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3 DER WIDERWILLICE SCHÜLER
ОглавлениеDer die Aufsicht führende Lehrer befürchtete, es käme zur Revolte. Er ließ uns in den Unterrichtsräumen Gebete aufsagen und dann zu Bett gehen. Um halb zehn warf jemand, nachdem die Lichter gelöscht waren, Steine gegen die Schlafzimmerfenster: Die Scheiben zersplitterten. Der Aufseher kam und hielt eine Rede, die nur für Aufregung sorgte. Als er fortgegangen war, zertrümmerte jemand erneut Fensterscheiben und Nachttöpfe, die gegen die Fensterflügel geworfen wurden. Der Aufseher wusste nicht mehr, was er tun sollte; er ging in die Garnison und ließ Soldaten sich im Schlafsaal mit aufgepflanztem Bajonett aufstellen, um den ersten aufzuspießen, der sich bewegte. Die Anwesenden taten nichts, außer dass sie Wiedergutmachung forderten. Keiner tat in dieser Nacht ein Auge zu. Ich weiß nicht, wie weit sie gegangen wären, aber ich hatte nichts damit zu tun.
(Brief Jean-François Champollions an seinen Bruder aus dem Internat in Grenoble, wahrscheinlich Sommer 1805)32
In Grenoble, seit dem 11. Jahrhundert die Hauptstadt der Provinz Dauphiné und seit der Revolution Standort des Heereskommandos des Départements Isère, traf Jean-François im Alter von zehn Jahren ein. Diese Stadt sollte für die nächsten zwei Jahrzehnte sein beinahe einziger Wohnort werden. Trotz all der Störungen in seiner Beziehung zu Grenoble einschließlich der Zeitspanne seiner behördlich angeordneten Verbannung nach dem Sturz Napoleon Bonapartes 1815 wurde die Stadt zu seiner Heimat – und zwar viel mehr als Figeac, seine Geburtsstadt, oder als Paris, die Stadt, die ihn berühmt machen sollte. Vom südlichsten von ihm erreichten Ort Ägyptens aus schrieb er am Neujahrstag 1829 Augustin Thévenet, einem engen Schulfreund aus einer Grenobler Familie, er sei aus tiefstem Herzen immer ein Dauphinois gewesen.33 Dieser Satz drückte die unbekümmerte Haltung aus, mit der er das gehässige Etikett (Dauphinois endiablé) hinnahm, das ihm die Royalisten angeheftet hatten, die ihn zuvor aus Grenoble verbannt hatten.
Liberale und republikanische Einstellungen traten im intellektuellen und kulturellen Leben Grenobles sehr deutlich zutage, obwohl die Stadt keine Universität besaß, bis Napoleon 1805 mit den Vorbereitungen zu ihrer Gründung begann. An dieser Universität sollten die Champollion-Brüder als amtlich bestellte Professoren tätig werden. Der in der Stadt vorherrschende Republikanismus hatte jedoch in keiner Weise zu politischem Extremismus geführt. In Grenoble war es möglich gewesen, die gewalttätigsten Exzesse der Französischen Revolution einschließlich einer Schreckensherrschaft zu vermeiden, weil die führende Gesellschaftsschicht an der Spitze der Reform von 1789 gestanden hatte. Im Jahre 1815 wurde Grenoble zur ersten Stadt in Frankreich, in der Napoleon bei seiner Rückkehr aus dem Exil auf Elba willkommen geheißen wurde; die Champollion-Brüder waren daran aktiv beteiligt.
Grenoble im 19. Jahrhundert. Champollion machte die Stadt ab 1801 zwei Jahrzehnte lang zu seinem Wohnsitz. Er liebte Grenoble mehr als Paris, obwohl sein Verhältnis zu dieser Stadt oft von Spannungen geprägt war.
