer unwirschen Handbewegung zurück. Kleine Schweißperlen standen auf seiner Stirn, die Shakina angstvoll mit einem nassen Tuch abtupfte. Seine Eingeweide krampften sich zusammen und weißer Schaum tropfte in einem dünnen Rinnsal aus seinem Mund. Er konnte und wollte ihr nicht sagen, was er getan hatte, so sehr schämte er sich

„Es tut mir leid“, flüsterte er sterbend seiner Frau ins Ohr.

„Es tut mir leid“.

Gegen Morgen, die Krähen vollführten wie stets bei Sonnenaufgang einen ohrenbetäubenden Lärm im Banyanbaum, brachen seine Augen. Der ausgemergelte Körper sackte auf der Pritsche in sich zusammen. Die verzerrten Gesichtszüge entkrampften sich. Mit einem wilden, verzweifelten Schrei warf sich Shakina über ihn, schüttelte ihn, versuchte ihn ins Leben zurückzuholen. Aber Roundup ist ein gutes Gift, zuverlässig vernichtet es das Unkraut auf den Baumwollfeldern. Genauso rasch und gnadenlos wirkt es beim Menschen. Verstört, mit Angst erfüllten Augen standen die beiden Kinder in der Tür. Sie verstanden nicht was vor sich ging, ahnten nur, etwas Schreckliches musste mit ihrem Vater geschehen sein.

„Euer Vater ist tot“, hauchte ihre Mutter mit erstickter Stimme.

„Lauft und holt die Nachbarn.“

Doch die zwei standen wie erstarrt, unfähig sich von der Stelle zu rühren hielten sie sich zitternd an den Händen. So verharrten sie, stumm vor Entsetzen, stumm vor Trauer und ihre Welt hörte auf sich zu drehen. Fern am Horizont zuckten die ersten Sonnenstrahlen über den glasklaren Morgenhimmel von Gujarat.

Als Saddik nicht zur Morgenwaschung kam und auch nicht wie die Dorfbewohner auf das Feld ging, sah eine besorgte Nachbarin in Rameshs Hütte. Sie fand die drei wimmernd und klagend an der Liege des Verstorbenen. Große schwarze Fliegen, angelockt vom Geruch des Todes, schwirrten um das Gesicht des Leichnams. Mit einer rührenden Geste wischte sie Shakina zur Seite, doch die Biester ließen sich nicht verscheuchen. Frech krabbelten sie über den eingetrockneten Speichel, setzten sich auf Augen und Ohren. Über die staubigen Gesichter der Kinder rannen bittere Tränen, zeichneten kleine salzverkrustete Bahnen, tropften auf den Lehmboden. Shakina umklammerte den Verstorbenen, ohnmächtig mit ihren Armen und stieß kleine spitze Klagelaute aus. Schreiend rannte die Nachbarin aus der Hütte und in kurzer Zeit strömten die Frauen der Nachbarschaft weinend und klagend ins Totenhaus. Sie verhüllten ihre Gesichter, kreischten und schluchzten. Spät am Vormittag, die Gesichter der Trauernden leer geweint, wickelten sie den Leichnam in ein grobes weißes Baumwolllaken. Der Brahmane tauchte gegen Mittag auf, nachdem Ragha ihn informiert und um seinen Besuch gebeten hatte. Er bestimmte durch das Horoskop den Zeitpunkt der Einäscherung. Bis dahin legten sie den Leichnam in eine Bale, ein einfacher Holzsarg, auf dem Hof. Diese hatten sie von den Nachbarn geborgt, denn Shakina und ihre Kinder besaßen nichts als die Kleider, die sie auf dem Leib trugen. Die Felder und die Hütte gehörten schon lange dem Bania, dem Geldverleiher. Nun gab es niemanden mehr, der die horrenden Zinsen bezahlen konnte. Seufzend kramte Shakina in der Blechschachtel, in der ihr Mann einige wenige gesparte Rupien versteckt hatte. Viel war es nicht, aber es reichte um drei Krüge mit Ghee zu kaufen und einige Kräuter, vielleicht sogar für ein paar Sandelholzsplitter, die auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden sollten. Als sie Saddik nach 42 Tagen einäscherten, brannte die Sonne Gujarats unbarmherzig vom Himmel. Kein Wölkchen zeigte sich, der Monsun war ausgeblieben, wie im Jahr zuvor. Die Baumwollpflanzen der Sorte New BT cotton hybrid welkten verkümmert auf den staubtrockenen, ausgedörrten Feldern. Nicht einmal das Unkraut, für das das Herbizid eigentlich gedacht war, überstand die tödliche Dürre. Mit dem Ausbleiben des Regens schwand die letzte Hoffnung der Baumwollfarmer Gujarats: Mit einer guten Ernte ihre Lebensgrundlage wenigstens für ein Jahr zu sichern. Das Feuer des Scheiterhaufens fraß sich rasch durch die dürren Zweige, qualmte ein bisschen, als es den Leichnam erfasste. Eine dünne weiße Wolke stieg in den gnadenlos blauen Himmel. So wie das Brandopfer, so lösten sich die Träume der Bauern in Rauch auf. Schweigend standen die Dorfbewohner um das Feuer, beteten und hingen ihren Gedanken nach. Saddik war einer der ihren gewesen, genau so arm, genau so verführt wie sie. Mancher Bauer dachte mit Schaudern daran, was ihm und seiner Familie in Zukunft noch alles drohte. Die Götter hatten sie nicht gesegnet. Indra, die Göttin der Fruchtbarkeit sich von ihnen abgewandt, der lebensspendende Regen war ausgeblieben, trotz unzähliger Opfer und Gebete. Drei Jahre zuvor hatte das Verhängnis der Bauern des Dorfes Dasada begonnen. Doch damals sahen sie es nicht, denn alles hatte so verheißungsvoll angefangen.

