Читать книгу Insel der Sirenen - Anika Alex - Страница 4
Kapitel 1
ОглавлениеJana lugt durch die Kulissen der Bühne und verfolgt die Show, die nur noch aus Damian, Nicolas, Alicia und Daniel besteht. Genau genommen achtet sie nicht auf alle vier, sondern nur auf Daniel, ihre heimliche Liebe. Seit sie denken kann schwärmt sie für ihn. Sobald sie laufen konnte, heftete sie sich an seine Fersen, bis er nachgab und mit ihr spielte. Seitdem waren sie für lange Zeit unzertrennlich. Seine Interessen verlagerten sich in seiner Pubertät und er ließ sie links liegen. Als sie ihm wieder nachlief, baute er sich vor ihr auf und zischte:
„Was willst du von mir? Such dir Freunde und lass mich in Frieden!“
Lange Zeit war sie verletzt und bis heute geht sie ihm aus dem Weg, um nicht mit ihm alleine sein zu müssen. Das war ihr bisher leicht gefallen, da sie am längsten bei ihren Eltern ausharren musste.
Seit fünf Monaten tourt Jana mit ihren Freunden erfolgreich durch Spanien. Noch zwei Auftritte dann ist ihre Tour abgeschlossen.
Bis sie die Schule beendet hatte, trafen sich die Geschwister nur ein oder zweimal im Jahr und hielten ansonsten Kontakt per Telefon und sozialen Netzwerken.
Jana bemüht sie sich Daniel gegenüber gleichgültig zu sein, da ihre Liebe zu ihm keine Chance hat, das ist ihr seit langem schmerzlich bewusst.
Sie hasst es mit ansehen zu müssen, wie er immer wieder neue Frauen aufreißt, denn er verabredet sich niemals zweimal mit der Gleichen. Aber in diese Schlange ist sie auch nicht bereit sich einzureihen. Sie hätte niemals die Kraft sich ein kurzes Vergnügen mit ihm zu gönnen und dann mit anzusehen, wie er mit anderen Frauen ausgeht. So ein kurzes Geplänkel wäre ohnehin nichts für sie.
Aber trotzdem kann man ihn ja anschmachten. Schließlich bleibt das unbemerkt!
Daniels breite Schultern, seine blonden Haare, die blauen Augen und vor allem sein Lächeln, bei dem seine weiblichen Fans dahinschmelzen, führen dazu, dass es für ihn kein Problem ist ständig neue Frauen abzuschleppen. Jana ist eifersüchtig, aber sie wird sich nicht die Blöße geben ihm zu zeigen, wie sehr sie ihn liebt und um ihn besser von sich fernzuhalten zickt sie ihn oft an.
Aber er begehrt sie! Instinktiv hat sie seit Anfang der Tour seinen brennenden Blick auf sich gespürt. Ein paar mal hat sie ihn dabei ertappt und in seinen Augen ein Begehren gesehen, das ihr feuchte Träume beschert, aber er sucht nur kurzfristige Ablenkung und während für sie nur eine feste Beziehung in Frage kommt.
Nach dem Überfall von Magnus kann sie sowieso keinen Mann in ihre Nähe lassen. Vor Angst ist sie dann wie gelähmt, ihr Herz schlägt schneller und sie kann sich kaum bewegen, würde aber am liebsten wegrennen. Die anderen Männer haben daran keine Schuld, ihr Verstand weiß das genau, aber sie schafft es in diesen Momenten nicht, dieses Wissen auch umzusetzen.
Seit Daniel sie damals abgewiesen hat, hält sie Abstand zu ihm. Im Prinzip verstehen sie sich gut, sie arbeiten miteinander und sind wie Geschwister, nur gibt es seitdem eine unsichtbare Mauer zwischen ihnen.
Bis heute kann sie ihm diese forsche Abweisung nicht ganz verzeihen. In ihrer Kindheit waren sie so lange befreundet, hatten fest zusammengehalten und plötzlich will er mit ihr, außerhalb des Hauses nichts mehr zu tun haben. Ob sie ihm jemals vergeben kann?
Unvermittelt war er, nach dem Überfall, bei ihr im Krankenhaus aufgetaucht. Er war mit Sicherheit der Letzte, mit dem sie gerechnet hätte. Bei der Eingliederung war sie bewusstlos und als sie aufwachte, saß er in ihrem Zimmer.
