Читать книгу 19 Tage - Andy Klein - Страница 2

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DER ABSCHIED

Den Schmerz, den man spürt, wenn man von einem geliebten Menschen Abschied nehmen muss, ist unbeschreiblich. Lucas verbrachte fast seine ganze Kindheit in dem Haus seiner Großmutter. Seine Eltern waren beide berufstätig und hatten, außer gelegentlich am Wochenende, fast nie Zeit für ihn. Sein Vater war Schreiner mit einer eigenen kleinen Werkstatt, die allerdings nicht so viel Geld einbrachte wie erhofft. Deshalb hatte seine Mutter sogar zwei Jobs. Tagsüber war sie im Büro der Schreinerei tätig und abends arbeitete sie in der Spätschicht einer großen Druckerei am Rande der Stadt. Seine Eltern brauchten sich ihm gegenüber nie zu rechtfertigen, dass sie ihr einziges Kind zur Großmutter abschoben, denn er liebte seine Nana über alles…und jetzt war sie plötzlich einfach nicht mehr da.

Das Haus war still und es duftete immer noch nach ihr. Die Sonnenstrahlen erhellten das große Wohnzimmer und die bunten Vorhänge mit ihrem rosa und grünen Blumenmuster leuchteten in all ihrer Pracht. Das alte Sofa, auf dem er als kleiner Junge mit seiner Großmutter kuschelte und ihren spannenden Geschichten lauschte, jedes einzelne Möbelstück, jedes Bild an der Wand, jede dieser kleinen Porzellanfiguren erzählten eine kleine Geschichte. Nichts in diesem Haus würde er verändern, denn jetzt gehörte es ihm. Ziellos schlenderte er durch das Wohnzimmer in die Küche. Er blieb vor dem großen Regal stehen. Alles stand an seinem Platz. Die vielen kleinen und großen Gewürzdosen, dazwischen getrocknete Blumensträuße und wieder diese kleinen kitschigen Porzellanfiguren, die sie so sehr hegte und pflegte. Von der Küche aus ging er in den Flur und warf dort schließlich seine große Sporttasche unter die Garderobe. Er nahm den Aschenbecher von dem kleinen Schuhschränkchen, das neben der Garderobe stand. Er setzte sich auf die erste Stufe der Treppe, die nach oben führte und zündete eine Zigarette an. So viele Gedanken und Bilder gingen ihm durch den Kopf. Sein Leben verlief nicht immer so wie die eines, sagen wir mal, durchschnittlichen Jungen. Er war so stolz Medizin zu studieren und arbeitete dafür sehr hart bis zum 6. Semester. Dann überschlugen sich die Ereignisse. Die Druckerei in der seine Mutter arbeitete wurde, von einem reichen Texaner übernommen. Seiner Mutter kam das gerade recht und so machte sie sich eines Tages einfach mit ihm auf und davon. Das verkraftete wiederum sein Vater nicht besonders gut. Er begann zu trinken. Nach und nach verlor er dadurch wertvolle Aufträge und somit letztendlich auch seine Firma. Nur kurz vor dem Scheidungstermin entschied er sich dafür, seinem Leben ein Ende zu setzten und erhängte sich in seinem Keller. Wie oft hatte er mit ihm gesprochen, wie oft hatte er versucht ihm zu helfen, es waren unzählige Male, aber es war vergebens. Lucas vermisste seinen Vater, denn wenn er sich mal für ihn Zeit nahm, hatten sie auch immer viel Spaß miteinander. Die Schreinerei war ein besonders toller Spielplatz, was seiner Mutter stets ein Dorn im Auge war. Schließlich war er ein kleiner Rabauke, der nur Unruhe in den Laden brachte und mit Unruhe im Laden verdiente man schließlich kein Geld. Sein Vater hinterließ ihnen nach seinem Selbstmord einen riesigen Berg Schulden. Seine Mutter ließ deshalb sein Elternhaus über einen Makler verkaufen, um die Schulden zu tilgen. Lucas war auf sich alleine gestellt, denn seine Mutter kümmerte es weder wo er wohnte, noch unterstütze sie ihn finanziell bei seinem Studium. Wie sollte es anders sein, als dass er damals erst mal bei seiner Großmutter Unterschlupf fand, bevor er dann ein paar Monate später der Arbeit wegen in die Stadt zog. Lucas legte zu dieser Zeit sein Studium erst Mal auf Eis und dabei blieb es auch bisher. Nach vielen kleinen Gelegenheitsjobs arbeitete er jetzt in der Moonville-Klinik als Krankenpfleger, was ihm wirklich sehr großen Spaß machte. Vielleicht würde er ja irgendwann zu Ende studieren, aber das lag in weiter Ferne, denn die ausgefranste blaue Sporttasche unter der Garderobe repräsentierte seine ganzes Hab und Gut.

»Du bist etwas ganz Besonderes, mein Schatz, du brauchst nicht traurig sein, irgendwann kommt deine Zeit«, sagte Nana immer, wenn er bedrückt war und nahm ihn in die Arme. Sie schien immer ganz genau zu wissen, wie es ihm ging, und fand stets die richtigen Worte, um ihn wieder aufzurichten. In diesem Moment blieben ihm nur die Erinnerungen, aber das war nicht dasselbe - sie fehlte ihm so sehr.

Die folgende Nacht war sehr stürmisch. Die große Eiche mit ihren starken Ästen warf dunkle Schatten in sein altes Kinderzimmer, jedes Mal, wenn es blitzte. Lucas konnte nicht schlafen und lauschte dem Regen, der sintflutartig gegen die Fensterscheibe prasselte. Er beobachtete die Schatten der Äste, wie sie sich an der Wand bewegten. Alte Häuser haben ihr Eigenleben. Er hörte den Wind durch die Ritzen pfeifen, das Knacken der Dielen auf dem Dachboden und er dachte an die Beerdigung, die am nächsten Tag stattfinden sollte.

»Oh Nana, das hast du nicht verdient!«

Die Vorstellung, dass ihre Beisetzung bei so einem Sau-Wetter stattfinden sollte, machte ihn sehr wütend. An Schlaf war nicht zu denken, aber das war ihm eigentlich auch egal. Also stand er wieder auf und ging die Treppe hinunter ins

Wohnzimmer. Er erinnerte sich, dass seine Großmutter immer eine Flasche Kräuterschnaps im Wohnzimmerschrank aufbewahrte, den sie stets liebevoll als Medizin bezeichnete. Genau diese Medizin brauchte er jetzt. Er nahm die Flasche, die noch fast voll war, aus dem Schrank, eines der Whiskygläser aus der Vitrine und ließ sich auf dem Sofa nieder. Er schüttete das Glas bis zum Rand voll, nahm einen großen Schluck davon und schüttelte sich.

»Medizin muss immer bitter schmecken, damit sie wirkt.«, hörte er sie in seinen Gedanken sagen.

»Lucas, wach auf! Die Beerdigung ist schon in einer Stunde…«, zischte ihm seine Mutter ins Ohr, während sie ihm die fast leere Schnapsflasche aus dem Arm riss. »…Du möchtest doch mit uns fahren, oder!?«

Blinzelnd öffnete er die Augen. Jeff, mittlerweile ihr neuer Ehemann stand kopfschüttelnd unter dem Türrahmen. Seine Mutter war extra mit ihm aus Texas angereist. Das war ja auch das Mindeste, dass die einzige Tochter bei der Beerdigung ihrer Mutter anwesend war.

»Wie kommst Du denn hier rein…,«, sagte Lucas noch völlig schlaftrunken. »…funktioniert meine Klingel nicht?«

»Soweit ich mich erinnern kann, bin ich in diesem Haus geboren, mein Junge!«

»Ach was - und soweit ich mich erinnern kann, habe ich dich nicht in mein Haus eingeladen, Mutter!«, entgegnete ihr Lucas schroff, stand auf, ging wortlos an den Beiden vorbei und verschwand oben im Badezimmer.

Natürlich gab es Streit zwischen Nana und seiner Mutter, damals, kurz bevor sie verschwand. Als sie ihr sagte, dass sie sich ein besseres Leben wünscht und dass sie ohne Mann und Kind besser dran sei. Sie wählte einfach ein neues Leben, ohne ihre Familie, denn die war ihr völlig egal. Die logische Konsequenz war nun, dass Lucas das Haus seiner Großmutter erbte. Seine Mutter war wirklich eine hartherzige Frau, eine von diesen Frauen, die über ihren Ehrgeiz und dem Streben nach dem großen Reichtum stets vergessen, was es heißt ein Mensch zu sein. Er konnte nicht verstehen, warum sie so ganz anders war als seine Nana. Sie war so voller Wärme und Güte, und so, wie sie es verdiente, strahlte die Sonne, die sie im Herzen trug, auch am Tage ihrer Beisetzung.

Lucas hatte nicht die geringste Lust gemeinsam mit seiner Mutter und ihrem reichen Sack zur Beerdigung zu fahren. Andererseits, hier am Rande der Stadt, wussten sowieso alle um die Familienverhältnisse. Das war ja schließlich ein richtiger Skandal - damals. Diesen Gefallen, zusammen mit ihr zur Beerdigung zu fahren, des lieben Scheines wegen, hatte seine Mutter ganz und gar nicht verdient, aber er tat es dennoch - für seine Nana.

Die Beerdigung lief wie ein alter Stummfilm an ihm vorbei. Die vielen Menschen um ihn herum, nahm er nur als schwarz-weiße Schatten wahr. Ihre Stimmen hallten wirr, wie kleine Echos in seinem Kopf. Er konnte sich am Abend noch nicht einmal daran erinnern, wer alles auf dem Friedhof war und auch nicht an die vielen Beileidsbekundungen. Es gab in dieser Situation auch keine Worte, die seinen tiefen Schmerz hätten lindern können. Seine Tränen ließen sich auch hinter der großen Flieger-Sonnenbrille nicht verbergen.

Der alte Dachboden mit seinen vielen alten Schätzen war schon ganz schön unheimlich. Die kleine Glühbirne leuchtete den Raum, in dem man gerade so eben stehen konnte, nicht besonders gut aus. Lucas saß auf einer großen alten Truhe, als eine ihm sehr vertraute Stimme zu ihm sprach.

»Das war eine schöne Beerdigung, mein Junge! Du bist mir immer das Liebste gewesen. Sei nicht traurig. Ich werde immer bei dir sein.«

Großmutter streichelte sein Gesicht. Erschrocken und schweißgebadet riss er seine Augen auf. Er drehte den kleinen roten Radiowecker in seine Richtung. Es war 3.22 Uhr. Es war nur ein Traum.

»Schöne Beerdigung, was soll an einer Beerdigung schon schön sein, Nana.«, sagte er laut und warf seinen Kopf wieder auf das Kissen. Die letzten Tage hatten an seiner Kraft gezehrt und in dieser Nacht forderte der Körper auch ohne jegliche Hilfsmittel seinen Schlaf. Er schloss die Augen, drehte sich herum und schlief weiter.

Als Lucas erwachte war es bereits fast Mittag. Er ging in die Küche und kochte erstmal einen starken Kaffee. Zum Glück hatte er ein paar Tage mehr Urlaub bekommen, dachte er. Schließlich gab es ja auch noch einiges zu erledigen.

Er musste noch einmal in sein altes möbliertes Appartement, um es seinem Vermieter zu übergeben. Er hatte richtiges Glück, dass der Neffe seines Vermieters sehr großes Interesse daran hatte direkt dort einzuziehen, so dass er sofort ausziehen konnte. Das Appartement lag mitten im Zentrum der Stadt. Es war gerade mal 20 Quadratmeter groß, dafür aber relativ preiswert und für einen Junggesellen, wie ihn, genau das Richtige. Einen Wagen brauchte er auch nicht, denn die Klinik in der er arbeitete lag nur zehn Gehminuten von ihm entfernt. Das würde sich jetzt auch ändern, von nun an brauchte er mit dem Bus über dreißig Minuten bis in die Stadt. Er saß an dem großen runden Holztisch, während er seinen Kaffee trank und starrte durch das Küchenfenster in den Blumengarten, wo gerade alles anfing zu blühen. Er fühlte sich das erste Mal seit langer Zeit sehr einsam. Doch viel Zeit für seinen kleinen Anflug von Selbstmitleid blieb ihm nicht. Die Übergabe der Wohnung sollte schon in einer Stunde stattfinden. Lucas gönnte sich eine Katzenwäsche und eine nicht besonders gelungene Rasur. Gerade als er die Tür öffnete, um zur Bushaltestelle zu gehen, stand ein Fremder vor der Tür.

»Hi, mein Name ist Victor, Victor Gab, ich bin gestern nebenan eingezogen und wollte einfach mal “Hallo“ sagen. Eigentlich sagte der Makler, dass hier eine nette ältere Dame wohnen würde.«

»Tja, ich bin Lucas und die nette ältere Dame ist gestern beerdigt worden…«, sagte er barsch. »…und ich habe leider keine Zeit, mein Bus fährt gleich.«

»Sie wollen nicht zufällig in die Stadt?«, fragte Victor hektisch, dem die Situation augenscheinlich mehr als nur peinlich war. Lucas blickte ihn an und nickte stumm.

»Ich muss auch in die Stadt, darf ich sie in meinem Wagen mitnehmen?«

Lucas freute sich innerlich über die Mitfahrgelegenheit und sie stiegen in Victors knallroten S-Klasse Mercedes.

Victor Gab war ein eher unscheinbarer Typ, dunkelhaarig mit Halbglatze vorn und er war ein klein wenig dicklich um die Hüften, um es charmant auszudrücken. Lucas schätzte sein Alter auf Anfang vierzig.

»Was verschlägt sie denn hierher aufs Land?«, fragte Lucas, der nun doch auch äußerlich seine Freude darüber zeigte, eine Mitfahrgelegenheit zu haben.

»Weiber! - Ich bin vor meiner Noch-Ehefrau geflüchtet, die sich wohl gerade mit meiner Ex-Freundin überlegt, wie sie mich am besten um die Ecke bringen.«

Lucas musste grinsen, das erste Mal seit dem Tod seiner Großmutter. Der Typ sah nun wirklich nicht gerade wie ein Herzensbrecher aus. Aber das Eis war nun gebrochen und sie unterhielten sich. Er erfuhr, dass Victor Gab ein wohl recht angesehener Rechtsanwalt aus St. Louis war, der sich einfach mal hier auf dem Land eine kleine Auszeit gönnen wollte. Im Gegenzug klärte er ihn über die “ältere Dame“ auf, in deren Haus er nun lebte und entschuldigte sich für sein Verhalten an der Haustür.

»Wir sehen uns, vielleicht trinken wir mal ein Bierchen zusammen.«, sagte Victor und ließ ihn am Stadtpark aussteigen. Von da aus brauchte Lucas nur noch über die Straße und war an seiner alten Wohnung.

»Geht klar - und nochmals danke fürs Mitnehmen.«, antwortete er und verschwand im Park.

Es war schon spät, als er nach Hause kam. Die Wohnungsübergabe verlief völlig unproblematisch. Ein bisschen seltsam war es schon, die kleine Wohnung zu verlassen in der er ja schließlich die letzten drei Jahre verbrachte, aber als sein Vermieter ihm, die im Voraus gezahlte Miete eines halben Monats in bar in die Hand drückte, war auch das wehmütige Gefühl verschwunden, denn er konnte momentan jeden Cent gut gebrauchen. Anschließend traf er sich noch einmal mit seiner Mutter und Jeff in einem kleinen Café. Warum er sich darauf einließ die Beiden noch mal zu treffen, konnte er sich selbst nicht so richtig erklären. Wahrscheinlich, weil sie noch am selben Tag die Stadt wieder in Richtung Texas verlassen wollten und er sich nur vergewissern wollte, dass sie auch wirklich wieder aus seinem Leben verschwinden. Sie redeten nicht besonders viel. Jeff nahm an der Unterhaltung, die man eher als oberflächlich bezeichnen konnte, erst gar nicht teil, sondern stocherte gelangweilt mit seiner Gabel in seinem Stück Apfelkuchen herum. Lucas empfand ihn als äußerst arrogant. Wie er da so saß - in seinem schwarzen Armani Leibchen und mit den mehr als nur auffälligen Cowboyboots aus Schlangenleder an den Füßen. Außerdem, fand er, war seine Nase viel zu groß für sein Gesicht. Wie dem auch sei, es war der übliche Mutter-Sohn Gesprächsstoff, wie „Such dir doch endlich mal eine Frau, die Ordnung in dein Leben bringt“, oder „Kauf dir doch endlich mal was Vernünftiges zum anziehen“, was ja unweigerlich auch etwas damit zu tun hat eine gescheite Frau für sich zu gewinnen. Sie sprachen kein einziges Wort über Großmutter… Er war froh, als sie sich dann endlich auf den Weg zum Flughafen machten.

»Lass dich mal sehen, Junge.«, sagte seine Mutter und gab ihm einen flüchtigen Kuss auf die linke Wange.

»Das glaube ich kaum, Mutter!«, entgegnete ihr Lucas.

Jeff gab ihm wortlos die Hand, setzte seinen überdimensional großen beigefarbenen Stetson Cowboyhut auf und die Beiden verschwanden schnell in einem Taxi. Erleichtert schaute er ihnen noch kurz hinterher und machte sich anschließend auf den Weg zum Supermarkt, schließlich war der Kühlschrank zu Hause leer.

Die Leute im Bus schüttelten den Kopf, als er mit den ganzen Tüten einstieg und dort für ordentlichen Tumult sorgte, weil er zwei Tüten fallen ließ und deren Inhalt sich der Länge nach im ganzen Bus verteilte. Aber das war ihm egal.

Im großen Supermarkt in der Stadt konnte man eben am günstigsten einkaufen. Acht große vollgepackte Einkaufstüten schleppte Lucas schließlich in die Küche.

»Mist, ich hätte ja auch schon mal den Kühlschrank anmachen können.«

Er steckte den Stecker ein und begann damit die Tüten auszupacken. Beim Einkaufen hatte er noch ganz schön Hunger, hatte er doch heute lediglich Kaffee und Zigaretten konsumiert und überhaupt hatte er auch in den letzten Tagen nicht besonders viel gegessen. Aber selbst jetzt, wo der große, runde Küchentisch so voller Lebensmittel stand, griff er doch nur nach dem Bier. Er nahm das Six-Pack und ging hinüber ins Wohnzimmer. Aufräumen konnte er ja schließlich auch noch später und der Kühlschrank war eh‘ noch nicht auf Temperatur. Er schaltete den Fernseher ein, öffnete eine Dose Bier, ließ sich in das Sofa fallen und legte die Beine auf den kleinen antiken Couchtisch. Mit der Fernbedienung schaltete er dann von Programm zu Programm, bis er bei Casablanca landete und sich entschied den Film, der gerade erst angefangen hatte, anzuschauen.

»Spiels noch einmal, Sam«, sagte Ingrid Bergmann und Lucas war schon wieder auf dem Sofa eingeschlafen.

Als er seine Augen wieder öffnete lief der Fernseher noch immer und der Inhalt einer halben Dose Bier war auf seinem Hemd ausgelaufen. Er stand auf und ging an seine große Tasche, die zwar schon geöffnet war, aber noch immer im Flur lag. Er zog das Hemd und sein T-Shirt aus, kramte ein altes AC/DC T-Shirt heraus und zog es über. Nun trottete er in die Küche, denn schließlich wollten ja noch ein paar Lebensmittel in den Kühlschrank gelegt werden. Mittlerweile war es schon fast Mitternacht und Lucas war wieder hellwach. Angesichts der Tatsache, dass es Freitagnacht war und er Montag wieder arbeiten musste, wäre es sicher vernünftiger gewesen sich schlafen zu legen. Aber jetzt, wo auch die letzte Packung Makkaroni mit Käse im edlen Mikrowellendesign im Schrank verstaut war, erinnerte er sich an den Traum mit seiner Großmutter und er beschloss daraufhin sich mal auf dem Dachboden umzusehen.