Frühjahr 2003

An einem heißen Frühjahrsmorgen fielen die Vertreter der Firma Mahyco über das Dorf Dasada her, klappten Stühle auf im Halbkreis um einen offenen Pritschenwagen. Der Sarpantsch war schon Tage zuvor im Auftrag des Pantschajat von Hütte zu Hütte gegangen und hatte zu einer Veranstaltung von höchster Wichtigkeit eingeladen. Da hockten sie nun, die zerlumpten Bauern, die nicht schreiben und nur wenig rechnen konnten und lauschten den verführerischen Worten der Mahyco-Vertreter. Ein höherer Beamter des Landwirtschaftsministeriums war mitgereist, um die Meute Kraft seines Amtes zu unterstützen. Sie saßen im kühlen Schatten des großen Banyanbaumes, unter dem sie sich immer trafen um den Klatsch des Dorfes durchzuhecheln. Unter den Bauern auch Saddik Ramesh. Seine wirtschaftliche Lage war schlecht, um nicht zu sagen miserabel, auch wenn sein Vater durch die Landreform vier Morgen Ackerland zugeteilt bekommen hatte.

Der Dorfälteste begrüßte wortreich den Regierungsvertreter, der schwitzend in einem Korbsessel in der ersten Reihe lehnte. Die Luft drückend heiß und der korpulente Mann versuchte vergeblich mit einem Taschentuch die dicken Schweißperlen von der Stirn zu wischen, bevor sie in die Augen rinnen konnten, wo sie unangenehm brannten. Aus einem Lautsprecher auf dem Toyota Pritschenwagen quäkte die indische Nationalhymne. Die Mahyco-Handlungsreisenden, jung und drahtig, in weißen Leinenanzügen, schwitzten nicht, sie zeigten jene Agilität die einen guten Vertreter auszeichnet. Der Vortrag begann.

„Baumwolle“, verkündete ihr Sprecher, „ist das Produkt der Zukunft, eurer Zukunft. Der Weltmarkt reißt sich um indische Baumwolle, die Preise schießen in die Höhe. Wollt ihr ein gutes Einkommen für euch und eure Familien, baut Baumwolle an. Wir bieten euch ein Saatgut, die BT-Baumwolle, eine neue erfolgreiche Züchtung aus Amerika. Baumwolle mit der ihr einen um 80 Prozent gesteigerten Ertrag erzielen könnt. Sie hat außerdem den unschätzbaren Vorteil, deutlich weniger Pestizide zu brauchen.“

Das hörte sich gut an. Die Anwesenheit des Sekretärs des Landwirtschaftsministeriums schuf Vertrauen. Die Bauern glaubten, ihre Regierung unterstütze das Projekt. Dass der Sekretär diese Veranstaltungen lediglich wegen des guten Honorars besuchte, ahnten sie nicht. Es folgte ein langer Vortrag über die Möglichkeiten und die Ertragsaussichten, die sich aus dem Anbau von BT-Baumwolle ergeben sollten. Die neue Sorte zeige sich immun gegen den Kapselbohrer und gegen die Kräuselkrankheit, die gefürchteten Baumwollschädlinge. Sie sei resistenter in Dürreperioden. Dazu zeigten sie Grafiken und zitierten aus verschiedenen wissenschaftlichen Veröffentlichungen. Obwohl die Bauern nicht viel davon verstanden, nickten sie höflich mit den Köpfen. Ihre Lage war verzweifelt, denn politische Zusammenhänge, von denen sie nichts wissen konnten, brachten sie in schlimmste Existenznöte. Im vergangenen Jahr hatte eine anhaltende Dürre die Ernteerträge erheblich geschmälert. Hinzu kam ein Beschluss der Zentralregierung in Neu Delhi, die auf Druck der WTO die Importzölle und die Subventionen drastisch kürzen musste. Indische Bauern sahen sich gezwungen, mit Anbietern aus der EU, den USA und China zu konkurrieren. Diese Länder jedoch schützten ihre Agrarprodukte durch Zölle und ihre Landwirte wurden mit Steuermilliarden subventioniert. Darüber jedoch berichtete der Nachrichtensprechen im Radio vor dem Haus des Sarpantsch, des Dorfvorstehers nichts in den12:00 Uhr Nachrichten. Dieses japanische Transistorradio stellte die einzige Informationsquelle der Bauern von Dasada in Hindi ihrer Sprache dar. Es hing auf der Veranda des Sarpantsch an der Wand und tönte den ganzen Tag in voller Lautstärke. Saddik versäumte es nie, sich die Meldungen anzuhören, wenn er vom Feld zurückkehrte. Er hatte der Familie seine Anweisungen erteilt und da keine Ernte anstand, blieb ihm genügend Zeit sich zu informieren, zumal er sich freute ein Schwätzchen mit den Nachbarn zu halten.

„Die BT-Baumwolle sichert euch eine glänzende Zukunft. Ihr werdet Wohlstand erlangen, genug Nahrung für eure Familien erwirtschaften“, schallte es aus dem Lautsprecher. Saddik träumte von einem festen Haus, keiner windschiefen Hütte mehr. Von einem eigenen

kleinen Radio oder sogar von einem eigenen Fahrrad. Wichtiger aber schien es ihm, Geld zurückzulegen für das Hochzeitsfest seiner Tochter Savita. Diese Männer hatten gütige Götter gesandt, um ihrem Elend ein Ende zu bereiten, davon waren die meisten der Bauern mittlerweile überzeugt.

