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// 1. Kapitel – Immer zwei Mal im Leben //
ОглавлениеBetreff: Wiederbegegnung
Datum: 01. 04. 2019, 20 : 09:00
Liebe Anna,
man trifft sich immer zwei Mal im Leben. Das klingt abgedroschen, ich weiß, aber es scheint zuzutreffen. Dich nach sieben Jahren wiederzusehen!
Ich musste meinen Buchmesserundgang unterbrechen und Dich ansprechen. Wie könnte ich an Dir vorbeigehen, nach dem, was wir zusammen erlebt haben. Ich hatte schon auf den letzten Buchmessen in Leipzig nach Dir Ausschau gehalten. Erfolglos. Jetzt habe ich Dich wieder getroffen.
Anna, als ich damals las, was Klaus Kleemann mir geschrieben hatte, blieb mir mein Herz stehen. Ich konnte nicht mehr atmen, bis mir der tröstliche Gedanke kam, dass die Mitteilung über Deinen Tod „nur“ Ausdruck Deines Schmerzes war. Du warst immer so leidenschaftlich, so euphorisch, immer weit oben fliegend, so dass das Gegenteil Deiner Höhenflüge nur der absolute Absturz sein konnte, sein musste.
Ich klammerte mich an diese Idee, hoffte, dass sie stimmt. Es hätte gut zu Dir gepasst. Jetzt weiß ich, dass ich Recht hatte mit meiner Vermutung. Zum Glück!
Ich hatte Dich in den letzten Jahren immer wieder im Internet gesucht – und gefunden. Das Netz vergisst zum Glück nichts. Geschrieben habe ich Dir nicht. Du hattest Deinen E-Mail-Account aufgelöst. Ich hatte akzeptiert, dass Du nach meinem unrühmlichen Abgang lieber für mich gestorben sein wolltest. Aber nun habe ich Deine neue E-Mail-Adresse entdeckt. „Entdeckt“ ist gelogen. Ich habe sie auf der Homepage Deines Journalistenbüros erspäht. „Fröhlich & Konsorten“ ist übrigens ein origineller Name dafür.
Es tut mir immer noch und auch schon wieder leid, was damals passiert ist.
Aber ich hatte zum damaligen Zeitpunkt auch genug eigene Probleme. Nach unserer Trennung war ich so unglücklich, so am Boden zerstört, dass es mir wohl auf der Stirn geschrieben stand, wahrscheinlich hatte ich sogar eine waschechte Depression. An’s Bücher schreiben war nicht zu denken.
Ich hockte zu Hause wie ein Trauerkloß, meine Frau begann Fragen zu stellen. Ich log tapfer weiter, beteuerte weiterhin, dass nichts los sei mit mir. Ich log so lange, bis sie meinen Rechner befragte. Ich hatte ihn vom Büro aus mit nach Hause genommen, ich dachte, ich könne besser arbeiten, wenn mein Sohn und der Kater in meiner Nähe waren.
Jedenfalls hatte ich unseren Mailverkehr nicht gut genug in den Eingeweiden des PCs vergraben. Meine Frau hatte aufgrund meiner Verstimmung Witterung aufgenommen und nicht aufgehört zu schnüffeln.
Was folgte, nachdem sie alle Mails gefunden, gelesen und unsere Fotos mit viel Interesse gesichtet hatte, ist erst vor wenigen Monaten vor Gericht zu Ende gegangen.
Anna, ich würde mich sehr freuen, wenn Du mir schreibst, nein, ich wünsche mir sogar, dass Du mir schreibst. Liebe Grüße, Roger
*
Betreff: Re: Wiederbegegnung
Datum: 08. 04. 2019, 22 : 43:08
Hallo Roger,
ich habe jetzt eine gute Woche gebraucht, um darüber nachzudenken, ob ich dir überhaupt antworten sollte. War Deine Mail ein Aprilscherz? Eigentlich bin ich tot.
