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Der Abschied

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„Ich möchte einen Toast ausbringen! Auf unseren Genossen Hua Junshi.“

Der Vizepolizeiinspektor Liu des Vierten Reviers von Peking steht auf und hebt sein Glas. Ein lautes Stühle rücken ist die Folge seines Ausspruchs, alle Anwesenden stehen auf und nehmen ihre Biergläser in die Hände. Hua Junshi schwankt etwas, als er sich erhebt. Es ist nicht der erste Toast bei diesem Bankett. Er hält sich umständlich an der Lehne seines Stuhls fest.

„Auf dass die Rentenzeit genauso erfolgreich wird wie Ihre Dienstzeit!“

Vizeinspektor Liu streckt seinen Arm in die Mitte des Tisches, alle folgen seinem Beispiel. Beim Anstoßen der bis zum Rand gefüllten Gläser schwappt die Hälfte des Inhalts über die Hände in das scharfe Huhn mit Erdnüssen, welches in der Mitte des großen Tisches thront.

„Danke, Genosse Liu“, lallt Hua Junshi, „ohne die Hilfe der Kollegen hätte ich meine Arbeit nicht so gut machen können.“

Die Kollegen stimmen ein widersprechendes Gemurmel an, werden aber von Vizeinspektor Liu unterbrochen: „Gan bei! Leert die Gläser“. Kein Tropfen Bier bleibt zurück und eine in der Ecke wartende Kellnerin stürzt herbei, um die leeren Gläser wieder zu füllen.

„Was wirst du jetzt mit der vielen Freizeit anfangen?“ fragt Hua Junshis langjähriger Partner Dong Lian, der schon seit ein paar Jahren im Ruhestand ist.

„Du weißt doch, Rentner sind die Leute, die am wenigsten Zeit haben!“ bellt der Kollege gegenüber und lacht lauthals über seinen eigenen Scherz.

„Ich habe vor ein paar Jahren angefangen, Tauben zu züchten“, antwortet Hua Junshi. „Ich denke, ich kann meine Zucht jetzt vergrößern und eventuell an Wettbewerben teilnehmen. Mal schauen.“ Er wiegt nachdenklich den Kopf. „Außerdem war ich noch nie in der Provinz Yunnan, da werde ich auf jeden Fall hinfahren!“

Vizeinspektor Liu legt ihm ein Stück kross gebratene Ente auf seinen kleinen Teller. „Essen Sie! Essen Sie!“ Hua Junshi werkelt ungeschickt mit seinen Stäbchen, er hat sich in all den Jahren nicht an Alkohol gewöhnen können. Zwei Gläser Bier und zwei Schnäpse reichen aus, um ihn mit hochrotem Kopf und dicker Zunge zum Gespött der Kollegen zu machen. Aber heute ist es egal. Sein letzter Tag bei der Volkspolizei, nach genau vierzig Jahren Dienst geht er in den Ruhestand. Vierzig turbulente Jahre, geprägt von politischen Unruhen, Grausamkeiten, für die er sich teilweise schämt, aber auch erfolgreich gelösten Kriminalfällen. Er hat viel gesehen, viel erlebt und hat einige Kriminelle zur Strecke gebracht. Nur ein Fall ist ihm viele Jahre nicht aus dem Kopf gegangen, er ist als ungeklärter Fall zu den Akten gelegt worden und wird auch nicht mehr den Weg aus dem sogenannten Toten Archiv finden. Vizeinspektor Liu hatte damals ohne lange zu zögern das Ende der Ermittlungen verlangt, für Hua Junshi war es ein Segen und ein Fluch. Sein erster Fall. Ungelöst. Er kannte das Opfer. Und er kann sich bis heute nicht verzeihen, dass er nicht genau wusste, wer der Mörder war.