„Versäumt nicht die ungeheuren Möglichkeiten, die euch die BT-Baumwolle bieten kann. Wer heute nicht auf unsere neue Baumwolle umsteigt, bleibt für immer in Armut und Not. Wollt Ihr das euren Frauen und Kindern antun?“, hallte es blechern über den Platz. Einige Werber schwärmten aus, verteilten Kugelschreiber und andere kleine Geschenke, drückten jedem einen Prospekt in die Hand, auf dem üppige Baumwollfelder prangten und glücklich strahlende Bauern vor schmucken weiß gekalkten Häusern. Den Text konnten die Bewohner des Dorfes Dasada nicht lesen, aber sie bestaunten andächtig die bunten Bilder.

„Auch Ihr könnt ein sorgenfreies Leben führen, dazu müsst ihr nur unser BT Saatgut kaufen“, klang es schmeichlerisch.

Saddik seufzte. Woher sollte er das Geld für das neue Saatgut nehmen, war er doch beim Geldverleiher schon mit mehr Rupien verschuldet als er zählen konnte. Er wischte die staubigen Hände an seiner Dhoti ab, drehte verlegen die Broschüre in den Fingern, zögerte, und kleinmütige Gedanken zogen durch seinen Kopf. Doch die bunten Bilder zeigten ihre verführerische Wirkung. Sie hackten sich in seinen Träumen fest wie Kletten, keimten hoffnungsvoll in seinem Herzen. Baumwolle ja, das war die Zukunft. Er ballte die Fäuste, sah sich auf einer Veranda sitzen mit einem schönen neuen Turban. Ein erfolgreicher, geachteter Mann. Sein gesundes Misstrauen und die über Generationen gewonnene Lebensweisheit schienen wie ausgelöscht. Der Beamte aus dem Landwirtschaftsministerium ergriff das Wort.

„Wir sehen diesen Fortschritt gerne“, tönte er und wischte sich ein weiteres Mal die Schweißperlen von der Stirn.

„Wir haben die neue Baumwolle kritisch geprüft und sie in vielen unabhängigen Anbauversuchen für gut befunden. Die Kongresspartei und die Zentralregierung arbeiten eng mit den Wissenschaftlern von Mahyco zusammen. Der Mutterkonzern dieser Firma, Monsanto aus den Vereinigten Staaten, bürgt für die Qualität des neuen Saatgutes. Gewiss, es ist teurer, aber die zu erwartenden Erträge werden euch mehr als entschädigen.“

Ächzend ließ er sich in den Korbsessel zurückfallen. Leicht verdientes Geld dachte er bei sich. „Ihr bekommt das BT-Saatgut über euren Landwirtschaftshändler“, ereiferte sich der Einpeitscher. Er redete viel und schnell.

„Schon die nächste Ernte wird euch überzeugen. Kauft BT-Saatgut und eine goldene Zukunft steht euch bevor.“ Erschöpft ließ er das Megaphon sinken. Er hatte wieder einmal ganze Arbeit geleistet.

Der Dorfälteste dankte den Männern von Mahyco und die Versammlung lief auseinander.

„Das sollte ich mit Shakina besprechen“ dachte Ramesh der Bauer. Bis spät in die Nacht diskutierte Saddik mit seiner Frau. Nicht, dass er dazu verpflichtet gewesen wäre, aber er schätzte Shakinas Rat, außerdem fühlte er sich besser wenn er eine so schwerwiegende Entscheidung mit ihr teilen konnte. Er zeigte ihr die farbenprächtigen Bilder blühender Baumwollfelder, sprach von den fantastischen Ernten und er malte den zukünftigen Wohlstand in den buntesten Farben aus. Ganz wohl war ihm nicht dabei, aber die leise warnende innere Stimme brachte er schnell zum Schweigen.

„Wie willst Du das bezahlen?“, fragte Shakina.

„Wir müssen uns eben beim Bania Geld leihen.“

„Wir haben doch schon so viele Schulden“, gab sie respektvoll zu bedenken.

„Die wir in der jetzigen Situation ein Leben lang nicht zurückzahlen können.“ Shakina seufzte. Saddik wusste, was ihr Seufzen bedeutete. Einen großen Teil der Schulden hatte er von seinem Vater geerbt, einen weiteren selbst angehäuft. Er hatte sich so viel Geld leihen müssen, dass an eine Rückzahlung nicht zu denken war, nicht einmal sein Sohn, so der denn die ärmlichen Felder übernehmen würde, könnte die Summe abstottern. Seit Jahren schon war es ihm nicht möglich mehr als die Zinsen zu begleichen. Sogar die Butter seiner einzigen Kuh brachte er regelmäßig zum Geldverleiher, ganz zu schweigen von den wenigen Rupien die er für seine Ernte bekam. Insgeheim befürchtete er, der Bania würde ihm nichts mehr leihen. Der Geldverleiher war ein verschlagener alter Fuchs, der den Wert jedes Ackers, jeder Kuh und jedes Hauses im Dorf kannte. Nun gut, auch der Bania war unter den Zuhörern des Vortrages der Mahyco Leute gewesen und wie Saddik aus den Augenwinkeln beobachteten konnte, hatte der Mann mit am eifrigsten geklatscht.