Der berühmteste Sohn der Stadt im Bereich der Literatur, Marie-Henri Beyle, der eher bekannt ist unter seinem Pseudonym Stendhal, stellte sein Verhältnis zu Grenoble weniger positiv dar als Champollion. Stendhal war hier 1783 geboren und verließ seine Heimatstadt Richtung Paris kurz vor Jean-François’ Ankunft. In der sein eigenes Leben kaum verhüllenden Biographie Vie de Henri Brulard (geschrieben 1835–36) schreibt er: »Alles, was gemein oder abgenutzt ist am Typ des Bourgeois erinnert mich an Grenoble; alles, was mich an Grenoble erinnert, erfüllt mich mit Schrecken – nein, Schrecken ist auch noch ein zu harmlos klingendes Wort, gemeint ist etwa Krankheit des Herzens. Grenoble ist für mich wie die Erinnerung an eine fürchterliche Magenverstimmung.«34 Doch Stendhal setzte selbst für seine eigenen Verhältnisse seine Heimatstadt zu sehr herab; er brachte es nämlich nicht fertig, den Bewohnern der Dauphiné nicht seinen Respekt zu bezeugen. Er bewunderte etwas, was er ihr »Temperament« nannte – ihr Selbstwertgefühl, ihre Gewandtheit, ihre Unbeugsamkeit, ihre Vernunftorientierung, ihre Zähigkeit, ihren Tiefsinn, ihren Esprit, ihre feine Wahrnehmungsfähigkeit. All dies waren Eigenschaften, die Champollion le jeune zu gegebener Zeit an den Tag legen sollte.
Seit seiner Ankunft in Grenoble 1798 bewohnte der ältere Bruder Jacques-Joseph eine Zweizimmerwohnung in der Grande Rue der Stadt. Sie lag in der Nähe seines Arbeitsplatzes, des Handelshauses Rif & Cie., das Güter nach den Französischen Antillen exportierte, wahrscheinlich mit Unterstützung zweier reicher Familien aus der Dauphiné. Sein Sinn richtete sich jetzt jedoch viel eher auf die Förderung seiner Bildung als auf das Geschäftsleben. Das eine seiner zwei Zimmer hatte er in eine Bibliothek umgewandelt, die er ständig erweiterte. Oft erwarb er Bücher zu einem sehr geringen Preis von Leuten, die ihr Vermögen durch die Revolution verloren hatten. In dieser Umgebung fühlte sich der zehn Jahre alte Jean-François, als schliefe er in einem Kokon alter Bücher, von denen einige in orientalischen Sprachen verfasst waren; sie sollten ihn bald dazu bringen, mit den Forschungen zu beginnen, die sein Leben bestimmen sollten.
Jacques-Joseph hatte durchaus auch gesellschaftliche Ambitionen. Seine Entscheidung, seinen Nachnamen von Champollion in Champollion-Figeac zu ändern, fiel kurze Zeit nach seinem Umzug nach Grenoble. Der Doppelname trug dazu bei, ihn von seinen Vettern mit dem Namen Champollion zu unterscheiden, die in demselben Stadtviertel wohnten – und nach dessen Ankunft selbstverständlich auch von seinem jüngeren Bruder. Außerdem galt die Annahme eines Doppelnamens als Zeichen dafür, dass jemand im sozialen Rang aufzusteigen suchte. Ein weiterer Schritt dazu war seine Wahl im Dezember 1803 in die Société des sciences et des arts von Grenoble. Sie war die Nachfolgerin der Académie Delphinale, die zehn Jahre zuvor verboten worden war. Champollion-Figeac wurde in der Gesellschaft sehr schnell aktiv, in ihr begann er für den einflussreichen Joseph Fourier zu arbeiten. Fourier war ein Mathematiker, der kurz zuvor seine Tätigkeit als Präfekt des Isère aufgenommen hatte, nachdem er von seiner Tätigkeit unter den Gelehrten auf Napoleons Ägypten-Expedition zurückgekehrt war. Vier Jahre danach heiratete Champollion-Figeac in eine etablierte, wohlhabende Rechtsanwaltsfamilie ein – die Berriats. Es wäre jedoch falsch zu meinen, Jacques-Josephs geschickte Einordnung in die städtische Gesellschaft hätte ihn zu einem ›wichtigtuerischen, gerissenen und käuflichen‹ Menschen werden lassen, sagt Jean Lacouture. »Nichts von dem, was wir über seine Beziehungen zu den meisten seiner Zeitgenossen wissen, gibt Anlass zu solchen Vorstellungen.«35 Er war vielmehr ein echter Gentleman und zugleich ein engagierter Gelehrter. Nichtsdestoweniger ist Champollion-Figeac zeit seines Lebens ein viel konventionellerer Mensch und Denker geblieben als Champollion le jeune.