In dem Moment war noch alles gut. Jana freute sich, ihm wichtig genug zu sein, um an ihrer Seite zu warten, bis sie aufwacht. Ein paar Minuten später setzte er sich zu ihr auf die Bettkante. Schon als Daniel auf sie zukam, spürte sie, wie Angst in ihr aufstieg.
‚Er ist mein Freund, wir kennen uns seit unserer Kindheit, er wird mir nichts tun!’, sie schloss die Augen und versuchte sich an die schönen Dinge zu erinnern, die sie gemeinsam erlebt hatten. Stattdessen tauchte vor ihrem inneren Auge genau die Szene auf die sie zu verdrängen versuchte: Magnus Angriff! Erschrocken schnappte sie nach Luft, was einen stechenden Schmerz in die Rippen zur Folge hatte. Sie geriet in Panik, fing an zu röcheln und geriet dadurch in einen Strudel aus Schmerz und Angst.
Daniel war sofort bei ihr, um sie zu beruhigen, nahm sie in den Arm und sprach beruhigend auf sie ein.
Da Jana wusste, wie unbegründet diese Angst war, wehrte sie sich aus Scham darüber noch mehr. Daniels beruhigende Stimme gab ihr den Rest und sie stieß ihn von sich. Frustriert rief er die Krankenschwester, damit sie sich um Jana kümmerte. Es dauerte eine ganze Weile, bis es den Ärzten möglich war ihr ein Beruhigungsmittel zu geben.
Sie war verzweifelt über ihre unrealistische Angst und versuchte Alicia zu erklären wie es dazu gekommen war. Die gab es den Männern weiter, die sich daraufhin nur noch in Gegenwart von Alicia in ihre Nähe trauten.
Ein Trauma nach diesem Überfall wäre normal teilte ihr der behandelnde Arzt mit und es würde einige Zeit dauern, bis sie darüber hinwegkommt.
Ein schwacher Trost, da es ihr nicht verborgen geblieben ist, wie sehr sie Daniel mit ihrer Angst verletzt hat, auch wenn ihr nicht einleuchtet, warum er sie an diesem Tag an ihrem Bett war.
Seitdem hält Daniel sich von ihr fern. Er war im Krankenhaus die ganze Zeit bei ihr, um ihr beizustehen. Schließlich wacht Jana auf, sieht ihn auf sich zukommen und schlägt vor Panik schreiend um sich.
Dabei hatte er überhaupt nichts gemacht! Er wollte nur an ihr Bett kommen, um sich zu ihr zu setzen und ihr endlich zu sagen, was sie ihm bedeutet! Wie sehr er sie liebt!
Für ihn ist ihre Reaktion auf ihn unbegreiflich! Wie kann sie in seiner Gegenwart in Panik geraten?
Vor langer Zeit hatte er sie abgewiesen, aber das ist lange her und er kann es bestimmt wieder gut machen. Natürlich wird sie einige Zeit brauchen, um ihn wieder zu vertrauen und ihm sicher nicht um den Hals fallen. Aber er wird es versuchen, denn er liebt sie seit langem, nur war ihm das nie so ganz bewusst.
Nach dem Überfall von Magnus, schwor Daniel auf Jana aufzupassen. Ihm ist in dem Moment als er sie so hilflos und verletzt auf Boden liegen sah klar geworden wie rettungslos er sich in sie verliebt hat. Er wird alles daran setzen eine Beziehung mit ihr anzufangen. Exklusiv, denn er interessiert sich seitdem nur noch für sie. Eigentlich hatte er sein Leben lang nur Augen für sie gehabt, aber ihre Zusammenarbeit machte es schwierig. Damit es keine Konflikte gibt, die ihre Arbeit gefährden könnte war er die ganzen Jahre der Überzeugung, es wäre das Beste von Jana Abstand zu halten. Darum hat er sich andere Frauen gesucht, um sich von ihr abzulenken und nicht in Versuchung zu geraten. Es hilft ein klein wenig, zumindest läuft er nicht wie ein Welpe hinter ihr her. Dieser Unfall hat ihm die Augen geöffnet und er wird alles daran setzen, sie für sich zu gewinnen.
Aber diese dämliche Panikattacke schmeißt ihm gewaltig zurück! Er kommt ja noch nicht mal auf drei Meter an sie heran! Ein Punkt, der auch für seine Freunde sehr schwer zu ertragen ist!