* * *

Es war eher Zufall, dass Hua Junshi zum Tatort gerufen wurde. Er hatte Dienst an dem schwülen Augusttag 1978 und war noch ganz neu in der Kriminalabteilung des Vierten Reviers. Viele Aufgaben hatte er noch nicht übertragen bekommen, sein Vorgesetzter Liu fand, dass er mit seinen knapp zweiunddreißig Jahren noch zu jung war, um eins und eins zusammenzählen zu können. Dabei hatte er während der Kulturrevolution, die 1966 begann, viele Erfahrungen als junger Polizist sammeln können. Sein Vorgesetzter Liu sah das anders und gab ihm nur kleine Räubereien und Diebstähle, die sowieso nie aufgeklärt werden konnten. Es gab selten gute Personenbeschreibungen, geschweige denn verlässliche Zeugen. Jeder Fall war zum Scheitern verurteilt. Als der Anruf kam, dass eine Leiche gefunden wurde, kritzelte Hua Junshi alle Informationen hastig auf einen Zettel, suchte danach aufgeregt seinen Vorgesetzten und als er ihn nicht fand, bat er einen anderen Kollegen, seinen späteren Partner Dong Lian, mit ihm an den Tatort zu fahren. Viele der Polizisten waren in Beidaihe, einem Kurort am chinesischen Meer. Offiziell nahmen sie an einer Tagung teil, jeder aber wusste, dass sie sich dort nur vergnügten, auf Staatskosten. Dong Lian hatte schon einige Jahre bei der Mordkommission gedient und bearbeitete mittlerweile eigenständig Fälle.

„Eine Leiche?“ gähnte er, als Hua Junshi aufgeregt mit dem Zettel in der Hand wedelte. „Wer wurde denn ermordet?“

„Weiß ich nicht“, gestand Hua Junshi, „aber sie liegt nicht weit entfernt von meinem Familienhaus. Ich kenne mich dort gut aus und kann dir eine große Hilfe sein.“

Dong Lian reckte sich, trotzdem er erst neununddreißig Jahre alt war, hatte er schon einen kugelrunden Bauch. Er nutzte gerne seine Position aus und ließ sich von Nachbarn, Freunden und Leuten, die ihn um einen Gefallen baten, ausgiebig zum Essen einladen und mit teurem Maotai versorgen. Diesem berühmten chinesischen Schnaps war es auch zu verdanken, dass er schon jetzt schlechte Leberwerte hatte. Hua Junshi sah neben Dong Lian wie ein Hungerhaken aus, für seine Größe viel zu dünn. Seine Hände waren sehr feingliedrig und die Finger unnatürlich lang. Die Haare trug er kurz, im Sommer ließ er sich auch gerne mal einen Stoppelschnitt von dem Friseur auf der Strasse verpassen.

„Wo ist Liu? Eigentlich müsste er rausfahren.“ Dong Lian wählte die Durchwahl von Liu, doch auch der Kollege, der das Telefon beantwortete, wusste nicht, wo er war.

„Ist wohl noch beim Essen“, vermutete jener. „Vorhin kamen ein paar Inspektoren von anderen Revieren, das kann noch dauern.“

Dong Lian griff nach seiner Mütze und dem Autoschlüssel.

„Hast Glück, Kleiner“, witzelte er von oben herab, „darfst mit auf deine erste große Tour. Schon mal eine Leiche gesehen? Ich sage dir, der Anblick ist nicht immer schön.“

Hätte Hua Junshi gewusst, was ihn am Tatort erwartete, er wäre vielleicht nicht so erpicht darauf gewesen, mitzufahren.

Nach wenigen Minuten Fahrt klopften die beiden Beamten an die Tür des Anrufers. Die Wohnung lag in einer der schmalen Pekinger Gassen, direkt neben einer der zahlreichen öffentlichen Toiletten. Der Geruch von Urin und Exkrementen hing in der warmen Luft. Nach nur wenigen Sekunden schon wurde die Tür von einem alten Mann aufgerissen, er trug nur eine kurze Hose und ein früher mal weißes Unterhemd, dazu blaue Badelatschen. Das Hemd hatte er wegen der Hitze bis unter die Achseln hochgerollt. Seinen dicken Bauch trug er ungeniert vor sich her.

„Hier, gleich um die Ecke, in einem Müllhaufen“, schoss es aus dem Mann heraus, ohne dass Hua Junshi und Dong Lian Zeit gehabt hatten, sich ordnungsgemäß vorzustellen. Sie gingen um das öffentliche Klo, an dessen Hinterseite die Anwohner eine freie Stelle als Müllkippe nutzten.