Sobald Jean-François im März 1801 angekommen war, erhielt er für einige Monate Privatunterricht durch einen Primarschullehrer. Sein Bruder hatte diese Lösung für ihn arrangiert und behielt sie ständig unter seiner Aufsicht. Zusätzlich erteilte Jacques-Joseph selbst dem Jungen Unterricht, wie er es bereits nach seiner Rückkehr in Figeac getan hatte. Nach wenigen Monaten informierte Jacques-Joseph in einem Brief vom Januar 1802 ihren alten Lehrer Dom Calmels über Jean-Jacques’ Lernerfolge:
Seine gewöhnliche Arbeit ist eine Übersetzung am Morgen, ein Prosastück am Abend, Grundlagen der französischen Grammatik; » L’Encyclopédie des enfants« und das zweite Buch der »Äneis« ergänzen diese Lektionen, zu denen ich noch einige Fabeln von La Fontaine hinzufüge … Ich korrigiere seine Übungen zweimal am Tag und lasse sie ihn öfter wiederholen und wir besprechen sie Wort für Wort … Das, Monsieur, ist der Weg, auf dem ich meinen Bruder zu ein wenig Bildung führen will.36
Aber das war noch nicht der vollständige tägliche Unterrichtsstoff. Sechs Monate danach schrieb Jacques-Joseph an Calmels: »Ich suche immer Augenblicke der Erholung einzuschieben und dabei auf jede mögliche Weise seine Freude an der Sache wieder aufzufrischen. Ich gebe ihm neue Nahrung mit Gegenständen, die reizvoll und anregend sind. Manchmal aber lasse ich ihn auch im unendlichen Raum der Phantasie umherschweifen. Mein Bruder arbeitet sehr viel, er eignet sich sehr viel an – und das auf eine sehr geschickte Art.«37
Im November dieses Jahres wurde Jean-François externer Schüler einer von dem Abbé Dussert geleiteten Schule. Sie stand in Grenoble in hohem Ansehen. Es handelte sich zwar um eine Privatschule; sie war aber trotzdem in das öffentliche Schulsystem der Stadt integriert, und man tauschte einige besonders gute Lehrer untereinander aus. Einer von ihnen war der Botaniker Dominique Villars; er nahm Jean-François mit auf seinen Wanderungen zum Sammeln botanischer Proben auf den Bergen in der Umgebung von Grenoble und behandelte ihn dabei als seinen Lieblingsschüler. Insgesamt fühlte sich der Junge in dieser Schule sehr wohl; zum Ende des ersten Schuljahres 1803 erhielt er ein sehr gutes Zeugnis von Dussert. Nun erhielt er auch die Erlaubnis, neben dem Hebräischen noch andere semitische Sprachen zu erlernen, nämlich Arabisch, Syrisch und Chaldäisch.