Janas behandelnder Arzt behauptet es ist normal, es würde einige Zeit dauern, da sich in ihrem Gehirn das Szenario wiederholt abspielt, um es zu verarbeiten. Das beruhigt ihn nicht. Er fühlt sich verletzt. Sie kennen sich ein Leben lang und nie hat er ihr etwas getan. Na gut er wies sie damals ab und das ziemlich forsch, das ist ihm klar. Das erklärt allerdings nicht die Angst, die in sie gefahren war, als er sich auf ihr Bett setzte.
Bei einem Blick in ihre großen Augen, die ihn panisch ansahen, fühlte er sich, als würde ihm jemand ein Messer ins Herz rammen. Natürlich weiß er, dass ein Trauma zu solchen Angstreaktion führen kann. Aber warum muss sie sich ausgerechnet so vor Männern fürchten? Und vor allen Dingen vor ihm? Das kann er nicht akzeptieren! Und das alles wegen Magnus, wegen dieser bescheuerten Krankheit! Und ausgerechnet jetzt. Wobei wenn das nicht passiert wäre …
Alicias Gegenwart lässt diese Angst verblassen und sie bringt Jana durch ihre Stimme und ihre Berührungen erden sie. Wenn sie da ist, kann Jana sich beruhigen, zumindest eine Zeitlang. Dann muss der Abstand zu den Männern nicht so groß sein. Jana hasst es, so abhängig von jemanden zu sein. Bei ihren Stiefeltern musste sie sich das letzte Jahr alleine durchkämpfen und dem betrunkenen Vater aus dem Weg gehen. Plötzlich ist sie auf jemanden angewiesen. Im Krankenhaus wurde ihr nach dem Panikanfall gesagt, sie soll sich langsam an die Auslöser der Angst herantasten und sich ihnen stellen! Irgendwann wird sie das wohl auch schaffen! Es geht sowieso schon viel zu lange, schon vier Wochen! Warum hört das nicht endlich auf!
Sie soll Atemübungen machen, um sich zu beruhigen, aber durch ihre gebrochenen Rippen sind diese äußerst schmerzhaft. Vier Wochen reichen nicht aus, um ihre Knochen zu heilen. Dabei ist sie froh dermaßen gut weggekommen zu sein, mit drei Rippen, zwei Fingern und einem Speichenbruch im linken Unterarm. Ein paar Minuten länger und er hätte sie halb totgeprügelt.
Jana kann sich glücklich schätzen, da ihre Knochen schnell heilen, in zwei Tagen kommt der Gips ab. Mit den Rippen wird sie sich noch ein paar Wochen länger herumschlagen müssen.
Sie und ihre Freunde sind alle sechs außergewöhnlich kräftig, andernfalls hätte es noch viel schlimmer für sie ausgehen können.
Seit dieser Panikattacke suchen die Männer Jana nur noch in Begleitung von Alicia auf und begegnen sie ihr zufällig, bewegen sie sich vorsichtig, um sie nicht zu erschrecken. Langsam kommt sie sich vor wie ein wildes Tier, dem man nicht zu Nahe kommen darf, um es nicht in die Flucht zu schlagen. Diese plötzliche Angst vor ihnen muss die Männer kränken, dessen ist sie sich bewusst.
Und was ist mit Magnus?
Tja, Jana hielt sich zur falschen Zeit am falschen Ort auf. In dem Moment war er wie von Sinnen und hätte jeden angegriffen. Ihr Kopf weiß das, aber sie kommt von ihrer Angst nicht los, die sich fest in ihre Eingeweide krallt und sie Nachts kaum schlafen lässt.
‚Ist ein Monat nicht lang genug?‘, denkt sie ärgerlich. Sie wünscht sich, wie vor dem Angriff, fröhlich zu sein und ihr Leben zu genießen. Die immerwährende Furcht, erneut in Panik zu geraten und die Kontrolle zu verlieren, blockiert ihre Lebensfreude enorm.
Sie soll einen Psychologen aufsuchen und mit ihm darüber reden. Wie soll das gehen? Sie sind auf Tour! Alle paar Tage eine andere Stadt.