Ich schreibe Dir jetzt nicht, dass mir leid tut, dass Deine Ehe vor Gericht endete. Tut es nämlich nicht! Anna
Betreff: Aw: Wiederbegegnung
Datum: 08. 04. 2019, 23 : 13:18
Anna, ich bin froh, dass Du mir überhaupt antwortest. Es ist jetzt sieben Jahre her. Ich hoffe Du bist mir nicht mehr böse. Wie geht es Dir? Was machst Du? Drehst Du noch Deine Fernsehbeiträge? Galoppiert Dein Pferd noch? Rollt Dein alter Saab noch? Was hast Du auf der Buchmesse für einen Film gemacht?
*
Betreff: Familienfreundlich!
Datum: 12. 04. 2019, 21 : 08:11
Was für Fragen!!!
Jahrelang hatte ich es erfolgreich vermieden auf der Leipziger Buchmesse zu arbeiten, um Dir, dem Einen unter Tausenden Messebesuchern, nicht begegnen zu müssen. Nun ist es doch passiert.
Denn in diesem Jahr kam ich nicht um den Auftrag des Senders herum.
Du willst wissen, was ich dort gemacht habe? Bitteschön: Mein Thema an diesem Drehtag war „Familienfreundliche Buchmesse“. Ich tigerte mit meinem Kamerateam durch die überfüllten Messehallen, stöberte in Kinderbüchern, besuchte die Messe-Kita, zeichnete dazwischen Umfragen mit genervten Eltern und glücklichen Kindern auf und machte meine Moderationen. Das alles in HD. HD ist gnadenlos. Seit der Sender seine Fernsehbeiträge in High-Definition-Qualität in die Wohnzimmer seiner Zuschauer schickt, kommt es auf jede Kleinigkeit an. HD ist für Moderatoren und Reporter eine Herausforderung. HD rückt jeden Pickel ins Rampenlicht und machte aus jeder kleinen Hautunebenheit einen tiefen Krater.
So, reicht Dir das an Information?
Betreff: Re: Familienfreundlich!
Datum: 12. 04. 2019, 21 : 15:43
Liebe Anna,
so genau wollte ich gar nicht über die technischen Details informiert werden. Ich möchte wissen, wie es Dir geht, was Du machst?
Roger
*
Betreff: Einfach & bequem
Datum: 16. 04. 2019, 20 : 12:33
Roger,
ich will nicht nachtragend sein, aber was Du vor sieben Jahren mit mir gemacht hast, kostete mich ganze zwei Jahre meines Lebens.
Du hast mich innerhalb von 48 Stunden von „Himmel hoch jauchzend“ bis „zu Tode betrübt“ befördert. Härter konnte der Aufprall, und tiefer konnte der Abgrund nicht sein. Das konnte ich nicht verkraften. Für Dich und Deine Familie war Deine unwürdige Abschiedsmail die einfachste und die bequemste Lösung, nur für mich nicht. Es tat mir so weh! Der Schuss kam aus dem Hinterhalt. Wer sollte das überleben? Du hast mich in den Himmel geworfen, dann hast Du von unten Pfeil und Bogen angesetzt und mich abgeknallt.
Ich habe Dir mit der Verkündung meines Todes durch die hilfreiche Hand meines treuen Freundes Klaus Kleemann einen Stich versetzen wollen, einen den Du nie vergisst. Genauso wenig, wie ich vergessen kann, was Du mir zugemutet hast.
Ich gebe zu, mein Abgang war theatralisch, aber in vollem Umfang gerechtfertigt! Mein Leben hatte keinen Geschmack mehr.
Warum hast Du Dich nach unserer Trennung einfach tot gestellt? Nach Deiner Abschiedsmail kam nichts mehr. Am schlimmsten war nicht einmal die Tatsache dass Du mich verlassen hattest, sondern die unbeantwortete Frage nach dem ganz konkreten Warum und die Art und Weise WIE Du es gemacht hattest. Eine Mail. Punkt. Das war’s. Kein Anruf, kein Gespräch, kein Treffen – nach all dem?
Geht man so mit jemandem um, dem man noch 48 Stunden zuvor die ganz große Liebe erklärt hat?