Die alte klappbare Hühnerleiter die hinauf zum Dachboden führte knackte laut, als er vorsichtig hinaufstieg. Oben angekommen war es stockfinster und er hatte sichtlich Mühe, den an der Glühbirne herunterhängenden Lichtschalter zu finden. Vorsichtig tastete er sich in Richtung Dachbodenmitte, lief mit dem Kopf genau vor die Glühbirne und schaltete sie dann auch sogleich ein. Seltsam, es war genauso wie in seinem Traum. Die kleine Birne leuchtete den Raum wirklich nicht besonders gut aus. Aber was er dann entdeckte, weckte in ihm viele schöne Erinnerungen. Der Dachboden war voller alter Schätze, allerdings waren diese mehr von ideellem Wert. Alte Lampenschirme, alte Öl-Gemälde und jede Menge Bücher.

»Oh«, da lag sein altes Twister Spiel und Bernie, der Teddybär mit nur einem Auge, ohne den er als Kind nie einschlafen konnte. Er fragte sich, wie lange es wohl her war, seit er zum letzten Mal auf dem Dachboden war, denn so wie es aussah, hatte seine Großmutter seine gesamte Kindheit hier oben verstaut. Aber intuitiv suchte er ja etwas Bestimmtes und er fand es auch schließlich unter einem großen Sack mit alten Vorhängen und umringt von Kisten mit altem Porzellan.

Da war sie nun, die alte schwarze Ledertruhe, die mit ihren silberfarbenen Beschlägen aussah, als würde sie noch aus der Zeit der Piraten stammen. Er erinnerte sich erst jetzt daran, dass diese alte Truhe ja früher unten in seinem Kinderzimmer stand, randvoll gefüllt mit Spielzeug. Lucas kniete nieder und öffnete ganz langsam die Truhe. Aber statt seiner alten Spielsachen fand er ein in Folie verpacktes Brautkleid. Vorsichtig nahm er es heraus. Es war ein prachtvolles altes mit Perlen besticktes Brautkleid und als er es so hochhielt, fiel sein Blick noch einmal in die Truhe. Er sah auf den Boden der Truhe und entdeckte einen hellblauen Umschlag und etwas, das so aussah wie ein Tagebuch. Er legte das Kleid behutsam beiseite und nahm den Umschlag und das Tagebuch aus der Truhe. Irgendwie war ihm das alles auf einmal ziemlich unheimlich, denn auf dem Umschlag stand in großen Buchstaben:

“Für Lucas“

Er stand auf und ging wieder in die Mitte des Dachbodens, um sich direkt unter die Glühbirne, die noch immer leicht hin und her schaukelte, zu setzen. Langsam und tief durchatmend öffnete er den Umschlag und schaute hinein. Er zog ein kleines Bündel mit Geldscheinen heraus.

»Oh Mann!«, das waren auf den ersten Blick mindestens dreitausend Dollar. Er legte das Geld neben sich auf den Boden, denn er entdeckte auch noch einen Briefbogen. Vorsichtig nahm er den Brief heraus und las.

Mein lieber Lucas!

Wenn Du das hier liest, dann weißt auch Du, dass es an der Zeit war für mich zu gehen. Ich danke Dir von ganzem Herzen für Deine Liebe und Fürsorge, die Du mir geschenkt hast. So traurig das auch klingen mag, aber Du warst das Beste, was meine Tochter je zustande gebracht hat und für mich eine unbeschreibliche Bereicherung in meinem Leben. Die schönsten Momente meines Lebens nach dem Tod Deines Großvaters verdanke ich Dir. Du bist ein ganz besonderer Mensch, genauso wie er es war. Du hast wirklich viel von ihm. Ich habe in den letzten Jahren immer wieder ein paar Dollar für Dich beiseitegelegt. Es ist nicht sehr viel, aber für ein Auto, das Du nun brauchen wirst, um in die Stadt zu kommen, wird es hoffentlich reichen. Ich werde Dich vermissen, mein Schatz! Ich küsse und umarme

Dich!

In Liebe Deine Nana

Lucas wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und atmete tief durch.

»Ich vermisse dich auch Nana!«

Die Bilder der vergangenen Tage tanzten in seinem Kopf. Wie er sie fand nach ihrem schweren Schlaganfall, die Fahrt ins Krankenhaus, das sie jedoch nicht mehr lebend erreichte. Lucas war völlig durcheinander, so etwas hatte er noch nicht erlebt. Tote, die einem im Traum Hinweise geben, das war einfach zu verrückt und unrealistisch. Plötzlich wurde er aus seinen Gedanken gerissen. Hatte sich dort drüben etwa der alte braune Lampenschirm, der auf dem Boden lag, bewegt? Ihn überkam ein mulmiges Gefühl, gefolgt von Gänsehaut. Schnell nahm er das Geld, den Brief, das Tagebuch und sprang auf.

»Autsch«, er stieß sich den Kopf an der Dachschräge, aber ignorierte den kurzen Schmerz, stieg die Leiter hinunter und schloss die Luke zum Dachboden so schnell er konnte.

»Das ist doch verrückt.« Lucas schüttelte den Kopf.

Er ging hinunter in die Küche und setzte sich an den Tisch

»Das glaubt dir doch kein Mensch!«

Er legte das Geld, den Brief und das Tagebuch auf den Tisch und ging zum Kühlschrank. Eigentlich war es noch nie seine Art in Stresssituationen zum Alkohol zu greifen, doch jetzt brauchte er dringend ein Bier. Er öffnete es, trank einen großen Schluck und setzte sich an den Tisch. Dann nahm er das Tagebuch in die Hand und betrachtete es von allen Seiten. Es war schwarz und mit goldenen Leisten an den Kanten verziert. Der Stoff mit dem es von außen bezogen war, war feinster Samt. Lucas schlug die erste Seite auf und las:

Das Begehren das Unabänderliche zu verändern,

liegt in der Natur des Menschen.

Jeder Tag wird durch sein Denken und Handeln

neu geschrieben.

M. L., 1849

Er klappte das Tagebuch wieder zu und betrachtete es ganz genau - von allen Seiten.

»1849, so alt kannst du doch noch nicht sein und wer zum Teufel ist M. L.?«, fragte er sich laut, denn das Tagebuch sah aus, als wäre es nagelneu.

„Na ja, vielleicht nur ein Zitat einer berühmten Person.“, dachte Lucas. Er öffnete das Tagebuch wieder und blätterte eine Seite weiter…

Liebes Tagebuch!

Heute Morgen hat mich Mimi aus dem Schlaf gerissen. Sie klingelte Sturm, um mir Ihren heiß begehrten Käsekuchen zu bringen. Sie blieb etwa eine Stunde und ich musste morgens um 10.00 Uhr Käsekuchen frühstücken. Sie ist ganz schön mitgenommen. Als sie ging habe ich mich erst noch mal aufs Ohr gelegt und habe ganze drei Stunden lang geschlafen. Mir war kotze-schlecht, deshalb bin ich etwas spazieren gegangen und habe Sarah getroffen. Wie hübsch sie doch ist und wie lange habe ich sie nicht mehr gesehen. Sie ging mit zu mir, wir aßen Mimis Käsekuchen und unterhielten uns den ganzen Abend lang. So gegen 23.00 Uhr ging sie dann nach Hause. Ich bin so froh, dass sie wieder hier ist!!!

Moonville, 17. März 2007

Lucas schaute auf den großen Kalender, der gleich neben der Küchentür hing. Heute war der 16. März 2007. Aber das war doch ihre Handschrift. Er kannte doch die Handschrift seiner Nana!

»Nana, da warst du ja wohl doch schon ganz schön durcheinander!«

Er nahm den Brief noch mal in die Hand. Ohne jeden Zweifel - das war die Handschrift seiner Nana. Neugierig blätterte er weiter, aber was folgte waren nur noch leere Seiten. Er klappte das Tagebuch zu und fragte sich, warum ihm nicht aufgefallen war, dass seine Großmutter in der letzten Zeit schon etwas zerstreut war. Aber es gab auch nicht den leisesten Hinweis darauf. Vielleicht hatte sie sich aber auch einfach nur im Datum geirrt. Sie war körperlich wie auch geistig eigentlich voll auf der Höhe, bis zum letzten Tag. Schließlich konnte sie ja auch noch mit ihren 79 Jahren auf den Dachboden klettern, um das Tagebuch und den Brief mit dem Geld in der Truhe zu deponieren. Vielleicht hätte er die Sachen erst in ein paar Jahren gefunden, wenn er nicht zufällig davon geträumt hätte. Und

warum legte sie überhaupt das Tagebuch zum Abschiedsbrief, wo nur lediglich ein einziger Eintrag zu lesen war.

Trotz der vielen Fragen und wirren Gedanken forderte sein Körper Ruhe. Lucas nahm das Geld ohne es zu zählen und steckte es zusammen mit dem Brief zurück in den Umschlag. Den Umschlag legte er dann in das Tagebuch und ging ins Wohnzimmer, um sich auf das Sofa zu legen. Ein letzter Gedanke ließ ihn den Schlaf noch ein paar Minuten besiegen.

War Sarah wirklich wieder in der Stadt?

TAG 1

»Lucas, ich hab’ hier etwas Schönes für dich, mein Junge!« Mimi drückte pausenlos den Knopf der Klingel.

»Oh Mann! Ja, ja, ich komme ja schon!«

Schlaftrunken wankte er zur Tür und öffnete sie.

»Mimi, es ist doch noch mitten in der Nacht.«

»Ach was, es ist doch schon 10.00 Uhr und schau mal was ich hier für dich habe.«

Mimi streckte ihm ihren leckeren selbstgebackenen Käsekuchen entgegen und sogleich drängelte sie sich durch die Tür, an ihm vorbei und steuerte geradewegs in die Küche.

»Du bist doch jetzt ganz alleine und einer muss sich doch jetzt um dich kümmern.«

Mimi war die beste Freundin seiner Großmutter und wohnte in dem kleinen alten Haus genau gegenüber auf der anderen Seite der Straße. Die beiden alten Damen waren seit vielen, vielen Jahren unzertrennlich, wie zwei sich liebende Schwestern. Mimi begann den Tisch zu decken und Kaffee zu kochen.

»Ich weiß, wie du dich jetzt fühlst! Clara fehlt mir so sehr…!«

Mimi begann zu schluchzen, während sie das Wasser in die Kanne laufen ließ.

»Mimi, setz dich, ich mach das schon.«

Lucas, noch immer schlaftrunken, nahm ihr die Kanne aus der zitternden Hand.

»Was mache ich denn jetzt bloß ohne sie?«

»Ich weiß was wir jetzt machen, wir essen jetzt erstmal ein leckeres Stück Kuchen.«

Ein Lächeln huschte über Mimis Gesicht, bevor sie es in ein großes Stofftaschentuch vergrub und sich voller Inbrunst ihres Naseninhaltes entledigte. Lucas setzte sich an den Tisch und strich ihr sanft über den Kopf.

»Mir fehlt sie auch, Mimi, mir fehlt sie auch…«

»Hast du auch noch das Gefühl, dass sie noch da ist?«, brachte Mimi schluchzend hervor und Lucas nickte schweigend. So saßen die Beiden beieinander, aßen Kuchen und begannen damit sich alte Geschichten zu erzählen. Das ist immer so, dass trauernde Menschen sich an die schönen und lustigen Momente mit ihren Liebsten erinnern.

Und als Lucas so überlegte, dann gab es eigentlich auch nur schöne Erinnerungen an seine Großmutter.

»Huch, es ist ja schon fast halb zwölf. Jetzt muss ich aber rüber! Du weißt ja, wenn Hank nicht pünktlich sein Mittagessen auf dem Tisch stehen hat, dann ist er für den Rest des Tages unausstehlich… Du bist ein guter Junge.«

Mimi kniff ihm in die linke Wange, verließ das Haus und verschwand schnell im Haus gegenüber.

Eigentlich wollte Lucas duschen, er hätte es auch mehr als dringend nötig gehabt, aber ihn überkam wieder diese unglaubliche Müdigkeit. Er ließ in der Küche alles stehen und liegen und trottete wieder ins Wohnzimmer auf das Sofa. Irgendwie fühlte er sich dort am wohlsten. Kaum lag er auf dem Sofa, war er auch schon eingeschlafen.

Die Sonne blendete sein Gesicht, als er am Nachmittag wieder aufwachte. Völlig durchschwitzt schleppte er sich in die Küche, öffnete den Kühlschrank und nahm die Milch heraus. Er war furchtbar durstig und trank die halbe Plastikflasche leer. Als das Duftgemisch von Schweiß und Bier seine Nase erreichte, war es nun wirklich an der Zeit zu duschen. Er ging hinauf ins Bad und verließ die Dusche erst, als seine Füße und Hände total schrumpelig waren. Irgendwie fühlte er eine innere Übelkeit in sich aufsteigen, als er seine Haare mit dem Handtuch trocken rubbelte. Die eiskalte Milch war wohl doch nicht so der richtige Durstlöscher und so beschloss er sich schnell anzuziehen und ein wenig frische Luft zu schnappen. Lucas atmete tief durch. Er fühlte sich nach einigen Schritten schon ein kleines bisschen besser und wanderte ziellos durch den kleinen Vorort von Moonville. Ohne es so richtig zu registrieren, stand er plötzlich vor dem Eingang zum Friedhof. Und wo er schon einmal da war, beschloss er auch mal nach dem Rechten zu sehen. Er ging den schmalen Pfad entlang, vorbei an den zum Teil sehr, sehr alten Gräbern. Aus der

Ferne sah er, dass jemand Blumen auf das Grab seiner Großmutter legte.

»Sarah!«

Dort stand sie und hatte einen großen Strauß mit Sonnenblumen auf das Grab gelegt. Unbemerkt ging er auf sie zu.

»Sarah.«, flüsterte er leise von hinten in ihren Nacken.

Erschrocken drehte sie sich blitzschnell um.

»Lucas!«, sie umarmten sich und er ließ ihre Füße in der Luft schweben.

»Lucas, ich habe es erst heute Morgen erfahren, es tut mir so leid!«

»Schön dass du wieder da bist.«, flüsterte er ihr ins Ohr.

Sie hielten sich eine Weile schweigend fest. Zu lange hatten sie sich nicht mehr gesehen. Mehr als zwei Jahre waren mittlerweile verstrichen, aber ihm kam es vor wie eine halbe Ewigkeit. Sarah hatte vor einigen Jahren einen Studienplatz in Kalifornien erhalten, auf der anderen Seite des Kontinents und war in den letzten Jahren, wenn überhaupt nur zu Weihnachten in der Stadt. Auch ihre Familie hatte so einige Probleme und so musste sie sehr hart arbeiten, um ihr Studium zu finanzieren.

»Und, meine Schöne, bist du jetzt Veterinärmedizinerin?«

»Ja, ich hab es geschafft!«

Er drückte sie noch einmal ganz fest, und ließ sie dann wieder sanft zu Boden.

»Sis, ich bin so froh, dass du wieder da bist…«, er blickte ihr tief in ihre dunkelbraunen Augen. »…Du glaubst gar nicht, wie sehr wir dich vermisst haben, Nana und ich.«

Sarahs Augen füllten sich mit Tränen.

»Ich wünschte, ich hätte mich noch von ihr verabschieden

können!«

Lucas legte seine Hände sanft an ihre Wangen, wischte ihre Tränen zärtlich mit seinen Daumen aus dem Gesicht und nahm sie gleich darauf wieder in seine Arme.

»Jetzt bist du ja da.«

Sie hielten sich noch eine Weile schweigend fest.

»Komm, wir gehen ein bisschen.«, sagte Lucas schließlich. Er nahm ihre Hand in seine und sie verließen den Friedhof. Ziellos schlenderten sie durch den kleinen Ort, der wie immer wie ausgestorben wirkte. Sie hatten sich so viel zu erzählen. Und es war plötzlich so, als wäre sie nie fort gewesen. Sie erzählte von ihrem Studium, von ihrer gescheiterten Beziehung, von den Tieren, von ihrem Job als Kellnerin, von ihren Ängsten und er - er hörte einfach nur zu. Schließlich standen sie vor seiner Tür.

»Komm, geh noch mit rein. Mimi hat mich heute Morgen mit ihrem Käsekuchen überfallen, der möchte auch von dir gegessen werden.«

»Hmm, Mimis Käsekuchen, nah, wer kann dazu schon nein sagen!«

Auch Sarah verband mit dem Haus ihre Kindheit, weshalb sie erst mal durch die unteren Zimmer ging. Währenddessen räumte Lucas schnell die Küche auf und deckte den Tisch neu ein.

»Hier hat sich gar nichts verändert. Ich habe das Gefühl, dass Nana gleich die Treppe herunterkommt und mich begrüßt.«

Lucas schluckte.

»Komm, der Kaffee ist fertig.«

Sie unterhielten sich den ganzen Abend lang. Lucas erzählte ihr von seiner Arbeit im Krankenhaus, wo er auf der chirurgischen Station arbeitete.

»Wie sieht es denn jetzt bei dir aus, steht Paul noch zu seinem Wort?« fragte er schließlich.

Paul Stone war ein mittlerweile schon älterer Herr mit einer kleinen Tierarztpraxis hier am Rande von Moonville.

Er war ein liebenswürdiger Mann, der ihr, als sie die Stadt verließ, einen Job in seiner Praxis anbot, wenn sie ihr Studium erfolgreich zu Ende bringen würde.

»Oh ja, ich bin ein echter Glückspilz. Paul braucht sogar dringend Unterstützung. Schon allein die Oldfield-Farm hält ihn ordentlich auf Trab. Er ist ja auch nicht mehr der Jüngste.«

Lucas schaute sie an und war so unglaublich froh, dass sie wieder ganz in seiner Nähe war. Der Abend verging wie im Flug und als Sarah auf die Uhr sah, war es schon fast 23.00 Uhr.

»Willst du nicht hier bleiben?«

»Tante Betty wartet sicher noch auf mich. Wie wäre es mit Mittagessen, ich koch uns morgen was Leckeres, hier bei Dir.«

Lucas war einverstanden und die Beiden verabredeten sich für den nächsten Tag, um 13.00 Uhr. Er war so glücklich, seine beste Freundin und Vertraute wieder in der Stadt zu haben. Er ging zum Kühlschrank, nahm eine Dose Bier heraus, ging ins Wohnzimmer und ließ sich auf das Sofa fallen.

»Autsch!«

Lucas setzte sich genau auf das Tagebuch, mit dem er in der Nacht zuvor, eingeschlafen war. Er zog es hervor und ärgerte sich darüber, dass er vergessen hatte es Sarah zu zeigen. Mit einer Hand ließ er die Seiten durch seinen Daumen gleiten und da war noch der Umschlag mit dem Geld. Er nahm den Umschlag mit dem Geld heraus, um es zu zählen und bemerkte, dass er anscheinend das folgende beschriebene Blatt im Tagebuch übersehen haben musste.

Liebes Tagebuch!

Heute hat sich mein neuer Nachbar zum Essen eingeladen und er hat Sarah ganz schön angemacht. Er ist doch ein sehr merkwürdiger Typ. Sis kann noch immer nicht kochen, aber wir haben uns nichts anmerken lassen. Es war zwar ganz witzig, doch dieser Gab ist mir doch irgendwie unheimlich. Ich werde heute früher schlafen gehen müssen, denn morgen geht die Arbeit wieder los.

Moonville, 18. März 2007

Lucas schlug das Tagebuch zu.

»Ruhig…, gaaanz ruhig..!«

Er atmete tief durch. Dafür musste es doch eine rationale Erklärung geben. Klar, jemand war in das Haus geschlichen und erlaubte sich einen üblen Scherz mit ihm. Aber wer? Sein Körper war übersäht von Gänsehaut. Es musste jemand sein, der ihn gut kannte. Er schlug das Tagebuch wieder auf. Die Schrift! Die Schrift war wieder die seiner Großmutter. Kein Problem, die kann man fälschen, aber wer zum Teufel machte so etwas? Eigentlich war er sich absolut sicher, dass es gestern diese Seite noch nicht gab. Doch jetzt zweifelte er. Vielleicht hatte er die Seite doch übersehen. So sehr sich Lucas auch anstrengte, er konnte sich diesen Eintrag nicht erklären, er war doch nicht blöd. Gab war ja erst vor drei Tagen in das Haus nebenan eingezogen, wieso stand hier etwas über ihn im Tagebuch. Vielleicht wohnte er aber auch schon länger dort. Nein, der protzige rote Mercedes wäre ihm sicher ins Auge gefallen.