„Vielleicht sollte ich vorher mit dem Dorfältesten reden“, überlegte er bevor ihn der Schlaf übermannte. In dieser Nacht wälzte sich der Bauer unruhig auf seiner Pritsche. Zu viele Gedanken jagten durch seinen Kopf und verursachten wirre Träume. Saddik erwachte vor dem Morgengrauen, gähnte geräuschvoll, hustete laut. Dann berührte er ehrfürchtig den kleinen goldenen Ring am Finger, den ihm sein Vater außer den Schulden als Glücksbringer hinterlassen hatte. Glück hatte Saddik heute nötig um eine kluge Entscheidung zu treffen. Er ging an den Dorfteich, um sein tägliches Morgenbad zu nehmen. Dabei stieg er mit seiner Dhoti in den Teich, wusch sich und sprach seine Gebete. Nachdem er einige wenige Löffel Dal gegessen hatte, machte er sich auf den Weg zum Dorfältesten. Die Beiden diskutierten lange über die neue Baumwolle, wogen die Argumente gegeneinander ab, kamen jedoch zu keiner Entscheidung. Der Sarpantsch schüttelte gedankenvoll den weißhaarigen Kopf.

„Nicht alles, was neu ist, ist auch ein Segen für uns“, äußerte er nach langem Überlegen. „Kann sein, dass es eine Möglichkeit für dich ist, kann aber auch sein, dass nicht.“ Saddik nickte ehrfurchtsvoll.

„In meinem Leben habe ich erfahren, die alten Sitten und Gebräuche sind für uns die besten und sie sollten nicht geändert werden.“

„Aber“, entgegnete Saddik, „wir tun doch dasselbe wie schon unsere Väter und Großväter, lediglich der Samen der Baumwolle ist anders.“

„Und teuer“, warf der Alte ein.

„Ja“, klagte Saddik, „aber wenn nicht bald etwas geschieht, wird meine Familie verhungern, zwei Kinder sind mir schon weggestorben.“

Der Alte seufzte.

„Glück und Unglück liegt allein in der Hand der Götter. Wäge weise und bete.“ Mit einer müden Handbewegung entließ er Saddik, der sich mehr von dem Gespräch erhofft hatte. Unschlüssig stand er vor dem Haus des Dorfältesten, doch dann wandte er sich um und lenkte seine Schritte zum Haus des Geldverleihers. Zumindest erkundigen könnte er sich, ob ihm der Bania überhaupt noch Geld leihen würde. Der Bania saß schwitzend hinter einem klapprigen Holztisch, auf dem sich die Schuldverschreibungen in Stößen häuften. An der Decke surrte ein träger Ventilator, der jedoch die aufkommende, stickige Hitze lediglich gleichmäßig im Raum verteilte.

„Moment“, brummelte der Geldverleiher und wühlte in seinen Papieren. Er gab sich wichtig, obwohl er nichts anderes zu tun hatte, als einer Spinne gleich im Netz auf seine Opfer zu warten. Es war ihm zur zweiten Natur geworden, seine Klienten erst ein wenig zappeln zu lassen. Gut fürs Geschäft, bildete er sich ein. Saddik verharrte geduldig. Schließlich hob der Bania das Gesicht und funkelte Saddik mit listigen Augen über den Rand der Brillengläser an.

„Na Saddik, ich habe dich gestern bei den Mahyco Leuten gesehen, brauchst wohl Geld für das neue Saatgut?“ Saddik rang verlegen die Hände und nickte.

„Ja das wäre eine tolle Sache, wenn das mit der Baumwolle so eintreffen würde“, meinte der Bania. Im Stillen rechnete er aus, wie hoch sein Gewinn bei der Transaktion sein könnte.

„Ich will nachschauen, wie viel du mir schon schuldest.“ Er blätterte in einem der Papierstöße, fischte mit den fetten, beringten Fingern ein Blatt heraus und runzelte die Stirn.

„Mhm, ich sehe schon.“ Es gab nicht mehr viel, was Saddik hätte verpfänden können.

„Deine Kuh und der Ochse gehören mir schon, ebenso dein Haus. Die Felder sind nichts wert.“ Saddik nickte betreten und schwieg.

„Was kannst du mir als Sicherheit anbieten?“

Saddik zuckte mit den Schultern. Außer der Option auf zukünftige gute Ernten hatte er nichts anzubieten. Der Geldverleiher musterte ihn scharf, sagte nichts.

„Ich fürchte, ich kann nichts für dich tun“, stellte der Bania ungerührt fest. Saddik senkte den Kopf, wandte sich ergeben zum Gehen.

„Es sei denn“, hielt ihn der Kredithai zurück, „es sei denn…“ – und dabei fuhr er sich genüsslich mit der Zunge über die Lippen. Er machte eine kleine Pause bevor er weiter sprach.

„Du hast eine hübsche Tochter, Savita.“

Saddik erschrak, er ahnte, was der Banja vorschlagen würde und er fürchtete sich davor.

„Ich gebe dir das Geld, doch wenn du nach der Ernte nicht zahlen kannst, gehört das Mädchen mir.“

Saddik wusste, der Bania würde seine Tochter verkaufen, an eine Fabrik oder als Sklavin in eine reiche Familie, vielleicht sogar, und das war noch schlimmer, an ein Freudenhaus. Seine Situation schien aussichtslos. Lehnte er ab, müsste seine Familie verhungern. Nahm er an, so bestand wenigstens die Chance, durch einige gute Ernten seine Schulden zum Teil zu begleichen. Der Bania drehte einen Kugelschreiber in den Händen und wartete.