Ihre Freunde finden es immer wieder faszinierend wie sie die Zuschauer in Wallung bringen kann, wie sie Hochspannung erzeugt und bei ihnen Begeisterung hervorruft. Die Energie, die vom Publikum ausgeht berauscht Jana. Auch wenn sie sonst eher der zurückhaltende Typ ist, auf der Bühne ist sie völlig verändert. Ihr fällt es leicht, die Zuschauer in ihren Bann zu schlagen. Privat ist sie ruhig, aber bereits als Kind moderierte sie die „Show“, wenn ihre Geschwister ihre „magischen“ Fähigkeiten trainierten. Die begeisterte Masse pulsiert bei jeder Show, die sie leitet.
Die Aufführung geht ihrem Ende zu, in einer Viertelstunde werden die Vier die Bühne verlassen. Damian steht in der Mitte, wie der Fels der er ist. Er misst fast zwei Meter und hat breite Schultern, wie alle ihre „Brüder“. Seine schwarzen Haare und die dunkelblauen Augen, sein markantes Gesicht und nicht zuletzt seine einnehmende Präsenz stellen ihn in den Mittelpunkt des Geschehens. Egal wo er steht, alle Blicke richten sich auf ihn. Klaglos übernimmt er alle schwierigen Aufgaben und hat bei den Absprachen das letzte Wort. Aus Erfahrung wissen sie, seine Entscheidungen, denen oft lange, heftige Diskussionen vorausgehen, zu schätzen, da sie durchdacht und stimmig sind. Ihn lachen zu hören ist wunderbar, weil es viel zu selten vorkommt.
Neben ihm steht Daniel, er scheint etwas schmaler zu sein und ist mit seinem umwerfenden Lächeln ein echter Frauenschwarm.
‚Und ich schwärme am meisten für ihn‘, denkt Jana schmachtend. Er nimmt das Leben leicht und genießt es in vollen Zügen, geht aber wichtigen Herausforderungen nicht aus dem Weg.
Ihm gegenüber steht Alicia, mit ihrem extrem hellblondem Haar und den Augen, deren blau fast weiß erscheinen. Alicia ist schön, stolz und unwirklich, als wäre sie nicht von dieser Welt. Zwischen diesen Hünen wirkt sie zierlich mit ihren ein Meter achtzig. Sie ist immer aktiv und der einzige Grund, warum sie so lange, ruhig auf einem Fleck stehen kann, ist ausschließlich ihrer Konzentration geschuldet.
Neben ihr steht Nicolas. In Größe und Statur wie seine Freunde, mit schwarzen Haaren und dunkelbraunen Augen, ein Hingucker aber das sind sie alle drei. Er und Daniel ähneln sich charakterlich und verbringen viel Zeit miteinander.
Magnus mit seinen dunkelbraunen Haaren und grünen Augen fehlt. Seine Art auf Fremde zuzugehen und gute Laune zu verbreiten, macht ihn zu einem der liebenswertesten Menschen, die sie kennt, zumindest bis er sie angriff.
Jetzt kommt das große Finale, aber der Effekt lässt zu wünschen übrig. Das Finale zu sechst ist viel überwältigender. Das spürt auch das Publikum.
Nach der Show kommen die Vier von der Bühne.
„Wann moderierst du wieder, wir brauchen dich in der Show“, fordert Damian sie wie immer nach dem Auftritt auf.
Jana verdreht genervt die Augen. Stets die gleiche Leier, als wäre sie schon bereit dazu und könnte raus auf die Bühne! Wie soll das gehen? Sie kommt so schon nicht klar! Ihr Arm ist noch im Gips und die Angst wegatmen kann sie auch noch nicht, weil ihre Rippen dann höllisch schmerzen. Während der Show würden die Männer hinter ihr stehen und das ist in ihrem derzeitigen Zustand unmöglich.
Damian bemerkt sofort, dass sie genervt ist und kommt lauernd, geradewegs auf sie zu geschlendert.
Jana versteift sich, denn am liebsten würde sie wegrennen, aber natürlich tut sie das nicht. Zumindest hält sie sich so lange zurück, wie es ihr irgendwie möglich ist. Sie wird jetzt nicht einfach weglaufen, das hat sie früher auch nie getan.
Wie ein Panther schleicht er auf sie zu und kommt ihr dabei viel zu nah. Zum Glück stellt sich Alicia zu ihr, streicht ihr beruhigend über den Rücken und legt freundschaftlich den Arm um sie.