„Vorhin, als ich den Müll raus brachte, habe ich ihn entdeckt. Dort, ich habe ihn mit der Plastiktüte zugedeckt, damit ihn kein anderer sieht und womöglich den Tatort ruiniert, ich weiß ja wie wichtig das für die Suche des Mörders ist!“

Stolz auf sein Wissen zeigte der alte Mann auf eine blaue Plastiktüte, die wie zufällig auf dem Müllberg lag. Dong Lian trat vorsichtig in den Haufen Unrat und versank in Eierschalen und Plastikverpackungen. Der Toilettengeruch mischte sich mit dem undefinierbaren Müllgeruch. Verärgert sah Dong Lian auf seine Schuhe, die würden hinüber sein nach diesem Gang im Müll. Er nahm die Plastiktüte weg und sah eine Hand herausragen. Vorsichtig schaufelte er mit einem Stück Hartplastik, das er neben der Hand fand, den Müll zur Seite, bis er ein Gesicht sehen konnte. Die Todesursache war auch ohne medizinische Kenntnisse erkennbar. Dem Opfer wurde der Hals durchgeschnitten. Das Blut war schon trocken und mit seinen wenigen Erfahrungen tippte Dong Lian auf eine Todeszeit zwischen Mitternacht und Morgen, also vielleicht keine zwölf Stunden her. Er trat zur Seite und sah, wie Hua Junshi den Kopf reckte, um etwas zu erkennen.

„Ruf bitte im Revier an und sag dem Kollegen von der Fotoabteilung, er soll sofort kommen. Riegel vorher die Müllkippe hier ab, damit keiner den Tatort zerstört“, befahl Dong Lian. Hua Junshi rührte sich nicht. Wie vom Donner gerührt starrte er auf die Leiche.

„Scheiße, ich hätte den Jüngling doch nicht mitnehmen sollen“, murmelte Dong Lian. „Hey, hörst du mich?“ rief er. „Mach keinen Mist und brich jetzt hier zusammen, so schlimm sieht die Leiche nun auch nicht aus.“

Hua Junshi kam langsam wieder zu sich.

„Das ist Lao Zhang“, gab er tonlos von sich. „Das kann nicht sein, wer sollte ihm was Böses tun?“

Hua Junshi schüttelte den Kopf, ungläubig und unfähig, sich zu rühren.

„Hey Genosse“, rief Dong Lian den alten Mann, „geh zu einem Telefon und rufe diese Nummer an. Lass dich mit Genosse Peng verbinden, sag ihm, Dong Lian braucht ihn hier. Warte, ich schreib dir alles auf.“

Im Müll balancierend suchte er nach einem Zettel und einem Stift, um dem alten Mann die Anweisungen zu geben.

„Wer bezahlt mir das?“ murrte der alte Mann. Dong Lian überreichte ihm mit dem Zettel eine ein Mao Münze.

„Beeil dich!“

Er deckte die Leiche wieder mit der Plastiktüte zu, stolperte von dem Müllberg und versuchte, die inzwischen eingetroffenen Schaulustigen zu vertreiben.

„Hier gibt es nichts zu sehen, geht weiter, Leute!“

Als die Gruppe der Neugierigen sich langsam auflöste, wandte er sich Hua Junshi zu.

„Hey, ist jemand da?“ fragte er zynisch.

Als Hua Junshi nicht reagierte, schüttelte Dong Lian ihn an den Schultern vor und zurück, bis er endlich aus seiner Trance erwachte.

„So, jetzt erzähl mal, wer ist der Typ?“

* * *

Dong Lian stößt Hua Junshi an.

„Na, alter Freund, wo warst du gerade?“ fragt er, als Hua Junshi erschrocken den Kopf dreht. „Doch nicht etwa wieder bei dem Fall Zhang, oder?“

Dong Lian braucht keine Antwort. Er sieht an dem Gesicht seines Partners, dass er genau darüber nachgedacht hatte.

„Das ist über fünfundzwanzig Jahre her, wie kannst du immer noch darüber grübeln?“

Mit rollenden Augen schüttelt Dong Lian den Kopf. Hua Junshi sieht ihn aus seinen schon vom Alkohol Blut unterlaufenen Augen an. Er erwidert nichts. Lange Jahre hat er Dong Lian nicht die Wahrheit gesagt. Auch das verzeiht er sich nicht. Es war die schwerste Entscheidung, die er je gefällt hat. Manchmal, wie heute Abend, überkommt ihn das schlechte Gewissen. Er weiß nicht, ob nicht vielleicht jeder so gehandelt hätte wie er. Hatte er zuviel Angst vor den Konsequenzen gehabt? War er als Polizist nicht verpflichtet gewesen, alle Tatsachen darzulegen? Er weiß es nicht, es ist müßig, darüber weiter nachzudenken. Es ist, wie es ist. Und jetzt ist es sowieso zu spät.

