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ОглавлениеDie rechtliche Lage
Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland ist ein Glücksfall der Geschichte. Und dieses Grundgesetz muss auch und gerade in Zeiten einer Krise gelten und Bestand haben. Es muss wie ein Rettungsanker der Demokratie allen Kräften trotzen, die bemüht sind, die Grund- und Freiheitsrechte auszuhebeln und diese ihren Verboten und Einschränkungen unterzuordnen.
Wir erleben den schwerwiegendsten Grundrechtseingriff in der Geschichte dieses Landes seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1949. Trotz massiver Einschränkungen von Grund- und Freiheitsrechten durch die Bundes- und Länderregierungen und der damit einhergehenden, streckenweise quasi Stilllegung des öffentlichen Lebens, trotz des Hangelns von einem Lockdown zum nächsten (der natürlich die einfachste Lösung ist!) - für die man irgendwann übrigens völlig skurrile Begrifflichkeiten wie „Lockdown light“, „Wellenbrecher Lockdown“ oder „Brücken-Lockdown“ konstruierte - konnte man im Hinblick auf die staatlich verordneten Anti-Corona-Maßnahmen eine große Akzeptanz konstatieren und eine in weiten Teilen gehorsame und unkritische Bevölkerung beobachten. Die Restriktionen über diesen langen Zeitraum wurden in Kauf genommen, ungeachtet der Notwendigkeit, dass deren Verhältnismäßigkeit immer wieder aufs Neue zu überprüfen ist.
Bemerkenswert war auch das Verhalten der Opposition. Selbst das politisch linke, links-liberale und grüne Spektrum - die bislang die Fahne der Freiheit, der Selbstbestimmung und des Schutzes unserer Verfassung zu Recht immer hochgehalten haben - stellten den überbordenden Aktionismus und die Aushebelung von Grund- und Freiheitsrechten nicht in Frage, sondern trugen all die Beschlüsse in Gänze mit. Die Vermutung einer potenziellen Gefahr reichte ihnen offenbar aus, Grundrechtseinschränkungen in diesem Ausmaß für legitim anzuerkennen. Bis auf einzelne, zuweilen kontroverse Stimmen aus der FDP, arrangierte sich die politisch demokratische Opposition2 mit der Bundesregierung. Schloss einen Burgfrieden. Passte sich an. Differenzierte nicht. Hinterfragte nicht kritisch. Wer hätte das noch vor kurzer Zeit gedacht!
Bei fortdauernden Grundrechtseinschränkungen ist eine kritische Evaluation der rechtlichen Lage jedoch unerlässlich. Dass beispielsweise das Grundrecht auf Bewegungs- und Versammlungsfreiheit erst einmal gerichtlich durchgesetzt werden musste, ist einer liberalen, freiheitlichen Demokratie unwürdig.
Ebenso wenig rechtfertigt eine epidemische Lage die Verletzung des Art. 13 GG, der das Grundrecht der Unverletzlichkeit der Wohnung gewährleistet. Dieses dient dem Schutz der räumlichen Privatsphäre vor Eingriffen von staatlicher Seite. Wenn also Polizeibeamt*innen in Privatwohnungen geschickt werden, um nachzuprüfen, ob sich da ein Ortsfremder - im übertragenen Sinne - „unter dem Bett“ versteckt hat, ist das skandalös. Das Gleiche gilt für polizeiliche Maßnahmen, wie beispielsweise Hubschrauber oder Drohnen einzusetzen, um das Kontaktverbot zu kontrollieren, ob auch ja nicht mehr als zwei Personen draußen im Gelände zusammen unterwegs waren. Dafür fehlte der Polizei nach Einschätzung des Frankfurter Staatsrechtlers, Prof. Dr. Uwe Volkmann, auch die Berechtigung.
Anfangs sah man vielerorts - auch an Fenstern privater Häuser und Wohnungen - Banner und Plakate mit der Aufschrift „Wir bleiben zu Hause“. Manche trugen T-shirts mit Aufdruck auf der Rückseite wie: „STOP! Ich halte Abstand! Du auch?“. Auf Smartphone-Displays, als Abschlussformel in E-Mails oder Messenger-Nachrichten, in Werbespots im TV las und hörte man „Bleiben Sie gesund!“ oder „stay home“. Eine große Anzahl von Prominenten aus unterschiedlichen Branchen, rief im Hinblick auf die angebliche Rettung millionenfachen Lebens eindringlich zum quasi dauerhaften Maskentragen auf.