Sie atmet erleichtert aus, ihr war nicht bewusst gewesen, dass sie vor Anspannung die Luft angehalten hat. Traurig über diese extreme Reaktion bleibt Damian eine Armlänge vor ihr stehen, streicht zärtlich über ihre Wange und flüstert sanft:
„So kann das nicht weitergehen, deine Angst macht uns allen das Leben schwer, wir werden dir helfen dieses Problem zu lösen! Die Tour ist hier zu Ende, ich habe den letzten Auftritt wegen Krankheit abgesagt. Nachdem ihr zwei ausgefallen seid, habe ich mich mit unserem Agenten auseinandergesetzt und entschieden ein paar Monate auszusetzen. Mit zwei Ausfällen in der Show können wir unsere Fans nicht zufriedenstellen, das ist euch mit Sicherheit nicht entgangen“, teilt er seinen Freunden seine Entscheidung mit, die sie einen Monat lang hinausgezögert hatten.
„Wir haben einen Brief von einem Anwalt bekommen. Wir sind zu einer Testamentseröffnung von einer Frau Rivera eingeladen. Der Anwalt erwartet uns morgen! Alle!“, wechselt Damian das Thema und mustert zur Bestätigung alle der Reihe nach.
„Weißt du was Genaueres?“, will Alicia neugierig wissen. Damian schüttelt verneinend den Kopf.
Jana schottet sich, seit sie aus dem Krankenhaus entlassen wurde, regelrecht ab, um ihre Freunde mit ihren Ängsten nicht zu belasten.
Konsequent geht sie ihnen aus dem Weg und sperrt sich in ihr Zimmer ein. Die meiste Zeit lässt sie ihr Essen dorthin bringen, damit sie nicht ins Restaurant gehen muss und bittet um eine Frau als Servicekraft.
Heute hat Alicia sie aus ihrem Zimmer geholt, für eine Gruppenbesprechung. Da kann sie sich natürlich nicht drücken, schließlich gehört sie immer noch zur Truppe und möchte das auch nicht ändern. Sie hat große Angst, ihre Freunde zu verlieren, wenn sie ihre Phobie nicht bald in den Griff bekommt.
Mehrfach hat sie gesehen wie verletzt ihre Freunde auf ihr Zurückschrecken reagieren, wenn sie ihr zu nahe kommen. Trotzdem sind sie der Meinung, sie würde sich abgrenzen und dieses Alleinsein täte ihr nicht gut. Alicia sitzt neben Jana, die angespannt auf ihrem Stuhl hin und her rutscht und streichelt ihr beruhigend über den Rücken.
„Ich bin noch nicht soweit, ich kann das noch nicht“, murmelt sie mit einem Kloß im Hals. Verzweifelt schaut sie zu Damian in dem Versuch ihn zu überzeugen, dass sein Angebot, mehr Zeit mit der Gruppe zu verbringen, noch zu früh für sie ist.
„Die Ärzte haben behauptet mit Atemübungen kann ich die Ängste kontrollieren. Aber wie soll ich das mit meinem gebrochenen Rippen machen? Jedes Mal, beim Versuch, tief durchzuatmen fährt mir ein Schmerz in die Seite und das wird noch ein paar Wochen so bleiben“.
Jana ist den Tränen nah. Können ihre Geschwister das nicht verstehen? Im Moment ist sie einfach nicht in der Lage längere Zeit mit ihren Freunden oder anderen Menschen zu verbringen.
„Du machst es für uns alle noch schlimmer, indem du dich abschottest, oder sind deine Ängste in den letzten Wochen weniger geworden?“
„Es tut mir leid Damian, aber ich kann nur ein paar Minuten mit euch zusammen in einem Raum sein. Bitte gib mir noch Zeit und versuch es zu verstehen. Ich habe keine Angst vor euch, sondern vielmehr die Sorge, eine falsche Bewegung könnte mich in Panik versetzten. Das verletzt euch! Dadurch bin ich angespannt, es ist ein Teufelskreis“.
„Da müssen wir jetzt durch! Deine Genesung ist wichtiger, auch wenn uns deine Angst schmerzt, sind wir uns einig! Du musst mehr Zeit mit und verbringen!“, stellt Damian klar.
„Es ist nicht unsere Schuld!“, brummt Daniel verzweifelt. „Hast du eine Ahnung wie wird dir helfen können? Keiner von uns hat dir etwas getan“. Verständnislos kräuselt Jana die Stirn.