Anfänglich hatte Jean-François wahrscheinlich den Wunsch, seinem geliebten älteren Bruder nachzueifern und ihm bei seiner Forschungsarbeit für die Société des arts et sciences zu helfen. Dazu gehörte beispielsweise die Entzifferung lateinischer Inschriften von römischen Bauwerken, die man in den Sümpfen von Bourgoin im Departement Isère aufgefunden und unter der Aufsicht Fouriers trockengelegt hatte. Während des Jahres 1803 jedoch widmete er sich auch seinen eigenen Studien; seine erste große Leidenschaft galt jetzt den Ursprüngen der Menschheit und einer »Chronologie von Adam bis auf Champollion den Jüngeren«.38 Trotz seiner Jugend hatte er schon Kontakte mit führenden Gelehrten: So schickte ihm im selben Jahr der Schriftsteller und Weltreisende Comte de Volney seine Simplification des langues orientales und danach seine Voyages en Syrie et en Égypte zu; nach einiger Zeit ließ Volney eine dringliche Einladung folgen, ihn in Paris zu besuchen. Im Jahre 1804, im Alter von 13 Jahren, schrieb Jean-François seine erste publizierte Abhandlung mit dem Titel »Remarques sur la fable des géants«. Sie wurde zwei Jahre später durch General de la Salette vor der Société des arts et sciences vorgetragen, da man seinen Autor noch für zu jung hielt, im eigenen Namen zu sprechen. Wenige Jahre danach hat Champollion seine Abhandlung selbst als seine »erste Torheit« bezeichnet und sie verworfen. Ihre Thematik war jedoch fesselnd: Es ging um die orientalischen Ursprünge mythischer Erzählungen in Europa. In Champollions eigenen altklugen Worten:
Es ist zweifellos ziemlich einzigartig, dass nahezu alle alten Völker der Welt in ihre Religionen Giganten aufgenommen haben. Sie befinden sich ständig in einer Rebellion gegen die Götter, die sie nur unter großen Schwierigkeiten niederzuhalten vermögen. Es dürfte interessant sein, zum Ursprung dieses Mythos zurückzugehen, und die Bedeutung dieser mythischen Wesen heraus-zufinden … Man wird vielleicht seltsam finden, dass ich in den orientalischen Sprachen die Etymologie von Eigennamen suche, die sich in den griechischen Mythen finden, aber man darf nicht vergessen, dass die Griechen die Mehrzahl ihrer Fabeln aus dem Orient und besonders von den Ägyptern genommen haben.39
Von etwa dieser Zeit an begann Jean-François sich immer mehr für Ägypten zu interessieren – eine Entwicklung, die im nächsten Kapitel dargestellt werden soll, wenn wir seine weitere Schullaufbahn behandelt haben.
Die Kosten für Dusserts Privatschule waren hoch, fast zu hoch für Jacques-Joseph, dessen Einkommen als Handelsassistent begrenzt war. Hinzu kam ja noch seine sich steigernde Bibliophilie. Zu Beginn des Jahres 1804 bat er deshalb Jean-François, die Aufnahmeprüfung für das Staatliche Lyzeum von Grenoble zu absolvieren. Jean-François bestand die Prüfung und erhielt ein Regierungsstipendium, um die Internatskosten bezahlen zu können. In den Sommerferien 1804 kehrte er nach Figeac zurück, um nach mehr als drei Jahren seine Eltern zu besuchen. Nach diesen Sommerferien hat Jean-François seine Mutter nicht mehr wiedergesehen. Nach Grenoble zurückgekehrt, verließ er widerstrebend die Wohnung seines Bruders und wurde einer der 180 Insassen des zur neuen Schule gehörigen Internats.
Champollions erste publizierte Abhandlung, geschrieben 1804, als er 13 Jahre alt war. In der 1814 hinzugefügten Bemerkung oben rechts nennt er sie »meine erste Torheit«.