»Jetzt drehst du völlig durch!«, sagte Lucas laut und griff nach der Flasche Kräuterschnaps, die vor ihm auf dem Wohnzimmertisch stand. Er setzte die Flasche an seinen Mund und ließ den letzten Rest auf Ex in seinen Rachen gleiten. Dann betrachtete er das Tagebuch noch einmal von allen Seiten. Er schlug es auf und las den ersten Eintrag nochmals durch. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er gestern bereits gelesen hatte, was er an diesem Tag erlebte.

Mimi und ihr Kuchen, ihm war schlecht und er traf Sarah. Lucas stand auf und ging in die Küche. Er holte seine Zigaretten und die Flasche Jack Daniels, die ebenfalls Bestandteil seines Einkaufs war. Er ließ sich wieder in das Sofa fallen und trank den Whisky in vollen Zügen direkt aus der Flasche. Er nahm das Tagebuch in seine Hand.

»Prost…, vielleicht kannst du mir ja mal die Lottozahlen aufschreiben!...«, sprach er zum Tagebuch und nahm wieder einen großen Schluck Whisky. »…Luci, du hast Halluzinationen…«

Er schaute auf die Flasche und sah, dass er bereits in Rekordzeit die Hälfte der Falsche geleert hatte. »…Und jetzt bist du auch noch breit!«

Er legte sich auf das Sofa. Jetzt bemerkte er, dass nicht nur seine Gedanken wie verrückt in seinem Kopf kreisten, sondern auch das Wohnzimmer. Morgen würde er Sarah das Tagebuch unbedingt zeigen, sie würde ihn schon nicht für verrückt halten, dachte er und schlief völlig betrunken ein.

TAG 2

Als der Durst und das dringende Verlangen sich seines Blaseninhaltes zu entleeren ihn am nächsten Morgen weckten, war die Sonne noch nicht aufgegangen. Nach seinem Besuch im Bad ging er in die Küche, öffnete den Kühlschrank und griff nach der Flasche Milch, die er kurz ansah, dann jedoch gleich wieder in den Kühlschrank zurückstellte. Stattdessen trank er lieber Leitungswasser direkt aus dem Hahn. Nachdem der erste Durst gestillt war, ging er zurück ins Wohnzimmer. Er ließ sich auf das Sofa fallen, nahm seine Zigaretten und zündete Eine an. Nachdenklich starrte er auf das Tagebuch, wollte es jedoch in dem Moment nicht in die Hand nehmen. Stattdessen griff er nach dem Umschlag mit dem Geld. Er zählte es und es war vielmehr darin, als er auf dem ersten Blick vermutete. 4700 Dollar hielt er in seinen Händen. Er legte das Geld beiseite und las noch einmal den Abschiedsbrief seiner Großmutter. Seine Augen füllten sich wieder mit Tränen. Er lehnte sich zurück und atmete den letzten Zug aus seiner Zigarette tief ein. An Schlaf war jetzt nicht mehr zu denken. Er schloss aber die Augen und ließ die Bilder der letzten Tage abermals an sich vorbei ziehen. Als er die Augen wieder öffnete, beäugelte er skeptisch das Tagebuch.

»Was passiert hier?«

Er nahm es in die Hände und las die beiden Einträge noch einmal. Wie war das bloß möglich? Misstrauisch schaute er sich die Widmung an. M.L. 1849. Die Initialen konnte er mit keinem der klassischen Dichter, den er kannte in Verbindung bringen und so sehr er sich auch anstrengte, er konnte sich auch nicht daran erinnern das Tagebuch jemals in den Händen seiner Großmutter gesehen zu haben. Aber es musste ihr gehören, denn dass sie es ihm zusammen mit dem Brief hinterließ, stand für ihn außer Frage. Wie konnte es sein, dass seine Erlebnisse in dem Tagebuch standen, bevor sie überhaupt passierten? Lucas beschloss sich nun erst einmal unter die Dusche zu stellen, bevor er weiter versuchen würde, etwas aus seiner Sicht Unerklärliches zu erklären. Außerdem fühlte er sich doch ganz schön verkatert. Er blieb fast eine halbe Stunde in der Dusche und als er sie verließ, sah er, dass die Sonne gerade aufging. Langsam ging er hinunter in die Küche und räumte den Esstisch auf, während der Kaffee, der durch die Maschine lief, einen wunderbaren Duft verbreitete. Er hatte das erste Mal seit ein paar Tagen wirklich richtigen Hunger und schmierte sich ein dickes Käse-Schinken Sandwich. Er schaltete das kleine alte Radio ein und hörte den Oldie Sender, den seine Großmutter leidenschaftlich gerne hörte. Er erinnerte sich daran, wie sie immer mit Elvis im Duett sang. Er versuchte das Thema Tagebuch zu verdrängen, denn er kam mit seinen Gedanken sowieso keinen Schritt weiter. Sarah würde ihm schon dabei helfen eine plausible Erklärung dafür zu finden. Mit diesen Gedanken und Elvis mit Return to Sender im Hintergrund, aß er sein Sandwich und trank seinen Kaffee. Anschließend zog er sich an und begann damit im Wohnzimmer und in der Küche aufzuräumen.

Er merkte erst wie schnell die Zeit verflogen war, als Sarah vor der Tür stand und klingelte.

»Hey Sis, komm rein!«

»Hier, ich wusste nicht, ob du was im Kühlschrank hast. Ich hab aus Tante Bettys Kühltruhe ein paar T-Bone Steaks mitgehen lassen.«

Sarah kam herein, ging in die Küche und legte einen Gefrierbeutel mit 5 riesigen Steaks auf die Spüle.

»Ich hoffe Du hast Hunger und irgendwas an Beilagen im Kühlschrank!«

Lucas grinste, während Sarah den Kühlschrank öffnete und den Inhalt genauestens inspizierte. Sie nahm eine Plastikdose mit fertigem Krautsalat heraus.

»Hast du Kartoffeln?«

»Nicht wirklich.«, antwortete er.

»Ich lauf mal eben zu Mimi rüber und organisier uns welche.«, sagte sie und so schnell wie sie verschwand war sie auch schon wieder da.

»Wusstest du eigentlich, dass du gegenüber einen Supermarkt hast?«, fragte sie grinsend, während sie die Tüte mit den Kartoffeln in die Spüle stellte.

»Hm?«

»Mimi hat für ihren Hank das alte Zimmer von Steven zum Supermarkt umfunktioniert!«

Steven war Hank und Mimis Sohn, der mit einer wunderschönen Mexikanerin verheiratet war und mit ihr auch in Mexiko lebte.

»Na, das passt ja.«

Lucas musste auch grinsen, denn er hatte das Bild von Hank in seinem Kopf. Dieser wog so schätzungsweise mindestens 280 Pfund und war dabei von nur recht durchschnittlicher Größe.

»So, was möchtest Du? Kartoffelpüree oder Bratkartoffeln?«, fragte Sarah.

Er entschied sich für die Bratkartoffeln und Sarah machte sich an die Arbeit. Währenddessen erzählten sie sich alte Geschichten. Zum Beispiel, wie Lucas als Kind von der großen Eiche fiel und sich einen Arm brach, oder als Sarah in Rogers Garten beim Gemüse klauen erwischt worden war.

»So ein Mist!«

Sarah bemerkte, dass Ihre Steaks nicht nur anzubrennen drohten.

»Komm, lass mich das machen, Steaks sind Männersache!« Lucas, nahm ihr die Gabel aus der Hand und drehte die Steaks um. Die Steaks sahen auf einer Seite schon ziemlich schwarz aus, aber er sagte nichts und schaltete den Herd

ein paar Stufen herunter. Plötzlich klingelte es an der Tür.

»Ich geh schon.«

Sarah lief schnell zur Tür.

Kurze Zeit später kam sie in Begleitung zurück.

»Lucas, wir haben noch einen Gast mehr zum Essen.«

Sarah schob seinen neuen Nachbarn zur Küche herein.

»Eigentlich wollte ich mich nur auf eine Tasse Kaffee bei ihnen einladen.«

Lucas verzog das Gesicht, denn er wäre lieber mit Sarah alleine gewesen. Er drehte sich aber sogleich um und begrüßte ihn freundlich.

»Mr. Gab«, sagte er, während er ihm die Hand mit einem gequälten Lächeln im Gesicht reichte.

»Meine Freunde nennen mich Vic und da wir ja jetzt Nachbarn sind…«

»Okay - Vic, setz dich doch!«, sagte Sarah forsch und wies ihm einen Stuhl zu.

Sie bemerkte, dass Lucas nicht gerade von seinem Besuch begeistert war, aber jetzt konnte sie ihn ja auch schlecht wieder ausladen. Außerdem war ja mehr als genug zu essen da. Sarah deckte den Tisch und als Lucas die Steaks auf den Tellern verteilte, legte er Vic unauffällig das verbrannteste Stück Fleisch von allen auf den Teller.

»Hm, das sieht aber lecker aus.«

Vic schnitt sich ein dickes Stück ab, um es zu probieren.

»Tut mir leid, mir ist nicht gerade der Kochlöffel in den Schoß gefallen, aber ich gebe mein Bestes.«, bemerkte Sarah und Vics Blick fiel auf Lucas.

»Nein, nein, die Steaks habe ich versaut.«, sagte Sarah.

»Nicht versaut, nur knusprig eben, wie ich es mag.«, sagte Lucas, während er sich auch eines der Steaks auf den Teller legte.

»Nein, schmeckt super!«, sprach Vic, der sichtlich Probleme hatte das Fleisch zu kauen, aber es geschickt zu verbergen vermochte.

Lucas wusste in diesem Moment, dass er entweder verrückt war oder er tatsächlich ein unglaubliches Buch nebenan auf dem Sofa liegen hatte. Er fühlte sich wie in einem Déjà-vu, dass aber keines war. Der letzte Eintrag im Tagebuch wurde ihm erst jetzt bewusst - jetzt, wo sie verbrannte Steaks auf dem Teller liegen hatten. Sie aßen in aller Ruhe und Victor Gab erzählte von seinem Job. Dass er verheiratet war und keine Kinder hatte. Dass er aber auch eine Geliebte hatte, erwähnte er in Gegenwart von Sarah natürlich nicht. Dann redete er über seine Arbeit. Er erzählte von einem Ehepaar, das er vertrat, die zur Eheberatung gingen um Selbige zu retten. Allerdings waren die Beiden mit dem Therapeuten so unzufrieden, dass sie ihn gemeinsam im Park nackt an einen Baum banden, mit einem Schild um seinen Hals auf dem geschrieben stand: Ich bin nackt und rede dummes Zeug. Er erzählte lauter solche abstrusen Geschichten. Der hatte aber auch Geschichten auf Lager. Teilweise unglaublich, teilweise nachvollziehbar. Solche Geschichten liegen ja schließlich immer im Auge des Betrachters. Lucas und Sarah amüsierten sich sichtlich über die verrückte Welt der Straftaten, allerdings versteinerte sich zwischendurch Lucas Gesichtsausdruck. Nämlich immer dann, wenn Gab Sarahs Hand tätschelte, oder sie mit seinen Blicken zu verschlingen schien. Lucas achtete peinlich genau auf jede Kleinigkeit. Für ihn hatte er plötzlich etwas Hinterhältiges in den Augen, was aber in völligem Widerspruch zu seinem gesamten Wesen stand. Aber so fühlte er nun einmal. Sarah war für ihn wie seine kleine Schwester, die er immer beschützte, von Kindesbeinen an. Er verstand aber auch, dass Sarah nun eine attraktive junge Frau war und nicht mehr die kleine Rotznase, mit den langen schwarzen Indianerzöpfen.

»So, jetzt werde ich mich aber mal auf den Weg nach nebenan machen. Ich muss noch ein paar Unterlagen bearbeiten und in meine Kanzlei faxen.«, sagte Gab.

Mittlerweile waren schon wieder drei Stunden vergangen.

»Oh wie schade - Das müssen wir aber unbedingt mal wiederholen!«, sagte Sarah.

»Das nächste Mal koche ich.«, sagte Gab.

»Okay, Deal!«, erwiderte Sarah und Lucas nickte widerwillig zustimmend.

Sie brachten ihn noch zur Tür und schauten ihm nach, wie er in seinem Haus verschwand.

»Na das ist doch ein netter Kerl.«, sagte Sarah.

»Na klar, wenn man auf kleine dicke Glatzköpfe steht.«, antwortete Lucas und grinste.

Sarah gab ihm mit den Worten „Du Blödmann“ einen Boxhieb auf den Oberarm.

»Sis, ich muss dir unbedingt etwas zeigen!«

Lucas wurde ernst, nahm Sarah an die Hand und zog sie mit ins Wohnzimmer. Er nahm das Tagebuch vom Sofa und drückte es ihr zusammen mit dem Brief in die Hand.

»Hier, das musst du dir unbedingt ansehen. Nana hat es mir mit diesem Brief hinterlassen und ich möchte von dir wissen, was du davon hältst.«

Sarah legte das Tagebuch zurück auf den Tisch, nahm zuerst den Brief und las ihn. Anschließend wischte sie sich eine Träne von der Wange.

»Sie war eine wunderbare Frau, Lucas. Du kannst dich wirklich glücklich schätzen sie so lange für dich gehabt zu haben.«

Sarah hatte, ebenso wie er, auch nicht so ein Glück was ein heiles Familienleben betraf. Ihr Vater war unbekannt und

ihre Mutter verschwand eines Tages spurlos. Gerüchten zufolge schenkte sie ihre Liebe einem Zuhälter, der sie dann verschleppte, was aber wie gesagt, nur ein Gerücht war. Ihre überaus strenge Tante Betty zog sie alleine groß, denn es gab auch keinen “Onkel Betty“. Sie legte den Brief auf den Tisch und widmete sich nun intensiv dem Tagebuch.

»Das ist ja ein tolles Tagebuch, aber ist das nicht eher was für Mädchen?«

Sie schlug es auf und Lucas wurde kreidebleich. Alle Seiten waren leer. Sprachlos nahm er ihr das Tagebuch aus der Hand und blätterte es selbst noch einmal durch, doch nichts. Alles war weg, noch nicht einmal die Widmung war noch da. Lucas wurde blass und bemühte sich nun darum sich nichts anmerken zu lassen, dass sich alles um ihn herum zu drehen schien.

»Und, willst du es benutzen?...«, fragte Sarah. »…Falls nicht, kannst du es gerne mir vermachen, ich bin ja schließlich ein Mädchen!«

Sarah lachte und Lucas bemühte sich um ein kleines Lächeln.

»Nein, nein, vielleicht benutze ich es ja doch mal…« Lucas versuchte zu grinsen. »…Irgendwas hat sich Nana ja wohl dabei gedacht!«

»Ja, wahrscheinlich… Komm, wir gehen aufräumen.«

Sarah nahm ihm das Tagebuch aus der Hand, betrachtete es noch einmal mit leuchtenden Augen, legte es auf den Tisch und schob Lucas zurück in die Küche. Sie begannen mit der Aufräumarbeit und Sarah erzählte die ganze Zeit etwas. Er hörte jedoch nicht wirklich zu. Seine Gedanken kreisten um das Tagebuch. Das ergab alles keinen Sinn. Warum war das Tagebuch leer? Hatte er das alles nur geträumt? Vielleicht war es auch der Alkohol. „Verdammter Alkohol“, dachte er.

»Lucas, hörst du mir überhaupt zu?«

Sarah piekte ihn mit einer Gabel, die sie gerade abtrocknete leicht in die Hüfte. Und ihr Blick viel dabei auf die Wanduhr.

»Ups, es ist ja schon fast 17.00 Uhr. Ich muss jetzt langsam los, morgen ist mein erster Arbeitstag und der beginnt um 5 Uhr morgens. Ja und Tante Betty bringt mich um, wenn ich nicht heute noch meine Koffer wegräume und Ordnung in mein Zimmer bringe.«

Sarah legte die Gabel in den Besteckkasten und wendete sich Lucas zu.

»Tut mir Leid Sis, wenn ich heute etwas komisch war, aber ich bin noch ein bisschen durch den Wind!«

Sarah sah ihn mitleidig an und er begleitete sie schweigend zur Tür.

»Wenn etwas ist, du weißt ja, wo du mich finden kannst!«, sagte sie und nahm seine Hände in ihre. Sie zog ihn zu sich herunter und gab ihm einen dicken Kuss auf die Wange.

»Ich weiß!«, flüsterte er ihr ins Ohr.

Sie verließ darauf das Haus.

Lucas stand noch eine kleine Weile an der Türschwelle, bis sie vollkommen aus seinem Blickwinkel verschwunden war. Schnell schloss er die Tür und ging geradewegs auf das Tagebuch zu. Er nahm es in die Hand und öffnete es.

Es war unglaublich und er traute seinen Augen nicht, denn alle Einträge waren auf einmal wieder da. Irritiert warf er das Tagebuch auf den Tisch und sich selbst auf das Sofa. Er zündete die letzte Zigarette aus seiner Schachtel an und wurde auf einmal ganz ruhig. Was wäre, wenn das Tagebuch wirklich die Zukunft voraussagen könnte und der Inhalt des Tagebuches nur für ihn bestimmt war? Das war in diesem Moment eine für ihn logische Erklärung, schließlich war ja alles verschwunden, als er es Sarah zeigte. Unlogisch war allerdings die gesamte Existenz dieses Buches, das sich wie von Geisterhand mit Zukunftseinträgen füllte. Lucas war eigentlich immer ein sehr realistischer Mensch, der nie an übernatürliche Dinge glaubte und sich auch immer über andere lustig machte, die von irgendwelchen übernatürlichen Erlebnissen erzählten. Aber jetzt steckte er mittendrin in einem solchen Erlebnis. Er drückte die Zigarette aus und schloss die Augen. Geistig und körperlich völlig überfordert schlief er ein.


»Es wird Zeit!«, hauchte ihm eine tiefe dunkle Männerstimme ins Ohr.

Lucas öffnete die Augen. Das ganze Wohnzimmer war in gleißend hellen Nebel getaucht. Erschrocken blickte er sich um. Am Ende des Sofas entdeckte er den Umriss einer Gestalt. Der Nebel machte es ihm aber unmöglich zu erkennen wer oder was dort stand. Blitzschnell schreckte er hoch, doch der Nebel war verschwunden und mit ihm auch die diese schemenhafte Gestalt. Er hatte geträumt, oder nicht? Er stand auf und ging in die Küche, ließ den Wasserhahn laufen und schüttete sich mit beiden Händen Wasser ins Gesicht. Als er das Gesicht mit dem Geschirrtuch trocknete, mit dem Sarah zuvor noch abgetrocknet hatte, fiel sein Blick auf die große alte hölzerne Küchenuhr. Es war erst 17.20 Uhr. Er hatte das Gefühl, als hätte er ein paar Stunden geschlafen, aber es konnten höchstens fünf bis zehn Minuten gewesen sein, wenn überhaupt. Lucas wurde in seinen Gedanken unterbrochen, denn sein Handy klingelte. Er ging in die Diele und zog das Handy aus seiner Jackentasche.

»Ja, hallo?«

»Shawn hier. Kannst du morgen die Frühschicht für mich übernehmen, ich hab was Dringendes zu erledigen?«

»Hm Okay.«, antwortete er etwas widerwillig.

