Читать книгу Stollentod - Anett Steiner - Страница 5
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»Das Timing für meinen ersten Alleingang ist, nun ja, nicht gerade günstig!«
Hauptkommissar Ralf Lorenz von der Kripo Chemnitz wunderte sich über die Worte seiner sonst so selbstsicheren Kollegin, Kommissaranwärterin Annalena Krest. Der jungen Frau stand ein leicht gehetzter Ausdruck ins Gesicht geschrieben, der so gar nicht zu ihr passen wollte. War sie es nicht, die sonst immer an seinen veralteten Ermittlungsmethoden herumkritisierte und neuen Wind von der Polizeischule in den Dienstalltag bringen wollte? Jetzt hätte sie drei Wochen ungestört die Chance dazu und das schien ihr auch wieder nicht recht zu sein.
Lorenz runzelte die Stirn und war versucht, voller Unverständnis den Kopf zu schütteln, verkniff sich diese Geste aber, denn Annalena konnte sehr impulsiv sein, wenn sie sich unverstanden oder ungerecht behandelt fühlte. Als ihr Vorgesetzter wagte er die Vermutung, dass es hausgemachter Stress war, der seine Mitarbeiterin ein wenig aus ihrer eigenen Mitte zu bringen drohte. Er war ohnehin sicher, dass die Jugend von heute deutlich weniger belastbar und schneller reizbar war als zur Zeit seiner eigenen wilden Jahre, aber Annalena hatte er bisher anders eingeschätzt.
Lorenz schmunzelte beim Gedanken an seine eigene Sturm- und Drangzeit, die schon eine gefühlte Ewigkeit der Vergangenheit angehörte, die er aber sehr, sehr genossen hatte. Nicht minder genoss er seit einiger Zeit seinen zweiten Frühling, eine Tatsache, die zu großen Teilen der attraktiven Rechtsmedizinerin Roswitha Grimm zu verdanken war. Der früh verwitwete Beamte führte eine entspannte Beziehung mit dieser Frau. Anfangs hatten sich ihre Wege nur beruflich gekreuzt, und es war wohl Roswithas Beharrlichkeit und Feinfühligkeit zu verdanken, dass sich mehr daraus entwickelt hatte. Das Wunderbare daran war, dass sie die Zeiten ihres Beisammenseins zwanglos gestalteten und jedem Abschied eine gewisse Unverbindlichkeit anhaftete, die es selbst Lorenz unmöglich machte, sich beengt zu fühlen. Ganz im Gegenteil, je lockerer Roswitha die Zügel ließ, desto mehr fühlte er sich zu ihr hingezogen. Manchmal war sie beste Freundin, manchmal Kollegin, manchmal tröstete sie ihn über eine sentimentale Nacht und manchmal war sie seine Geliebte.
»Warum findest du das Timing ungünstig?«, erkundigte sich der Hauptkommissar höflich, auch wenn er sich die Antwort denken konnte.
»Das Timing Ihrer Kur. Ich verstehe, dass Sie endlich mal was für Ihren Rücken tun müssen, aber dass das ausgerechnet jetzt sein muss, wo ich doch umziehen will. Dass jetzt meine Bewährung in den nächsten Ermittlungen und der Stress des Umzuges zusammenfallen … Ich meine, ich muss Sie doch vertreten, wenn Sie nicht da sind – und nebenbei muss ich den Wohnungswechsel hinbekommen.«
Annalena wirkte seltsam blass, es schien ganz so, als fürchtete sie, dem anstehenden Pensum nicht gewachsen zu sein. Wie konnte er ihr aus dieser Gedankenfalle heraushelfen?
»Ich verstehe, dass dich das stresst«, räumte Lorenz ein. »Aber an meinem Termin für die Kur ist leider nicht zu rütteln. Die Maßnahme steht fest, und wenn ich das nicht durchziehe, bekomme ich ernsthaft Probleme mit Roswitha.«
Dabei hatte er alles andere als Lust auf den geplanten Kuraufenthalt. Aber sein Rücken rebellierte inzwischen ununterbrochen und das Maß seines Schmerzmittelkonsums war nicht länger zumutbar, wie Roswitha ihm versichert hatte. Dass er tatsächlich schon Magenschmerzen von dem Dauereinsatz des Zeugs verspürte, verschwieg er ihr deshalb vorsichtshalber und hatte ihrem Drängen klugerweise nachgegeben und sich um einen Hausarzt bemüht, den er bis dahin noch gar nicht gehabt hatte. Seit seine Frau Clara jung gestorben war, wollten seine Vorbehalte gegen Mediziner nicht weniger werden, wenn man Roswitha als Ausnahme von der Regel betrachten wollte. So hatte er aber schließlich den Kurantrag auf den Weg gebracht und auch genehmigt bekommen. Drei Wochen lang erwarteten ihn nun Heilbäder und Massagen, das konnte sicher nicht schaden. Und um mit Roswitha noch ein paar Jährchen mitzuhalten, musste er letztlich auch leidlich fit bleiben.