Die 45 über Frankreich verstreuten lycées waren aufgrund eines 1802 erlassenen napoleonischen Gesetzes eingerichtet worden. Das in Grenoble eingerichtete Lyzeum wurde im Gebäude einer früheren Schule untergebracht; es öffnete seine Türen für die Schüler allerdings erst im November 1804. Der Basislehrplan bestand aus lateinischer und griechischer Literatur, Mathematik und zusätzlichen Gegenstandsbereichen aus Naturgeschichte, Chemie, technischem Zeichnen und Geographie. Das Fach Geschichte war kaum gefragt und wurde nur in geringem Maße unterrichtet, Philosophie gab es entsprechend dem 1802 abgeschlossenen Konkordat Napoleons mit dem Vatikan überhaupt nicht. In der Schule herrschte eine militärische Disziplin: Es gab Uniformen, Kompanien, militärische Grade der Internen und Trommelwirbel bei jeder neu einsetzenden Nummer des Tagesprogramms, das vom Wecken um halb sechs morgens bis neun Uhr abends dauerte. In einem an die Eltern adressierten, offensichtlich zu deren Beruhigung dienenden drakonischen Schulprospekt aus dem Jahre 1806 hieß es:
»Jeden Tag gibt es eine für die Arbeit bestimmte Zeit, die bis zu zehn Stunden dauert; es besteht Aufsicht in jeder Stunde, in jeder Minute, in der Nacht wie am Tage, während der Erholungspausen ebenso wie während der Periode der stillen Einzelarbeit; sie umfasst sogar die Zeit der Nachtruhe der Schüler – sie lässt sie nicht für einen einzigen Augenblick aus dem Auge.«40 Eine solch strenge Ordnung mag eingeführt worden sein als Reaktion auf die zu Anfang dieses Kapitels beschriebene Revolte im Schlafsaal des Internats, die wahrscheinlich im Sommer 1805 stattgefunden hat. Der Aufruhr endete nur kurze Zeit nach dem Eintreffen der Soldaten aus der Garnison der Stadt, die mit aufgepflanztem Bajonett Aufstellung nahmen. Jean-François hat zwar seinem Bruder versichert, er sei nur Zuschauer, nicht aktiv am Aufruhr Beteiligter gewesen. Dennoch ist seine Versicherung nicht überzeugend: Zwar ist es unwahrscheinlich, dass er der Rädelsführer gewesen ist, aber ganz gewiss dürfte ihn die Ungerechtigkeit des Schulregimes dazu gebracht haben, nolens volens zusammen mit seinen Schulkameraden seinen »Schnabel und seine Krallen« sehen zu lassen.
Es ist kein Wunder, dass Jean-François, der es gewöhnt war, zu Hause in völliger Freiheit zu leben und beim Lesen von Büchern aus der Bibliothek seines Bruders in den Schlaf zu fallen, das Lyzeum unter diesen Umständen nicht mehr ertragen konnte und es nach kurzer Zeit als Gefängnis betrachtete. Als den Höhepunkt seiner Verzweiflung in seinem zweieinhalb Jahre dauernden Leben als Internatsschüler kann es gelten, dass er überlegte, sich von der Schule abzumelden und sich an der Militärschule in Fontainebleau einzuschreiben. Obgleich er am Lyzeum niemals glücklich war, arbeitete er während der ganzen Zeit seines Aufenthalts sehr hart, und zwar nicht nur in den Unterrichtsstunden, sondern auch an seinen privaten Interessengebieten. Als er 1807 die Schule verließ, galt er als ein exzellenter, allerdings wohl kaum als ein mustergültiger Schüler. Das Lyzeum hat den besonderen Genius Champollions nicht gerade gefördert, aber es hat auch nicht versucht, ihn zu unterdrücken.
Vor allem während seines ersten Jahres, von 1804–1805 also, hat Jean-François in einigen der schulinternen Gesellschaften, die sich mit Schul- und Schülerangelegenheiten beschäftigten, eine aktive Rolle gespielt. Sehr wahrscheinlich hat ihn sein Bruder dabei unterstützt. Als Präsident der sogenannten »Akademie der Musen« richtete er einen blumigen Aufruf – der in der erhaltenen Form nicht datiert ist – an zwanzig vornehme Bürger Grenobles mit der Bitte, korrespondierende Mitglieder der im Entstehen begriffenen Akademie zu werden. Er unterzeichnete diesen Aufruf mit »Präsident-Schatzmeister, Champollion«. In dem Brief heißt es: »Wir sind noch zu jung, um uns ein Urteil über Ihre Arbeit bilden zu können. Deshalb liegt es an Ihnen, uns dabei zu helfen … Seien Sie für uns ein Apollo: Zeigen Sie uns den richtigen Weg, der uns zum Parnass führt.«41 Viele der Empfänger wussten wohl schon, um wen es sich bei dem Unterzeichnenden handelte. Das lag sicherlich daran, dass sein Bruder, der sich in der Société des arts et sciences sehr engagierte, dort auf seine Einladung empfehlend hingewiesen haben dürfte. Ironischerweise sollte im Vergleich zu dieser jugendlichen Begeisterung Champollions für akademische Kollegialität sein späterer Umgang als Erwachsener mit einer führenden französischen wissenschaftlichen Akademie für Sprachen, Geschichte, Kultur und Kunst, der Académie des inscriptions et belles-lettres, stets ambivalent und zeitweise verbittert bleiben.