„Schluss mit dem Unmut“, fährt Vizeinspektor Liu in seine Gedanken. „Wir feiern Ihren Abschied, vorbei ist vorbei. Wir sollten alle in die Zukunft schauen.“

„Auf die Zukunft“, toastet der Fotograf Peng, der wie Dong Lian schon seit mehreren Jahren Rentner ist und extra für diesen Abend eingeladen wurde.

„Auf die Zukunft“, schließen sich alle anderen an. Hua Junshi hebt mechanisch sein Glas und trinkt mit seinen Kollegen.

* * *

Lao Zhang war ein guter Freund der Familie. Nachdem Hua Junshis Vater schon früh an einem Herzversagen gestorben war, nahm er sich der Familie an. Er kümmerte sich um die Kinder, vier an der Zahl, und vor allem um Hua Junshis Mutter. Er ging in dem Haus ein und aus, brachte sogar seinen kleinen Sohn oft mit. Schon damals hatte er eine hohe Stellung in der Stadtregierung Pekings inne gehabt. Und obwohl er fast sieben Jahre jünger war als Hua Junshis Mutter, schien es eine enge Verbindung zwischen den beiden zu geben. Oft blieb er über Nacht, weil, wie seine Mutter erklärte, seine Wohnung zu weit weg war, um abends noch nach Hause zu fahren. Lao Zhangs Frau wurde nie erwähnt und Hua Junshi fragte sich manchmal, ob sie vielleicht auch schon tot war. Dank Lao Zhang hatten seine Mutter, seine drei jüngeren Brüder und er selbst 1958 immer genug zu essen, als der Große Sprung nach vorn begann, bei dem die Bauern, statt zu säen und zu ernten, Eisen gossen. Manchmal sah seine Mutter in der Zeit aber auch sehr traurig aus. Hua Junshi fragte nie nach, für ihn war klar, dass sie den Tod des Vaters noch nicht verkraftet hatte. Lao Zhang besaß sogar einen Schlüssel für die Wohnung und kam und ging, wie es ihm passte. Wenn Lao Zhang allerdings zu viel getrunken hatte, bekam Hua Junshi Angst vor ihm. Manchmal hörte er seine Mutter dann leise weinen. Er traute sich auch hier nicht zu fragen, was los war, er hielt an dem Glauben fest, dass die Mutter den Vater vermisste und Lao Zhang manchmal einfach nicht die Stütze war, die die Mutter brauchte, vor allem, wenn der grad mit einem Schwips zu tun hatte.

Während der Kulturrevolution verschwand Lao Zhang für einige Jahre. Seine Mutter erklärte, er wäre in eine Kleinstadt versetzt worden, um dort für Ordnung zu sorgen, nachdem der dortige Bürgermeister als Konterrevolutionär entlarvt wurde. Da die Stadt in der Provinz Anhui lag und die Fahrt dorthin Tage dauerte, kam er nur selten nach Peking. Hua Junshi sah ihn nur zweimal in der ganzen Zeit, die Lao Zhang in Anhui war. Außerdem war er selbst auch schon viel zu beschäftigt, ebenfalls Konterrevolutionäre zu verfolgen. Er arbeitete schon seit drei Jahren bei der Polizei, als die Kulturrevolution begann. Zusammen mit den Roten Garden bildete die Polizei die ausführenden Organe, die die Politik und die Säuberungsaktion Mao Zedongs durchsetzten. Die Roten Garden spürten die Intellektuellen auf und agierten wie die Polizei: sie sperrten Leute ein, verhörten sie, stellten sie vor ein inoffizielles Gericht, was oft genug selbst aus Roten Garden bestand. Hua Junshi verhaftete ebenfalls alle, die auch nur dem geringsten Verdacht unterlagen, konterrevolutionär zu sein. Oft weigerten sich die Gefangenen, zu reden oder ihre Schuld einzugestehen. Und nicht selten wandte er Gewalt an, um es regelrecht aus ihnen herauszuprügeln. Die ersten Male fühlte er sich unwohl. Er war kaum zwanzig Jahre alt, wusste nicht viel über Recht und Unrecht, er wusste nur, dass Mao Recht hatte. Das genügte. Treu ergeben folgte er den Worten des großen Vorsitzenden. Und auch wenn er die geschwollenen Gesichter der Befragten sah und es ihn anfangs mit Übelkeit erfüllte, immer wieder in die schon gebrochenen Rippen und aufgeplatzten Kopfwunden zu treten und zu schlagen, wusste er, dass er das richtige tat, zum Wohle des chinesischen Volkes. Er verdiente sich bis zum Ende der Kulturrevolution im Jahr 1976 Respekt bei seinen Kollegen im Vierten Revier und stellte, davon ermutigt, unermüdlich Anträge zur Versetzung in die Kriminalkommission. Und Ende 1976 hatte er es geschafft. Er wurde Mitglied des Polizeistabs zur Aufklärung krimineller Vergehen.

