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Das Monsterchen

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Schon seit einigen Tagen beobachtete ich die Alte durch das offene Fenster. Zusammengesunken hockte sie auf dem Küchenstuhl und starrte auf eine verblichene Schwarz-Weiß-Fotografie in einem ebenso uralten Bilderrahmen. Der Geruch nach Seife, Schmerz und Trauer drang zu mir und kitzelte mir in der Nase.

„Sie hätten dich nicht umbringen dürfen, dieses verdammte Mörderpack“, schimpfte sie.

Das kannte ich schon.

„Es wird Zeit, dir zu folgen“, murmelte sie und deutete auf das Fläschchen auf dem Tisch. Auch wie immer.

Der Schädel auf der Flasche bedeutete Tod, das wusste ich. Statt den Inhalt endlich zu trinken und es nicht nur anzukündigen, machte sie sich wie stets einen Tee und knipste das Radio an. Langweilig.

Ich hüpfte vom Fenstersims zurück auf die nur wenig entfernte Backsteinmauer und stolzierte bis zu meinem Fütter- und Schlafzuhause auf ihr entlang. Elegant sprang ich durch das für mich offengelassene Küchenseitenfenster, knallte dabei nur leicht gegen einen Stuhl, und verkroch mich schnell unter dem Küchentisch. Meine Fütterer und ihre Brut waren im Wohnzimmer, wie ich durch die offene Tür nicht nur sehen, sondern auch hören konnte. Die Kinder rannten schreiend umher, die Mutter schimpfte, sie sollten leiser sein und endlich zum Essen kommen, und der Vater, der Fußball gucken wollte, murrte: „Wie bin ich eigentlich in diesem Irrenhaus gelandet?“ Die Kinder tobten nur noch lauter.

Wenn ich meiner Mutter gegenüber jemals so ungezogen gewesen wäre, hätte sie mir einen Pfotenhieb verpasst, dass mir bis heute der Kopf dröhnen würde. Allerdings war dies die ideale Gelegenheit, mich unerlaubterweise in der Küche zu bedienen. Ich sprang auf den Tisch und schnappte eine von den gebratenen Hähnchenkeulen, die dort für das Abendessen lagen. Natürlich hätte ich persönlich eine fette Ratte oder Maus vorgezogen, aber das Kind unter dem Dach teilte meinen exquisiten Geschmack nicht.

Es erforderte Geschicklichkeit, mit der Beute im Maul durch das Fenster zu verschwinden, aber schließlich war ich nicht irgendein Kater, sondern der Imperator. Ich hatte diesen Gedanken noch nicht beendet, da stolperte ich über meine eigenen Pfoten und flog auf die Schnauze. Es tat weh, doch das Hühnerbein überstand den Fall fast unbeschadet. Panisch blickte ich um mich. Zum Glück hatte mich keine der anderen Katzen beobachtet, sonst hätten sie mich mit Hohn und Spott überschüttet.

„Imperator? Pah, deine bescheuerte Mutter hätte dich hirnloser Fellbeutel nennen sollen!“, wäre noch das Freundlichste, was sie über mich sagen würden. Ich ignorierte den Schmerz und balancierte auf der stetig ansteigenden Mauer, bis ich den Dachanschluss des Hauses an der Ecke erreichen konnte. Zwei Sprünge, diesmal besser berechnet, und ich landete erst in der verrosteten Dachrinne und dann auf den reichlich morschen Dachziegeln der alten Herrenvilla. Beim Hochklettern musste ich aufpassen, nicht abzurutschen, aber am Ende stand ich vor dem mit Brettern verschlossenen Fenster im Erker. Kurz horchte ich in die Dunkelheit dahinter, dann lief ich das Stückchen weiter bis zum Loch in der Wand, durch das ich mich quetschen konnte. Einst hatte hier wohl ein Abflussrohr nach draußen geführt, war dann entfernt und die entstandene Öffnung nie geschlossen worden. Innen befand sich ein großer Trockenraum, von dem mehrere Kammern abgingen. Vor meiner Zeit hatten sich hier oben Generationen von fetten Mäusen häuslich eingerichtet gehabt, jetzt waren nur noch wenige übrig, die sich gut vor mir versteckten.