Ungeachtet einiger anregender Schulaktivitäten wurde Jean-François’ Gesundheit allmählich vom Internatsalltag in Mitleidenschaft gezogen. Er erlitt Fieberschübe und bis zur Ohnmacht führende Schwächeanfälle. Von dieser Zeit an bis zu seinem Tod nach mehr als dreißig Jahren dürfte er niemals mehr vollständig gesund geworden sein. Die gesundheitlichen Probleme, unter denen er bereits während der Schulzeit litt, dürfte er zum Teil selbst verschuldet haben. Da die Vorschriften der Schule ihm nicht erlaubten, tagsüber seinen privaten Studien nachzugehen, entschloss er sich, heimlich nachts zu arbeiten. Wenn im Schlafsaal das Licht gelöscht war, lag er nur leidlich zugedeckt im Bett, mit einer Baumwollmütze auf dem Kopf, sein Körper in einem rechten Winkel gedreht, um das kümmerliche Licht einer mit Öl gespeisten Straßenlaterne einzufangen, das auf sein aufgeschlagenes Buch fiel. Die Folge davon war, dass er als Erwachsener mit dem linken Auge ein wenig schielte. Der Hauptgrund der Verschlechterung seiner Gesundheit lag jedoch in den Auswirkungen des spartanischen Schulregimes auf sein empfindsames Gemüt. Auszüge aus den Briefen an seinen Bruder, die seine Biographin Hermine Hartleben zitiert, sind ergreifend zu lesen. »Sende mir einige Sous«, bittet er gelegentlich, »denn auf den Spaziergängen ist man so froh, eine Schale Milch trinken zu können, wenn die Erschöpfung gar so groß ist.« Und bei einer anderen Gelegenheit: »Ich bin nicht wohl, ich sieche dahin und fühle es … In der Krankenstube wird man schlecht bedient … und bleibt allein. Hat man was nötig, so muss die Wiederkehr des Arztes abgewartet werden, der für alle Krankheiten – hätte man auch Schmerz an den Zehen! – Brusttee verschreibt. Wenn ich noch lange hier bleibe, stehe ich nicht für mein Leben ein.« Und ein anderes Mal: »Ich habe Fieber, ich kann nicht mehr – Dein gehorsamer Bruder.«42
Eine gewisse Erleichterung gab es gegen Ende des ersten Jahres. Der bekannte Mathematiker und Physiker Jean-Baptiste Biot – er sollte später fasziniert sein von genau derselben alten ägyptischen astronomischen Inschrift wie Champollion – war häufiger in Grenoble anwesend. Bei einer dieser Gelegenheiten hörte er von seinem Fachkollegen, dem Präfekten Fourier, der mit Champollion-Figeac bekannt war, etwas über Jean-François’ Fähigkeiten und Eigenarten. Biot bestellte den jungen Wissenschaftler zu sich und ließ sich dessen eigenartige Bedrängnis zu Herzen gehen. Er bat seinen Freund Antoine Fourcroy, den Staatsrat und Generaldirektor des öffentlichen Unterrichtswesens in Paris, den Fall Champollion zu überprüfen. Fourcroy unterzog während einer Inspektion des Lyzeums in Grenoble am 1. Juni 1805 Jean-François einer kurzen Prüfung und gab ihm dann die formelle Erlaubnis, seine Spezialstudien in den freien Stunden weiter zu betreiben.