»Wie geht’s dir denn, Alter? Ist bei dir alles in Ordnung? Ich wollte mich ja melden, hab es aber gelassen. Ich dachte mir, du möchtest vielleicht lieber deine Ruhe haben.«

»Ist schon okay Shawn, mir geht’s gut.«

»Ok, wir sehen uns.«

»Gut, bis dann.«

Lucas klappte das Handy zu und legte es auf den Küchentisch. Shawn Jones war vor etwa einem Jahr von Boston hierher gezogen und Lucas hatte sich mit ihm angefreundet. Viele Freunde hatte er ja nicht. Shawn war ein verrückter Typ, deshalb fragte Lucas auch erst gar nicht, warum er für ihn einspringen sollte. Er würde es ihm dann schon erzählen. Sicher steckte wieder eine Frau dahinter. Aber jetzt musste er morgen schon um 6 Uhr morgens in der Klinik sein. Irgendwie passte ihm das gar nicht, aber Shawn war ja schließlich sein Kumpel. Er ging zurück in die Diele und nahm eine neue Schachtel Zigaretten aus seiner Jackentasche. Anschließend nahm er auch noch ein Bier aus dem Kühlschrank und setzte sich an den Küchentisch. Morgen würde er sich mit Nanas Geld ein Auto kaufen. Seine Nana war die Beste, dachte er und schlussfolgernd konnte auch das Tagebuch nichts Schlechtes sein. Er versuchte mal wieder seine Gedanken um das Tagebuch zu verdrängen. Außerdem verspürte er auch wieder ein leichtes

Hungergefühl und ging an den Kühlschrank. Er nahm die Dose mit dem Krautsalat heraus und ging zurück ins Wohnzimmer, wo er sich wieder auf dem Sofa niederließ. Dann schaltete er den Fernseher ein und aß den letzten Rest direkt aus der Dose, während er zwischen jedem Happen mit der Fernbedienung umschaltete. Eigentlich war er sehr froh, dass er wieder arbeiten gehen konnte, da war es doch auch eigentlich egal, ob Früh oder Spät. Sein Leben wurde in den letzten Tagen vollkommen auf den Kopf gestellt und es wurde wieder Zeit einen geregelten Tag zu haben. Vielleicht hatte ihm das auch die mysteriöse Gestalt im Nebel aus seinem Traum zu sagen versucht. Es wurde Zeit, sich wieder den alltäglichen Dingen des Lebens zu stellen. Denn bei aller Trauer, sein Leben ging weiter. Die Zeit verging, während er ständig umschaltete, hier und da verharrte und sich zwischendurch mit Bier und Kartoffel-Chips versorgte.

»Oh, Men in Black!«

Jetzt hatte er endlich genau die Art von Unterhaltung gefunden, die er brauchte. Der Film fing gerade erst an und so ließ er sich von ihm berieseln. Aber dennoch schaute er immer wieder auf den Tisch, denn auch wenn er es versuchte zu verdrängen, das Tagebuch zog ihn doch immer wieder in seinen Bann.

TAG 3

Als der Film zu Ende war, dachte er daran heute noch mal zu versuchen in seinem alten Zimmer zu schlafen, schließlich konnte er ja nicht ständig auf dem Sofa schlafen. So mit 32 Jahren konnte der Rücken auch schon mal ein bisschen schmerzen, wenn man auf einen viel zu kleinem Sofa schläft. Seine Gedanken schweiften ab. So dachte er an seinen alten Medizinprofessor von der Uni, der so treffend bemerkte:

„Der Mensch ist nur für dreißig Jahre konzipiert, denn ab dreißig setzt der körperliche und geistige Verfall ein.“

Ne, das war vielleicht ein schrulliger Typ. Dann fiel ihm ein, dass er ja… und wieder einmal stockten seine Gedanken. Genauso stand es im Tagebuch. Er setzte sich auf, legte die Tüte Chips beiseite und nahm das Tagebuch in seine Hand. Als er es aufschlug, bemerkte er sofort, dass wieder ein neuer Eintrag da war.

Liebes Tagebuch!

Heute habe ich ein super Schnäppchen gemacht. Einen Dodge Ram Pickup in schwarz für nur 2500 Dollar. Gut für

mich, jetzt habe ich noch eine kleine Geldreserve. Sarah gefällt der Wagen auch, sie hat gleich eine Runde mit ihm gedreht. Es tat gut heute zu arbeiten, auch wenn ich so was von hundemüde war. Miss Keane ist mal wieder auf meiner Station. Hüfte gebrochen. Die alte Dame ist

klasse. Sie erinnert mich ganz schön an Nana!

Moonville, 19. März 2007

Jetzt musste er wieder mal kräftig durchatmen. Er sah sich den Eintrag von gestern noch einmal an. Da er von sich

überzeugt war nicht geisteskrank zu sein, wurde ihm bewusst, dass es nicht den geringsten Zweifel daran gab, dass

ihm seine Großmutter etwas ganz Besonderes hinterlassen hatte. Was ihn allerdings wieder nachdenklich stimmte, war die Tatsache, dass sie es in ihrem Abschiedsbrief aber mit keinem Wort erwähnte. Er klappte das Buch zu und lehnte sich zurück.

In seinen Gedanken reiste er zurück in die Vergangenheit…

Lucas war 6 Jahre alt und gerade mal wieder vor dem “Dicken Dan“ aus der Nachbarschaft geflüchtet. Es war schon sehr spät und die Sonne war schon lange untergegangen. Wieder mal hatte er, wie so oft, die Zeit um sich herum vergessen. Seine Großmutter saß auf der kleinen beleuchteten Veranda in ihrem fröhlichen geblümten Sommerkleid und war damit beschäftigt einen dicken Pullover für ihn zu stricken. Wie ein Wirbelwind lief Lucas auf sie zu und versteckte sich hinter ihr, während der dicke Dan Unschuld heuchelnd und ganz langsam am Haus vorbei schlich.

»Lucas-Schatz, du kannst dich doch nicht immer verstecken.«

»Ja aber der ist so groß und dick, Nana und… und viel, viel stärker als ich. Der wird mich bestimmt zerquetschen!«, antwortete er hastig.

»Ja, ich verstehe schon. Komm mal her zu mir…«, sagte sie, legte ihr Strickzeug zur Seite und hob Lucas auf ihren Schoß.

»…Weißt du mein Engel, manche Dinge regeln sich im Leben von ganz alleine. Du brauchst nur ein klein wenig Geduld. Ich bin mir ganz sicher, dass er dafür schon noch seine gerechte Strafe bekommt.«

»Wirklich Nana? Das muss aber unbedingt noch heute sein, der verkloppt mich nämlich morgen wieder!«

»Nein mein Schatz, heute nicht mehr, aber morgen, vielleicht.«

Sie nahm ihn feste in ihre Arme. Ja, jetzt erinnerte sich Lucas wieder. Am nächsten Tag wurde Dan von einem schweren Lastwagen überfahren und war auf der Stelle tot. Sie musste es gewusst haben, aber wenn sie es gewusst hatte, dann hätte sie den Unfall doch auch verhindern können. Andererseits vielleicht war es nun mal sein Schicksal auf dem Weg zum Schokoladen-Laden überfahren zu werden. Aber Lucas war nun trotzdem der Überzeugung, dass sie das Tagebuch benutzte. Er nahm das Tagebuch, löschte im Wohnzimmer das Licht und ging hinauf in sein Zimmer. Behutsam wie einen Schatz, legte er es auf das Nachtschränkchen, zog sich aus und legte sich ins Bett. Er stellte den Radiowecker auf 4.32 Uhr. Mit den Gedanken an seine Nana schloss er die Augen. In seinen Gedanken hörte er Yesterday von den Beatles und sah seine Großmutter vor seinem geistigen Auge. Wie sie ihm den Kopf streichelte und sagte:

»Schatz, jetzt musst du aber wirklich schlafen!«

Zweimal drückte er die Schlummertaste, als der Radiowecker sich einschaltete. Als der Wecker sich ein drittes Mal einschaltete hörte er die Stimme des Radiomoderators…

»Es wird Zeit, Leute…«

Lucas schreckte auf. Jetzt wurde es aber wirklich Zeit. Ihm blieb nur noch eine knappe halbe Stunde, bis der Bus in Richtung Zentrum abfahren sollte. Schnell stand er auf und sprang unter die Dusche, wo er sich praktischerweise auch gleich rasierte. In der Hektik fügte er sich zwei relativ tiefe Schnittwunden mit dem Rasierer zu. In rasender Geschwindigkeit warf er sich in seine Klamotten und lief schnell die Treppe hinunter. Die Zeit lief ihm davon. In Windeseile zog er seine Lederjacke über, schnappte das Handy und die Schlüssel und rannte zur Tür heraus.

»Mist!«, schrie er nach ein paar Metern, denn er hatte das Geld vergessen.

Schnell rannte er zurück, griff den Umschlag vom Wohnzimmertisch und rannte wieder hinaus. Er schaffte es gerade noch rechtzeitig zur Bushaltestelle und stieg in den Bus ein. Sein Weg führte ihn ganz nach hinten, denn in der letzten Reihe saß er am liebsten. „Puh, das war knapp!“, dachte er und fuhr mit seinen Händen durch seine noch nassen Haare, als der Bus sich langsam in Bewegung setzte. An der nächsten Haltestelle stoppte der Bus. Eine ältere Frau stieg zu und sie setzte sich in die Reihe vor ihm. Die Frau drehte sich auch sogleich zu Lucas um und starrte ihn mit

einem grauenerregenden Gesichtsausdruck an.

»Du darfst das Schicksal nicht herauszufordern, mein Freund!«

»Entschuldigung, was haben sie gesagt?«

»Ich sagte, sie bluten da aber ganz schön im Gesicht!«

Die alte Frau mit ihrem faltigen Gesicht lächelte ihn an und streckte ihm ein schneeweißes Taschentuch entgegen.

Sichtlich erschrocken und vollkommen irritiert brachte er ein leises und verschüchtertes „Danke“ heraus. Er vergrub sich ganz tief in seinen Sitz und tupfte sich mit dem Taschentuch das Gesicht ab. Die alte Frau stieg bereits am nächsten Haltepunkt aus und er schaute ihr noch nach. Vollkommen regungslos blieb sie an der Haltestelle stehen. Mit dem gleichen gruselig, versteinerten Gesichtsausdruck schaute sie ihm direkt in die Augen, als der Bus sich wieder in Bewegung setzte. Ihre Falten waren in dem Licht der Laterne zu tiefen schwarzen Furchen gewachsen, die sich von ihrem leichenblassen Gesicht abhoben. Ihre Blicke trafen sich noch eine Weile, bis sie durch den fahrenden Bus in der Dunkelheit verschwand. Jetzt saß er wieder ganz alleine dort hinten im Bus und er war hellwach.

»Was zur Hölle war das denn für Eine?«, fragte er sich laut.

Diese Frau hatte er vorher noch nie hier in der Gegend gesehen. Er tupfte sich weiterhin seine Schnittwunden im Gesicht ab und beschloss, dass er sich einfach verhört haben musste. Aber die Frau war schon sehr gruselig - irgendwie.

Ja und dieses schwarze Kleid das sie trug sah aus, als stammte es aus der Jahrhundertwende.

Die restliche Busfahrt verging dann doch recht schnell und schon war er am Krankenhaus angelangt.

»Hi Steve.«

Lucas begrüßte den Mann am Empfang.

»Hi Lucas, alles klar soweit?«

Lucas ging an ihm vorbei, mit dem Daumen nach oben und stieg in den alten Fahrstuhl, der noch aus den 70er Jahren stammte und ganz schön rappelte während der Fahrt.

Als er auf seiner Station angekommen war, ging er in den Aufenthaltsraum und zog sich um.

»Lucas, geht’s dir gut?«, fragte Laura, eine seiner Kolleginnen. Er wusste, dass alle sehr besorgt waren, denn er war bei seinen Kollegen und Vorgesetzten ein sehr beliebter Mensch. Aber trotzdem waren ihm die mitleidigen Blicke sehr unangenehm.

»Danke, mir geht es gut!«

Laura bemerkte direkt, dass er etwas genervt wirkte und ging nicht näher auf seinen Verlust ein.

»Du glaubst nicht, wer schon wieder unsere Station beehrt!«

»Miss Keane, stimmt´s?«

»Ah, du hast Jenny schon getroffen?«

Lucas, der in diesem Moment nicht mehr so überrascht war, antwortete auf die Frage nicht.

»Hüfte gebrochen, richtig?«

»Ja stimmt. Sie hat schon nach dir gefragt. Sie liegt in Zimmer 308.«

Lucas lächelte Laura an, die ihn ein wenig irritiert anschaute und ging in Richtung Zimmer 308. Langsam öffnete er die Tür.

»Miss Keane, was haben sie denn schon wieder angestellt?«

Miss Keane war eine 78 Jahre alte Dame. Sie war laut eigener Aussage nie verheiratet und litt unter stark ausgeprägter Osteoporose. Sie hatte schneeweißes volles Haar und strahlend blaue Augen. Sie war regelmäßig “Gast“ in der Klinik. Gebrochener Arm, gebrochenes Bein, angebrochene Wirbel und noch vieles mehr.

»Na, bald haben sie ja alle Knochen im Körper durch, guten Morgen Miss Keane.«

Er ging auf sie zu und schüttelte ihr Kissen auf.

»Oh Lucas, wie schön, dass sie wieder da sind, mein Junge.« Erst lächelte er und wurde aber gleich wieder ernst. Er setzte sich auf den Rand des Bettes und schaute sie böse an.

»Sie hatten mir doch nach dem letzten Beinbruch fest versprochen noch besser auf sich aufzupassen.«

»Hab ich ja auch versucht, mein Junge, aber dann hatte ich Sehnsucht nach ihnen.«, sagte Miss Keane und tätschelte liebevoll seine Hand. Lucas grinste verlegen, während Miss Keane ihn mit einem verschmitzten Lächeln anschaute.

»Na sie sind mir ja vielleicht Eine.«

Er mochte diese alte Dame sehr. Sie erinnerte ihn in diesem Moment wirklich an seine Großmutter, denn sie hatte auch so eine gütige und liebevolle Ausstrahlung.

»Ich habe das von ihrer Großmutter gehört, Lucas. Es tut mir wirklich sehr leid.«

Miss Keane nahm seine Hand und schaute ihm tief in die Augen.

»Der Tod gehört zum Leben dazu, mein Junge und jeder Abschied bedeutet auch ein Wiedersehen. Trauer ist nur

die Geduldsprobe der Lebenden.«

Er nickte, denn er wusste aus früheren Gesprächen mit ihr, dass sie keine Angehörigen hatte. Einzelkind einer Einzel-Kind-Ehe, sagte sie immer dazu. Schon mehrfach in der Vergangenheit, sprach sie voller Freude davon, ihre Eltern und ihre ganzen verstorbenen Tiere im Jenseits wieder zu treffen. Bei jedem ihrer Aufenthalte im Krankenhaus sprach sie von einem besseren Leben nach dem Tod.

»Ich werde ihre Großmutter von ihnen grüßen, wenn meine Zeit gekommen ist.«, sagte sie.

Lucas tätschelte ihre Hand.

»So, jetzt gibt es gleich erstmal ein leckeres Frühstück...«, wechselte er schnell das Thema. »…wir sehen uns gleich wieder.«

Lucas verließ das Zimmer und begann zusammen mit Jenny und Laura das Frühstück zu verteilen. Während er die Essen servierte, dachte er immer wieder an das Tagebuch. Die ganzen restlichen Zweifel an seinem Verstand waren nun ausgeräumt, oder doch nicht? Er war wach und alles was er bisher über die Zukunft gelesen hatte war Realität geworden. Plötzlich durchzuckte ihn ein Gefühl der Unbesiegbarkeit, denn wenn er wusste, was am nächsten Tag passieren würde, dann wäre er stets in allen Situationen Herr der Lage.

»Lucas, gut dass du wieder da bist!«, unterbrach Schwester Jenny seine Gedanken.

Jenny war schon seit langer Zeit heimlich in Lucas verliebt, was dieser aber nicht bemerkte. Sie war aber auch ein Typ Frau, der den Männern nicht gerade besonders ins Auge stach. Unscheinbar und schüchtern war sie. Ihre kastanienbraunen Haare stets streng nach hinten zum Zopf gebunden und die etwas größere Hornbrille ließen sie wie das klassische Mauerblümchen aussehen. Sie sprach nie besonders viel mit ihm, oder den anderen Kollegen, aber mit den Patienten ging sie unglaublich liebevoll um.

»Ja, ich bin auch froh wieder hier zu sein.«

Lucas schaute ihr in die Augen, doch ihr Blick senkte sich schnell verschüchtert zu Boden.

»Shawn hat mich wahnsinnig gemacht, wo steckt der Idiot eigentlich wieder?«, rief Laura, die gerade kam und ein neues Tablett aus dem Transportwagen nahm. Lucas zuckte mit den Schultern.

»Übrigens, heute wird auch ein neuer Dienstplan gemacht. Ich kann und will mit diesem Bekloppten nicht mehr zusammen arbeiten!«

Bei Shawn gab es auch nur zwei Möglichkeiten. Entweder man liebte ihn oder man hasste ihn. Es ist auch nicht jedermanns Sache einen Kollegen zu haben, der sich singend und tanzend auf der Station bewegt, was allerdings bei den meisten Patienten sehr gut ankam. Auch die Frauenwelt im Allgemeinen war ihm äußerst schnell verfallen, denn er wechselte die Frauen wie andere Leute ihre Socken. Das lag nicht nur an seinem durchtrainierten Körper, seinen grünen Augen und seinen langen braunen Haaren, nein, er besaß eine gewisse Art von Charme, dem fast alle Frauenherzen erlagen. Die Chemie stimmte bei Laura und Shawn einfach nicht. Ein Lebemann und eine Frau, bei der Lucas in der letzten Zeit üble Eigenschaften entdeckte, die ihn stark an seine Mutter erinnerten. Laura war ja schließlich auch seit einiger Zeit mit Doktor Brown liiert, was ein offenes Geheimnis war. Vielleicht war sie deshalb in den vergangenen Monaten noch ein wenig mehr zur Spießerin geworden. Ob Mrs. Doktor Brown etwas davon wusste, das wusste keiner so recht. Lucas freute sich innerlich, denn vielleicht würde er nach längerer Zeit mal wieder mit Shawn zusammen in einer Schicht arbeiten, statt sich immer nur beim Schichtwechsel zu treffen, oder auf eines der seltenen Biere in Jims Bar.

Lucas war ziemlich schnell wieder im alltäglichen Krankenhausrhythmus eingebunden und der Tag verging im Rausch der Arbeit sehr schnell. Viele legten an diesem Tag ihre Hände auf seine Schultern, sogar der Klinikchef Ian Ward zeigte seine Anteilnahme. Seine Schicht ging trotz seiner stetig ansteigenden Müdigkeit schnell herum. Schließlich stand er im Aufenthaltsraum und schlüpfte wieder in seine Straßenkleidung, als die Tür aufsprang.

»Hey Baby, ab Mittwoch lassen wir es so richtig krachen in der Nachtschicht!«

Shawn stand in Siegerpose mit hochgerissenen Armen im Türrahmen. Lucas musste grinsen und sie klatschen sich ab, wie zwei Footballer nach dem entscheidenden Touchdown.

»Laura, der alte Besen hat uns Beiden einen großen Gefallen getan!«

»Der neue Dienstplan ist also schon raus?«

»Du weißt doch, wenn man mit den richtigen Leuten schläft, dann geht alles ein bisschen schneller!«

»Na du musst es ja wissen….«, sagte Lucas und lächelte.

»…Ich muss jetzt los, ein Auto kaufen.«

Er zog seine Jacke über.

»Hey Alter, wir sehen uns spätestens übermorgen und kauf nichts, was ich nicht auch kaufen würde.«

»Bleib sauber!« sagte Lucas grinsend und verließ darauf das Krankenhaus.