„Natürlich habt ihr das nicht. Warum störst du dich daran? Jahrelang sind wir uns aus dem Weg gegangen und jetzt tust du so, als hätten wir den engsten Kontakt“, grollt sie ärgerlich und Daniel blickt beschämt zu Boden. Einen Moment später schaut er auf und sie erkennt einen Schmerz in seinen Augen, der ihr fast den Boden unter den Füßen wegzieht. Perplex starrt sie zurück. Diesen Ausdruck hat sie bei ihm noch nie gesehen.
„Du bist mir aus dem Weg gegangen“, murmelt er leise und wendet sich resigniert ab.
„Morgen werde ich mit euch diese Idee ausarbeiten, aber Bitte lasst Alicia neben mir sitzen. Ich kann euch nicht versprechen lange zu bleiben, aber ich werde mein Bestes versuchen solange wie möglich durchzuhalten. Ich Liebe euch das wisst ihr“, lenkt sie ein.
Am nächsten Morgen sitzen sie zusammen und arbeiten eine neue Idee für ihre nächste Show aus. Jana kann nicht ganz loslassen, aber mit der Zeit entspannt sie sich und durch ihre Fokussierung auf die Arbeit schafft sie es zwei Stunden mit ihren Freunden gemeinsam zu arbeiten.
Unvermittelt murmelt Nicolas: „Ich habe Hunger, bestellen wir uns eine Pizza?“
Das reißt Jana aus der Konzentration und ist der Moment, indem sie anfängt nervös zu werden.
Alicia neben ihr streichelt ihren Rücken und versucht sie zu beruhigen aber Jana ist es für diesen Tag genug.
„Es tut mir leid, ich kann nicht mehr“, keucht sie brüchig, „ich habe ausgehalten solange es mir möglich war, aber es wird mir jetzt zu viel. Bitte verzeiht mir“.
Tränen vor Wut auf ihre Unfähigkeit die Angst zu überwinden, nässen ihre Wangen und sie verlässt schnell das Zimmer.
Ihre Freunde sehen ihr traurig nach in dem Wissen, dass sie noch einen langen Kampf vor sich hat.
Ein paar Stunden später finden sie die Kanzlei Caballero in einer kleinen Seitenstraße. Skeptisch mustern sie das einfache Mehrfamilienhaus mit drei Stockwerken.
„Hier kann man nicht viel erwarten, hoffentlich ist er bereit uns mitzuteilen, ob dieses Testament nur ein schlechter Scherz ist“, brummt Damian und lugt misstrauisch an der Fassade hinauf. Auf ihr Klingeln ertönt der Türsummer und sie gehen nach oben. Dort erwartet sie ein älterer Herr an der Wohnungstür und führt sie durch die Diele, an der vier Türen abgehen, in das Büro seiner Privatwohnung. Hinter einem riesigen Schreibtisch stehen hunderte Fachbücher in einem schweren Regal, das die ganze Wand einnimmt. Vor dem Tisch stehen sechs Stühle.
Nachdem sie sich vorgestellt und auf den bereitgestellten Stühlen Platz genommen haben, meldet er sich zu Wort:
„Entschuldigen Sie bitte, ich bin gerade pensioniert worden und erledige nur noch die Belange von Frau Rivera. Sie bat mich ausdrücklich ihr Testament in ihrem Sinne zu verwalten. Können Sie mir bitte erst erläutern, wo der sechste Erbe Magnus Schulz ist? Kennen Sie ihn?“, die feste, volltönende Stimme passt so gar nicht zu dem alten schrulligen Anwalt, der ihnen gerade einen missbilligenden Blick über seine dicken Brillengläser zuwirft. Mit diesem Gesichtsausdruck versucht er, offensichtlich erfolgreich, ein Grinsen zu unterdrücken. Seit ihrer Ankunft hat er die Fünf beobachtet und die skeptischen Blicke über die Fassade seines Hauses bemerkt. Wenn die wüssten!
Durch die großzügige Bezahlung die er für dieses und andere Belange von seinen Klienten bekommen hat, konnte er sich dieses Haus leisten. Es ist groß genug für ihn, seine Frau und seine drei verheirateten Töchter mit Familie. Aber das Beste ist der unverbaubare Blick aufs Meer, von dem sie nur durch einen Park getrennt sind. Der phänomenale Blick von seinem Wohnzimmer auf Meer wird nur noch von diesem Erbe getoppt.