Natürlich nahmen einige Mitglieder des Lehrerkollegiums an dieser besonderen Regelung für den begabten Schüler Anstoß. Sie dürften darauf reagiert haben, indem sie versuchten, ihm das Leben schwer zu machen. Wahrscheinlich im Juni 1806 spitzten sich die Dinge zu, als Jean-François 15 Jahre alt war. Das, was geschehen ist, können wir nur von seiner Seite her sehen, nämlich aus einem Brief an seinen Bruder. In ihm spricht er von einem Mitschüler, mit dem er befreundet war, ohne dessen Namen zu nennen. Wir wissen jedoch, dass es Johannis Wangehis gewesen ist. Er schreibt von einem Freund, »den ich geliebt habe mit meinem Herzen und den ich immer lieben werde. Er liebt mich genau so, wie ich ihn. Er hilft mir, die Verletzungen und die kalten Herabsetzungen zu ertragen, die die Menschen mir zufügen.«43 Jetzt, schreibt ein empörter Jean-François, sei sein Freund durch leitende Personen der Schule vorsätzlich in eine andere Abteilung verlegt worden. »Sie haben ihm geraten, keine weitere Zeit mit mir zu verbringen, weil, so sagen sie, ich ihn verderben würde – als ob sie selber ihn nicht eher verderben würden als ich.«44 (Das Wort verderben ist in seinem Brief unterstrichen.) Der wahre Grund für die Verlegung seines Freundes lag für Jean-François darin, dass der Leiter der Unterrichtsplanung ein Verleumder und Heuchler sei, der ihn nicht ausstehen könne und auch unaufrichtig über Jacques-Joseph spreche. Es ist aller Wahrscheinlichkeit nach nicht gerechtfertigt, Jean-François ein pubertäres homosexuelles Gefühl zu unterstellen – und zwar nicht zuletzt deswegen, weil es auch in seinem späteren Leben trotz einer großen Anzahl von Beispielen kameradschaftlichen Umgangs mit Männern nicht den geringsten Hinweis auf eine solche Neigung gibt. Viel eher war das ›Wangehis-Ereignis‹ ein frühes Beispiel eines leidenschaftlichen Romantizismus’ Champollions, aber auch seiner häufig anzutreffenden Taktlosigkeit (besonders gegenüber Vorgesetzten) und seines lebenslang vorhandenen Talents, sich zur selben Zeit Feinde auf Dauer zu machen und anhängliche Freunde zu gewinnen.
Ein verlässlicheres Anzeichen dafür, wie die Schule Champollion le jeune eingeschätzt hat, liegt darin, dass er im August 1806 unter den Auserwählten gewesen ist, die dem Präfekten Fourier zu einem Gespräch vorgestellt werden sollten, als dieser das Lyzeum besuchte, um die Qualität der staatlich geregelten Erziehung zu bewerten. Jean-François versuchte zwar, dieser ihm zugedachten Ehrung zu entgehen, indem er verzweifelt seinen Bruder um Hilfe bat, aber sein öffentliches Erscheinen war schließlich doch wichtiger, und er machte dabei eine gute Figur. Das Journal administrative de l’Isère berichtete am 31. August, »der junge J.-F. Champollion, ein Stipendiat der Nation«, habe einen Teil des hebräischen Textes der Genesis aus der Bibel erklärt und einige Fragen, die ihm über orientalische Sprachen gestellt worden seien, beantwortet; der Präfekt, der die Sieger ausgezeichnet habe, sei damit sehr zufrieden gewesen. Kurze Zeit danach notierte Fourier in seinem Bericht an die Regierung in Paris, Champollion le jeune habe Kenntnisse gezeigt über Käfer, Schmetterlinge und Mineralien. Dafür begeistert habe ihn sein Lehrer Villars, der ihn in Biologie auf dem Lyzeum unterrichtet habe, wie er es zuvor auch schon in der Schule des Abbé Dussert getan habe.
Jean-François’ eigene sprachliche Forschungsarbeiten, die völlig unabhängig waren vom Unterrichtsplan der Schule, der keine orientalischen Sprachen aufwies, wurden jetzt mit allem Ernst fortgeführt. Seine Korrespondenz mit seinem Bruder wurde zu einer ununterbrochenen Reihe von Forderungen nach Büchern und nach wissenschaftlicher Hilfestellung. In einem Brief erwähnt er, dass er keine Träger für seine Hosen habe, im unmittelbar darauf folgenden Satz bittet er um ein lateinisches Werk zur Grammatik der äthiopischen Schrift, die Ludolphi ethiopica grammatica des sächsischen Gelehrten Hiob Ludolf. In einem anderen Brief fragt er: »Ich bitte dich, sei so gut und sende mir doch die Memoiren der Inschriften-Akademie, man kann nicht immer so Ernstes wie Condillac lesen.«45
Undatierter Brief aus der Schulzeit in Grenoble, in dem J.-F. Champollion seinen Bruder um Hosenträger und um wissenschaftliche Bücher bittet, einschließlich der lateinischen Ludolphi ethiopica grammatica des Hiob Ludolf.