Das solltest du mit deiner Frau bereden, dachte Saddik, aber er wusste, Shakina würde diesem Handel niemals zustimmen. Unschlüssig stand er vor dem Holztisch. Der Geldverleiher kramte in einer Schublade, entnahm ihr ein Bündel speckiger Geldscheine und begann, indem er einige Scheine herauszog ein kleines Häufchen zu bilden. Sorgsam blätterte er einen Schein auf den anderen, stieß das Päckchen zwischendurch immer wieder auf. Schweißperlen standen aufs Saddiks Stirn, seine Hände wurden feucht und verkrampften sich. Der Kredithai verstand sein Handwerk. Er wusste: lang würde der Bauer nicht durchhalten. Mit einer katzengleichen Bewegung ergriff Saddik die Scheine und stopfte sie in seine Hose.

„Na also“, grinste der Geldverleiher zufrieden. „Unterschreibe hier“, sagte er. Der Bauer kritzelte seinen Namen auf das Papier.

„Dann viel Glück“, rief ihm der Bania nach und rieb sich die Hände. Seiner Frau verschwieg er den Handel.

Die Zeit drängte, denn die Aussaat musste noch vor dem Sommermonsun im Juni erfolgen. Baumwolle braucht von der Aussaat bis zur Reife viel Wasser. Erst zur Ernte sollte das Klima mild und trocken sein.

„Morgen gehe ich Samen kaufen“, teilte er seiner Frau am Abend kurz angebunden mit. Sie sah ihn mit großen traurigen Augen an, ahnte wohl etwas, sagte jedoch nichts. Es ist nicht einfach, in einem kleinen Dorf wie Dasada etwas geheim zu halten. In dieser Nacht pressten sie ihre Leiber verzweifelt aneinander, hielten sich umschlungen, als wollten sie voneinander Abschied nehmen. Saddik fühlte sich elend, wie ein Verräter, dabei tat er das alles nur für seine Familie, glaubte er. Die drei Kinder im Nebenraum schliefen ruhig. Nach der Morgenwaschung im Dorfteich zog der Bauer sein einziges Hemd und seine verschlissene Hose an, er küsste das Bild der Göttin Indra, bat um ihren Segen, er küsste Shakina und auch sie bat er wortlos um ihr Einverständnis. Sie blickte ihn bekümmert an. Dann ging er entschlossenen Schrittes zum Dorfplatz, um auf den Bus, der zweimal täglich Dasada mit der nächst größeren Stadt verband, zu warten. Das Bündel Scheine in seiner Tasche hielt er fest umklammert. Am Banulsbaum harrte schon eine Gruppe Bauern und einige Frauen, die mit ihrer Ware auf den Markt wollten. Sie kauerten auf dem Boden und warteten geduldig. Saddik setzte sich nicht, seine Hose hätte Schaden nehmen können, vorsichtig lehnte er sich an einen dicken Ast des weit ausladenden Baumes. In der Schar erspähte er einen Nachbarn, auch der im besten Gewand. Sie begrüßten einander, standen verlegen zusammen. Schließlich brach der Nachbar das Schweigen.

„Gehst du auch Baumwollsamen kaufen?“

Saddik nickte.

„BT-Samen?“, wollte der Andere wissen. Saddik senkte zustimmend den Kopf.

„Ich traue den Versprechungen nicht. Die Vertreter waren mir zu geschäftstüchtig. Ich will die alten Samen, die, die wir schon seit Jahrzehnten anbauen.“

Saddik nickte verlegen.

„Außerdem habe ich gehört, die Qualität der BT-Samen soll nicht gut sein. Die Hälfte der neuen Samen geht nicht auf, sie sind zudem empfindlicher gegen die Kräuselkrankheit und den Kapselbohrer.“

„Wer sagt das?“, fragte Saddik verunsichert nach.

„Vandana Shiva von der RFSTE berichtet, in Madhya Pradesch hat die BT-Baumwolle vollkommen versagt. Sie wurde von der Wurzelfäule befallen, was auf einer falschen Gen-Auswahl beruht.“

Saddik staunte über das Wissen des Nachbarn, doch er wollte sich nicht verunsichern lassen. Mehr zum Zeitvertreib fragte er deshalb nach.

„Wer ist diese Vandana Shiva?“

Der Bus ließ auf sich warten und die Nachbarn nutzten die übliche Verspätung, um sich weiter über ihre Lage zu unterhalten.

„Woher weißt du das?“, wollte Saddik wissen. Er war tief beeindruckt.

„Mein Vetter wohnt in Madhya Pradesch, er kennt Vandana Shiva persönlich, sie hält viele Vorträge und unterstützt uns arme Bauern wo sie nur kann.“

„Vandana Shiva ist mir zu radikal, sie stellt Behauptungen auf, die durch nichts bewiesen sind“, mischte sich ein weiterer Bauer ein. „Sie will uns das bisschen Wohlstand nicht gönnen, das uns Mahyco verspricht.“

„Das ist nicht richtig, sie versucht nur, uns Bauern vor der Ausbeutung durch die Großkonzerne zu schützen, unsere traditionellen Anbautechniken und unser jahrhundertelang bewährtes Saatgut zu bewahren.“ Die zwei erhitzten sich.

„Ihr habt nicht genau hingehört, die Schwätzer von Mahyco haben gar nichts versprochen“, mischte sich ein weiterer Mann ein.