»Mein Umzug geht aber auch beim besten Willen nicht mehr zu schieben, meine Wohnung ist zum Ende dieses Monats gekündigt.« Annalena hatte beide Ellenbogen auf ihren Schreibtisch gestützt und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Sie sah tatsächlich ein wenig verzweifelt aus.
Lag das nur an dem vermeintlichen Stress, der ihr bevorstand, oder steckte etwas anderes dahinter, fragte sich Lorenz und murmelte:
»Ich kann verstehen, dass du dem Zeitgeschmack folgen und von der Stadt aufs Land willst. Ich halte es ihn Chemnitz auch nur aus, weil ich weiß, dass ich nach Dienstende wieder nach Hause fahren kann. Annaberg ist wunderschön, aber zum Glück nicht der Nabel der Welt, abends hat man seine Ruhe. Mal ehrlich: Niemand zwingt dich, nach Ehrenfriedersdorf zu ziehen.« Er lächelte mit einem Augenzwinkern und dem Plan, die Sache mit ein wenig Humor zu behandeln. Gerade bei Stress wirkte die richtige Einstellung Wunder, das wusste er aus eigener Erfahrung – und es war eine von Roswithas Lebensweisheiten.
Aber Annalena war dafür in ihrer momentanen Verfassung wenig empfänglich.
»Ich mach das ja auch nur für Lukas«, knurrte sie recht unglücklich.
Lukas, rief Lorenz sich in Erinnerung, war Annalenas offizielle erste große Liebe. Sie hatte den Kollegen auf einer Weiterbildung kennengelernt. Immer, wenn sie von ihm sprach, erröteten ihre Wangen und sie blickte verlegen zu Boden. Und Verlegenheit war zweifellos auch etwas, was ganz und gar nicht zu seiner taffen jungen Kollegin passte. Umso deutlicher verstärkte ihr Verhalten den Eindruck, dass sie sich heftig verliebt zu haben schien. Lorenz gönnte es ihr von Herzen. Niemand konnte immer nur arbeiten, das hatte er auch mal gedacht. Aber die Liebe gehört zum Leben, das begriff er mehr und mehr nach jedem Wochenende, das Roswitha bei ihm in Annaberg verbrachte.
Das Besondere an dem Haus, in dem er seit Jahren günstig zur Miete wohnte, waren die unlösbaren Probleme mit der Heizung und Warmwasserversorgung. Mehrere alteingesessene und renommierte Sanitärfirmen waren an dem scheinbar einfachen Auftrag gescheitert, für regelbare Temperaturen im Haus zu sorgen. Ein entnervter Klempner hatte sogar einen Fluch vermutet, weil sich das Problem einfach nicht aus der Welt schaffen ließ. Lorenz selbst hatte sich daran gewöhnt, dass es seit ewigen Zeiten kein warmes Wasser zum Duschen gab, und wenn doch, dann war es so heiß, dass Verbrühungen drohten. Mehrere neue Mischarmaturen hatten das nicht ändern können. Das Bemerkenswerte an der Rechtsmedizinerin seines Herzens war, Roswitha akzeptierte sogar das: kaltes Duschwasser. Und welche Frau war zu einer solchen Entbehrung schon regelmäßig bereit?
»Na, siehst du. Freu dich doch darauf, der Zukunft etwas Positives abzugewinnen. Ein gemeinsames Leben eröffnet einen völlig neuen Abschnitt im Leben. Das mag abgedroschen und altmodisch klingen, aber es ist so. Jeder sollte einmal die Chance geboten bekommen, sich wegen einer nicht richtig verschraubten Tube Zahnpasta in die Haare zu kriegen. Ich hab mir sagen lassen, getrennte Badezimmer wären auf Dauer ebenso gut für die Haltbarkeit einer Beziehung wie getrennte Schlafzimmer wegen Schnarchens.«
»Sie sind ja ein richtiger Experte, was Zweisamkeit angeht«, frotzelte Annalena. Immerhin schien sich ihre innere Anspannung etwas gelöst zu haben. Ihr Lächeln erreichte sogar die Augen. »Sicher haben Sie recht und ich sollte mich von dem Umzug nicht stressen lassen. Lukas hilft mir ja auch dabei. Außerdem lassen wir ein Umzugsunternehmen für uns schleppen. Ach, letztlich ist das Problem nur in meinem Kopf. So perfektionistisch, wie ich arbeite, bin ich auch privat, und in einem Leben zu zweit kann man nicht mehr alles zu hundert Prozent planen, sondern nur noch zu fünfzig.«
Und mit Kindern gar nicht mehr, wollte Lorenz gerade erwidern, verkniff sich den Einwurf aber im letzten Moment. Annalenas Selbsteinschätzung bedurfte keines Kommentars. Außerdem ging ihn ihr Privatleben nichts an, er respektierte sie als zuverlässige, intelligente und akribische Kollegin. Aber wenn man zu perfektionistisch war, stand man sich damit gelegentlich selbst im Weg. Auch diese Einsicht stammte aus Roswitha Grimms Weisheitensammlung und Lorenz wusste sie vor allem auf sich selbst anzuwenden.