Um die Mitte des Jahres 1806 war Champollion-Figeac nicht länger mehr in der Lage, alle die Bücher zu beschaffen, die sein Bruder wünschte. Deshalb holte er sich Rat in Paris bei Aubi-Louis Millin de Grandmaison, einem führenden Antiquar und Naturforscher und Begründer des Magasin encyclopédique. Millin riet dazu, Champollion le jeune möge nach Paris kommen, um bei Silvestre de Sacy zu studieren oder zur Universität Göttingen zu wechseln, die damals für ihre Sprachwissenschaft berühmt war.
Nach dem 1. April 1807 erhielt Jean-François von Fourier die offizielle Erlaubnis, seinen Platz im Schlafsaal des Internats aufzugeben und in das Haus seines Bruders zurückzukehren. Dort könne er sich ganz auf seine eigene Forschungsarbeit konzentrieren und zugleich nur noch diejenigen Grundkurse aufarbeiten, die erforderlich waren für die Abschlussprüfungen des Lyzeums. Im letzten seiner Schulzeugnisse – die während seiner zweieinhalbjährigen Schulzeit überaus stark geschwankt hatten zwischen dem Spitzenprädikat A und der fast schlechtesten Zensur – erhielt Jean-François fünfmal die Note A und dreimal die Note E, und erstaunlicherweise erhielt er sogar einen Preis in seinem schwächsten Fach, der Mathematik: »Das ist ja die reinste Berg- und Talfahrt!«, sagte dazu Lacouture.46 An seinem allerletzten Tag im Lyzeum Ende August, als die üblichen patriotischen Reden gehalten wurden und die Schüler sich über den Beginn der Ferien freuten, war Champollion so überwältigt von dem Gedanken, dass sich die Schultüren für immer hinter ihm schlossen, dass er ohnmächtig in die Arme seines Freundes Thévenet sank.
Einen oder zwei Tage danach, am 1. September 1807, hielt Jean-François – jetzt ganz ohne Schuluniform und wenige Monate vor seinem siebzehnten Geburtstag – zum ersten Mal einen Vortrag vor Grenobles Société des arts et sciences. Sein Titel lautete »Über die geographische Beschreibung Ägyptens vor der Eroberung durch Kambyses«. Wahrscheinlich hatte Fourier auf Veranlassung des geschäftsführenden Sekretärs der Gesellschaft, Champollion-Figeac, dieses anspruchsvolle Thema vorgeschlagen. Wie dem auch sei, die Mitglieder der Gesellschaft beglückwünschten den jungen Redner warmherzig und voller Respekt. Sogleich gingen sie daran, ihn zum korrespondierenden Mitglied zu wählen; ein Mitglied jedoch, ein Dr. Gagnon, wandte vorsichtig ein, dass man mit sechzehn Jahren wohl noch zu jung sei, um in die Gesellschaft gewählt zu werden. Wenige Monate danach, als er gerade siebzehn geworden war, wurde Champollion le jeune förmlich gewählt – vier Jahre nach seinem Bruder. Der Maire von Grenoble, Charles Renauldon, fand bei dieser Gelegenheit auf die Zukunft gerichtete Worte: »Indem die Akademie Sie trotz Ihrer Jugend zu ihrem Mitgliede ernennt, hat sie das, was Sie getan haben, im Auge; aber mehr noch zählt sie auf das, was Sie zu tun vermögen! Sie gefällt sich darin zu glauben, dass Sie ihre Hoffnungen rechtfertigen werden, und dass, wenn eines Tages Ihre Arbeiten Ihnen einen Namen machen, Sie sich daran erinnern werden, von ihr die ersten Ermutigungen erhalten zu haben.«47