Ungefähr drei Meilen entfernt war ein großer Gebrauchtwagenhändler. Lucas entschied sich dafür ein Taxi zu

nehmen, denn er war doch sehr erschöpft nach dem ersten Arbeitstag und der Bus, der in diese Richtung fuhr, war ihm sowieso gerade vor der Nase weggefahren. Außerdem konnte er sich das jetzt ja leisten. Dort angekommen war seine Müdigkeit vor Aufregung aber wieder verflogen. Zielstrebig ging er durch die unglaublich vielen Reihen mit Gebrauchtwagen, denn schließlich wusste er ja ganz genau, wonach er suchte. Dann stand er vor dem Wagen. Ein schwarzer Dodge Pickup Ram. Das Einzige, was nicht so ganz zum Eintrag passte, aber dem Eintrag am nächsten kam, war das Preisschild: 3000 Dollar.

»Der Wagen ist einwandfrei und aus erster Hand. Das Baby hat allerdings schon 195.000 Meilen auf dem Buckel, ist dafür aber erst sieben Jahre alt…« Lucas hatte nicht bemerkt, dass sich ihm ein Verkäufer näherte und zuckte leicht zusammen. »…Das Baby steht schon länger hier und wenn sie Cash bezahlen, dann gehe ich noch mal 500 Dollar runter.«

Lucas drehte sich um und gab dem Verkäufer die Hand.

»Okay, gekauft.«

Der Verkäufer schaute etwas ungläubig. Er machte den Eindruck, als hätte er bisher noch nie in seiner Karriere so schnell einen Wagen verkauft, was sehr wahrscheinlich auch der Fall war. Schließlich hatte Lucas sich den Wagen noch nicht einmal von innen angesehen, geschweige denn auf eine Probefahrt bestanden. Aber das erstaunte Gesicht des Verkäufers schlug schnell in ein Zufriedenes um. Sie gingen in sein Büro und erledigten sämtliche Formalitäten, so dass Lucas den Wagen sogar direkt mitnehmen konnte. Der Wagen ließ sich phantastisch fahren und war sehr bequem. Er hatte sogar ein Autoradio mit CD-Player. Die Armatur wies zwar so einige Gebrauchsspuren auf, aber das störte ihn nicht, denn ansonsten war der Wagen wirklich erstklassig gepflegt. Er schaltete das Radio ein und selbst sein Lieblingsradiosender war eingestellt.

»100% Classic Rock.«, hörte er den Moderator sagen und gleich darauf ertönte Highway to Hell von AC/DC. Lucas freute sich und dankte seiner Großmutter mindestens 1000 Mal auf der Fahrt nach Hause.


»Hey, schickes Auto!«, rief Gab ihm entgegen, als er gerade vor seinem Haus ausstieg.

Gab war damit beschäftigt den Rasen seines Vorgarten zu mähen.

»Hier Lucas, meine Karte, da draußen fahren ein paar irre Typen durch die Gegend.«

Gab streckte ihm seine Visitenkarte entgegen und betrachtete das Auto von allen Seiten. Es war schon seltsam, dass ein Mann, der in der Dämmerung gerade seinen Rasen mähte, eine Visitenkarte aus der Hosentasche zauberte. Aber Lucas war nicht wirklich überrascht. Für ihn war der Typ ja sowieso nicht so ganz “Richtig“. Er nahm die Visitenkarte und steckte sie in seine Brieftasche. Gab stellte erst jetzt seinen Rasenmäher aus und holte von seiner Veranda zwei Flaschen Bier.

Er streckte Lucas eine Flasche entgegen.

»Hier, trinken wir auf dein neues Auto.«

Da sagte Lucas nicht nein und sie setzten sich beide auf die Stufen der Veranda.

»Die Gartenarbeit ist mal was anderes. Ich merke richtig, wie der Großstadtmief aus allen meinen Poren entweicht.«

Sie stießen ihre Flaschen aneinander und nahmen zeitgleich

einen kräftigen Schluck. Lucas starrte die ganze Zeit auf seinen neuen Wagen.

»Wer ist das denn da drüben?«

Gab zeigte mit dem Finger auf Mimis Haus gegenüber.

Lucas sah allerdings nur noch, dass sich die Gardinen vom großen Wohnzimmerfenster im Untergeschoss bewegten.

»Oh, das war Mimi, eine sehr liebe alte Dame. Sie wohnt dort mit ihrem Mann Hank, aber den wirst du wohl nicht zu Gesicht bekommen. Der geht seit Jahren nicht mehr aus dem Haus.«

»Ist er krank?«

»Eigentlich nicht, glaub ich zumindest. Sagen wir mal, er ist eher etwas bequem.«

»Hey ihr zwei, bekomme ich auch ein Bier?«

Sarah stand plötzlich völlig unbemerkt vor den Beiden.

»Tante Betty schickt mich…« Sarah streckte ihm ein Tuppertöpfchen mit Lasagne entgegen. »…Hier, damit du nicht verhungerst.«

Lucas nahm das Töpfchen entgegen, während Sarah sich bereits umdrehte und den Wagen begutachtete.

»Ist das etwa deiner?«

»Ja, heute erstanden.«

Sarah lief um den Wagen herum und blieb dann vor der Motorhaube stehen.

»Schlüssel!«, sprach sie fordernd und Lucas warf ihr sogleich den Zündschlüssel zu. Sie stieg ein und fuhr davon.

»Das ist eine tolle Frau, die würde ich an deiner Stelle sofort heiraten.«

»Oh nein, wir sind nur befreundet.«, antwortete Lucas schnell und ärgerte sich in diesem Moment, dass er nicht seinen Mund gehalten hatte. Sollte er doch ruhig glauben sie wären ein Paar. Jetzt hatte Gab den Freifahrtschein zum “baggern“.

»Oh, ich dachte ihr wärt ein Paar.«, sagte Gab erstaunt und Lucas schwieg einen Moment lang.

»Ich glaube, ich werde jetzt mal essen gehen, bevor das

Zeug hier ganz kalt ist. Danke für das Bier.«

»Jederzeit mein Freund - Jederzeit.«, antwortete Gab und prostete ihm noch einmal zu.

Lucas stellte die leere Flasche auf der Veranda ab und ging hinüber in sein Haus. Zuerst legte er seine Jacke ab und ging dann in die Küche. Er nahm eine Gabel aus der Schublade, setzte sich an den Tisch und begann damit die Lasagne zu verspeisen. Lauwarm war sie und gerade noch essbar. Er hatte bereits die Hälfte aufgegessen, als Sarah zur Tür herein kam.

»Super Schlitten!«, sagte sie begeistert und setzte sich zu ihm an den Tisch.

»Super Lasagne…«, entgegnete ihr Lucas mit vollem Mund. »…bestell‘ Tante Betty einen schönen Gruß von mir, ich werde mich dafür noch bei ihr revanchieren.«

»Puh, ich bin hundemüde, ich hab heute 2 Kälber und 8 Ferkel auf die Welt gebracht, nicht schlecht was.«

Sarah legte ihren Kopf auf den Tisch.

»Ja, das kann man riechen!«

Beide lachten.

»Ich werde jetzt gehen, ich muss dringend duschen.«, sagte Sarah und boxte Lucas mit einem breiten Grinsen im Gesicht auf dessen Oberarm.

»Autsch.«, Lucas lachte.

»Ich glaube das ist für uns beide das Beste.«, sagte er grinsend, brachte sie zur Tür und gab ihr einen Kuss auf die Wange.

»Sehen wir uns morgen Abend? Ich hab nämlich ab Mittwoch Nachtdienst…«, fragte er. »…Ich lade dich auch auf einen Hamburger bei Sally ein.«

»Geht klar, hol mich um 19.00 Uhr ab.«, antwortete Sarah und verschwand in der Dunkelheit. Lucas hatte nun das Gefühl, als wäre Sarah nie wirklich fort gewesen. Diese alte Vertrautheit würde wohl niemals verschwinden. Mit Lasagne gut gefüllt, übermannte ihn plötzlich wieder die Müdigkeit und als er auf die Uhr sah, war es gerade erst kurz nach halb acht. Der Tag war aber für ihn definitiv gelaufen. Doch so müde er auch war, die Neugier auf den morgigen Tag zog ihn nach oben in sein Zimmer. Da lag es vor ihm auf dem Nachtschränkchen. Er nahm es und ging hinunter in die Küche. Doch bevor er es öffnete holte er ein Bier aus dem Kühlschrank und die Zigaretten aus der Jackentasche. Er setzte sich, zündete eine Zigarette an und nahm einen tiefen Schluck aus der Dose. Er atmete tief durch und schließlich öffnete er es.

Liebes Tagebuch!

Heute habe ich die alte Frau aus dem Bus wieder gesehen. Ich weiß noch nicht, was ich davon halten soll. Der Tag verlief ansonsten ruhig. Ein tolles Auto habe ich da gekauft! Ich war mit Sarah bei Sally und Gab tauchte auch auf einmal wieder auf. Der Typ versucht sich ganz schön einzuschleimen.

Ich weiß noch immer nicht, was ich von ihm halten soll.

Nana fehlt mir doch sehr. Ich denke oft an sie.

Moonville, 20. März 2007

Lucas schlug das Tagebuch zu und lehnte sich zurück. Die Frau aus dem Bus! Die hatte er schon längst aus seinem Gedächtnis gestrichen. Der Gedanke an den letzten Gesichtsausdruck von ihr an der Bushaltestelle holte ihn ein und ließ ihn ein klein wenig erschaudern. Aber vielleicht wirkte sie auch nur so, weil es doch dunkel war und schließlich war sie ja so nett ihm ein Taschentuch zu reichen. Außerdem hat sich keiner selbst gemacht. Und das er sie nicht kannte war ebenso bedeutungslos. Schließlich kann man ja nicht jeden kennen. Er trank die Dose Bier auf, ging nach oben und legte sich ins Bett. Jetzt war er so dermaßen müde, dass er sich noch nicht einmal über Gab aufregte. Er schloss die Augen und war auf der Stelle eingeschlafen.

TAG 4

»Hallo, mein Junge, wach auf…«, er hörte die Stimme seiner Großmutter, doch seine Augenlider waren einfach viel zu schwer. Er konnte sie nicht öffnen. »…Du musst vorsichtig sein, sie wollen…!«

Der Radiowecker schaltete sich lautstark ein und er schreckte sofort hoch. Hatte er doch glatt vergessen den Radiowecker neu zu stellen. Es war erst kurz nach halb fünf. Er brauchte ja nicht mehr mit dem Bus zu fahren, also wurde er mindestens eine halbe Stunde zu früh geweckt. Aber da er ja gestern sehr früh eingeschlafen war, verzichtete er darauf die Schlummertaste zu drücken und sich an diesem Morgen mal nicht unter Zeitdruck zu setzen. Er fühlte sich in diesem Moment zudem auch recht ausgeschlafen, darum stand er auf und ging direkt duschen. Anschließend kochte er Kaffee und aß eine große Schüssel mit Cornflakes.

„Eigentlich gar nicht so schlecht“, dachte er.

Doch er wusste, dass ihm das in Zukunft nicht immer gelingen würde. Einmal ein Langschläfer, immer ein Langschläfer und bei dem Schichtdienst war das ja sowieso nicht immer möglich. Er nahm das Tagebuch wieder in die Hand. Da war aber noch kein Eintrag für den morgigen Tag. Er klappte es wieder zu und legte es diesmal in den Wohnzimmerschrank. Jetzt wurde es auch langsam Zeit sich auf den Weg zu machen und er freute sich schon auf die Fahrt in seinem neuen Wagen.

Zuerst war wieder jede Menge los auf der Station und allem Stress zum Trotz, nahm er sich einfach die Zeit und schaute zuerst bei Miss Keane vorbei. Schließlich musste er ihr ja auch sagen, dass sie sich in den nächsten vier Wochen wohl nicht so häufig sehen würden.

»Ich werde dann so lange wach bleiben, bis ihre Schicht beginnt und sie mir eine Gute Nacht gewünscht haben.«, sagte Miss Keane und lächelte.

Der Rest des Tages verlief dann genauso ruhig, wie es das Tagebuch vorausgesagt hatte. Es war zwar teilweise etwas stressig, aber das war ja schließlich der normale Alltag auf der Station. Der Arbeitstag war aber genauso schnell vorbei, wie er auch angefangen hatte. Lucas zog sich schließlich um. Er vermisste Shawn, der mal wieder nicht pünktlich zur Abendschicht erschienen war. Na, ja, spätestens morgen Abend um 22.00 Uhr würden sie sich sehen. Er verließ den Aufenthaltsraum und als er zur Tür herauskam hielt er seinen Atem an und erstarrte. Da ging die alte Frau aus dem Bus den Flur entlang, geradewegs an ihm vorbei. Was er allerdings nicht erwartet hatte war, dass diese Frau einen Putzwagen vor sich her schob und die Arbeitskleidung der Reinigungskräfte trug. Er schaute ihr irritiert hinterher und beobachtete, wie sie in den Fahrstuhl stieg. Sie drehte sich um, schaute Lucas an und lächelte, bevor sich die Fahrstuhltüre schloss. Lucas lief schnell zu Lucy, die an dem kleinen Empfang der Station arbeitete.

»Hey Lucy, wer war denn die neue Putzfrau da eben?«

»Wer?«

»Na diese ältere Putzfrau, die da gerade in den Aufzug gestiegen ist.«

»Tut mir leid, ich hab keine Putzfrau gesehen. Aber Mike

ist eben an mir vorbeigekommen, allerdings ist der nicht

wirklich eine Frau.«

Mike war schon seit einer halben Ewigkeit als Reinigungskraft auf dieser Station beschäftigt. Lucas drehte sich um und ging den Flur entlang. Am anderen Ende stand Mikes Putzwagen und er kam auch just in dem Moment aus dem Lagerraum.

»Hallo Lucas, na, geht’s dir gut?«

»Sicher Mike, aber sag mal, wer ist denn deine neue Unterstützung?«

»Was denn für eine Unterstützung?«

»Na die ältere Frau, die mit dem Putzwagen eben in den Aufzug gestiegen ist.«

»Ich habe keine ältere Frau gesehen, tut mir Leid. Ich weiß ja nicht, wen du eben gesehen hast, aber in unserer Crew gibt es keine älteren Damen.«

Mike schüttelte den Kopf, nahm seinen Wischmopp und begann damit den Boden zu wischen. Lucas war verwirrt.

Er hatte sich die alte Frau doch nicht eingebildet. Heute genauso wenig, wie gestern. Er ging zum Fahrstuhl und wartete auf den Selbigen. Er steckte die Hände in die Jackentaschen und bemerkte, dass sich dort noch das Taschentuch, das ihm die Frau gestern im Bus reichte, befand. Er nahm es heraus und schaute es sich an. Ein stink normales Papiertaschentuch. Es war real, genauso wie die Frau, dachte er und stieg in den Fahrstuhl. Morgen würde er mal bei ein paar Patienten nach ihr fragen. Irgendeiner musste sie ja schließlich gesehen haben.

Lucas verließ das Krankenhaus und genoss die Fahrt nach Hause. Eigentlich war er schon recht hungrig, als er zu Hause ankam. Bis er Sarah zum Essen abholen konnte, dauerte es jedoch noch zwei Stunden. Irgendwie musste er sich die Zeit vertreiben und so widmete er sich seiner großen Tasche, die bis zu diesem Zeitpunkt noch immer in der Diele stand. Er nahm die Tasche und ging in sein Zimmer hinauf, wo er seine Sachen in der Kommode und im Wandschrank verstaute. Ihm fiel auf, dass er bisher noch nicht das Schlafzimmer seiner Großmutter betreten hatte. Nachdem er seine Sachen verstaut und sich umgezogen hatte, blieb er einen kurzen Moment vor der Tür stehen, dann ging er aber doch wieder nach unten. Morgen hatte er den ganzen Tag Zeit bis zur Nachtschicht. Vielleicht würde er sich das Zimmer dann mal anschauen. Es würde sicher wehtun, denn das ganze Schlafzimmer war gefüllt mit vielen schönen Erinnerungen.

Lucas ging ins Wohnzimmer und nahm das Tagebuch aus dem Schrank. Es gab aber keinen neuen Eintrag.

Vielleicht funktionierte das Tagebuch ja nicht mehr.

Er legte es vor sich auf den Tisch. Ob er Sarah doch mal davon erzählen sollte? Allerdings verneinte er aber sogleich seine eigene Frage. So vertrödelte er mehr oder weniger die restliche Zeit bis zur Verabredung. Schließlich fiel ihm ein, dass er sich ja noch für die Lasagne von gestern bei Tante Betty bedanken musste. Bei ihr war es eigentlich nicht so selbstverständlich, dass sie ihm etwas Gutes tat. Lucas hatte seit seiner Kindheit das Gefühl, dass sie ihn nicht besonders mochte. Also stieg er noch schnell in seinen Wagen und besorgte an der nächsten größeren Tankstelle einen kleinen Strauß mit bunten Blumen. Es war bereits kurz nach 19.00 Uhr, als er dann bei Sarah eintraf. Tante Betty öffnete ihm die Tür.

»Hallo Lucas, mein lieber Junge.«

»Hi Tante Betty, hier, die sind für dich.«

»Ach, das brauchst du doch nicht…«, sagte sie mit einem breiten Lächeln der Freude, als er ihr die Blumen überreichte.

»Komm doch rein - Sarah, Lucas ist da!«, rief sie die Treppe hinauf.

Sie führte ihn in die große Wohnküche und sie setzten sich an den großen mit Chrom verzierten Tisch, der noch aus den fünfziger Jahren stammen musste. Sie nahm seine Hand.

»Geht es dir auch wirklich gut? Ich muss noch immer jeden Tag an die Beerdigung denken.«

Lucas atmete tief durch, war aber über die außerordentlich fürsorgliche Tante Betty erstaunt und auch darüber, dass er sich überhaupt nicht daran erinnern konnte sie auf der Beerdigung gesehen zu haben.

»Das ging aber auch alles so schnell. Einen Tag davor haben wir noch Witze über Hank gemacht und am nächsten Tag ist sie einfach tot.«

Lucas wusste darauf nichts zu sagen und zu seinem Glück betrat Sarah auch genau in diesem Moment die Küche.

Sie ging auf Lucas zu und umarmte ihn.

»Hier, schnüffel mal, heute rieche ich aber verdammt lecker, was?«

Sie sah umwerfend aus. Blue Jeans und ein weißes tief ausgeschnittenes Hemd trug sie. Ihre langen schwarzen Haare trug sie offen.

»Na ja, bisschen viel Parfüm aufgelegt.«, konterte Lucas, was ihm mal wieder einen Boxhieb auf den Oberarm einbrachte.

»Komm Sis, ich hab Hunger.«

»Viel Spaß, ihr Zwei.«, sagte Tante Betty und die Beiden verließen das Haus.

Sie fuhren in Richtung Stadtzentrum. Auf dem halben Weg dorthin lag Sallys Diner. Sally war eine Frau so um die Mitte sechzig, die in diesem Laden, den sie von ihren Eltern geerbt hatte, groß geworden war. Und das schmeckte man auch, denn dort gab es die besten Hamburger im Südwesten der Vereinigten Staaten. Viele Trucker machten dort halt und der Laden war so gut wie immer voll. An diesem Abend war er jedoch verhältnismäßig leer, lediglich sechs Leute saßen an der langen verchromten Theke. Die Zwei setzten sich an einen Tisch am Fenster.

»Hey Sarah, schön dass du wieder da bist…«, wurde sie von Sally begrüßt. »…Schön euch Beide zu sehen. Ich nehme an ihr wollt das Übliche?«

Die Beiden schauten sich an, nickten grinsend und Sally verschwand daraufhin in der Küche.

»Der Laden sieht bestimmt auch noch in hundert Jahren so aus wie jetzt.«, sagte Sarah und Lucas grinste.

»Ich schätze Sally hat den Laden auch schon seit hundert Jahren. Wie alt mag sie wohl sein, 118?«

Sarah lachte laut.

