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WARME INSEL IN EINER KALTEN WELT Soziologische Aspekte von Freundschaft

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Man ist nicht dort zuhause, wo man seinen Wohnsitz hat, sondern wo man verstanden wird. (Christian Morgenstern)

Folgt man der Darstellung der Medien, dann wird Freundschaft als Lebensform neben der traditionellen Lebensform der Familie immer wichtiger. Immerhin leben nach Angaben des Statistischen Bundesamtes beispielsweise nur noch 49 Prozent aller Deutschen in einem Familienverband. Die Zahl der Einpersonenhaushalte ist nicht nur in Deutschland, sondern in der gesamten westlichen Welt deutlich angestiegen, Tendenz nach oben hin offen. Laut Statistik Austria beträgt die aktuelle Zahl der Einpersonenhaushalte im Jahr 2015 in Österreich 1.413.620 und auch hier gehen Prognosen von einem weiteren Anstieg aus.

Überall schießen die Wohngemeinschaften aus dem Boden, in denen nicht Verwandte, sondern Freunde/innen zusammenleben. Standen diese Wohngemeinschaften früher noch stark im Verdacht, ein „Haufen von linken Alternativen und Hippies“ zu sein, ist man heute mit solchen schnellen Urteilen vorsichtiger. Immerhin beenden weniger als 15 Prozent der Deutschen ihr Leben in vertrauter Umgebung. Auch im Alter könnten Wohngemeinschaften unter Freunden/innen eines Tages zu einer vertrauten Lebensform werden, auch wenn die gegenseitige Pflege und Unterstützung im Alter vorläufig noch eher selten ist. Was jedoch bereits existiert, sind soziale Wohnprojekte oder auch Baugemeinschaften, in denen die Generationen miteinander ihr Leben auf freundschaftlicher Basis teilen. Anstelle der Großfamilie helfen Alt und Jung sich gegenseitig bei der Kinderbetreuung und beim Einkaufen. Individuelle Rückzugsmöglichkeiten sind von den Architekten dieser Baugemeinschaften genauso eingeplant wie Gemeinschaftsräume. Neuerdings gibt es sogar Versicherungen für Freundeskreise. Gemeinsam teilt man sich die Kosten der Versicherung insbesondere bei den Selbstbehalten.

Dass Freundschaft immer mehr zu einer eigenständigen Lebensform neben traditionellen Formen wie der Ehe wird, ohne sie freilich zu ersetzen, ist auch an Veränderungen in der Rechtsprechung spürbar: Im deutschen Sozialgesetzbuch existiert der Begriff der „Bedarfsgemeinschaft“, der über die von Ehegatten und Verwandten geforderte Solidarität hinausgeht und Mitbewohner im gemeinsamen Haushalt in die Pflicht nimmt. Angesichts der wachsenden Zahl von älteren und alten Menschen in unserer Gesellschaft stellt sich die Frage, wie weit das Recht nicht nur Verbindlichkeiten zwischen Ehepaaren, sondern auch für andere Formen von Partnerschaften regeln muss. So sieht eine Rechtsreform des Erbrechts in Österreich ab 1. Jänner 2017 ein außerordentliches Erbrecht für Lebensgefährten/innen vor, die in den letzten drei Jahren mit der verstorbenen Person in einem gemeinsamen Haushalt gelebt haben. „Lebensgefährten/innen“ sind dabei Personen, die nicht verheiratet sind oder in einer eingetragenen Partnerschaft leben – also auch Freunde/innen. Das Recht trägt hier also der zunehmenden Pluralisierung von Lebensformen Rechnung.

All diese Beobachtungen aus dem Alltag sprechen letztlich für die Tatsache, dass sich in westlichen Gesellschaften der Postmoderne neue familienähnliche Strukturen herausbilden, die nicht mehr auf dem Prinzip der Verwandtschaft beruhen, sondern auf dem Prinzip der freien Wahl. Man bindet und verpflichtet sich selbst, und das letztlich allein aufgrund von Sympathie und Zuneigung. Ich bin davon überzeugt, dass angesichts der zunehmenden Anzahl von Singles und Patchworkfamilien die Lebensform der Freundschaft in Zukunft noch an Bedeutung gewinnen wird. In meinem eigenen Freundeskreis habe ich beobachtet, dass durch familiäre Bindungen begründete Freundschaften manche Ehe überdauern. So manche Schwägerin und so mancher Schwiegervater erweist sich jedenfalls treuer als der Ex …

Der Soziologe Friedrich Tenbruck hat schon im vergangenen Jahrhundert die These aufgestellt: Immer wenn Gemeinschaften und Staaten zerfallen oder Gesellschaften ihren sozialen Kitt verlieren, greifen Menschen verstärkt auf Freundschaft als individuelles Phänomen zurück. Im Mittelalter mit seiner festen Einbindung des Individuums in eine relativ starre Gesellschaftsordnung hat jeder Mensch seinen Platz. Als diese Ordnung in der Zeit der Aufklärung zerfällt, verlassen sich Menschen wieder mehr auf individuelle Bindungen: In der Romantik (1798–1835) entsteht ein Begriff von Freundschaft, der bis heute unsere Vorstellungen prägt und insbesondere die Bedeutung der emotionalen Nähe zwischen Freunden/innen betont. Ich werde in Kapitel 5 darauf zurückkommen.