Ich habe Wimpern gepustet und Blütenblätter gezupft. „Meldet er sich, meldet er sich nicht, meldet er sich, meldet er sich nicht.“ Ich habe sogar gebetet, was mir als bekennendem Atheisten gänzlich fremd war. Aber von Dir kam nichts. Dein Totstellen danach war schlimmer als die Trennung selbst. Mit ihr hast Du mir zunächst nur Hände und Zunge abgeschnitten, so dass ich nicht mehr handlungsfähig war. Aber was danach kam, war wie langsam von innen zerschnitten werden, über 730 Tage lang jeden Morgen Glasscherben schlucken und nicht zu begreifen, warum!
Warum SO?
Es ist zwar Schnee von gestern, aber vergessen habe ich es nicht. Werde ich wohl nie.
Betreff: Re: Einfach & bequem
Datum: 16. 04. 2019, 22 : 45:55
Liebe Anna,
vor sieben Jahren um diese Zeit habe ich Tag und Nacht nur an Dich gedacht. Und wenn ich nicht an Dich gedacht habe, habe ich Dir geschrieben oder mit dir telefoniert. Neben Dir war gerade noch Platz für meine Arbeit.
In dieser Zeit verlor mein bester Freund seinen Job, ich hatte kein Ohr für seine Sorgen, meiner Frau ging ich aus dem Weg, mein Sohn wurde schlechter in der Schule, hatte Probleme in seiner Basketballmannschaft und ich habe es nicht einmal bemerkt.
Ich war so verliebt in Dich, dass ich alles um mich herum vergessen hatte.
Mein Doppelleben hat mich fertig gemacht. Es war so anstrengend. Ich konnte so nicht weitermachen, ich musste mich entscheiden. Ich wollte nicht auf Dich verzichten, aber ich musste, sonst hätte es mich zerrissen. Ich hatte Angst, meinen Sohn zu verlieren. Außerdem dachte ich, dass es nicht heldenhaft ist, Frau und Kind zu verlassen. Ich dachte, dass ein Held ist, wer bei seiner Familie bleibt, auch wenn er sich neu verliebt.
Und nach unserer Trennung konnte ich Dir nicht schreiben, weil ich sonst nie hätte loslassen können. Das war egoistisch von mir, ich weiß. Ich bereue es.
Meine Ehe war eingeschlafen, wie von innen ausgehöhlt, nur die Hülle stand noch, wie eine Fassade oder eine Bühnendekoration. Nichts dahinter. Ich wollte es nicht wahrhaben, mir nicht eingestehen. Mein Ofen war aus.
Nachdem meine Frau unsere Mails gelesen hatte, begann der Krieg. Meine größte Befürchtung war, dass mein Sohn zur Kriegsbeute würde. Sie trat nicht ein. Sonja hat nicht versucht unseren Victor zu zerteilen, wobei „teilen“ ein Wort ist, was ihrem Rachefeldzug in keiner Weise gerecht wird. Sie wollte nicht teilen, sie wollte alles.
*
Betreff: Weltuntergang 2012
Datum: 17. 04. 2019, 18 : 34:00
Nun, mein Mitleid hält sich in Grenzen. Du erwartest jetzt nicht, dass ich Dich bedauere, oder? Und warum wolltest Du ein Held sein? Wozu?
2012, unser Jahr, sollte das Jahr des Weltuntergangs sein, nach dem Maya-Kalender zumindest. Dirk Bach war gestorben und Obama wurde wiedergewählt. Meine Welt ging wirklich unter, kurz vor Weihnachten! Leider gibt es keine Versicherung gegen Katastrophen wie diese.
Erzähl mir lieber, wie die heiße Schlacht um Haus und Hof vonstattenging und warum Du mich auf der Messe angesprochen hast.
Betreff: Dein Duft!
Datum: 17. 04. 2019, 18 : 54:12
Es war Dein Duft, ich konnte ihm nicht widerstehen, ich musste meinen Messerundgang unterbrechen und ihm folgen. Dein Parfüm ist noch dasselbe. Ich hatte es seitdem nie wieder gerochen. Ich hatte es so geliebt, es so gierig inhaliert damals. Ich konnte nicht anders als meiner Nase nach.
Betreff: Re: Dein Duft!
Datum: 17. 04. 2019, 19 : 34:11
Und? Wie heißt der Duft? Ich konnte ihn nach Deiner Notbremsung nicht mehr an mir selbst ertragen, monatelang habe ich ihn nicht mehr benutzen können.