„Wir haben schon auch einen moralischen Imperativ, der unser Verhalten reguliert.“, formulierte es kritisch Prof. Dr. Uwe Volkmann in Bezug auf solche Appelle.
In Zeiten der Corona-Krise gewinnt die Angst exponentiell an Bedeutung. Es war von der „größten Bedrohung seit dem Krieg“ die Rede. Frankreichs Präsident Macron betonte beispielsweise in seiner Fernsehansprache im März 2020 sechs Mal „Nous sommes en guerre.“ Wir sind im Krieg.
Es gab sogar Stimmen, die von der „dunkelsten Stunde der Menschheit“ sprachen.
Was für eine historische Verzerrung! Was für eine zynische Rhetorik! Das hier ist kein Krieg und es fallen einem weiß Gott noch viele, viel dunklere Stunden in der Menschheitsgeschichte ein.
Die tief sitzende Virus-Angst der Menschen wurde von Beginn an zusätzlich geschürt, indem man von Seiten der Politik und der verschiedenen wissenschaftlichen Institute, allen voran des Robert Koch-Instituts, die Bevölkerung durch unaufhörliches Einprasseln von Zahlen und Statistiken, rhetorischer Aufrüstung, dramatischen Bildern und worst-case-Szenarien überfrachtete. Und all das wurde medial nahezu unkritisch, vielmehr systemkonform und ganz „auf Linie“ transportiert. Der beabsichtigte Effekt, die Reihen damit zu schließen und eine Eigendynamik in Gang zu setzen, trat somit weitestgehend ein.
Jedoch - wir brauchen nicht jeden Tag Gruselbotschaften der Regierung. Den Bürger*innen darf man zugestehen, dass sie mündig sind und nicht belehrt werden müssen. Das Schlüsselwort heißt Eigenverantwortung. Das Gegenteil sind staatlich verordnete autoritäre Maßnahmen und die Außerkraftsetzung grundlegender Freiheitsrechte - zumindest in dem Ausmaß, wie wir es erlebt haben und erleben. Die Regierungen müssen in Krisenzeiten der Bevölkerung Empfehlungen aussprechen und auch eindringliche Appelle an ihr Verhalten richten, um beispielsweise, wie gegenwärtig, eine epidemische Lage einzudämmen. Das ist legitim, jedoch auch unweigerlich geboten, um eine Krise zu bewältigen. Wenn also der Souverän geachtet wird, zu ergreifende Maßnahmen verständlich kommuniziert werden und verhältnismäßig bleiben, wird auch der Erfolg zur Übernahme von Eigenverantwortung durch die Bürger*innen nicht ausbleiben. Bedauerlicherweise gibt man den Menschen aber nicht die Chance, sich in mündiger Weise vernünftig zu verhalten.
Daher war auch der zuweilen überheblich rigide Ton, den manche gewählte Volksvertreter*innen meinten anzuschlagen zu müssen, wenn es darum ging, Maßnahmen um- oder durchzusetzen, völlig inakzeptabel. Wenn da z.B. von höchster Regierungsstelle die Direktive ausgegeben wurde, dass man gefälligst zu Hause zu bleiben hätte3 und sich ja nicht einfallen lassen sollte, die Grenzen zu einem anderen Bundesland zu überschreiten - ansonsten drohten Sanktionen - dann war und ist das auf unerträgliche Weise autoritär.
Gleiches gilt für die im April 2020 geäußerte Kritik der Bundeskanzlerin, die keine weiteren „Öffnungsdiskussionsorgien“ wünschte. Abgesehen von dieser abstrusen Wortschöpfung, ist das anmaßend und bevormundend. Es ist nicht hinnehmbar, dass Debatten nicht mehr geführt werden dürfen und man sich der Auseinandersetzung mit anderen Meinungen verweigert. Der Diskurs muss immer offen gehalten werden! Auch über den rein virologischen Blick hinaus, müssen ethische und rechtliche Aspekte berücksichtigt werden.
In diesem Zusammenhang zitiere ich den Familienminister aus Nordrhein-Westfalen, Joachim Stamp, der im Mai 2020 scharfe Kritik daran übte, dass ausschließlich die Kanzlerin und die Ministerpräsident*innen darüber entschieden, was möglich war und was nicht: „Man könnte den Eindruck bekommen, wir sind bei Hofe.“
Da hat sich eine autoritäre Tonlage etabliert. Das geht von Bundes- auf Landesebene bis hinunter auf die kommunale Ebene. Dieses Gebaren, der Bevölkerung quasi im Kasernenhofton Verbote zu erteilen, statt an sie zu appellieren, und sie zu maßregeln, statt Empfehlungen auszusprechen, ist entschieden zurückzuweisen.