Dieses romantische Konzept von Freundschaft (und auch von Liebe), das allein und ausschließlich auf Gefühl, auf der Zuneigung zwischen zwei Menschen basiert, muss wohl als utopisch bezeichnet werden. In Wirklichkeit wurde und wird Freundschaft nirgendwo ausschließlich um ihrer selbst willen gesucht. Sie ist auch niemals nur ein individuelles Projekt zwischen zwei Menschen. Sie ist wie alle sozialen Beziehungen eingebettet in ein größeres soziales Umfeld. Analysiert man dieses Umfeld genauer, dann steht Freundschaft heute wieder neu und wesentlich für soziale Sicherheit und Wohlbefinden. Der Soziologe Heinz Bude von der Universität Kassel nennt Freundschaft sogar „den dritten Weg der Fürsorge“ neben Familie und staatlicher Hilfe. Wo beide Institutionen als Stütze versagen – und Stütze ist hier nicht nur emotional gemeint, sondern vor allem sozial und oft auch ökonomisch –, gewinnt Freundschaft an Bedeutung.

Sie soll dort ihr Netz ausbreiten, wo das Individuum allein bleibt und ratlos ist. Denn bei allen scheinbaren Vorteilen einer freien und persönlich selbstgewählten Lebensführung ist die Situation des postmodernen Selbst eine sehr prekäre: Man fühlt sich zwar durchaus als „Herr“ oder „Frau“ des eigenen Lebens. Man ist frei hinzugehen, wo man leben will. Man wechselt den Arbeitsplatz mehr oder weniger freiwillig und nennt sich „flexibel“ und „mobil“. Neue Jobs, neue Kollegen/innen, neue Möglichkeiten jeden Tag … Man ist in vielen Welten daheim, ist viel unterwegs und bleibt damit frei, unabhängig und selbstbestimmt. Die postmoderne Philosophie spricht vom „vagabundierenden“ oder „nomadisierenden Subjekt“ und tatsächlich ist diese Lebensform aufregend, spannend und herausfordernd. Auf der anderen Seite haben auch hartgesottene Vagabunden/innen hier und da das Bedürfnis nach Heimat und Geborgenheit. Nicht immer fühlt man sich gleich stark, nicht immer allen Anforderungen gewachsen. Man gibt ungern zu, dass die große Selbstbestimmung häufig durchaus die Last der Entscheidung mit sich bringt: Wer bin ich heute, wer will ich morgen sein? Wer bin ich eigentlich insgesamt?

Solche Fragen sind – entwicklungspsychologisch und philosophisch gesehen – Fragen nach der eigenen Identität. Menschen suchen auch im 21. Jahrhundert den großen Zusammenhang, den Sinn in ihrem Leben. Wie bin ich geworden? Wie setzt sich das Puzzle meines Lebens zusammen? Setzt sich da überhaupt etwas sinnvoll zusammen oder fällt das Mosaik meines Lebens auseinander, weil kein Teil zum anderen passen will? Welche Geschichte habe ich anderen von mir zu erzählen?

Angesichts solcher Fragen sind auch die scheinbar autarken Menschen der Postmoderne auf sich zurückgeworfen. Der Preis der Selbstinszenierung als unabhängiges, starkes und freies Subjekt ist allzu oft das Gefühl der Heimatlosigkeit: nirgendwo dazugehören, immer unterwegs zu sein, auf dem Sprung irgendwohin in ein unbekanntes Morgen, von dem keiner weiß, wie sinnvoll es wirklich ist. Vagabundierende Subjekte suchen ein Zuhause. Einen Ort, wo sie hingehören, wo sie verstanden werden. Freundschaft wird zu einer warmen Insel in einer als kalt und einsam erfahrenen Welt.

Der Anspruch an Freundschaft teilt damit das Schicksal des Anspruches an die Liebe: Liebe wie Freundschaft sollen seit dem 19. Jahrhundert „reine Beziehung“ sein, wie es der englische Soziologe Anthony Giddens formuliert hat. D. h. dass Menschen Liebe und eben auch Freundschaft um ihrer selbst willen suchen – nicht etwa, um gemeinsam für ihr wirtschaftliches Überleben zu sorgen oder Kinder in die Welt zu setzen, wie es die Menschheit jahrhundertelang getan hat. Nicht zuletzt deshalb habe ich vorher bewusst den Begriff „Utopie“ benutzt. Ein Blick auf einschlägige Websites über das Wesen der Freundschaft mag als Bestätigung für diese Behauptung gelten: Da formieren sich rosa Wolken über Seen an Uferstegen, auf denen Menschen sitzen und Arm in Arm unter den Klängen entspannter Musik den Abendhimmel betrachten. Ein Betrachter würde kaum vermuten, dass es hier „nur“ um Freundschaft geht, im Gegenteil: Alles sieht nach Liebe oder gar Verliebtheit aus. Und doch sitzen hier vorwiegend Menschen desselben Geschlechts auf einer Bank, schauen in den Abendhimmel, genießen die Gemeinsamkeit. Von sexuellen Handlungen ist weit und breit nichts zu sehen, ja Banner mit Versen über die Bedeutung tiefer Freundschaft dokumentieren klar, dass es hier nicht um Liebe und gar erotische Leidenschaft, sondern ganz allein um Freundschaft geht.

Dass solch romantische Sonnenuntergangs-Freundschafts-Videos nichts mit der oben geschilderten Altersvorsorge zu tun haben, um sich möglicherweise das Pflegeheim oder die private Pflegerin zu ersparen, ist offensichtlich. Freundschaft – wie die Liebe auch – ist zum bevorzugten Ort von Projektionen und Wunschphantasien aller Art geworden. Ob sie das auf Dauer aushält?

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