Betreff: Ertappt!
Datum: 17. 04. 2019, 19 : 39:22
Ich weiß es nicht. Irgendetwas Teures aus Frankreich, oder?
Betreff: L’Instant magic
Datum: 17. 04. 2019, 20 : 19:55
Der Kandidat erhält null Komma null Punkte und darf mir dafür eine Anleitung geben, wie man seinem Ehemann die Haare vom Kopf grast. Wobei, in Deinem Falle ist das nicht der richtige Ausdruck. Du trägst noch immer dieselbe pflegeleichte Frisur wie damals, nämlich gar keine.
Also, ich bin ganz Ohr, möchte hören, wie es sich anfühlt, von der „Schwarzen Witwe“ gebissen zu werden.
Betreff: Schwarze Witwe
Datum: 17. 04. 2019, 20 : 45:15
Gut Anna, Du sollst die Anleitung zum Männer-Verspeisen haben. Ich gebe sie nur Dir, niemand außer meinem Anwalt weiß, was mir passiert ist. Es ist mir peinlich, weil es nicht sehr rühmlich für einen Mann ist, so ausgenommen zu werden. Aber es ist wirklich passiert. Meine Frau war unglaublich verletzt und in ihrer Eitelkeit getroffen. Sie hat ihren Schmerz in eine (also meine) Finanzkrise umgeleitet. So etwas passiert ja oft, aber die Fantasie meiner Frau erwies sich in dieser Beziehung als grenzenlos.
Im Gegenzug möchte ich von Dir wissen, wie Du Deine letzten Jahre verbracht hast.
Betreff: Re: Schwarze Witwe
Datum: 17. 04. 2019, 20 : 59:10
Ich habe Männer gesammelt.
Betreff: Hallo?
Datum: 17. 04. 2019, 21 : 30:04
Roger? Habe ich Dich erschreckt? Ich hoffe nicht. Ich muss jetzt Schluss machen, ich möchte noch ein paar Mails schreiben, die nicht an Dich adressiert sind.
Tschüss, Anna.
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Betreff: News
Datum: 17. 04. 2019, 21 : 36:33
Carlchen,
bist Du online? Wenn ich mich recht erinnere waren wir heute zum E-Mail-Update verabredet. Das ist billiger als nach Australien zu telefonieren. Wie geht es Dir, meine liebste, beste Freundin? Du bist so weit weg.
Annuschka
Betreff: Re: News
Datum: 17. 04. 2019, 21 : 39:59
Klar bin ich drin. Guten Morgen! Du solltest langsam wissen, dass Du Dich auf Deine gute alte Carla verlassen kannst, auch morgens um sieben Uhr. Du hast News? Ich bin sehr gespannt was Du zu beichten hast, denn bei mir ist alles ruhig, „ohne Befund“ sozusagen. Was treibt Dich um, meine Liebe? Hast Du Stefan endlich dazu gebracht, mit Dir die Paartherapie zu beginnen? Ihr habt Euch ja nur noch im Kreis gedreht, nach meinem letzten Informationsstand zumindest.
Betreff: Schmoll-Hase
Datum: 17. 04. 2019, 21 : 42:19
Ja, meine Beste, wir hatten gestern die erste Sitzung mit dem Therapeuten. Er hat einen wunderschönen Namen. Er heißt Dr. Schmoll-Hase. Wir sprechen ihn nicht „Schmoll – Bindestrich – Hase“ aus, sondern „Schmollhase“ in einem Wort. Der Name ist Programm.
Ja, Du hast es auf den Punkt gebracht, wir drehten uns im Kreis, es musste Hilfe von außen ran. Ich hoffe, dass Schmoll-Hase uns retten kann. Es ist schon schlimm, dass mir bereits nach zwei Jahren mit Stefan irgendwie die Lust abhanden gekommen ist. Wie lange dauert so etwas normalerweise?
Betreff: Re: Schmoll-Hase
Datum: 17. 04. 2019, 21 : 44:44
Keine Ahnung, ich nehme an, irgendwann finden sich Paare immer damit ab, dass der Ofen aus ist. Dann ist eben etwas anderes wichtig. Vertrautheit, Geborgenheit, gemeinsame Erinnerungen oder einer von beiden geht fremd, wenn die Gewohnheit gar zu gewöhnlich wird. Ganz einfach. Aber jetzt lass mich nicht länger zappeln, ich will wissen, was bei einer Paartherapie passiert. Was hat Schmoll-Hase mit Euch gemacht?