Das Gleiche gilt für reglementierende Statements von Regierungsseite, wie:
„Jeder Kontakt, der nicht stattfindet, ist gut.“
Und um kurz einen Blick in unser Nachbarland Österreich zu werfen: es hatte schon etwas von Unverfrorenheit und Dreistigkeit, wenn der ehemalige Bundeskanzler Kurz seiner Bevölkerung die Weisung erteilte: „Treffen Sie niemanden! Jeder soziale Kontakt ist einer zu viel."
Die Entscheidungen der Politik, die Grund- und Freiheitsrechte dauerhaft und in dem Maße, wie geschehen, einzuschränken, waren quasi „Hinterzimmer-Entscheidungen“ eines informellen Gremiums aus Kanzlerin und Ministerpräsident*in- nen. Da gab es keine offene Diskussion. Da wurde nichts transparent gemacht. Die öffentliche Kommunikation war ein Desaster, die mediale Berichterstattung weitestgehend unkritisch.
Je autoritärer eine Regierung wird, desto eher entwickelt sich bei einem Teil der Bevölkerung die Neigung zum Denunziantentum. Und es weckt bei so manchem die Lust, sich zum Oberlehrer aufzuspielen. Das scheint ihnen eine innere Befriedigung zu bereiten, von ihren Mitmenschen die Einhaltung der Vorschriften und Verbote einzufordern. Die Journalistin Susanne Gaschke nannte diese unangenehme Seite des sehr deutschen Habitus „Maßregelungsdrang und Untertanenmentalität“.
Der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Prof. Dr. Hans-Jürgen Papier, sprach bereits im März 2020 von der „Gefahr einer Erosion des Rechtsstaats, falls die extremen Eingriffe in die Freiheit aller noch lange andauern sollten.“
Er kritisierte außerdem, „dass die Frage der Verhältnismäßigkeit von Grundrechtseingriffen von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich gewertet wird, obgleich es sich um eine Rechtsfrage und nicht um eine politische Frage handelt.“
Und weiter forderte Papier im Januar 2021, die ökonomischen, sozialen und kulturellen Lebensgrundlagen der Menschen im Auge zu behalten: „Die Politik ist auch dem Freiheitsschutz der Bürger verpflichtet. Die Menschen in diesem Land sind keine Untertanen.“
Nein, sie sind in der Tat keine Untertanen. Und sie verfügen über unveräußerliche und unentziehbare Freiheitsrechte. Bei den Maßnahmen zur Bekämpfung der infektiösen Lage ist die Balance zwischen Freiheits- und Gesundheitsschutz jedoch bedenklich in Schieflage geraten.
Mit Wirkung zum 28. März 2020 wurde die „Epidemische Lage von nationaler Tragweite“ in das Infektionsschutzgesetz eingeführt, ein Rechtsbegriff in § 5 Abs. 1 Satz 4 des deutschen Infektionsschutzgesetzes (IfSG).
Basierend auf diesem Rechtsbegriff, wurden am 28.10.2020 die verschärften Corona-Maßnah-men von der Bundesregierung beschlossen; wiederholt am Parlament vorbei entschieden. Dieses wiederkehrende Vorbeiregieren am Parlament grenzt schon an politische Willkür und ruiniert unsere parlamentarische Demokratie.
Zwar fand am 29.10.2020 im Parlament eine Regierungserklärung zu den beschlossenen Maßnahmen statt, sprach die Bundeskanzlerin - um dem Ganzen einen juristischen Anstrich zu geben - in der Regierungserklärung von der Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit der Maßnahmen, um diese nur scheinbar zu legitimieren. Denn die Beschlüsse wurden nicht zur Diskussion gestellt. Die Parlamentarier*innen konnten diese einfach nur zur Kenntnis nehmen, ohne die Möglichkeit zu haben, sich an der Debatte zu beteiligen und die Beschlüsse zur Abstimmung bringen zu lassen.
Mit Blick darauf, dass in der Pandemie viele Entscheidungen von den Regierungen in Bund und Ländern und nicht von den Parlamenten getroffen wurden, sagte Prof. Dr. Hans-Jürgen Papier: „Ich hätte mir als Staatsrechtler nie vorstellen können, dass derart intensive Freiheitsbeschränkungen von der zweiten Gewalt, der Exekutive, beschlossen werden.“
Wenn demokratische Regeln nicht mehr gelten und bestimmte Meinungen und Mindsets als legitim akzeptiert werden, dann herrscht ein besorgniserregendes Demokratiedefizit vor.