„Was hast du früher zwischen deine Baumwolle gepflanzt?“, ereiferte sich der Nachbar.

„Nun ja, je nach Bedarf, Tierfutter und Mais, auch andere Sachen.“

„Das wird in Zukunft nicht mehr gehen, denn das erforderliche Unkrautvernichtungsmittel lässt eine Saat zwischen der Baumwolle nicht mehr zu.“

„Aber bis jetzt ging es doch auch“, meinte einer trotzig. „Und was ist mit der Einsparung an Pestiziden?“

Der Bus kurvte hupend um die Ecke eine dicke Staubwolke hinter sich herziehend. Jäh endete das Gespräch, denn jeder versuchte, einen Sitzplatz zu ergattern. Doch der heruntergekommene Volvo war schon voll mit schwitzenden Menschen, die Hühner, ja sogar Ziegen mit sich führten und die sich wie Zündhölzer in einer engen Streichholzschachtel drängten. Also kletterten sie auf das Dach. Hier versprach der Fahrtwind wenigstens Kühle, auch wenn die Reisenden damit rechnen mussten, von herabhängenden Zweigen ins Gesicht gepeitscht zu werden. Die Sonne brannte heiß auf die ausgedörrte Landschaft. Auf den Feldern bildeten sich tiefe Risse im Erdreich und harte verkrustete Platten überzogen das Ackerland wie die Schuppen einer großen Schlange. Die Erde schrie nach den Regengüssen des Monsuns. Ermattet lagen die Kühe im Schatten der großen Bäume. Der heiße Wind wirbelte Staubwolken über die Felder und der pulverige Sand kroch in die Kleider und in die Augen der Reisenden. Nach zwei Stunden Fahrt erreichten sie die Stadt. Mühsam bahnte sich der Bus einen Weg durch die überfüllten Straßen. Ochsenkarren und Autos, Fahrräder und Taxis kurvten wild durcheinander, dazwischen Menschen in stoischer Ruhe, gleich den heiligen Kühen. Es roch nach Fäkalien und Schweiß, mittendrin schwebten ein Hauch von Gewürzen und eine Spur von Parfüm. Am Busbahnhof entleerte das klapprige Vehikel seine Fracht. Schimpfend, bepackt mit Bündeln, Ziegen hinter sich her zerrend stoben die Fahrgäste auseinander, wie ein vom Turmfalken gejagter Schwarm Tauben. Einige strebten mit ihren Tieren dem Markt zu, andere hatten dringende Geschäfte bei einer Behörde. Urplötzlich stand Saddik alleine da. Gedankenverloren bahnte er sich den Weg zum Landwirtschaftshandel. Er durchquerte die engen Basare, kaufte sich unterwegs eine saftige Mango, er hatte noch nichts gegessen und der Hunger nagte in seinen Eingeweiden. Warum er unbewusst einen Umweg nahm, wusste er nicht.

„Ich muss nachdenken“, hämmerte es in seinem Kopf. Doch das schnelle Abwägen einer neuen Situation war nicht Saddiks Stärke. Also landete er schließlich in der Lagerhalle des Landwirtschaftshandels. Er kam nur selten hierher, trotzdem erkannte ihn einer der Verkäufer wieder.

„Na Saddik, auch Baumwollsamen kaufen?“

„Ja“, entgegnete der Bauer, er wollte sich weltmännisch geben und äußerte wie nebenbei: „ich will dieses Jahr mal das BT-Saatgut von Mahyco probieren.“

„Oh“, antwortete der Verkäufer, „das ist aber viel teurer. Du musst pro Hektar mit 4000 Rupien rechnen.“

„Ich weiß“, entgegnete der Bauer.

„Willst du nicht doch bei der herkömmlichen Sorte bleiben, die kostet nur 950 Rupien.“

Aber Saddik hatte es sich nun einmal in den Kopf gesetzt, dem Elend zu entkommen. Die BT-Baumwolle schien ihm hierfür der einzig gangbare Weg zu sein. Im Stillen hoffte er, die versprochenen Einsparungen an Pestiziden würden den astronomischen Preis wieder wettmachen.

„Handeln ist nicht“, sagte der Verkäufer. "Der Preis wird uns von Mahyco vorgegeben." Damit hatte Saddik nicht gerechnet.

„Wir müssen eine hohe Abgabe an Mahyco zahlen und die wiederum führen das Geld an Monsanto ab. Jeder will daran verdienen und je mehr an dem Handel beteiligt sind, desto teurer wird das Produkt. Willst du es dir nicht doch noch einmal überlegen?“

Doch Saddik blieb stur, beharrte auf den BT-Samen. Vor seinen Augen tanzte das Bild mit der weißen neuen Hütte dahinter die blühenden Baumwollfelder. So wie es im Prospekt abgebildet war.

„Dann musst du noch eine Erklärung unterschreiben“, seufzte der Verkäufer, dem es nicht wohl war, armen Landwirten teures Saatgut zu verkaufen.

„Wie das?“, fragte Saddik erstaunt. Er hatte noch nie etwas unterschreiben müssen, wenn er in früheren Jahren Samen kaufte.

„Das verlangt Monsanto von jedem Bauern, der ihr neues Saatgut einsetzt.“

„Und was steht da drin?“, wollte Saddik wissen und sein gesunder Menschenverstand riet ihm, auf der Hut zu sein.