Betreff: Aw: Schmoll-Hase
Datum: 17. 04. 2019, 21 : 49:33
Nun, mein liebes Carlchen, er hat erst so etwas wie eine Anamnese gemacht. Wir mussten die Karten auf den Tisch legen, aussprechen was uns zu ihm treibt. Meistens habe ich geredet. Stefan saß schweigend neben mir im Beratungszimmer. Ich habe ihn gedrängt mitzukommen, dementsprechend saß er da wie lebendiges Inventar oder wie ein Statist. Ich denke er schämte sich oder glaubt nicht daran, dass die Sache durch Gespräche ins Lot zu bringen ist. Und dann hat uns Schmoll-Hase etwas bauen lassen, mit Holzbauklötzchen. Was sagst Du dazu?
Betreff: Ich staune Bauklötze
Datum: 17. 04. 2019, 21 : 50:54
Jetzt mach es nicht so spannend, was ist da passiert? Was habt ihr gebaut?
Betreff: Holzbauklötzchen
Datum: 17. 04. 2019, 22 : 25:00
„Wenn Sie bitte Ihre Sexualität mit diesen Holzbausteinen darstellen würden!“, hat Schmoll-Hase gesagt. Dabei hing er lässig in seinem Sessel, äugte mich und Stefan über den Rand seiner schwarzen, eckigen, dickrandigen Brille an. Wir saßen ihm gegenüber. Mich überkam ein leichtes Schmunzeln. Himmel, da bin ich froh, dass ich meine Sexualität nicht tanzen oder aufmalen muss, dachte ich. Ich schnappte mir vier von den kleinen länglichen Holzbausteinen, die Schmoll-Hase zuvor auf dem runden Tisch in seinem Beratungszimmer ausgelegt hatte. Es waren kleine längliche Quader aus Kiefernholz, daumendick und nicht länger als eine Zigarettenschachtel.
Stefan fand die Sache nicht ganz so amüsant und auch nicht so spannend wie ich. Ich sah ihm an, dass sich alles in ihm sträubte. Ich glaube er fühlte sich vorgeführt. Ich hatte ihn zur Paartherapie geschleppt, ihn dazu überredet, weil er mich mit seinen ständigen Begehrlichkeiten massiv unter Druck gesetzt hatte. Je mehr er von mir verlangte, umso mehr hatte ich mich zurückgezogen. Wir wollten aber nicht gleich die Flinte ins Korn werfen und uns trennen. Wir sind der festen Überzeugung, dass wir nur eine schlechte Phase in unserer Beziehung zu durchleben haben. Ich habe Stefan gesagt, er soll mitkommen, oder ich mache die Therapie allein. Dann würde sie aber länger dauern. Es muss unbedingt etwas passieren, so wie es jetzt zwischen uns war, will ich nicht alt werden. Ich bin erst 45, ich will nicht leidenschaftslos 80 werden und sterben. Und ich möchte auch nicht zu den Frauen gehören, die irgendwann damit aufhören, sich beide Beine zu rasieren und die Prozedur nur auf ein Bein beschränken, um im Bett das Gefühl zu haben, dass noch ein Mann daneben liegt.
Es ist mir wichtig, dass wir etwas unternehmen. Meine Argumente haben Stefan überzeugt, aber wohl fühlt er sich dabei nicht.
Er raffte also den gesamten Rest der Bauklötzchen an sich und begann konzentriert zu stapeln. Schmoll-Hase hatte uns kleine Tabletts als Unterlage gegeben, damit er die Bauwerke unbeschadet bis zur nächsten Sitzung vom Tisch nehmen und auf sein Regal herüberretten konnte.
Ich hatte meine vier kleinen Bausteine übereinander gestapelt und ein filigranes Gebilde entstehen lassen, in sich verdreht wie eine kleine Wendeltreppe, die nur vier Stufen hat. Obwohl das kleine Bauwerk etwas kopflastig wirkte, fiel es nicht um. Gute Statik, dachte ich mir. Es ging ganz schnell, ich hatte nicht lange überlegen müssen. „Fertig.“, sagte ich.
