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ОглавлениеReisen auf der eigenen Zeitlinie
Ein Vorwort der Autoren
Eigene Texte aus vergangenen Jahrzehnten sind eine Einladung zur Zeitreise. Sechs Erzählungen und ein Hörspiel aus DDR-Zeiten haben wir in diesen Band aufgenommen, und während wir sie noch einmal abtippten und für den Druck vorbereiteten, riefen die Sätze Erinnerungen wach: Ja, über diese Formulierung haben wir damals gestritten. War sie zu emotional oder nicht? Dagegen das Technik-Stakkato in »Zeit-Kur«! Und wie knapp wir uns bei dem armen, wettergeplagten Bertram C. ausdrückten …
Vor allem aber stiegen Erinnerungen an die bröckelnden Fassaden im Prenzlauer Berg wieder empor, an den allgegenwärtigen Geruch von Zweitaktern und Ofenheizung, an die parteiamtliche Phrasendrescherei. Man wartete jahrelang auf einen Telefonanschluß und noch länger auf einen Trabant oder Wartburg. Es gab Betriebsgewerkschaftsgruppen und Aufmärsche zum »Internationalen Kampf- und Feiertag der Werktätigen«, und fast jeder zweite war (wie wir) zwangsweise freiwillig Mitglied der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft. Am Abend saßen wir bei einer Flasche Rosenthaler Kadarka (zu süß) oder Erlauer Stierblut (zu sauer) mit Freunden und Bekannten zusammen und diskutierten die angespannte Weltlage – auch mit einem Diplom-Mathematiker und Hobby-Lyriker, der später als IM enttarnt wurde.
In der Regel vermieden wir in unseren Storys allzu direkte Schilderungen der meist grauen, hier und da auch plastquietschbunten DDR-Realität. Die ferne Zukunft und der Weltraum boten einen Freiraum, den wir in Storys wie »Kontakttest« oder »Krieg im All« nutzten. Gedankenspiele waren aber auch viel näher an unserem damaligen Hier und Heute möglich, etwa wenn wir den tristen Büroalltag unseres Antihelden Jochen Matzek beschrieben oder die Datschen-Idylle des Fernschach-Spielers Paul Rohte ausmalten. Dessen Familie flieht aus der Gegenwart in eine bessere Zukunft, deren geographische Lage der geübte DDR-Leser leicht erahnen konnte. Selbst in den Titel unseres Hörspiels »Gulasch à la Ganymed« ist ein Stück längst verflossene Realität eingedrungen: Ganymed, so hieß eines der wenigen Gourmet-Restaurants Ostberlins.
Über dreieinhalb Jahrzehnte sind diese Texte inzwischen gealtert, wir haben ihnen keine verbale Verjüngungskur verpaßt; die würde doch nur wie grelle Schminke wirken. Auch gibt es kein einziges Wort, das uns heute als Lippendienst an die Staatsideologie peinlich wäre. Man fragt sich allerdings: Haben wir damals anders geschrieben? Sicher, manches würden wir heute anders ausdrücken, schon weil sich der Wortschatz gewandelt hat. Mit den modischen umgangs- und bürosprachlichen Anglizismen haben wir uns aber nicht anfreunden können – außer wir brauchen sie gerade in einem Text.
Wahrscheinlich ist der Kontrast zu den neuen Storys gar nicht so groß. Auch die Erzählungen, die wir in den letzten Jahren verfaßt haben, verleugnen den Geist ihrer Zeit nicht. Wir leben heute wie die Neu-Atlantier auf schwankendem Boden und wundern uns nicht selten, in was für eine Epoche es uns verschlagen hat. Computer tragen wir wundervoll miniaturisiert in der Jackentasche, wir sind vernetzt und mobil, wir sind wie manche unserer Helden viel zu häufig auf Reisen, wenn wir auch noch nie ein Upgrade ins Oberdeck des Airliners erhalten haben (aber immerhin schon einmal einen Begrüßungs-Champagner). Wir kennen die Blitzer in Wolfsburg, und wir wissen inzwischen, wie man Einkommensteuererklärungen (im Steuerrecht ohne Fugen-s!) und Umsatzsteuer-Voranmeldungen abgibt. Ja, genauso haben wir uns lebenslanges Lernen immer vorgestellt … Wo wir früher unter Informationsmangel litten, werden wir heute mit Texten und Bildern förmlich zugeschüttet, und häufig überlegt man: Fakt oder Fake News? Das war ehedem gewiß nicht besser, noch nicht einmal im antiken Alexandria. Und sind wir nicht selbst eifrige Produzenten von Fake Futures?
Wer will, findet in unseren neueren Storys einen Nachhall der Finanzkrise, einen Kommentar zu Putins Rußland und sicherlich auch einen Schuß Nostalgie nach einer Weltraum-Zukunft, die es nie geben wird. Wie damals reiben wir uns an der Realität, seien es bornierte Zeitgenossen, aufdringliche Medienvertreter oder die unablässige Aufgeregtheit und Sensationshascherei. Spätestens dann ist es wieder da, das uns von früher vertraute allgegenwärtige Gefühl, daß es bei allem Tempo und aller Hektik kaum vorangeht, man sich bestenfalls im Kreis dreht. Bis dann eine Pandemie zuschlägt, und die Verhältnisse ins Rutschen kommen.
Ein wenig werden wir auf unserer Zeitlinie selbst zu Zeitreisenden, die zwischen den Jahrzehnten hin und her springen und doch nur wenig vom Fleck kommen. Vielleicht sollten wir in weiteren dreieinhalb Dekaden wieder einmal auf unsere Texte schauen – als Cyborgs, die regelmäßig zur Inspektion müssen, die den Ersatzteilen aus afrikanischer Produktion mißtrauen und überhaupt Mühe haben, den Allround-Service versichert zu bekommen. Vielleicht werden wir dann zurückschauen: Ach, was waren das für gemütliche Zeiten, als Erzählungen noch von Menschen verfaßt wurden und sich nicht nach dem einmaligen Lesen in virtuelle Luft auflösten!