„Da steht, du darfst das Saatgut nicht vermehren, nur das dazu passende Pestizid verwenden, du darfst die Samen nicht weitergeben und musst jedes Jahr neues Saatgut erwerben. Du erlaubst damit den Mahyco Leuten, deine Felder zu kontrollieren. Das ist das Wichtigste.“

„Aber so etwas haben wir noch nie unterschrieben“, protestierte Saddik schwach. Die Situation überforderte ihn.

„Tut mir leid“, meinte der Verkäufer, „ohne diese Unterschrift darf ich dir die Samen nicht verkaufen.“

„Was soll's“, lachte Saddik unsicher, „es wird mich schon nicht den Kopf kosten.“ Und er setzte seine ungelenke Unterschrift unter den Knebelvertrag. Der Verkäufer schluckte, sagte aber nichts. Sie tranken eine Tasse Tee miteinander und der größte Teil des Geldes wechselte den Besitzer.

„Dann bis zum nächsten Jahr“, verabschiedete sich der Verkäufer und wandte sich einem weiteren Kunden zu. Die leise mahnende Stimme beruhigte Saddik mit dem Gedanken: „Wenn das Saatgut nicht hält, was es verspricht, kann ich ja wieder zu meinen altbewährten Baumwollsamen zurückkehren, nächstes Jahr.“ Dass er seine Tochter verpfändet hatte, verdrängte er. Nein, heute wollte er sich die vage Hoffnung auf ein bisschen Glück nicht zerstören lassen. Er kam sich vor wie ein kleiner Junge, der sich sehnsüchtig die Nase an der Schaufensterscheibe eines Spielwarenladens platt drückte. Nur dass es hier keine Scheiben gab und Saddik kein kleiner Junge mehr war. Saddik, den Sack Samen über der Schulter, schlenderte zurück zum Busbahnhof. Sein Herz hüpfte und vor seinem inneren Auge erstrahlte eine goldene Zukunft. Alles erschien in rosigem Licht, fröhlicher und farbiger leuchteten die Saris der Frauen, das Obst auf den Karren.

„Ja“, jubelte er, „ja“ und er träumte von einem eigenen Fahrrad, vielleicht einer weiteren Kuh, einer Aussteuer für die Tochter.

Der Bus fuhr erst gegen Abend zurück und so blieb Saddik genügend Zeit, sich in der Stadt umzusehen. Er ließ sich durch die schmutzigen Gassen treiben, sah den Messingschmieden bei der Arbeit zu, die mit Meißel und Hammer verschlungene Muster in das goldene Metall trieben. Er roch an den vielfältigen Gewürzen der Händler, vieles davon hatte er noch nie besessen, wusste nicht einmal wie die Spezereien hießen. Er wiegte sich ein wenig im Rosenduft des Parfümmachers, befühlte den festen dunkelblauen Stoff der Jeans und träumte vor sich hin. Nur die Samen im Leinensack hielt er fest umklammert. Ramesh kannte keinen Neid, das kam in seiner Religion nicht vor, doch wehmütig betrachtete er die festen Häuser. Die in bunt schillernde Seidensaris gewickelten gepflegten Frauen mit der samtweichen Haut und dem schwarzen nach Jasmin duftenden Haar. All das war für seine Familie unerreichbar, sagte ihm sein Verstand. Aber träumen durfte man wenigstens. Er hatte gehört in anderen Ländern der Welt gäbe es keine Kasten, keine Standesunterschiede. Doch das konnte er sich nicht vorstellen. Nein, in Indien herrschten die Kasten schon seit tausenden von Jahren, daran würde sich nie etwas ändern, zwecklos dagegen aufzubegehren. Der Zufall lenkte seine Schritte ins Bordellviertel. Verschämt glotzte er die jungen Frauen an, manche fast noch Kinder, die ihn mit schamlosen Gesten zu sich lockten. Schöne Leiber waren darunter Gesichter mit glutvollen schwarzen Augen, die fast durchsichtigen Saris zeichneten die Konturen von Brüsten, Bäuchen und Pobacken mehr ab, als sie verhüllten. Saddik senkte den Blick, schlicht verstohlen weiter gleich einem ertappten Voyeur. Aus einem der Häuser mit halb angelehnten Fensterläden schwebte der Klang einer Sitar. Saddik seufzte, er hatte Hunger und Durst, hätte sich zu gerne eine saftige Wassermelone gegönnt. Doch er wusste, die verbliebenen Rupien durfte er nicht ausgeben. Sein Blick blieb an einer Schar junger Mädchen hängen, die vor dem Eingang eines verdreckten Hauses auf den Treppenstufen saßen, die Beine breit. Sie mochten zehn bis zwölf Jahre oder sogar jünger sein. Ihre traurigen Augen musterten ihn mit ergebenen Minen, schienen zu sagen, komm nicht zu uns. Er beobachtete einen feisten alten Mann der sich eines der Mädchen griff, sie hinter sich her in das Haus zerrte. Sie wehrte sich nicht, hielt den Kopf gesenkt, ging einfach mit, willig. Sie kannte es nicht anders. Ein Kinderbordell, schoss es Saddik durch den Kopf. Erschrocken wandte er sich um, hastete mit schnellen Schritten aus der Gasse, wie ein ertappter Dieb. Der Vertrag mit dem Bania lastete schwer auf seiner Seele. Die verlorenen Augen der Mädchen verfolgten ihn. Ziellos trieb er durch die Gassen, die leuchtenden Farben die märchenhaften Gerüche erreichten seine Seele nicht mehr. Nach Stunden des Umherirrens landete er wieder auf dem staubigen Platz, der als Busbahnhof diente. Die Sonne brannte heiß vom Himmel Gujarats und der Bauer suchte sich einen schattigen Fleck unter einem Feigenbaum. Er legte den Sack mit den Samen unter den Kopf und langsam schlief er ein. Er träumte unruhig und erwachte aus einem betäubenden Schlaf. Jemand rief seinen Namen.