Schmoll-Hase schien zufrieden mit mir und schrieb etwas in seinen Notizblock. Der sieht aus wie ein Muttiheft. Erinnerst du Dich noch daran? Als Kind hatte mir meine Mutter eines von diesen kleinen grauen linierten Heftchen mit in die Schule gegeben, damit sich Eltern und Lehrer darin über meine Lernfortschritte und mein Benehmen austauschen konnten. Manchmal wurde sogar mit einem kleinen Stempel ein Bienchen hinein gedruckt, ein Lob.
Schmoll-Hase sieht übrigens ziemlich gut aus, wenn er da so tiefenentspannt in seinem Sessel lümmelt. Ich schätze ihn auf Mitte vierzig. Er ist schlank, drahtig, trägt ein lässiges Hemd und Jeans, teure Schuhe, gepflegte Hände hat er auch, keinen Ehering. Darf ich so etwas denken, während Stefan neben mir Bauklötzchen stapelt?
„So, habe auch fertig!“ Mit seinem unvollständigen Satz machte Stefan deutlich, dass er die Sache nicht ganz ernst nahm. Er lehnte sich stolz in seinem Stuhl zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Wie ein Kind, das stolz den „Kuchen“ in seinem Nachttopf betrachtet und ihn, Bestätigung erheischend, seiner Mutter zeigt. Herausfordernd schaute er zu Schmoll-Hase herüber.
Ich starrte entsetzt auf das monumentale, trutzige Bauwerk was da neben meiner kleinen Wendeltreppe auf dem Tisch vor sich hin protzte.
Stefan hatte gebaut!
Aus achtundzwanzig Klötzchen hatte er einen Turm errichtet, so breit und hoch wie ein Industrieschlot gewaltigen Ausmaßes! Am Fuß war das Gebilde breit, es verjüngte sich nach oben. Diese Schlote kenne ich aus meiner Kindheit. Auf dem Weg zu Verwandten war ich mit meinen Eltern oft durch ein riesiges Industriegebiet zwischen Leipzig und Halle gefahren. Mehrere dieser Schlote standen dort in Buna-Leuna und bliesen giftige weiße Dämpfe in den grauen Himmel des Ostens. Erinnerst Du Dich, Carlchen? Diese Szenerie wirkte damals sehr beängstigend auf mich im Trabant meiner Eltern, dessen Abgasgestank sich mit dem Geruch aus den Industrieschornsteinen vermischt hatte. Ich hatte immer Angst vor der „Wolkenfabrik“.
Und jetzt hatte ich auch Angst – vor Stefan. Ich fühlte mich einfach nur erschlagen von der gewaltigen Lust meines Freundes, die er mit Bauklötzchen dargestellt hatte. Ich schaute Hilfe suchend zu Schmoll-Hase herüber. Der verzog keine Miene, machte sich nur eine Notiz in sein Mutti-Heft.
Was denkst Du dazu, Carla?
Betreff: Pffff
Datum: 17. 04. 2019, 22 : 30:01
Pffff. Ich denke, Euer Schmoll-Hase hat Euch auf ganz einfache Weise gezeigt, was los ist. Ich glaube allerdings nicht, dass er mit Holzbauklötzchen Eure Beziehung retten kann. Und dann? Was kam dann?
Betreff: Dann war Schluss
Datum: 17. 04. 2019, 22 : 32:03
Er hat uns einen neuen Termin gegeben. Wir sollten wohl alles erst einmal setzen lassen. Stefan ist sehr schweigsam. Meinst Du, wir kriegen das hin?
Betreff: Kopf hoch!
Datum: 17. 04. 2019, 22 : 38:44
Ich denke, Du kannst froh sein, dass Stefan überhaupt mitgekommen ist. Die meisten Männer würden sich weigern, meiner übrigens auch. Du bist ihm wichtig, Annuschka. Also, ich würde sagen, nach dem nächsten Termin meldest Du Dich und dann sehen wir weiter.
Ich umarme Dich! Bis bald. Carla
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