»Weißt du noch, als wir früher mit den Fahrrädern hier rüber gefahren sind?...«

Die Zwei hatten sich wirklich eine Menge alter Geschichten zu erzählen. Meist redete Sarah und Lucas hörte wie üblich einfach nur zu. Sie tat ihm so unglaublich gut und dennoch war er manchmal zwischendurch für einen kurzen Moment mit seinen Gedanken weit entfernt. Er rechnete ja schließlich damit, dass Victor Gab jeden Moment zur Tür herein kam. Deshalb schaute er auch immer wieder aus dem Fenster, solange, bis das Essen kam.

»Hier, zwei Monster-Hamburger für meine liebsten Gäste.« Sally stellte jedem einen riesigen Teller auf den Tisch.

»Puh, na dann hau mal rein.«

Sarah begann ein paar Pommes Frites mit den Händen zu essen. Lucas schüttelte gerade die Ketchup-Flasche, als die Türglocke läutete. Wie sollte es auch anders gewesen sein, Victor Gab kam herein und steuerte geradewegs auf ihren Tisch zu.

»He, was für ein Zufall, ich bin schon ein paar Mal an diesem Laden vorbeigekommen, aber heute habe ich das erste Mal angehalten.«

„Wem wollte er das denn erzählen?“, dachte Lucas. Er hatte sicher seinen neuen Wagen vor der Tür und die Beiden im Fenster gesehen.

»Oh, das sieht ja lecker aus. Kellnerin, bitte bringen sie mir auch so einen Teller und ein kaltes Bier.«, rief Gab noch stehend. Lucas flüsterte Sarah zu…

»Der große gemischte Salat wäre vielleicht die bessere Wahl.«, was ihm einen Fußtritt von Sarah unter dem Tisch einbrachte.

»Hey Vic, setz dich doch zu uns.«

Sarah zog Gab am Ärmel und platzierte ihn neben sich auf die türkisfarbene Sitzbank.

»Geht klar Mister.«, rief Sally.

Der Abend plätscherte nur so dahin.

Aus Lucas Sicht war das alles nur belangloses und oberflächliches Bla-Bla. Sie redeten über das Essen, über Bier und wie viel jeder so vertrug, das Wetter und was Kühe und Schweine besonders gerne fressen, nicht zu vergessen.

»So, jetzt müssen wir aber so langsam mal los. Ich muss morgen wieder früh raus.«, sagte Sarah und zeigte dabei auf die riesige pinkfarbene Neon Uhr an der Wand gegenüber.

Es war inzwischen schon wieder kurz vor halb elf.

Lucas zog seine Brieftasche heraus und wollte zahlen.

»Lass mal gut sein, die Rechnung übernehme ich…« Gab zog ein Bündel mit mehreren Hundert Dollar Scheinen aus seiner Jackett-Tasche.»…schließlich muss ich mich noch für das Steak revanchieren.«

Lucas ließ ihn gewähren, denn das Bündel Geldscheine war doch sehr beeindruckend. Vor dem Diner verabschiedeten sie sich dann mit den Worten „Man sieht sich.“ und Lucas fuhr Sarah nach Hause.

»Findest Du den Typen nicht auch irgendwie merkwürdig?«, fragte er sie schließlich.

»Nö, warum? Das ist wahrscheinlich nur ein kleiner, dicker, reicher Mann, mit jeder Menge Ex-Frauen und keinen Freunden, der einfach nur Anschluss sucht. Sei doch nicht so misstrauisch, der scheint doch ganz nett zu sein.«

»Ja…, vielleicht hast du ja Recht.«

»Ich hab immer Recht, das weißt du doch.«

Lucas lächelte und ließ Sarah schließlich vor Tante Bettys Haus aussteigen. Sie ging um den Wagen herum und er ließ sein Fenster hinunter.

»Tja, dann werden wir uns in der nächsten Zeit wohl nicht so oft sehen.«

Gestützt auf ihren Ellbogen schaute sie ihn mit ihren großen Augen an.

»Am Sonntag habe ich meinen freien Tag, wenn du Lust hast, können wir ja zum See raus fahren.«, antwortete Lucas.

»Oh Mann, da waren wir ja schon ewig nicht mehr. Ich bin dabei!«

»15.00 Uhr?«

»Geht klar, Süßer!«

Sarah gab ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange und verschwand im Haus. Lucas brauchte ja nur ein Stückchen die Straße hinauf zu fahren und er war auch wieder zu Hause. Gab hatte schon alle Lichter im Haus gelöscht. Er wirkte bei dem Essen an diesem Abend auch etwas müde, dachte er. Lucas ging in die Küche und gönnte sich als Schlummertrunk ein Glas Whisky. Anschließend ging er hinüber ins Wohnzimmer, setzte sich auf das Sofa und nahm einen kräftigen Schluck. Erst jetzt bemerkte er, dass seine Füße wie Feuer brannten und dass sich seine Beine sehr müde anfühlten. Er zog seine Turnschuhe aus und wendete sich wieder dem Tagebuch zu. Er war neugierig, ob es nun einen neuen Eintrag im Tagebuch gab und nahm es vom Tisch.

Und tatsächlich, nachdem er ja die Befürchtung hatte, es könnte nicht mehr funktionieren, war ein neuer Eintrag da.

Liebes Tagebuch!

Heute habe ich es etwas ruhiger angehen lassen, das Wetter war wie geschaffen fürs Rasenmähen und Unkraut zupfen. Mimi kam und hat mich auf Gab angesprochen. Sie findet ihn auch fragwürdig. Danach habe ich ein ausgedehntes Schläfchen gehalten. Etwas Seltsames geht hier vor.

Moonville, 21. März 2007

„Na das waren ja sehr präzise Angaben.“, dachte er.

Für ihn war auch klar, dass er morgen im Laufe des Tages schlafen musste, um die kommende Nachtschicht zu überstehen. Und er hatte sich auch vorgenommen den Rasen zu mähen, nachdem er Gab dabei gesehen hatte. Das war ja alles nichts spannendes Neues. Aber er war neugierig, was Mimi über Gab zu sagen hatte. Schließlich hatten Gab und er sie schon beim Spionieren erwischt. Irgendetwas Negatives musste es ja sein, sonst stünde der Ausdruck “fragwürdig“ nicht im Tagebuch. Ja und seltsam war gar kein Ausdruck dafür, bei dem, was ihm gerade so alles passierte. Lucas füllte das Glas Whisky noch mal auf. Ihn plagten wieder diese vielen Fragen. Allem Anschein nach funktionierte das Tagebuch nur am Ende eines Tages. Zumindest war das jetzt seine aktuelle Schlussfolgerung, warum heute Nachmittag noch nichts darin stand.

»Nana, ich wünschte du wärst hier und könntest mir das alles erklären.«, sagte er laut, trank noch einen Schluck und zündete eine Zigarette an.

Warum bloß war in ihrem Abschiedsbrief nicht der Hauch einer Erklärung für dieses Tagebuch.

„Alles im Leben hat seine Bedeutung.“, hörte er seine Großmutter in Gedanken.

Lucas hatte keine Lust auf Fernsehen, dafür war er viel zu müde. Er war auch zu müde, um sich jetzt weiter mit den ganzen Fragen zu beschäftigen. Er trank seinen Whisky aus, ging dann erst ins Bad und anschließend direkt ins Bett. Alles in allem wusste er ja jetzt, dass er morgen einen entspannten Tag haben würde und mit diesen positiven Gedanken schlief er friedlich ein.

TAG 5

Lucas erwachte am nächsten Morgen völlig entspannt und ausgeruht. Es war 9.30 Uhr. Demnach hatte er sage und schreibe zehn Stunden geschlafen und dass ohne besondere Vorkommnisse. Er stand auf, ging ins Bad und anschließend frühstückte er in aller Ruhe. Es war ein wunderschöner, sonniger Frühlingstag am Stadtrand von Moonville. So saß er in der Küche, in seinen Homer Simpson Boxershorts und Van Halen T-Shirt, aß seine Cornflakes und trank seinen Kaffee.

„Alles im Leben hat seine Bedeutung!“

Mit diesem Satz verdrängte er alle Fragen, die ihm gerade jetzt auch ziemlich sinnlos vorkamen. Außerdem erwartete ihn höchstwahrscheinlich ein ruhiger Tag und deshalb beschloss er den Tag einfach nur zu genießen. Nachdem er gefrühstückt hatte, machte er sich auch gleich an die Arbeit. Der alte, mit Rostflecken übersäte, Rasenmäher hatte seine besten Zeiten schon lange hinter sich gelassen und Lucas hatte, wie immer, sehr viel Mühe das alte Ding überhaupt ans Laufen zu bekommen. Aber letztendlich schaffte er es doch. Der Vorgarten war nicht besonders groß und so war er relativ schnell damit fertig. Anschließend ging er hinter das Haus und begann damit die Blumenbeete vom Unkraut zu befreien. Die frische Luft tat ihm wirklich richtig gut und das Unkraut zu jäten machte ihm sogar Freude, denn er wusste, dass seine Großmutter ihren Blumengarten über alles liebte. Alles begann langsam zu blühen und es duftete nur so nach Kindheit. Er half seiner Großmutter gerne bei der Gartenarbeit. Als er das letzte Stückchen Unkraut auf dem Komposthaufen entsorgte hatte, ging er wieder in den Vorgarten, denn er musste den Rasenmäher wieder in dem kleinen Schuppen, der weiter hinten im Garten stand, verstauen. Er hatte ihn gerade verstaut, da tippte ihm Mimi von hinten auf die Schulter.

»Uahhh…«, schrie Lucas auf. »…verdammt Mimi, musst du dich so anschleichen.«

»Tut mir Leid Junge, aber ich muss mal mit dir reden…«, sagte Mimi mit ernster Miene. »…Unser neuer Nachbar ist mir nicht ganz geheuer! Letzte Nacht habe ich gesehen, dass bei ihm Licht brannte und ich habe mehrere Schatten hinter den Fenstern gesehen.«

»Es gibt Leute, die kriegen auch schon mal Besuch.«, antwortete Lucas.

»Und warum standen dann keine Autos vor der Tür?

Außerdem geht das jede Nacht so, seitdem der hier wohnt!«, entgegnete Mimi.

»Sag mal, solltest du Nachts nicht schlafen?«

»Ach, Hank schnarcht mich doch jede Nacht wach und dann muss ich zur Toilette und da habe ich das jedes Mal gesehen. Keiner betritt oder verlässt das Haus außer ihm.« Lucas war enttäuscht. Er hatte sich innerlich schon auf eine Skandalgeschichte eingestellt und stattdessen kam Mimi mit einer Geschichte, die sie wahrscheinlich nur geträumt hatte. Es bestand kein Zweifel daran, dass Gab ihm nicht ganz geheuer war, aber diese Geschichte konnte er nicht wirklich ernst nehmen. Selbst wenn es so wäre konnte Mimi ja unmöglich 24 Stunden am Tag am Fenster stehen und immer genauestens beobachten, wer dort rein oder raus ging. Andererseits war er neu in der Stadt, wen sollte er hier schon kennen? Aber er schien auch lebenslustig zu sein, vielleicht hatte er sich ja hier eine Drittfrau angelacht.

»Na, dann werde ich das auch mal beobachten.«, sagte er, um die alte Dame etwas zu beruhigen.

»Du bist schon ein ganz lieber Junge…«, sagte Mimi. »…Warte, ich habe von gestern noch etwas Nudelauflauf übrig, den bringe ich dir gleich mal rüber.«

Lucas freute sich darüber, denn er war von der Gartenarbeit hungrig und vor allen Dingen konnte er etwas Frisches essen, statt eines der Mikrowellengerichte. Mimi lief schnell hinüber und drückte ihm anschließend eine Auflaufform in die Hand. Er bedankte sich mit einem Küsschen bei ihr, die gleich darauf auch wieder schnell zurück lief. Lucas ging ins Haus und stellte den Auflauf in den Backofen, um ihn aufzuwärmen. In der Zwischenzeit zog er sein verschwitztes T-Shirt aus und erfrischte sich etwas im Bad. Der Auflauf war schlichtweg der Hammer, wie alles, was Mimi in ihrer Küche fabrizierte und so aß er die noch recht üppige Portion ganz auf. Gut gesättigt ging er ins Wohnzimmer um sein angekündigtes Nickerchen zu machen. Frische Luft, Gartenarbeit und ein gutes Essen machen aber auch ganz schön müde. Er schaltete den Fernseher an und schlief mit der Gerichtssendung Texas Justice im Hintergrund ein.

Als er wieder erwachte war es bereits 18.00 Uhr. Der Tag war wirklich außergewöhnlich entspannend. Er setzte sich auf und überlegte, was er mit der restlichen Zeit, bis zu seiner Schicht anstellen sollte. Er hatte so dermaßen gut geschlafen, er hätte Bäume ausreißen können. Also fasste er den Entschluss jetzt doch mal in das Schlafzimmer seiner Großmutter zu gehen. Langsam ging er die Treppe hinauf, blieb vor der Tür stehen und atmete tief durch. Vorsichtig öffnete er die Tür und ging hinein. Das ganze Zimmer war übersät mit Familienfotos aus glücklichen Tagen. Er sah das Hochzeitsbild seiner Großmutter und auch das seiner Mutter. Das ganze Leben seiner Familie war an diesen vier Wänden dokumentiert. Er kannte jedes einzelne Bild. Einige davon hatte er als kleiner Junge selbst fotografiert und auch zwei seiner selbst gemalten Kunstwerke aus seiner Kindheit, zierten die Wände. Lucas empfand plötzlich Freude diese Bilder zu sehen, denn sie erinnerten ihn an eine unbeschwerte Kindheit und an eine großartige Frau. Er verspürte Lust noch mehr Bilder anzuschauen und nahm eines der großen Fotoalben nach dem anderen aus dem Wandregal, das sich über der Kommode befand. Zuletzt nahm er das Album, auf dem in großen Buchstaben „Lucas“ stand in die Hand. Er schaute sich jedes Foto ganz genau an und ließ die einzelnen Situationen in seinen Gedanken Revue passieren.

Oft huschte ihm ein Grinsen übers Gesicht, denn meistens machte er auf den Bildern Faxen. Auf einem Bild, da waren sie auf dem Jahrmarkt. Er konnte sich auch noch ganz genau daran erinnern, schließlich bekam er dort das erste Mal in seinem Leben leuchtend blaue Zuckerwatte. Es entzog sich auch nicht seiner Erinnerung, dass sein Vater dieses Foto gemacht hatte. Er stand vor seiner Großmutter, seiner Mutter und seinem Großvater, an den er sich aber nicht mehr so richtig erinnern konnte. Das war auch das letzte gemeinsame Foto mit seinem Großvater, denn kurze Zeit später verstarb er an einem Herzinfarkt. Die Zuckerwatte war doppelt so groß wie sein Kopf. Lucas lächelte, denn das war wirklich ein wunderschöner Tag. Es war einer der seltenen Tage, an denen die ganze Familie mal etwas zusammen unternahm, dachte er. Doch plötzlich stockte ihm der Atem. An seinem Verstand zweifelnd rieb er sich die Augen. Er konnte einfach nicht glauben, was er auf dem Foto im Hintergrund sah. Links hinter seiner Großmutter, ein Stückchen weiter im Hintergrund, da stand SIE. Lucas warf das aufgeschlagene Album auf das Bett, rannte hinunter in die Küche und holte die Riesenlupe seiner Großmutter aus der Krims-Krams Schublade. In Windeseile spurtete er die Treppen wieder hinauf, nahm das Album und schaute sich das Bild unter der Lupe an. Es gab nicht den geringsten Zweifel. Sie war es, die alte Frau aus dem Bus und dieselbe alte Frau, die er im Krankenhaus sah. Sein Verstand sagte ihm, das kann nicht sein. Diese Frau musste eine andere sein, aber dieses Lächeln im Gesicht der Frau…

Lucas wurde kreidebleich. Diese Frau sah im Bus schon so aus, als wäre sie weit über 80 Jahre alt und auf dem Foto wirkte sie keinen einzigen Tag jünger. Das konnte einfach nicht sein. Er starrte auf das Foto und es gab für ihn nicht den geringsten Zweifel. Das war sie und sie trug sogar das selbe Kleid. Er legte das Album und die Lupe beiseite und ging hinunter in die Küche. Er war verwirrt und hätte am liebsten einen Schnaps getrunken, doch er schaute auf die Uhr. Mittlerweile war es 21.20 Uhr. Auf seiner Bilderreise hatte er völlig die Zeit vergessen. In dem Wissen, dass er bald zur Arbeit fahren musste, zündete er sich lediglich eine Zigarette an und ging ins Wohnzimmer. Er schlug das Tagebuch auf und durchsuchte es nach einem neuen Eintrag. Er hoffte dort vielleicht eine Erklärung zu finden. Bestimmt würde dort stehen, dass er sich das nur einbildete. Aber da war nichts. Kein neuer Eintrag. Enttäuscht nahm er das Tagebuch, stopfte es in seine Jackentasche und zog diese auch sogleich an. Lucas löschte das Licht, ging zu seinem Wagen und stieg ein. Wer zum Teufel war diese Frau? Er war völlig durcheinander.

So wie es einem Menschen geht, der verzweifelt versucht etwas zu verstehen, was absolut unmöglich erscheint.

Als er am Krankenhaus ankam, konnte er sich noch nicht einmal an die Fahrt dorthin erinnern, so überfordert war er. Warum stand über diese alte Frau, die ihn zu verfolgen schien, nichts in dem Tagebuch. Er parkte den Wagen, stieg aus und ging hinein. Ein stechender Kopfschmerz machte sich langsam breit. Eigentlich hatte er so gut wie nie Kopfschmerzen, außer er hatte einen ganz üblen Kater. Aber heute bat er das erste Mal Jenny um eine Tablette. Er wusste, dass sie immer welche dabei hatte.

»Geht’s dir nicht gut?«, fragte sie besorgt, während sie ihm die Tablette und ein Glas Wasser reichte.

»Doch, doch, ich hab nur etwas Kopfschmerzen.«, antwortete er.

»Hey, das beste Team der Welt ist wieder beisammen...« Shawn stieß die Tür auf und warf seine Tasche vor seinen Spind. »…He, was ist los, Alter? Du siehst aus, als hättest du drei Tage durchgefeiert…«, sagte Shawn, legte seinen Arm um Lucas Schultern und schaute Jenny an. »…Na, mit dir wollte Laura wohl auch nicht mehr zusammenarbeiten, was!«

»Ja, anscheinend.«, antwortete Jenny, die gleich darauf genervt den Raum verließ.

»Was hat die denn?«, fragte Shawn.

»Ich weiß auch nicht, muss wohl an dir liegen.«, sagte Lucas.

»Das verstehe ich nicht, ich bin doch ein echter Frauentyp, oder?«

Ein Lächeln huschte über Lucas Gesicht. Einen Moment lang überlegte er, ob er Shawn von seinen Erlebnissen erzählen sollte, aber es blieb nur bei der Überlegung. Die Pflicht rief und so, wie er es versprochen hatte, schaute er zuerst bei Miss Keane herein. Miss Keane war schon fast eingenickt, öffnete aber die Augen, als sie seine Schritte wahrnahm.

»Oh - Lucas, schön dass wir uns noch mal sehen.«

»Wie geht es ihnen denn heute?«

Er nahm ihre Hand, die sie ihm entgegenstreckte.

»Wenn ich sie sehe geht es mir immer gut.«

Er lächelte und nahm das Krankenblatt, das am Fußende des Bettes außen in einer Halterung hing.

»Morgen früh um sechs ist ja ihre Operation. Denken sie daran, dass sie heute nichts mehr trinken und essen.«

»Das weiß ich doch, mein Junge.«, sagte Miss Keane und er lächelte.

Wem sagte er das auch? Diese Frau hatte schließlich schon mehr Operationen hinter sich gebracht, als jeder andere, den er jemals in diesem Krankenhaus traf.

»Sie gefallen mir heute aber gar nicht, Lucas, sie sehen so blass aus.«

»Ich habe nur ein bisschen Kopfschmerzen, die gehen aber sicher gleich weg. So und jetzt wird aber gleich geschlafen.« Er schüttelte ihr Kopfkissen auf und setzte sich zu ihr auf die Bettkante. Miss Keane lächelte und griff wieder nach seiner Hand.