»Du schaffst das schon alles«, ermutigte er sie. »Und wenn ich ehrlich bin, habe ich auch mehr Lust auf meine Arbeit als auf die Kur. Aber mit meinem Rücken kann es einfach nicht so weitergehen.« Er glaubte selbst nicht, dass er das sagte, seine ursprüngliche Meinung hatte anders ausgesehen. »Und ich hätte diesem Theater auch nicht zugestimmt, wenn ich für die Kur durchs halbe Land hätte reisen müssen. Aber wie du weißt, bin ich gar nicht weit weg, nur in Wiesenbad.«
Der Kurort Thermalbad Wiesenbad war, wie der Name erahnen ließ, für seine Therme bekannt. Die Kurklinik dort erschien Lorenz perfekt, weil sie nur sieben Kilometer von seinem Wohnort Annaberg-Buchholz entfernt war. Somit konnte kein Heimweh aufkommen. Der dazugehörige Kurpark war ihm von gelegentlichen Spaziergängen mit Roswitha bereits vertraut, das Kneippbecken und die Klanginsel würden ihn an schöne Stunden mit ihr erinnern. Es hätte sogar die Möglichkeit gegeben, Abend für Abend nach Hause zu fahren, aber Roswitha hatte ihm des ungestörten Erholungseffektes wegen davon abgeraten. Sie war der Meinung, dass der Hauptkommissar sich nur dann wirklich entspannen könnte, wenn Diensttelefon und Dienstplan zu hundert Prozent außer Reichweite waren. Sie mochte recht haben.
»Es beruhigt mich zu wissen, wo ich Sie finden könnte«, gab Annalena Krest zu. »Natürlich würde ich Sie niemals stören, nicht mal im Notfall, aber der Gedanke beruhigt mich eben.«
Auch dieses Geständnis erstaunte Lorenz sehr. Bisher hatte sich die junge Frau in ihrem gemeinsamen Dienstalltag bissig und selbständig dargestellt.
»Es wird aber keinen Notfall geben«, versicherte er ihr. »Und selbst wenn, du bekommst das hin. Immerhin konntest du jetzt schon ein Weilchen von mir lernen«, er zwinkerte ihr zu.
Sie lächelte ergeben und meinte dann:
»Es sind ja auch nur drei Wochen. Und wetten wir, dass ich bald mehr über Ehrenfriedersdorf wissen werde als Sie?« Sie spielte damit auf Lorenz’ Leidenschaft für Heimatkundliches an.
»Das werden wir ja sehen. Interessant ist Ehrenfriedersdorf allemal, das kann ich dir jetzt schon versprechen. Und da meine ich nicht nur die Geschichte von der längsten Schicht im Saubergstollen, die ohnehin jeder kennt!«
Glaubte man dieser Sage, so war am 25. November 1508 ein junger Bergmann verschüttet worden, dessen Leiche man beinahe auf den Tag genau sechzig Jahre später barg, angeblich ganz ohne Verwesungsspuren. Eine mystische Heimatgeschichte ganz nach Lorenz’ Geschmack. Was das Erzgebirge und seine Geschichten und Bräuche anging, war er höchst informiert und interessiert, was nicht zuletzt seiner Tätigkeit für den Heimatverein geschuldet war, die ihn über die schwere Zeit nach Claras Tod hinweggetragen hatte.
»Du wirst deinen Umzug schon nicht bereuen. Ländlich lebt es sich einfach ein bisschen entspannter als in der Stadt – so sehe ich das. Und für mich funktioniert der Job auch nur so, ich muss am Abend genügend Abstand zwischen mich und das Revier bringen können«, gab Lorenz zu.
»Und das sagt mir jemand, der seine ungelösten Fälle am liebsten übers Wochenende mit nach Hause nehmen würde«, prustete Annalena mit gespielter Empörung.