Früher war ich nur zum Fressen und Schlafen hergekommen, aber dann war ich vor einigen Tagen auf das Ungeheuer gestoßen. In einem ganz dunklen, verschlossenen Raum, in den ich mich durch einen schmalen Schlitz in der Holzwand quetschen konnte. Zwar hatte das Monster sich als winzig und harmlos entpuppt, aber das wusste ich zu Beginn nicht, denn in dem Raum war es so dunkel wie im Hintern von meinem Feind Fritz, dem Mistkater. Also hatte ich es mit ausgefahrenen Krallen angesprungen. Als das Ding panisch zu schreien und heulen anfing, hatte ich schnell begriffen, dass es einen unwerten Gegner für einen großartigen Kater wie mich darstellte. Also war ich abgehauen. Die Neugier und die Hoffnung, das störende Wesen wäre wieder verschwunden, hatten mich schon kurze Zeit später zurück gelockt.

Leider hockte es weiterhin da, stank fürchterlich nach allem, was ich nicht mochte, und heulte, sobald ich losfauchte. Ich hätte es weiter peinigen können, tat es aber nicht. Stattdessen kroch ich ganz vorsichtig hin und ließ mich von ihm berühren. Klebrige Finger streichelten mein Fell, langsam und sanft. Ich behielt natürlich die Krallen ausgefahren, um mich wehren zu können, aber das war nicht nötig. Das Monsterchen saß still da.

„Wie ist dein Name?“, flüsterte es schließlich mit rauer Stimme. „Meiner ist Lisa, aber Mama hat mich immer Knopf genannt.“

Ich maunzte.

Menschen und ihre dummen Namen. Sie roch nicht wie ein Knopf, eher wie eine Toilette, die viel zu lange nicht gespült worden war, aber so nannte ihre Mutter sie natürlich nicht. Menschen waren unlogische Wesen.

Schritte.

Ich verzog mich in eine Ecke. Die Dunkelheit wich gleißendem Licht, dann ging die Tür auf. Eine Frau stand dort, mit ähnlich grauen Haaren wie die Alte, die ich jeden Tag beobachtete. Eine goldene Kette blinkte um ihren Hals. „Verdient hast du es nicht.“ Sie warf etwas hinein. „Wehe, ich höre dich noch einmal schreien, dann setzt es was! Keinen einzigen Laut mehr, oder ich klebe dir den Mund mit Paketklebeband zu!“ Sie knallte die Tür zu und schloss ab. Erneut war es dunkel.

Das Kind wirkte wie erstarrt. Ich hatte in dem lichten Moment einen guten Blick darauf werfen können. Verängstigt zusammengekrümmt hockte es auf einem schmalen Bett. Klein war es, zart, kein Monster. Aber schmutzig und mit verfilzten Haaren. Vermutlich war es wahnsinnig oder krank und deshalb hier eingesperrt.

Nun tastete es nach dem, was die Frau gebracht hatte. Ich schnupperte, es roch neben frischem Brot noch nach etwas anderem. Meine Mutter hatte nicht lange gelebt, aber sie hatte mir dennoch fest eingetrichtert: Gewisse Dinge mochten köstlich duften, brachten aber Vernichtung. Dies hier stank wie der Tod selbst.

Ich sprang vor und kratzte dabei das Kind versehentlich an der Hand. Ich packte das übelriechende Teil, kletterte einen Balken hoch und drapierte das Essen auf der Querverstrebung über Lisa. Dorthin, wo sie es nicht erreichen konnte. Sie heulte los, ganz leise. Das schmerzte mir in den Ohren, und ich schlüpfte aus dem Zimmer. „Warum tust du das?“, rief sie mir schluchzend nach, während ich damit beschäftigt war, alle Reste des Brotes aus meinem Maul loszuwerden, um mich ja nicht selbst zu vergiften.

Anschließend suchte ich auf dem Dachboden nach dem Lichtschalter für den Raum. Er musste dort irgendwo sein, sonst wäre es gerade nicht hell geworden, bevor die Tür aufging. Dreimal sprang ich hoch, dann erwischte ich ihn. Nun hatte die Kleine wenigstens Licht.

Ich schlich weiter, bis zu einer angelehnten Tür. Dahinter führte eine Treppe nach unten. Ich schnupperte vorsichtig, doch hier roch es nicht nach Hund oder anderen Katzen, die mir gefährlich werden konnten. Ich huschte hinunter, dann von einem Raum in den anderen und begriff schnell: Frau Goldkette musste reich sein, sich hier einquartieren zu können. Ich hüpfte auf Schränke, Tische und Stühle und roch an allem. Endlich wurde ich fündig. In einem der Zimmer stand ein Blechgefäß mit dem Zeichen drauf, vor dem Mutter mich stets gewarnt hatte. Es stank nach dem, was auf dem Brot gewesen war, das ich dem Kind fortgenommen hatte.

Wieder Schritte.