»Wenn ich sie nicht hätte - sie sind ein wahrer Engel. Ihre Großmutter ist ganz bestimmt furchtbar stolz auf sie!«

»Und ich bin stolz auf sie, wie sie das alles verkraften und

sich nicht unterkriegen lassen.«

Miss Keane drückte seine Hand und lächelte.

»Das Leben ist etwas sehr Schönes und ich habe es immer als Geschenk betrachtet, auch wenn ich meine Zeit in den letzten Jahren mehr hier verbracht habe als zu Hause. Zeit ist das kostbarste was der Mensch besitzen kann und ich bin dankbar für jede Sekunde, in der ich geatmet habe!«

Lucas schluckte und schaute sie an. Sie lag da und lächelte ihn an. Es klang für ihn ein bisschen nach Abschied für immer. Liebevoll tätschelte er ihre Hand.

»Sie werden noch genug Zeit haben. Es wird schon alles gut

gehen. Schließlich operiert sie der Chef höchstpersönlich.« Miss Keane nickte schweigend.

»Wir sehen uns dann morgen früh! Aber jetzt wird geschlafen. Ihr Körper braucht morgen sehr viel Kraft«

»Auf Wiedersehen, Lucas.«, sagte Miss Keane, als er schon an der Tür stand.

»Gute Nacht, Miss Keane.«

Er verließ das Zimmer. Ein bisschen seltsam war das schon, so hatte sie sich aus seiner Sicht noch nie vor einer Operation verhalten. Aber sie wurde ja auch schließlich nicht jünger und mit zunehmendem Alter werden die

Menschen nun einmal auch ängstlicher. Das war nicht sein erster Fall.

TAG 6

In dieser Nacht ging es auf der Station sehr viel hektischer zu als sonst. Auf Zimmer 312 lag ein Mann, der die halbe Nacht hindurch randalierte. Er rief die ganze Zeit nach seiner bereits vor Jahren verstorbenen Frau und warf immer wieder die Stühle in seinem Zimmer um. Zwei Notfälle, die auf der Station landeten, mussten auch noch ordentlich versorgt werden. Lucas war in der Hektik gefangen. Immer dann, wenn er zwischendurch daran dachte eine kurze Pause einzulegen und einen Blick ins Tagebuch zu werfen, wurde er in ein anderes Zimmer gerufen. Eine Frau, die sich in ihrem Bett erbrochen hatte, ein Mann, der aus dem Bett gefallen war, kurzum, diese Nacht war alles andere als ruhig. Als er sich das erste Mal eine kleine Zigarettenpause an der frischen Luft gönnte, da war es bereits fast halb Sechs und seine Schicht in einer halben Stunde vorüber. Er war geschafft. So eine unruhige Nacht war in dem Krankenhaus in dieser kleinen Stadt eher nicht die Regel. Lucas ging wieder hinauf auf die Station. Jetzt war endlich wieder Ruhe eingekehrt. Er ging in das Zimmer von Miss Keane, um sie für die Operation vorzubereiten. Als er das Zimmer betrat schien sie noch friedlich in ihrem Bett zu schlafen. Lucas drückte den Schalter für das gedämpfte Nachtlicht und ging langsam auf das Bett zu um sie behutsam zu wecken.

»Miss Keane.«, flüsterte erst leise.

Er bemerkte, dass er auf Etwas, das am Boden lag, getreten war. Als er nach unten schaute lag dort ein Skalpell - ein blutiges Skalpell. Lucas ging in die Knie und starrte es an. Schließlich nahm er es vorsichtig in seine Hand. Er hob den Kopf und bemerkte, dass das Bettlaken an der Seite voller Blut war. Eine leblose Hand schaute unter der Bettdecke hervor.

»Miss Keane?«, flüsterte er abermals und mit zittriger Stimme.

Doch Miss Keane rührte sich nicht. Wie in Trance stand er langsam auf und hob vorsichtig die Bettdecke an. Im ersten Moment dachte er nach dem „Auf Wiedersehen“ von gestern Abend an Selbstmord. Doch was sich dann seinen Augen offenbarte war alles andere als das. Miss Keane war vom Kehlkopf an bis ganz nach unten der Länge nach komplett aufgeschlitzt. Sie lag dort splitternackt und ihre inneren Organe quollen aus dem Bauchraum. Ihre Hände ragten links und rechts waagerecht über die Bettkanten hinaus und ihre Beine lagen über Kreuz. Sofort schrie er um Hilfe und drückte wie ein Verrückter den Alarmknopf neben dem Bett. Ihm war sofort klar, dass kein Arzt dieser Welt sie hätte retten können. Dieser Anblick war selbst Jenny zu viel, die als Erste ins Zimmer gestürzt kam. Sie hielt sich den Mund unter leisen Würgegeräuschen zu. Lucas stand wie versteinert da, während ihn die herbeigeeilten Ärzte unsanft beiseite stießen. Doch auch ihnen war sofort klar, dass man an dieser Frau keine Wiederbelebungsmaßnahmen mehr durchführen konnte. Lucas ließ das Skalpell schließlich auf den Boden fallen und schaute mit weit aufgerissenen Augen auf seine Hand an der sich ihr Blut befand.

»Wir müssen die Polizei rufen….«, rief Doktor Fuller. »…Los, sagen sie Lucy Bescheid!«, und Jenny verließ sofort fluchtartig das Zimmer. Alle Anderen stürmten in das Zimmer hinein, sogar die Kollegen von der Frühschicht, die bald ihren Dienst beginnen wollten.

»Wer tut so etwas?«, sagte Lucas völlig verstört.

Er starrte noch immer geschockt auf seine mit Blut verschmierte Hand. Dann schaute er auf das Gesicht von Miss Keane. Man sollte annehmen, dass ihr Gesicht verkrampft und voller Angst sein musste, aber das war es ganz und gar nicht. Im Gegenteil, er glaubte sogar ein kleines Lächeln in ihrem Gesicht zu entdecken, wie jemand, der gerade einen

schönen Traum hat. Das war verrückt! Das war sogar total verrückt! Jetzt stürmte Lucas aus dem Zimmer und stand im Flur. Sowie er seine Augen von seiner blutigen Hand nehmen konnte, fiel sein Blick zum Ende des Ganges auf die Fahrstuhltür.

»Haltet den Fahrstuhl auf!!!«, brüllte er und rannte los. Hilflos musste er mit ansehen, wie sich die Fahrstuhltüre vor seinen Augen schloss und mit ihm verschwand SIE. Er drückte wie besessen den Knopf des Fahrstuhles, aber es war zu spät, der Fahrstuhl hatte sich bereits in Bewegung gesetzt. Lucas rannte zur Tür, die zum Treppenhaus führte und lief so schnell er nur konnte die Treppe hinunter. Schließlich fand er sich in der kleinen Eingangshalle wieder und drehte sich hilflos im Kreis herum in der Hoffnung, dass er schneller unten war als sie. Der Fahrstuhl kam unten an, öffnete sich und er war leer. Von Steve am Empfang war nichts zu sehen. Lucas lief zum Ausgang, riss die Tür auf und rannte Sarah, die plötzlich vor ihm stand, fast über den Haufen.

»Lucas, wie siehst du denn aus?«

»Hast Du die alte Frau gesehen?«

»Welche alte Frau? Nein, ich habe niemanden gesehen. Ich komme gerade von den Johnsons und dachte ich lade dich zum Frühstück ein!«

Lucas blickte hektisch hin und her und hörte ihr überhaupt nicht zu.

»Aber ich glaube, das ist kein guter Zeitpunkt, was?«, sagte Sarah.

Lucas, der so geschockt war wie noch nie zuvor in seinem Leben, antwortete noch nicht einmal auf die Frage, drehte sich um und lief wieder zurück.

»Danke, hat mich auch gefreut dich zu sehen!«, rief ihm Sarah noch hinterher, ging zu ihrem Wagen und fuhr davon.

Lucas lief zum hinteren Eingang des Krankenhauses, aber auch dort war nichts mehr von der alten Frau zu entdecken. Überhaupt niemand war dort zu sehen. Er stand da und zog seine Zigaretten, die er noch in seiner Hosentasche hatte heraus. Resigniert ließ er sich auf den Bürgersteigrand fallen und rauchte eine Zigarette. Von weitem hörte er, wie die Sirenen der Polizei immer näher kamen. Angewidert betrachtete er das nun mittlerweile getrocknete Blut an seiner rechten Hand. Diese alte Frau musste es gewesen sein, da gab es für ihn nicht den geringsten Zweifel. Lucas rauchte seine Zigarette hektisch auf ging wieder nach oben, wo bereits die Polizei auf ihn wartete.

»Sind sie Mr. Wilkins, der sie gefunden hat?«, fragte Captain Jack Walden.

Lucas nickte schweigend, während Captain Walden das Blut an seiner Hand bemerkte.

»Hallo - Hören sie mir bitte alle mal einen Moment zu!

Ich möchte jetzt alle bitten, die in dieser Nacht Dienst hatten mich aufs Revier zu begleiten. Cross, Stanton, ihr verhört die Patienten und die Frühschicht, vielleicht hat jemand etwas gehört oder gesehen.«

Als sie einige Zeit später auf dem Revier eintrafen, mussten zuerst alle ihre Fingerabdrücke abgegeben und anschließend wurde jeder einzelne von ihnen befragt. Lucas wurde zusätzlich noch mit einem Wattestäbchen über die blutverschmierte Hand gestrichen. Es verging sehr viel Zeit, bis sich Captain Walden in dem kargen kleinen Verhörzimmer mit dem großen Spiegel an der Wand, in das sie Lucas schließlich brachten, blicken ließ. Ihm war völlig klar, wenn er von einer über 80 Jahre alten Frau als vermutliche Täterin erzählen würde, dann würden sie ihn direkt einsperren. Lucas versuchte nicht nervös zu wirken, obwohl ihm sein Herz bis zum Hals schlug. Er beschrieb genau wie er sie fand und sagte, dass ihm fürchterlich schlecht geworden wäre und er deshalb hinaus gelaufen sei, um einfach frische Luft zu schnappen. Er erzählte von seinem innigen Verhältnis zu Miss Keane. Ein Officer kam herein und unterbrach Lucas in seinen Ausführungen. Er übergab Captain Walden eine rote Mappe.

»Oh Gott, die haben schon eine Mappe von mir!«, dachte er.

»Mr. Wilkins, wie kommen denn ihre Fingerabdrücke auf die Tatwaffe?«

Lucas wiederholte sich, dass er erst das Skalpell am Boden bemerkte und aufhob, bevor er sah, dass Miss Keane tot war.

»Mhmm, und können sie mir denn auch erklären, warum Miss Keane ihnen ihren gesamten Nachlass vermacht hat?« Captain Walden legte ihm ein handgeschriebenes Testament vor, aus dem hervor ging, dass er der alleinige Erbe ihres Nachlasses war. Lucas war gerührt und erschrocken zugleich. Habgier, das klassische Mordmotiv.

Wo haben die das bloß so schnell herbekommen und was sollte er auf diese Frage bloß antworten. Er wusste, egal was er sagen würde, er war nun erst recht der Hauptverdächtige. Also erzählte er noch mal von seinem guten Verhältnis zu Miss Keane und dass sie ja sonst keinen Angehörigen auf dieser Welt mehr hatte.

»Eine andere Erklärung habe ich nicht dafür.«, sagte er.

»Okay, das wär’s fürs Erste, Mr. Wilkins. Falls ich noch Fragen habe, weiß ich ja wo ich sie finde, nicht wahr!« Schweigend und sichtlich eingeschüchtert verließ Lucas den Verhörraum und Lieutenant Caine kam herein.

»Und, was hältst du davon Jack?«

»Ich weiß nicht Dave, mein Gefühl sagt mir, der Junge hat nicht alles erzählt was er weiß.«

Lieutenant Caine berichtete ihm, dass alle Anderen die Geschichte von Lucas bestätigt hätten.

»Trotzdem, wir sollten ihn im Auge behalten….«, sagte Captain Walden nachdenklich. »…Irgendwas stimmt mit diesem Jungen nicht.«

Lucas war völlig fertig, als er so gegen 14.15 Uhr zu Hause ankam. Er schmiss sich auf das Sofa. Seine ganze Welt war seit dem Tod seiner Großmutter so was von aus den Fugen geraten und es wurde anscheinend immer schlimmer. Er zog das Tagebuch aus seiner Jackentasche. Schließlich hatte er ja die ganze Zeit nicht nachsehen können, ob ein neuer Eintrag darin war. Er starrte das Tagebuch an und schlug es schließlich auf.

Liebes Tagebuch!

Heute Nacht ist etwas Schreckliches passiert. Miss Keane wurde auf bestialische Weise umgebracht. Ich konnte ihr nicht mehr helfen. Sie war von oben bis unten aufgeschlitzt. Warum wird mir alles genommen, was mir am Herzen liegt? Für die Cops bin ich ganz sicher der Hauptverdächtige, denn ich bin ihr Erbe. Ich brauche wirklich Hilfe, ich ertrag das nicht mehr alleine.

Moonville, 22. März 2007

Voller Wut warf er das Tagebuch in Richtung Küche.

»Ich hätte sie retten können - Verdammt, hätte ich doch einmal in das beschissene Tagebuch sehen können!«, schrie er laut auf.

Und schon wieder stand nichts über diese verfluchte alte Frau in dem Tagebuch. Lucas war mit seinen Kräften total am Ende. Er wollte nur noch schlafen, er wollte nichts mehr hören oder sehen. Er ging hinauf ins Bad und befreite seine Hände erst jetzt von dem getrocknetem Blut und den noch leicht schwarz gefärbten Fingerspitzen. Anschließend ging er in sein Zimmer, stellte den Wecker, denn schließlich musste er um 22.00 Uhr wieder pünktlich zu seiner Schicht erscheinen. Die ganze Ausgeruhtheit vom Vortag war gänzlich verschwunden. Er machte sich nicht einmal mehr die Mühe seine Schuhe auszuziehen. Angezogen wie er war, ließ er sich auf das Bett fallen und schlief ein.

»Mein lieber guter Junge, du konntest sie nicht retten.«

»Nana?«

»Sie ist jetzt hier bei mir.«

Lucas stand im Garten und sah seine Großmutter vor dem großen Rosenbusch stehen.

»Was hat das alles zu bedeuten?«

»Du musst das tun, was ich nicht konnte…«

Der Radiowecker schaltete sich ein und er wachte auf. Es war nur ein Traum. Aber es war mal wieder ein sehr realer Traum. Was musste er tun, fragte er sich noch verschlafen und verfluchte den Radiowecker, den er mit einem kräftigen Fausthieb ausschaltete. Er zog frische Klamotten an und ging ins Bad. Dort schüttete er sich lediglich kaltes Wasser ins Gesicht. Er hatte keine Lust zu duschen, geschweige denn sich zu rasieren. Er ging hinunter in die Küche und rauchte eine Zigarette. So verrückt sich das für ihn auch anfühlte, aber seine Großmutter sendete ihm im Traum Botschaften - rätselhafte Botschaften. Er saß da, starrte auf das Tagebuch, das nach wie vor auf dem Boden lag und versuchte die Botschaften zu entschlüsseln. Zuerst sollte er das Tagebuch finden, das war Fakt. Und jetzt sollte er etwas tun, was sie nicht konnte. In diesem Moment wusste er, er brauchte dringend einen Verbündeten. Einer der ihm helfen würde das alles zu entschlüsseln und zu verstehen, auch wenn er vielleicht für verrückt erklärt werden sollte. Für ihn gab es eigentlich nur eine einzige Person, die sein vollstes Vertrauen besaß und das war Sarah. Lucas hob das Tagebuch auf und schaute hinein. Doch wieder mal kein neuer Eintrag. Der Tag war ja auch noch nicht vorbei.

Das klang logisch, sollte es doch so einfach sein? Jedes Mal, wenn das Tagebuch den nächsten Tag beschrieb, dann erst, wenn sein persönlicher Tag gelaufen war. Jeder Tag wird durch sein Handeln neu geschrieben, so stand es in der Widmung. So war es zumindest bisher. Noch einmal würde ihm das bestimmt nicht passieren. Heute würde er auf jeden Fall einen Blick in das Tagebuch werfen, egal ob Stühle fliegen oder Betten voll gekotzt werden würden.

Als Lucas auf der Station ankam befanden sich noch jede Menge Polizisten dort und befragten nach wie vor Patienten und Angestellte, die über den Flur liefen.

»Ey Alter, wie siehst du denn aus!«, sagte Shawn, als er den Aufenthaltsraum betrat.

»Ach halt doch die Klappe Shawn!«, sagte Jenny energisch. Ihr war völlig klar, weshalb er so aussah, schließlich hatte er sie gefunden.

»Na du siehst aber auch nicht wie das blühende Leben aus.«, konterte Lucas.

»Ich glaube die Bullen verdächtigen dich, Alter, die haben mir ja vielleicht komische Fragen über dich gestellt!«

»Kann ich mir denken. Miss Keane hat mir anscheinend ihr Vermögen hinterlassen.«

»Ach du Scheiße! Na jetzt wird mir einiges klar. Die glauben du hättest sie kalt gemacht, wegen der Kohle!«

»Ja, so sieht es wohl aus.«

»Hey psst, ich verrate nichts und wir machen Halbe-Halbe!« Shawn versuchte mit diesem Spruch Lucas etwas aufzuheitern. Der empfand ihn aber in diesem Moment einfach nur als geschmacklos, genauso wie Jenny, die auch nur den Kopf schüttelte. Lucas verließ genervt und ohne Kommentar den Raum.

»Na die Frau, die dich mal abbekommt, kann sich wirklich richtig glücklich schätzen!«, sagte Jenny sarkastisch und verließ ebenfalls den Aufenthaltsraum.

»Was habt ihr denn bloß?«, rief ihnen Shawn noch hinterher.

Lucas war mit seinen Gedanken nicht wirklich bei der Arbeit. Die Polizisten machten ihn nervös und obwohl er nichts verbrochen hatte, fühlte er sich dennoch schuldig. Er versuchte sich nichts anmerken zu lassen, denn er hatte das Gefühl permanent unter Beobachtung zu stehen. Diese Nachtschicht war wieder so ruhig, wie es normalerweise auch der Fall war. Moonville war ja schließlich keine Großstadt in der jede Nacht zig Verunglückte eingeliefert wurden. Lucas war übernächtigt und die Strapazen der letzten Nacht, ja, die konnte ihm jeder im Gesicht ansehen. Irgendwann waren auch die Polizisten bis auf einen verschwunden. Dieser setzte sich auf einen Stuhl im Flur und beobachtete alles und jeden, der dort entlang ging.

»Tut mir leid Alter, war wohl kein so guter Spruch eben.«, sagte Shawn kurze Zeit später, als sie sich auf dem Flur begegneten.

»Ist schon gut, ich weiß ja, von wem es kommt.«, antwortete Lucas versöhnlich, der generell kein nachtragender Typ war.

Außerdem mochte er ja den kleinen Chaoten. Und so kamen sie ihren Verpflichtungen nach und versorgten ihre Patienten.

TAG 7

Lucas machte instinktiv um Mitternacht eine kleine Pause in der Hoffnung, dass er etwas Neues zu lesen bekam. Er nahm seine Jacke und ging zum hinteren Eingang der Klinik. Etwas abseits des Einganges ließ er sich auf dem Bürgersteigrand nieder und zündete eine Zigarette an.

Er klappte das Tagebuch auf und las Folgendes:

Liebes Tagebuch!

Der Cop im Flur hat mich ständig beobachtet. Und überhaupt hatte ich das Gefühl, dass mich hier jeder für einen Mörder hält. Mr. Ward hat mich bis auf weiteres beurlaubt, immerhin bei voller Bezahlung. Er meinte, es wäre besser für die Klinik, bla, bla... Hab dann den ganzen Tag geschlafen. Am Abend habe ich Sarah zu mir gebeten und ihr alles erzählt. Ich glaube, sie glaubt mir.