»Was sich gelegentlich auch gelohnt hat«, erwiderte der Hauptkommissar im Brustton der Überzeugung. »Immerhin konnte ich so die Akte Karina Baumann endlich schließen – nach sechzehn Jahren, wie du weißt.«
Die Kommissaranwärterin nickte. Sie erinnerte sich an Lorenz’ Bemühungen im Fall einer Dreizehnjährigen, die nahe dem Thalheimer Christelgrund verschwunden war. Die Sache hatte ihm keine Ruhe gelassen, bis es ihm endlich, nach so vielen Jahren, gelungen war, dazu beizutragen, dass ihre Gebeine doch noch die letzte Ruhe auf dem Stollberger Friedhof fanden.
»Ja, das stimmt natürlich. Sicherlich werden Sie genauso beharrlich dafür sorgen, dass mir nichts, was ich über meine neue Wahlheimat wissen muss, entgeht.«
Kurz resümierte Lorenz in Gedanken, was er über Ehrenfriedersdorf erzählen könnte, wenn man ihn vorn in einen Reisebus setzen und ihm ein Mikro in die Hand drücken würde. Eine ganze Menge. Dann legte er gegenüber seiner Mitarbeiterin los: Für Spaziergänge und Wanderungen standen der Saubergwald und der Wald bei den Greifensteinen zur Verfügung. Natürlich war auch der Bergbau prägend für den Ort gewesen, schon um 1240 soll im Seifenthal Zinn aus den Steinen gewaschen worden sein, das kleine Bächlein plätscherte bis heute. Dort, wo heute die Hormersdorfer Jugendherberge steht, befand sich früher ein Arsenikwerk, im Volksmund »Gifthütte« genannt. Während des Zweiten Weltkriegs mussten Zwangsarbeiter nicht nur dort, sondern auch bei der Dammerhöhung des Greifenbachstauweihers schuften. Seit 1968 war der Geyrische Teich ein beliebtes Naherholungsgebiet, seinen Ursprung hatte er als einer der ältesten Stauseen im Erzgebirge bereits vor sechshundert Jahren, als er als Wasserspeicher für den Bergbau angelegt worden war. Er speiste den Greifenbach, der dann in den Röhrengraben abgeleitet wurde, und den der in landesherrlichen Diensten stehende Hieronymus Lotter laut einer legendären Erzählung nach Geyer umleiten ließ, so dass die Ehrenfriedersdorfer, die sich selbst oft kurz »Ehrendorfer« nannten, kein Wasser für den Bergbau mehr hatten, wodurch bis in die Gegenwart eine gewisse Diskrepanz zwischen beiden Orten zu herrschen schien. Der Röhrengraben führt direkt zum Sauberg, an seinem Verlauf finden sich bis heute alte Stollen und bergmännische Ruinen. Auf halbem Weg kommt man beim »Jahn Kasper« vorbei, der selbst Bergmann im Sauberg war und den Spitznamen von seinen Kollegen erhielt – jetzt konnte man sich bei ihm einen Imbiss gönnen. Wer in der Vergangenheit genug kriminelle Energie in sich getragen hatte, um darüber nachzudenken, wen er gern hätte verschwinden lassen, dem dürfte die Ehrendorfer Binge in die Hände gespielt haben, ein »großes Loch« unterhalb der Greifensteine, circa fünfundzwanzig Meter tief und teilweise mit Wasser gefüllt, das bis in die siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts nur unzureichend oder gar nicht abgesperrt gewesen war. Natürlich hat es seine Opfer gefordert … Die Greifensteine selbst waren eine Felsformation im Geyerschen Wald zwischen den Orten Thum, Jahnsbach, Geyer und Ehrenfriedersdorf und beherbergten eine aus einem Granitsteinbruch entstandene Naturbühne für Theateraufführungen, Kinovorstellungen und Konzerte. Von Ehrenfriedersdorf aus konnte man sie über den Albin-Langer-Weg, den Triftweg oder de Ruschelbaa erreichen, mitten durch den Wald sollte man besser nicht gehen, wenn man sich nicht auskannte, und das war nicht nur Lorenz’ Meinung in seiner Eigenschaft als Ermittler. Für Waldspaziergänge eignete sich eher der Waldgeisterweg, ein Rundwanderweg, der vor allem für Kinder ein Abenteuer ist und für den Schnitzer aus der Umgebung jährlich einen neuen Waldgeist aus Baumstämmen erschufen. Lorenz erinnerte sich, dass dort unlängst Kollegen wegen Vandalismus ermitteln mussten, weil nicht einmal Waldgeister vor mutwilliger Zerstörung sicher waren.