Ich zwängte mich unter ein Sofa. Goldkette kam herein. „Meine Nichte lebt nicht länger bei mir. Ich habe sie in ein Internat gesteckt, dort ist sie weit besser aufgehoben und hat andere, mit denen sie spielen kann. Ab und zu schreibt sie mir, wie gut es ihr dort gefällt“, behauptete sie und jedes Wort stank nach Lüge.

Da gab es noch eine zweite Frau, die einen Hut mit einem lächerlichen, ausgestopften Vogel in der Hand hielt. Diese Person lachte nun viel zu schrill und sagte: „Ist sicher besser so. Das Kind war mir immer ein wenig unheimlich. Viel zu still, wenn du mich fragst.“ Die beiden nahmen am Tisch Platz und die Fremde fragte neugierig: „Hast du wieder Probleme mit Ratten?“

„Dieses Haus steckt voll von ihnen. Anscheinend hat mein Bruder sich um nichts gekümmert. Bevor ich es verkaufen kann, muss ich diese Brut loswerden. Das Zeug hilft mir dabei.“

Frau Goldkette stellte die Dose mit dem Gift in ein Regal. „Sonst landet davon noch etwas im Tee“, ulkte sie und mir sträubte sich das Fell.

Ich beobachtete, wie die beiden Tee tranken, Kuchen verputzen und sich unterhielten. Endlich war Schluss mit dem langweiligen Gerede und die zweite Frau erklärte, sie müsse nun gehen. Ich hörte, wie sie von Goldkette an die Haustür gebracht wurde. Die beiden sprachen auch da noch weiter, also nutzte ich die Zeit, um mich im nächsten Raum umzusehen.

Diesmal landete ich in der Küche. Ich sprang auf die Anrichte und sah mich um. Neben dem Herd stand ein Teller mit Gemüse, das ich ignorierte, aber der Kuchen war mit Schokolade überzogen gewesen und der restliche Teil der Tafel lag neben dem Wasserbad, in dem sie geschmolzen worden war. Ich zögerte keinen Moment, biss hinein und flitzte damit die Treppe hoch. Erneut quetschte ich mich durch den Spalt in den Raum, wo das Kind eingesperrt war. Es lag zusammengerollt in einer Ecke des Betts und jammerte vor sich hin. Vorsichtig legte ich die Schokolade vor Knopflisas Händen ab. Sie brauchte, bis sie begriff. Dann brach sie schnell ein großes Stück ab und steckte es sich in den Mund. Sie kaute gierig, schluckte dann, und sagte: „Das Licht ist wieder angegangen, aber da war meine Tante schon weg. Das verstehe ich nicht.“ Sie fuhr sich über das verweinte Gesicht und zeigte auf die Scheibe Brot, die oben auf dem Dachbalken lag. „Warum hast du das mit dem Brot getan? Tante lässt mich verhungern. Ohne den Wasserkran da hinten wäre ich längst verdurstet.“ Sie deutete auf eine alte Wasserstelle in der Ecke des Zimmers.

Ich blickte mich erstmals ausführlich um. Außer dem uralten Waschbecken und einer zerbrochenen Toilette gab es hier nur noch das Metallbett mit einer muffigen Matratze, die vor sich hin moderte und nach frischer Menschenpisse stank. Das einzige Fenster, kaum mehr als ein Oberlicht, war mit Brettern vernagelt.

Mein Blick ging zurück zu Lisaknopf. Sie war nicht nur dreckig und roch nach Abfall, sie sah auch bleich aus wie ein Gespenst.

Ich hatte wie jede Katze Regeln zu befolgen. Eine lautet, nicht mit Menschen zu reden. Niemals. Also würde ich es auch nicht tun, denn das hier ging mich nichts an. Ich fuhr dem Kind mit der Schwanzspitze über das Gesicht und lief davon.

Ich war bereits auf dem halben Weg nach draußen auf das Dach, als Geräusche mich wieder umkehren ließen. Lisa stand auf dem Bett und versuchte vergeblich, durch Hochhüpfen an das Brot zu gelangen. Ich konzentrierte mich auf die primitive Sprache der Menschen und erklärte ihr per Telepathie: „Iss nichts mehr von dem, was sie dir bringt. Auf dem Brot ist ein böses Pulver drauf, aus einem Kanister mit einem Schädel.“

Das Kind verharrte. „Ich weiß nicht, was das bedeutet.“

„Warte ab, was mit den Mäusen hier geschieht, die daran knabbern werden, Lisaknopf.“

Schnell machte ich, dass ich wegkam. Niemand würde je erfahren, was ich Unverzeihliches getan hatte, denn nur ich und Lisaknopf wussten davon, und sie würde dort oben sterben. Nichts, was ich verhindern konnte. Menschen waren für ihresgleichen verantwortlich, Katzen für Katzen. Eine weitere Katzenregel, die ich zu befolgen gedachte.