Nun stand er am Ziel seiner Wünsche: an der Aufklärung eines Mordfalles mitzuwirken. Und ausgerechnet musste es ein Opfer sein, das ihm emotional nahe stand. Dong Lian hatte aufmerksam zugehört als Hua Junshi ihm alles erzählte, was er von Lao Zhang wusste und wie seine Verbindung zu ihm war.

„Dir ist klar, dass du wahrscheinlich nicht an diesem Fall mitarbeiten kannst, oder?“ musste Dong Lian ihn enttäuschen. „Du bist ja praktisch persönlich beteiligt.“

Davon wollte Hua Junshi nichts wissen und Dong Lian war es all die Jahre ein Rätsel, wie Hua Junshi es geschafft hatte, den damaligen Inspektor des Vierten Reviers zu überzeugen, zusammen mit Dong Lian und dem Vorgesetzten Liu diesen Mord übertragen zu bekommen. Aber er schaffte es. Vielleicht einfach durch die Tatsache, dass er gleich am ersten Tag wertvolle Informationen über Lao Zhang beisteuern konnte. Ohne viel Zeit verlieren zu müssen, konnten Dong Lian und Hua Junshi die ersten Befragungen durchführen.

Hua Junshis Mutter war geschockt, als ihr Sohn mit seinem Kollegen in dienstlicher Absicht vor der Tür stand. Viel konnte sie nicht helfen. Er habe zwar viel Zeit hier verbracht, aber nie über sich oder seine Arbeit geredet.

„Unser Verhältnis war freundschaftlich und man könnte es auch als eng betrachten“, erzählte sie weiter, wobei sie ihren Sohn eindringlich ansah. „Er war nach dem Tod meines Mannes wie ein Vater für meine Söhne und hat uns viel geholfen. Ich wüsste keinen Grund, weshalb ihm jemand etwas antun könnte.“

„Sie wussten aber, dass Lao Zhang verheiratet war, oder?“

„Ja, das wusste ich.“

„Können Sie Ihre Beziehung zu Lao Zhang bitte etwas deutlicher beschreiben?“

Hu Junshi sah seine Mutter an, auch sie blickte zu ihm. Fast ängstlich, wie ihm schien. Sie atmete tief ein. Jetzt sah sie eher angriffslustig aus.

„Ich glaube nicht, dass Sie das etwas angeht. Wir hatten, wie gesagt ein freundschaftliches Verhältnis, er hat viel für uns getan und das reicht. Ich habe ihn seit langem nicht mehr gesehen, er war in letzter Zeit sehr mit seiner Arbeit beschäftigt. Deswegen kann ich Ihnen auch nicht weiter helfen.“

„Hatten Sie jemals Kontakt zu seiner Frau?“

„Nein.“

„Lao Zhangs Frau hat Sie auch nie kontaktiert?“

„Nein.“

„Wie lange dauerte Ihre, äh, Freundschaft an?“

„Bis zum Beginn der Kulturrevolution. Lao Zhang wurde dann nach Anhui versetzt.“

„Haben Sie ihn danach noch mal wieder gesehen.“

„Ja.“

Dong Lian wurde wütend, dass er Hua Junshis Mutter alles aus der Nase ziehen musste, gab sich aber große Mühe, das zu verstecken.