„Ramesh, Ramesh, der Bus fährt gleich, oder willst du hier übernachten?“ Es war sein Nachbar, auch er mit einem Sack Baumwollsamen in der Hand. Die Sonne hing wie ein rotgoldener Ball tief am Horizont. Noch immer lastete drückende Schwüle über der lärmenden Stadt. Benommen rappelte Saddik sich auf, griff nach seinem Saatgut und erklomm mit dem Nachbarn den Bus. Diesmal fanden sie zwei Sitzplätze nebeneinander.

„Danke auch“, murmelte Saddik.

Der Nachbar nickte, er wirkte betrübt. Ramesh spürte, dass ihn etwas bedrückte.

„Was ist geschehen?“

Der Bauer deutete stumm auf den Sack mit seinen Baumwollsamen.

„Es sind die letzten von der alten Sorte. Ich bin durch die ganze Stadt gelaufen, überall gibt es nur die neuen BT-Samen und die wollte ich nicht.“

Nicht dass Saddik schadenfroh gewesen wäre, aber diese Aussage untermauerte seine Entscheidung.

„Nächstes Jahr wird es wohl gar kein herkömmliches Saatgut mehr geben.“

Saddik sah betreten drein, er fühlte sich mitschuldig am Kummer seines Nachbarn.

„Sie wollen uns zwingen, das neue Saatgut anzubauen, das geschieht weltweit, sagt Vandana Shiva. Sie haben sich die BT-Samen patentieren lassen, niemand darf sie aussäen ohne eine Lizenz von Mahyco jedes Jahr müssen die Samen neu erworben werden.“

Saddik erschrak. Zwar hatte er die Worte des Verkäufers verstanden doch in ihrer bitteren Konsequenz nicht ganz durchdrungen. Seit Urzeiten legten die Bauern einen Teil der Ernte zurück um sie im nächsten Jahr wieder auszusähen. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, dass dieses heilige Recht nicht mehr bestehen sollte.

„Was sagst du da“, fragte er ungläubig den Nachbarn.

„Sie keimen kein zweites Mal“, meinte der, „sie nennen es Terminatorsaatgut. Dadurch wirst du gezwungen jedes Jahr neue Samen zu kaufen. So geraten wir in eine unumkehrbare Abhängigkeit von den großen Konzernen. In den USA und in Europa haben sie die Entwicklung abgebrochen. Aber bei uns in Indien! Vandana Shiva sammelt die alten heimischen Sorten und züchtet sie nach, aber es gibt einfach nicht genug Saatgut für alle.“

Saddiks Kalkulation war also falsch gewesen. Er war wie selbstverständlich davon ausgegangen, im nächsten Jahr dieselbe Saat wieder zu verwenden.

„Warum haben sie uns das nicht gesagt?“, stieß er wütend und verzweifelt hervor.

„Es steht in den Prospekten und mit dem Kauf des BT Saatgutes hast du dich verpflichtet, dich an die Regeln zu halten.“

Siedend heiß fiel es Saddik ein. Auch er hatte beim Samenhändler einen Zettel mit Kleingedrucktem unterschrieben, diesen jedoch in seiner Verblendung nicht ernst genommen. Er fühlte sich betrogen. Noch nie hatte es so einen frechen Versuch in der Vergangenheit gegeben. Er musste an die Worte des Dorfältesten denken.

„Und du“, wollte er vom Nachbarn wissen, „was machst du im nächsten Jahr?“

„Ich werde einige Samen zurücklegen, vielleicht bekomme ich auch eine geringe Menge von der RFSTE. Man wird sehen.“

Der Bus füllte sich, die Menschen kauerten im Gang, quetschten sich zu mehreren auf den Sitzbänken, saßen auf dem Dach und versuchten, sich festzuhalten. Schaukelnd rollte das Gefährt an, stieß eine mächtige stinkende Wolke blauschwarzen Abgases aus und fuhr unter lautem Hupen aus der Stadt, nahm seine halsbrecherische Fahrt auf. Der Fahrer raste wie ein Selbstmörder durch die Kurven, sodass der Bus sich jedes Mal gefährlich zur Seite neigte. Die blutrote Sonne wanderte dem Horizont zu. Müde Bauern trotteten erschöpft auf der Straße von ihren Feldern nach Hause. Die beiden schwiegen eine Weile. Schließlich stieß Saddik den Nachbarn an.

„Zeigst du mir deine Samen?“, tuschelte er. Sie holten jeder ein paar der kostbaren Kerne aus ihren Beuteln. Die glänzten braunschwarz auf den schrundigen Handflächen und schienen ihnen so wertvoll wie Goldkörner. Beide Samenkörner waren gleich groß, circa 20 bis 30 Millimeter. Sie rollten sie in der Hand vorsichtig hin und her.

„Ich kann keinen Unterschied erkennen“, stellte Saddik schließlich fest. Der Nachbar nickte.

„Der einzige Unterschied ist der Preis“, meinte er.

„Man sieht ihnen ihre Eigenschaften nicht an“, ergänzte Saddik, „man kann nicht einmal sagen welche der Samen aufgehen werden und welche nicht.“ Beide saßen da, hingen wehmütig ihren Gedanken nach.

„Es liegt allein in der Hand der Götter.“


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