„Er ist zurzeit unabkömmlich, aber ich habe hier eine Vollmacht, die mich berechtigt, seine Angelegenheiten zu regeln“, erwidert Damian distanziert höflich. Der Mann vor ihm wirkt alles andere als inkompetent, er war sicher erfolgreich. Wieso lebt er in diesem schäbigen Haus? Diese Situation ist nur sehr schwer einzuschätzen.
„Und er kann hier nicht erscheinen? Solche Angelegenheiten können nicht per Vollmacht erledigt werden“, unnachgiebig heftet der Anwalt seinen Blick auf Damian, der ihn seinerseits fixiert.
„In ein paar Tagen können wir mit ihm vorbeikommen und er unterschreibt persönlich, falls nötig“.
„Nehmen Sie das Erbe an?“, bei dieser Frage bleiben die Augen des Anwalts starr auf das Papier vor sich gerichtet.
„Wir wollen nicht die Schulden eines Unbekannten erben, können sie uns das Zusichern?“, misstrauisch beobachtet Damian den Anwalt, der nachdenklich von dem Testament aufschaut.
„Nun gut, da Sie sich gut kennen und kein erkennbarer Streit unter Ihnen herrscht, setze ich Sie in Kenntnis, dass das Erbe schuldenfrei ist. Nehmen Sie das Erbe an?“, gibt der Anwalt erstaunlich schnell nach. Mit gemischten Gefühlen, einigen sie sich darauf, das Erbe einzugehen.
„Die alte Dame schrieb: ‚Ich war in der Show der Magier Gruppe Phedrasi und habe mich entschieden, diesen jungen Künstlern, die mit ihrem Talent Menschen begeistern und unterhalten, zu unterstützen. In diesem Sinne möchte ich ihnen mein Haus und mein Vermögen vererben. Als einzige Bedingung verlange ich das gemeinsame antreten des Erbes. Die einzige Ausnahme ist ein Todesfall unter ihnen’, das ist der letzte Wille von Frau Rivera“, liest ihnen der Anwalt das Testament seiner Mandantin vor.
„Wir möchten in diesem Fall einen neuen Termin bei ihnen ausmachen, in drei Tagen wird Herr Schulz aus der Klinik entlassen. Wo steht das Häuschen der alten Dame?“, fragt Damian den Anwalt und grinst bei dem Gedanken an eine alte Dame, in einem winzigen Haus vor sich hin.
„Das Häuschen ist eine große Villa und steht ein paar Kilometer außerhalb Barcelonas direkt am Meer auf einer Klippe“, der Anwalt grinst zurück als er die Gesichter seiner Klienten, die fassungslos und mit offen stehenden Münder vor ihm sitzen, ansieht.
„Es gibt einen Verwalter und jede Woche eine Putzkolonne, die das Haus in Schuss hält“, schmunzelt der Anwalt. Seine Augen blitzen vor Vergnügen, die Sitzung mit der kleinen Truppe macht ihm großen Spaß. Man braucht nicht viel Vorstellungskraft, um den Qualm aus ihren Ohren steigen zu sehen. Eine alte Dame, die ihre Villa und ihr Vermögen an Fremde vererbt, das klingt wohl für jeden unwahrscheinlich. Aber sie werden noch früh genug sehen, was dahinter steckt.
„Wie kommt diese Frau auf den Gedanken uns dieses Vermögen zu vermachen? Kannten Sie Frau Rivera gut? Gibt es keine Erben?“, wundert sich Jana, die sich als Erste fängt.
„Wir sind seit langem befreundet und ich habe ihnen – ihr in vielen Belangen zur Seite gestanden. Sie hat keine Nachkommen oder Familie, deshalb geht das Haus und das Geld, das gut angelegt ist, an Sie“, er amüsiert sich köstlich darüber, wie seine Klienten um Fassung ringen und versuchen das Gehörte einzuordnen. Er kennt seine Klientinnen, gut und weiß, für die sechs jungen Magier wird es noch eine Menge Überraschungen geben.
„In drei Tagen kommen wir mit Herrn Schulz vorbei“, murmelt Damian mit einem Kopfnicken.
In sich gekehrt stehen die Freunde auf, schütteln zum Abschied dem Anwalt die Hand und gehen in ihr Hotel zurück. Sie können immer noch nicht glauben, was gerade passiert ist.