Moonville, 23. März 2007

Beurlaubt, na das war ja ein Ding. Lucas schüttelte es. Er konnte nicht glauben, dass er beurlaubt werden sollte. Aber er wusste auch, dass er durch das Vermächtnis von Miss Keane nun mal ein wunderbares Mordmotiv lieferte. Nun gut, er konnte daran jetzt auch nichts mehr ändern. Wenn es so geschrieben stand, dann sollte es auch so sein, außerdem, wann kam man schon in den Genuss von bezahltem „Sonderurlaub“. Der letzte Satz des Eintrags stimmte ihn aber etwas nachdenklich. So würde er nur glauben, dass Sarah ihm die Geschichte abnehmen würde. Er musste sich also noch Gedanken machen, wie er ihr diese ganze Geschichte am besten erzählt. Er fuhr mit dem Fahrstuhl wieder hinauf und ging seinen Pflichten nach, natürlich unter den strengen Augen des Polizisten. Währenddessen wartete er die ganze Zeit darauf, dass Mr. Ward ihn zu sich rief, was er auch letztendlich am Ende seiner Schicht tat.

»Mr. Wilkins, bitte nehmen sie doch Platz.«

»Danke Sir.«

Lucas setzte sich vor den großen alten Schreibtisch aus dunklem Holz.

»Sie sehen ja nicht gut aus, Mr. Wilkins und sie wundern sich sicher, weshalb ich sie hierher bestellt habe…«

Lucas ließ sich nichts anmerken und versuchte ein erstauntes Gesicht zu machen. Mr. Ward lehnte sich in seinem High-Tech Stuhl zurück und spielte mit seinem goldenen Kugelschreiber.

»…Schauen Sie Mr. Wilkins, das was passiert ist, ist für mich noch völlig unfassbar! Für sie muss es ja noch schrecklicher sein, schließlich waren sie als Erster im Zimmer.

Sie müssen verstehen, ich persönlich glaube ja nicht, dass sie etwas damit zu tun haben, sie sind einer unserer besten Pfleger. Aber es geht hier um den guten Namen der Klinik, direkter gesagt um meinen guten Namen. Es tut mir sehr leid, aber ich muss sie suspendieren. Natürlich nur solange bis die ganze Sache aufgeklärt ist, versteht sich. Selbstverständlich erhalten sie ihre vollen Bezüge. Sehen sie, sie wissen doch wie das ist, es hat hier schon die Runde gemacht, dass sie geerbt haben und sie wissen ja, wie die Leute so sind...«

Lucas nickte schweigend. Jetzt wusste er auch, warum in dem Tagebuch “Bla, Bla“ stand. Von nun an hörte er gar nicht mehr richtig zu. Und ließ den schier endlos erscheinenden Monolog über sich ergehen.

»Ich verstehe schon, Sir.«, sagte er, als die Predigt zu Ende war.

Sie schüttelten sich die Hände und Mr. Ward verabschiedete ihn mit den Worten:

»Bis bald, sie hören dann von mir!«

Shawn und Jenny warteten bereits schon ungeduldig im Aufenthaltsraum, als Lucas ihn betrat.

»Und, was hat der Alte gesagt?«, fragte Shawn und auch Jenny starrte ihn erwartungsvoll an.

»Ich bin suspendiert.«

»Das kann er doch nicht machen, dann glaubt doch jeder hier erst recht, dass du was damit zu tun hast!«, sagte Jenny völlig entrüstet.

»Ist ja nur solange, bis die erkennen, dass ich keine Leute umlege…«, beruhigte er die Beiden.

Seine innere Stimme allerdings sagte ihm, dass er das Krankenhaus ganz sicher für eine sehr, sehr lange Zeit nicht mehr von innen sehen würde. »…Ich bin auch nicht gerade entzückt, aber es ist sicher besser so.«

»Tja, du hast wahrscheinlich Recht.«, sagte Shawn.

Jenny kämpfte mit den Tränen und starrte auf den Boden.

»Ich lad‘ euch mal auf ein Bierchen ein, schließlich werde ich für mein Nicht-Erscheinen bezahlt.«, sagte Lucas.

»Ich ruf‘ dich auf jeden Fall an und halte dich auf dem Laufenden.«, sagte Shawn.

Lucas bedankte sich, nahm seine sämtlichen Habseligkeiten aus dem Spind und verließ das Krankenhaus. Als er ins Auto stieg bemerkte er, dass sein Magen mächtig knurrte und so beschloss er bei Sally zu frühstücken.

»Na du siehst ja aus! Schlimm, was da bei euch passiert ist!«, sagte Sally, als er sich zu ihr an die verchromte Theke setzte.

»Kaffee, Schätzchen?«

Lucas nickte. Sally schenkte ihm eine Tasse Kaffee ein und er bestellte Pfannkuchen und Spiegeleier mit Speck.

Es war mittlerweile schon fast halb Acht und in Sallys Diner herrschte wie üblich zu dieser Zeit Hochbetrieb, deshalb hatte sie auch keine Zeit für ein kleines Schwätzchen. Lucas war froh, dass er nicht mit ihr reden musste, außerdem war er müde und hungrig. Vielmehr schaute er in die Zukunft und machte sich Gedanken darüber, wie er Sarah seine Erlebnisse am besten erzählt. Er dachte auch an Miss Keane. Lucas schlang sein Essen regelrecht herunter und ließ sich von Sally noch zwei Schoko-Muffins in eine Papiertüte packen. Gut gesättigt verließ er Sallys Diner und fuhr nach Hause. Unter Mimis neugierigen Blicken hinter den Gardinen stieg er aus dem Wagen. Sicher wusste auch sie schon Bescheid. Der Zeitungsjunge fuhr auf seinem Fahrrad vorbei und warf eine Zeitung auf Gab‘s Veranda. Lucas schlich sich dorthin - er konnte nicht anders, er musste einfach einen Blick auf die Titelseite werfen. Er nahm die Zeitung in die Hand und las:

„Blutbad in Moonville!

Wehrlose alte Frau bestialisch aufgeschlitzt“.

Er setzte sich auf die unterste Stufe der Veranda und las in aller Seelenruhe den Artikel, der sich über die gesamte erste Seite erstreckte. Dort stand, dass die Polizei noch keinen Tatverdächtigen hatte. Lucas atmete tief durch, vor Erleichterung. Insgeheim hatte er schon eine Hetzjagd auf seine Person befürchtet. Er legte die Zeitung wieder auf der Veranda ab und ging in sein Haus. Eigentlich hätte er dringend eine Dusche gebraucht, aber er war einfach zu müde und ignorierte den Schweißgeruch. Er wollte einfach nur schlafen. Sein Weg führte ihn direkt nach oben in sein Zimmer. Er warf die Tüte mit den Muffins auf das Nachtschränkchen, zog diesmal aber seine Sachen aus und ließ sich ins Bett fallen. Etwas beruhigt, dass nichts über einen Verdächtigen, geschweige ihn, in der Zeitung stand, schlief er einigermaßen entspannt ein.

Lucas stand auf und ging die Treppe, deren alte Stufen unter seinen Füßen knarrten, hinunter. Vorsichtig öffnete er die Hintertür in der Küche und stand wieder im Garten. Mister Fluffy, sein Kater, den er als Kind über alles liebte, streifte verschmust um seine Beine. Miss Keane stand lächelnd etwas weiter links am Rosenstrauch und roch an ihnen. Eine leichte Frühlingsbrise küsste seine Haut auf angenehme Art und Weise. Die Sonne strahlte und blendete ihn ein wenig.

»Lucas, mein lieber guter Junge.«

»Nana.«, hauchte er.

»Du musst zu ihm gehen, er weiß was zu tun ist, aber...« Seine Großmutter sprach weiter, aber er konnte nicht mehr verstehen, was sie sagte. Er sah, wie sich ihre Lippen bewegten und bemerkte ihren besorgten Gesichtsausdruck.

»Nana, ich kann dich nicht hören, zu wem soll ich gehen?«, schrie er.

Mister Fluffy verschwand und auch seine Großmutter und Miss Keane lösten sich plötzlich in Luft auf. Lucas erwachte aus seinem Traum. Er lag mit weit aufgerissenen Augen und einem starren Blick auf dem Bett. Der Traum war schon wieder so verdammt real. Er atmete schnell und war schweiß gebadet. Er stand auf und ging ins Bad. Draußen war es schon dunkel und er schaltete das Licht an. Er stand vor dem Waschtisch und starrte in den Spiegel. Mit der rechten Hand fuhr er durch sein schweißgetränktes braunes Haar. Er drehte den Wasserhahn auf und schüttete sich kräftig mit beiden Händen eiskaltes Wasser ins Gesicht. Dann fiel sein Blick auf die kleine Uhr, die im Badezimmer neben dem Spiegel hing und er stellte fest, dass er sage und schreibe fast 12 Stunden geschlafen hatte.

Es war kurz vor Acht und Lucas war verwirrt. Noch so eine Botschaft, mit der er nichts anfangen konnte. Ob es an ihm lag, dass er seine Großmutter nicht verstehen konnte? Ihm war klar, dass er dringend Unterstützung brauchte. In diesem Moment klingelte das Telefon unten in der Küche. Er lief Treppe hinunter und hob den Hörer ab.

»Lucas, wo warst du denn die ganze Zeit, ich versuche schon den ganzen Nachmittag dich zu erreichen!«

»Tut mir leid, ich hab geschlafen und anscheinend so tief, dass ich das Telefon nicht gehört habe.«

Sarah atmete tief durch.

»Hast du heute Abend schon was vor, ich würde dich gerne sehen.«, fragte er.

»Klar hab ich Zeit, aber musst du denn nicht in die Klinik, ich denke, du hast Nachtschicht?«

»Das erkläre ich dir dann, wenn du da bist.«

»Okay, gib mir eine Stunde.«

»Bis gleich.«

Lucas legte den Hörer auf und hatte ein ganz mulmiges Gefühl im Bauch. Aber er spornte sich selber an.

»Du machst jetzt keinen Rückzieher, du hast eine Stunde und stinkst wie ein Schwein.«

Er ging hinauf ins Bad um zu duschen. Die ganze Zeit überlegte er, wie er es anfangen sollte Sarah diese ganze Geschichte glaubhaft darzustellen. Letztendlich beschloss er, sich nicht verrückt zu machen und Sarah in Ruhe alles so zu erzählen, wie er es nun einmal erlebt hatte. Nachdem er geduscht und frisch rasiert war, ging er in sein Zimmer und nahm das Tagebuch aus seiner Jackentasche. Er warf einen kurzen Blick hinein, aber kein neuer Eintrag war sichtbar.

„War ja klar“, dachte er, griff die Tüte mit den Muffins und ging hinunter in die Küche. Er legte das Tagebuch auf den Tisch, setzte sich und zog einen Muffin aus der Tüte. Die letzte Viertelstunde in der er auf Sarah wartete erschien ihm schier endlos und das Ticken der Küchenuhr wurde immer lauter. Er saß da, starrte auf das Tagebuch und rauchte in der Zeit vor Nervosität eine Zigarette nach der Anderen. Endlich, es klopfte und gleich darauf kam Sarah herein. Sie umarmten sich und sie gab ihm ein Küsschen auf die linke Wange. Sarah hatte ein Six-Pack Bier dabei, das sie auf dem Tisch abstellte.

»So, jetzt erzähl mal…«, sagte Sarah, während sie zwei Dosen Bier öffnete und sich setzte. »…Das hat sicher mit dem Mord zu tun, stimmt’s?«, fragte sie und schob Lucas eine der Dosen zu.

Er holte tief Luft und nahm das Tagebuch in beide Hände.

»Damit hat alles angefangen.«

»Mit deinem Mädchen-Tagebuch?«

»Glaub mir Sis, das hier, das ist alles andere als ein Mädchen-Tagebuch.«

Und Lucas begann alles der Reihe nach zu erzählen. Er erzählte von der alten Frau im Bus, von den Eintragungen, von seinen Träumen und von dem Mord. Sarah saß einfach nur da und hörte zu. Er konzentrierte sich voll darauf, die Reihenfolge der Ereignisse einzuhalten, was nicht so ganz einfach war vor lauter Nervosität. Zwischendurch stand er immer wieder auf und schaute weiter erzählend aus dem Küchenfenster. Sie unterbrach ihn zu keiner Zeit. Sie stellte auch keine Fragen. Sie beobachtete ihn ganz genau und ihr Gesichtsausdruck ließ nicht das Geringste erkennen.

»Ich wusste, dass irgendetwas mit dir nicht stimmt!«, sagte Sarah, als er mit seinen Ausführungen am Ende war und er sie mit einem fragenden Blick erwartungsvoll anschaute.

»Du hältst mich für verrückt, stimmt’s?«

»Nein, nein, ich halte dich nicht für verrückt. Diese ganze Geschichte ist aber schon ziemlich ungewöhnlich, das musst du zugeben.«

Er nickte und nahm einen großen Schluck aus der Bierdose.

»Sarah, wir kennen uns schon unser ganzes Leben lang. Ich bin in den letzten zwei Jahren in denen wir uns nicht gesehen haben nicht verrückt geworden. Das musst du mir glauben!« Sarah fuhr mit ihren Händen durch ihre Haare und schaute leicht ungläubig auf das Tagebuch.

»Das heißt, wir müssen jetzt eine 80-jährige Mörderin suchen und einen Unbekannten, zu dem dich Nana im Traum geschickt hat.«

»Ich weiß wie das klingt, ich werde versuchen dir einen Beweis zu liefern.«, antwortete Lucas und zündete eine Zigarette an.

»Ich werde auf jeden Fall alles dafür tun, dass sie dich nicht wegen Mordes drankriegen!«, sagte Sarah und öffnete noch zwei Dosen Bier.

»Und du hast wirklich von dieser Miss Keane alles geerbt?«

»Ja.«

»Und dieselbe Frau stand im Traum mit deiner Großmutter

bei dir im Garten?«

»Ja!«

»Vielleicht sollten wir uns mal in ihrem Haus umsehen!«

Sarah nahm seine Hand in ihre und streichelte sie zärtlich mit der Anderen. Sie schaute ihm tief in die Augen.

»Ich will versuchen dir zu helfen!«

Lucas dachte an den letzten Satz im Tagebuch. Nein, ihre Reaktion und ihre Augen deuteten eindeutig darauf. Er konnte sich wirklich nicht sicher sein, dass sie ihm glauben würde. Leicht verlegen lächelte er sie an. Diese ganze Geschichte war auch wirklich zu abstrus. Hätte ihm jemand solch eine abenteuerliche Geschichte erzählt, er hätte mit Sicherheit auch kein einziges Wort geglaubt.

»Danke Sis, ich glaube mehr kann ich im Moment auch nicht von dir verlangen.«

Er nahm das Tagebuch und schlug es auf. In dem Moment dachte er, vielleicht könnte sie doch das Tagebuch lesen, jetzt, wo er ihr alles erzählt hatte. Aber die Seiten waren leer. Sarah schielte in das Tagebuch und sah die leeren Seiten. Sie ließ sich aber nichts anmerken, griff schnell zum Bier und trank einen großen Schluck. Enttäuscht schlug er das Tagebuch wieder zu.

»Lass mich mal eine Nacht darüber schlafen, Süßer.

Vielleicht fällt mir ja noch etwas ein, was wir sonst noch tun können.«, sagte Sarah und stand auf.

»Solange du mir morgen nicht die Männer mit der schicken weiße Jacke, die man auf dem Rücken zusammenbindet, auf den Hals hetzt.«

»Quatsch!…«, antwortete sie harsch. »…Schließlich müssen wir einen Mord aufklären.«

Sarah zog Lucas aus seinem Stuhl und ging mit ihm zur Tür.

»Willst du nicht heute Nacht hier bleiben?«

»Würde ich gern, aber ich muss morgen früh um 6.00 Uhr auf der Oldfield Farm sein.«

»Aber morgen ist doch Samstag.«

»Wir Landtierärzte sind doch immer im Dienst und Paul hat ihnen für morgen die Impfungen der Schweine versprochen. Sobald ich fertig bin komme ich rüber, okay!«

Sie gab ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange und verschwand. Lucas war dann doch von ihrem plötzlichen Aufbruch überrascht und stand noch eine Weile an der Türschwelle. Wie gerne hätte er noch länger mit ihr über alles gesprochen. Aber er fühlte sich auch von einer schweren Last befreit. Egal, wie sie damit umgehen würde, er hatte sich einfach mal alles von der Seele geredet und das tat ihm verdammt gut. Es blieb aber nun doch die Frage offen, ob sie ihm wohl glauben würde? Er war sich nach wie vor nicht sicher. Eigentlich kannte er Sarah in und auswendig, aber das war ja schließlich nichts alltägliches, das man mal eben so erzählt. Er konnte ihre Reaktionen nicht deuten. Vielleicht hatte sie sich auch verändert. Schließlich war der Kontakt während ihrer Studienzeit weniger intensiv. Auf dem Küchentisch standen noch zwei unberührte Dosen Bier. Er setzte sich zurück an den Tisch und öffnete noch eine Dose. Er schaute zur Uhr und sah, dass es mittlerweile doch schon kurz nach 23.00 Uhr war. Im Grunde konnte ihm die Zeit ja nun völlig egal sein, so als Suspendierter. Sein Gefühl sagte ihm, dass sein Tag vorüber war und so war es an der Zeit das Tagebuch zu lesen. Er zündete noch eine Zigarette an, bevor er es aufschlug.

Liebes Tagebuch!

Heute Vormittag habe ich Mimi ihre Auflaufform zurück gebracht.

Sarah kam dann so gegen Mittag und hat die Adresse von Miss Keane ausfindig gemacht. Wir sind dann zu dem Haus gefahren, das war total verrückt, aber jetzt weiß ich tausendprozentig, dass sie mir glaubt! Wir haben Gab getroffen. Er hat eine seltsame Bemerkung gemacht, die ich nicht verstehe.

Moonville, 24.03.2007

Lucas lehnte sich beruhigt zurück. Wenn Sarah sich morgen melden würde, dann wusste er jetzt schon einmal, welche

Information sie für ihn haben würde. Das wollte er ganz klar zu seinem Vorteil nutzen, um sicher bestehende Zweifel ihrerseits auszuräumen. Nun konnte er sich sicher sein, dass ihre Zweifel verschwinden. Er fühlte sich jetzt unbeschreiblich erleichtert. Zufrieden lehnte er sich zurück und verschränkte seine Arme in seinem Nacken. Es war richtig ihr alles zu erzählen. Jetzt hatte er eine Verbündete. Er war so froh, dass er Victor Gab, den sie morgen treffen würden, nicht weiter in seine Gedanken einschloss. Es war phantastisch, dass sie Miss Keanes Adresse ausfindig machen würde, denn auch, wenn Moonville quasi ein Dorf war und er schon gefühlte tausend Mal ihre Akte in den Händen hielt, so kannte er Ihre Adresse nicht. Ja und bei all den Polizisten und der Tatsache, dass er suspendiert war sich ins Krankenhaus zu schleichen, kam auf gar keinen Fall in Frage. Er war jetzt hellwach und ihm fiel ein, dass er bei seinen Ausführungen doch noch etwas Wesentliches vergessen hatte. Er hatte vergessen Sarah das Jahrmarktfoto zu zeigen. Das musste sie unbedingt sehen, schließlich war das ja noch ein Beweis. Er hatte sich solche Mühe gegeben und so ein wichtiges Detail einfach vergessen. Das ärgerte ihn jetzt maßlos. Er ging hinauf und nahm das Album, das noch immer samt Lupe auf dem Bett lag in seine Hände. Behutsam löste er das an den vier Ecken eingeklebte Foto heraus und ging wieder hinunter. Er nahm sein Bier und setzte sich ins Wohnzimmer. Er schaute das Bild an und nahm den letzten Schluck aus der Dose.

»Wir werden dich schon finden!«, sagte er laut.

TAG 8

19 Tage

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