„Wie oft haben Sie ihn noch gesehen?“

„Keine Ahnung, vielleicht dreimal, vielleicht aber auch viermal. Ich habe es nicht gezählt.“

„War das während der Kulturrevolution oder danach?“

„Während, danach habe ich ihn nicht mehr gesehen. Obwohl, doch, im Fernsehen.“

Lian Dong gab auf, er bekam das Gefühl, dass Hua Junshis Mutter tatsächlich nichts weiß, was zu der Aufklärung des Falles beitragen könnte. Und auch wenn sie deutlich ihren Unmut über diese Fragerei durchblicken ließ, glaubte er ihr. Hua Junshi indes fühlte sich wie in einer Zwickmühle. Er erinnerte sich an das Weinen der Mutter damals vor vielen Jahren und nahm sich vor, noch mal unter vier Augen mit seiner Mutter zu reden. Erst einmal zogen sie aber mit relativ wertlosen Erkenntnissen von dannen.

Die Frau von Lao Zhang machte derweil keinen Hehl aus ihrem Hass ihrem Mann gegenüber.

„Ein Frauenheld war er, nichts anderes! Ständig schlief er woanders, mir erzählte er, er müsse im Büro bleiben und Überstunden machen. Pah, das ich nicht lache! Für wie blöd hat er mich eigentlich gehalten! Und ich möchte nicht wissen, was er in Anhui alles getrieben hat! Monatelang kam er nicht nach Hause, rief nicht an, schrieb keinen Brief. Mich wundert es nicht, dass man ihn in einer Müllkippe gefunden hat. Wahrscheinlich hat ein gehörnter Ehemann ihm aufgelauert.“

In ihren Augen blitzte nur Wut, keine Trauer, keine Anteilnahme über den gewaltsamen Tod ihres Ehemanns, mit dem sie immerhin viele Jahre Tisch und Bett geteilt hatte. Dong Lian räusperte sich: „Ihnen ist bewusst, dass Sie auch zu den Verdächtigen gehören, oder?“

Erschrocken sah die Witwe auf, dann nahm die Wut wieder Überhand.

„Ich wünschte, ich hätte es getan und zwar viel früher! Aber Sie können mir glauben, an dem Kerl hätte ich mir nicht die Hände schmutzig machen wollen.“

„Einem die Kehle durchzuschneiden sieht auch eher nach Männerarbeit aus, findest du nicht?“ gab Hua Junshi später zu Bedenken.

„Wir dürfen uns nicht von dem Offensichtlichen blenden lassen, sondern müssen jedem Detail nachgehen“, warnte Dong Lian. „Mal sehen, ob der Autopsiebericht noch etwas hergibt.“

Aber bevor sie zurück ins Revier fuhren, stand noch ein Besuch in dem Büro von Lao Zhang auf dem Plan. Dort erfuhren sie allerdings nicht sehr viel, außer dass Lao Zhang ein geschätzter Kollege war, verlässlich und linientreu. Sie bekamen ein paar Telefonnummern und Adressen aus Anhui, um dort die Kollegen auf die Spur schicken zu können. Das veranlasste Hua Junshi sofort, als sie im Revier ankamen. Der vorläufige Autopsiebericht lag auch schon vor und gemeinsam gingen sie ihn durch. Fest stand, dass Lao Zhang auf der Müllkippe ermordet wurde. Die Spurensicherung fand sein Blut in dem stinkenden Müllberg, aber nicht die Tatwaffe. Bei der musste es sich um ein relativ kleines Messer gehandelt haben, nicht besonders scharf. Vielleicht ein kleines Küchenmesser. Der Täter muss Linkshänder gewesen sein, das konnte der Arzt an der Art des Schnittes feststellen.

„Das schränkt die Suche beträchtlich ein“, freute sich Dong Lian, denn die meisten Chinesen verlangten von ihren linkshändigen Kindern sich auf die rechte Hand umzugewöhnen, sobald sie schreiben lernten. Damit war die Zahl der Linkshänder relativ klein. Hua Junshi wurde blass. Seine Mutter war Linkshänderin. Die Todeszeit stand ebenfalls fest, er muss in der Nacht vom 26. August auf den 27. ermordet worden sein, so gegen zwei Uhr morgens.

„Wir müssen alle Befragten noch mal anrufen und nach dem Alibi fragen und natürlich, ob sie Linkshänder sind“, entschied Dong Lian.

„Das mach ich“, meldete sich Hua Junshi etwas zu eifrig zu Wort.