»Du solltest auf jeden Fall die fünfundzwanzig Stationen des Bergbaulehrpfades ›Silberstraße‹ absolvieren«, schloss er seine Ausführungen, »wenn du in deinem neuen Wohnort mitreden willst, und auch wissen, was die Stülpnerhöhle ist.«
Annalena verdrehte die Augen.
»Jetzt klingen Sie schon wie Lukas. Der ist gebürtiger Ehrenfriedersdorfer und wirbt auch ständig damit, dass ich vom Greifensteiner Aussichtsfelsen bei gutem Wetter bis zum Schloss Augustusburg und dem Fichtelberg sehen könnte. Und dass es eine Menge Sagen über die Burg Greifenstein gibt, brauchen Sie gar nicht erst erwähnen.«
Lorenz schmunzelte. Die Leidenschaft für alte Sagen hatte er ihr ans Herz gelegt und dieses Anliegen war auf fruchtbaren Boden gefallen. Annalena kannte sich mit Erzgebirgssagen längst bestens aus. Und dass es die Burg Greifenstein einst tatsächlich gegeben hatte, stand inzwischen außer Zweifel. Mitarbeiter des Bezirksfachausschusses für Ur- und Frühgeschichte hatten bei Ausgrabungen am Fuß des Hauptfelsens zahlreiche Tonscherben gefunden, unglasierte Keramik, wie sie im 13. und 14. Jahrhundert verwendet worden war.
»Entschuldige, ich schieße mal wieder übers Ziel hinaus«, mutmaßte der Kommissar. »Ich bin halt immer zu hundert Prozent bei der Sache, du kennst mich.«
»Und genau deshalb ist es wohl doch an der Zeit, dass Sie sich mal erholen.«
»Bei meiner Kur geht es aber um meine Knochen und nicht um meinen Kopf«, erklärte er mit einem Augenzwinkern.
»Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht etwas Neues von Ihnen lerne. Und das sollte jetzt ein Kompliment sein.«
»Das hast du sehr nett gesagt, Annalena. Solltest du während meiner Abwesenheit also tatsächlich Fragen haben, scheue dich nicht, meinen Rat zu suchen.«
Als Annalena sich in den Feierabend verabschiedete, hing Lorenz noch eine Weile seinen Gedanken nach. Mechanisch drehte er sich im Schreibtischstuhl hin und her, was manchmal eine beruhigende Wirkung haben konnte.
Wenn er ehrlich war, regten sich Zweifel in ihm, was die Durchführung seiner Kur betraf. Nicht dass er sie nicht antreten wollte, aber würde er sie auch antreten können? Er verfolgte mit gewissem Argwohn, dass in den letzten Tagen zunehmend Veranstaltungen abgesagt wurden. Das Gefüge der Welt geriet in besorgniserregendem Ausmaß aus den Angeln wegen dieses neuartigen Coronavirus, das im vergangenen Dezember erstmals in China aufgetaucht war. Inzwischen hatte das Virus seinen Weg nach Europa gefunden. In Italien häuften sich Todesfälle aufgrund von Lungenentzündungen, die von diesem Virus verursacht wurden. Im Moment gab es weder einen Impfstoff noch Medikamente. Immer mehr Länder reagierten mit Ausgangssperren und Einreisebeschränkungen. Lorenz beobachtete diese Entwicklungen mit wachsender Sorge. Nicht seiner eigenen Gesundheit wegen, die hielt er – abgesehen von seinem Rücken – für absolut robust. Er sorgte sich um seine Mutter – sie war wegen eines Glaukoms erblindet und hatte kürzlich einen Schlaganfall erlitten. Von dem hatte sie sich zwar beinahe vollständig wieder erholt, doch wie lange würde sie noch allein leben können? Schon seit einiger Zeit dachte er darüber nach, einen Pflegedienst in ihre Betreuung einzubinden. Außerdem hatte er die nahende Kur zum Anlass genommen, endlich eine Stellenanzeige aufzugeben. Er suchte eine Haushaltshilfe, um mehr Zeit für seine Mutter zu haben. Roswitha hatte ihm prophezeit, dass er die Belastung, täglich bei Frieda nach dem Rechten zu sehen, nicht dauerhaft durchstehen würde. Sie selbst konnte ihm dabei auch keine Hilfe sein, denn seit die Rechtsmedizin in Chemnitz geschlossen worden war, hatte sich Roswithas Arbeitsweg beinahe verdoppelt. Ihr Obduktionstisch stand seitdem in Leipzig. Manchmal, so wie jetzt gerade, vermisste er sie höllisch.