Am 18.11.2020 wurde die Novelle des Infektionsschutzgesetzes in Windeseile besiegelt. Es passierte Bundestag und Bundesrat am selben Tag und wurde am Ende eben dieses Tages sogar noch vom Bundespräsidenten unterschrieben. Gleiches gilt für die zweite Änderung des Infektionsschutzgesetzes vom 21.04.2021, der bundeseinheitlichen Notbremse4.
Insbesondere in Bezug auf die nächtliche Ausgangssperre ab einer Corona-Inzidenz von 100 verlor die Bundesregierung das rechtsstaatliche Maß. Denn ein freiheitlicher Staat darf nicht pauschal und flächendeckend die Bewegungsfreiheit aller seiner Bürgerinnen und Bürger beschränken, nur um einzelne Rechtsverstöße zu verhindern.
Der emeritierte Staatsrechtler Prof. Dr. Dietrich Murswiek, der im April 2021 eine Verfassungsbeschwerde gegen die Bundesnotbremse5 einbrachte, äußerte sich dahingehend, dass „auf die Festlegung des Inzidenzwertes ein Automatismus folgt […] es treten also die Freiheitbeschränkungen in Kraft, ohne dass freiheitsbeschränkende Maßnahmen durch weitere zuständige Behörden überprüft werden müssen. Das geschieht automatisch kraft Gesetz. Die Gewaltenteilung ist jedoch eines der verfassungsrechtlichen Mechanismen, die dem Freiheitsschutz dienen. Dieser rechtsstaatliche Mechanismus ist ausgehebelt, wenn Legislative und Exekutive aufgelöst werden.“
Hinsichtlich des starren Fokus auf die Inzidenzzahlen, stellte auch der ehemalige Vorsitzende des Richterbundes, Jens Gnisa, in einem Interview vom 11.04.2021 klar: „Nur auf die Inzidenz abzustellen, ist bei derartig drastischen Maßnahmen willkürlich, weil die reine Inzidenz davon abhängt, wie viel getestet wird.“
Auffallend in dieser Zeit ist die Zurückhaltung der Gerichte. Bis auf wenige Einzelfälle weisen die Verwaltungsgerichte mit dem Argument, dass derzeit der Gesundheitsschutz den Freiheitsschutz überwiege, die Klagen ab.
Der staatliche Gesundheitsschutz ist zwar ein hohes Gut. Dennoch ist Gesundheit primär ein individuelles Gut. Bei den vom Staat verordneten Abwehrmaßnahmen einer Epidemie, dürfen die Schäden in jeder Hinsicht nicht größer sein, als ihr Nutzen. Der Staat darf nicht alle elementaren Grund- und Freiheitsrechte der „Fürsorgepflicht“ unterordnen und so tief in die private Lebensführung eindringen, dass die Freiheit zur Selbstbestimmung derart beeinträchtigt wird. Das macht den Rechtsstaat zum Überwachungsstaat.
Zudem müssen nicht die Lockerungen (übrigens ein Begriff, den man aus dem Strafvollzug kennt!) verhältnismäßig sein, sondern der Eingriff. Der Eingriff muss stets geeignet, erforderlich und angemessen sein, die Maßnahmen zur Überprüfung der epidemischen Lage immer wieder begründet werden.
Grundrechte sind „kein Luxusartikel unserer Verfassung […] Kein Gnadenakt“, wie es Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki im April 2020 formulierte.
Es sind eben GRUNDRECHTE.
Prof. Dr. Hans-Jürgen Papier bekräftigte in einem Interview mit der „Welt“ vom 05.10.2021, dass die Politik und die Gerichte die Corona-Eingriffe dringend aufarbeiten müssten. Das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit des Staates sei erschüttert.
2 Die AfD beurteile ich als eine undemokratische, rechtspopulistische Partei mit rechtsextremistischen Tendenzen. Ich betrachte sie explizit nicht als politisch demokratische Opposition.
3 Anm: Osternferien 2020
4 Bei der sog. Bundesnotbremse gilt: Überschreitet die 7-Tage-Inzidenz an drei Tagen hintereinander die Schwelle von 100 pro 100.000 Einwohner, greifen schärfere Maßnahmen.
5 Gegen die Bundesnotbremse sind bis zum Ablauf des 31. Mai 2021 insgesamt 424 Verfahren beim Bundesverfassungsgericht eingegangen. Über die Rechtmäßigkeit der Maßnahmen soll bis spätestens November 2021 entschieden werden.