Das war vor einer Woche gewesen, und seitdem brachte ich der Kleinen jeden Tag etwas zu essen. Ich wusste, dass ich es besser nicht tun sollte, aber jedes Mal, wenn ich sie besuchte, freute sie sich so sehr. So war es auch heute. Sie stopfte sich das Hühnerbein in den Mund und zerkaute die Knochen, als wäre sie ein Hund. Das Licht brannte weiterhin. Goldkette war seit dem Vorfall mit dem Brot nicht mehr nach oben gekommen. Sie ignorierte das Kind offenbar schlicht.

„Du stinkst wie eine Mülltonne“, erklärte ich der Kleinen nicht zum ersten Mal.

Sie seufzte. „Ist doch egal. Hier komme ich nie wieder raus. Selbst wenn, wohin sollte ich gehen? Tante holt mich zurück und sperrt mich wieder ein. Keiner will mich, weil ich ein böses Kind bin. Deshalb sind auch meine Mama und mein Papa gestorben. Alles meine Schuld. Das hat sie mir gesagt.“

Ich tat, als würde mich das alles nicht interessieren und stolzierte aus der schäbigen Kammer. Ich versuchte, das dreckige, bleiche Gesicht zu vergessen. Es geht dich nichts an, sagte ich mir zum wohl hundertsten Mal.

An diesem Abend wollte ich mehr über die Alte herausfinden. Ich lief das kurze Stück von meinem Schlafquartier über die Mauer bis zu ihrem Haus. Klaviermusik und das Trällern einer hohen Frauenstimme kamen von dort und machten mich neugierig. Ich mochte Katzenmusik lieber, aber ab und zu brachten Menschen Töne hervor, die durchaus als erträglich gelten konnten. Ich wartete vor dem geöffneten Fenster, bis mir mein Geruchssinn verriet, dass dort kein anderes Tier wohnte, dann sprang ich auf das innere Fensterbrett. Die Alte stand vor dem Herd und rührte mit einem Holzlöffel in einem kleinen Topf herum. Es roch köstlich nach Milch und Grieß. Noch bemerkte sie mich nicht und sang zu dem Stück, das aus dem Krachautomaten dröhnte. Es klang nicht nach Freude, eher traurig. Ich sah zu, wie sie den Brei in eine Schüssel füllte und den Löffel abschleckte. Nun deutete sie in meine Richtung. „Wenn du glaubst, du bekommst etwas ab, irrst du dich gewaltig. Ich kann Katzen nicht ausstehen, ihr seid alles Vogelmörder.“

Immer diese Vorurteile! Vögel hatten mir zu viele Federn, die ekelig im Maul kitzelten.

Frech glitt ich vom Fensterbrett und machte einen Schritt auf sie zu. Sie packte die Tasse neben sich und schleuderte sie in meine Richtung. Nur knapp verfehlte das Geschoss meinen Kopf und badete mein Fell mit der Brühe, die die Menschen Kaffee nannten. Ich schleckte ein wenig davon vom Boden auf. Süß schmeckte es und nach Sahne.

Sie starrte mich böse an. „Du Mistvieh bist hier unerwünscht!“, brüllte sie mich an, griff sich einen Besen und jagte mich wild schreiend aus dem Fenster hinaus. Ich beobachtete sie aus sicherer Entfernung. Als sie mich da so sitzen sah, drohte sie mir mit der Faust. „Lass dich nie wieder blicken, hörst du! Sonst mache ich Dachhasenbraten aus dir!“ Wie zur Bekräftigung ihre Worte knallte sie das Fenster zu und zog die Vorhänge dicht.

Ich wartete noch kurz, ob das Theaterstück weiterging, aber als sich nichts mehr tat, machte ich mich zu meinen Fütterern auf. Dort verkroch ich mich unter eines der Kinderbetten. Die kleinen Krachmacher tobten derart wild durch die Wohnung, dass ich fast taub davon wurde. Ich bewunderte mich, wie geduldig und leidensfähig ich mit ihnen umging, weil ich ihnen nicht die Schienbeine zerkratzte oder in die Haare sprang. Schließlich schloss ich die Augen und träumte mich in das Katzenwunderland, in dem es in Scharen fette Mäuse gab, die sich freiwillig von mir fressen ließen.

Knopflisa unterm Dach

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