Misstrauisch sah der Vorgesetzte Liu den jungen Kollegen an. „Okay, ich möchte den vollständigen Bericht bis heute Abend auf dem Tisch haben.“

„Kein Problem!“

Hua Junshi sah betont gelassen in die Runde und notierte in seiner kaum leserlichen Handschrift den Befehl. Weiterhin ergab der Bericht, dass die Geldbörse als auch sämtliche Papiere fehlten. Die Frage war, ob er die nicht dabei hatte oder eben einem Raubüberfall zum Opfer gefallen war.

„Tja, sieht so aus, als ob wir diese Möglichkeit auch in Betracht ziehen müssen“, sagte Dong Lian, „aber erst einmal müssen wir uns ein genaues Bild von Lao Zhang machen. Vielleicht war es doch ein gezielter Mord. Seine Frau hat ja nicht gerade in den höchsten Tönen von ihm gesprochen.“

Bewundernd und ängstlich zugleich sah Hua Junshi seinen kombinierenden Kollegen an. Sollte seine Mutter etwas mit dem Mord zu tun haben, wird Dong Lian das herausfinden, das war ihm klar. Er musste heute Abend dringend noch einmal mit seiner Mutter sprechen. Und diesmal mussten er und vor allem sie mit offenen Karten spielen.

* * *

Langsam steigt schon die Übelkeit in Hua Junshi hoch. Dieses ganze verdammte Bier! Sich einem Toast zu widersetzen kommt in China einem Gesichtsverlust gleich. Es ist im Revier allgemein bekannt, dass Hua Junshi alles andere als trinkfest ist. Und er löst damit immer noch ungewollte Heiterkeit aus. Jedes Mal fragt er sich, wie seine Kollegen diese Unmengen an Alkohol vertragen.

„Vielleicht sollte ich einfach mal den Finger in den Hals stecken“, überlegt er. Doch schon allein der Gedanke genügt. Mit einer schnellen Bewegung dreht er den Kopf und erbricht das scharfe Huhn, den Sellerie mit Lilienblättern und ungefähr einen Liter Bier in einem bräunlichen Schwall auf die weißen Kacheln des Restaurantbodens. Das Erbrochene fliesst auf dem unebenen Boden Richtung Tür.

„Wenn ich nicht wüsste, dass dies eine Verabschiedung in die Rente ist, würde ich sagen, der Neuling hat sich nicht im Griff“, grölt ein Kollege belustig und alle stimmen in das Gelächter mit ein. Auch Dong Lian lacht, empfindet aber trotzdem noch ein wenig Mitgefühl für seinen Partner. Die Kellnerin kommt eilig heran, bewaffnet mit einem Wischmopp und einem Eimer Wasser. Trotz der Würgereize kommt Hua Junshi nicht umhin, sich zu fragen, wo sie das alles so schnell her hat. Es muss eine kleine Kammer hier in der Nähe geben, wo für alle Eventualitäten vorgesorgt ist. Und Erbrochenes wegzuwischen ist in dem staatlich geführten Restaurant sicherlich an der Tagesordnung. Wie viele Kader und Beamte hier täglich durchziehen, die sich den Bauch mit gutem Essen und Schnaps voll schlagen, kann er kaum schätzen. Sie können ja alle praktisch umsonst hier essen. Das ist ja einer der Vorteile der Staatsbeamten. Um die Lizenz zu behalten oder einfach nur um vorzusorgen, falls der Betreiber einen Gefallen braucht, lässt dieser sie alle umsonst essen. So funktioniert halt die Welt. Und jeder macht mit. Auch Hua Junshi. Es ist auch in seiner Laufbahn vorgekommen, dass er alle Fünfe gerade sein ließ, nachdem der Beschuldigte aus Versehen ein Packen Geldscheine liegen lassen hatte. Und bei dem Essen am Abend hatte Hua Junshi nicht mehr daran gedacht, es zurück zu geben und der Beschuldigte fragte auch von sich aus nicht. Stillschweigend war der Handel über die Bühne gegangen. Er konnte seine Familie auch oft mit Dingen versorgen, die er geschenkt bekommen hatte. Einmal bekam er von einem Geschäftsinhaber einen Fernseher. Darüber hinaus vergaß er dann, dass dieser eigentlich eine Strafe zahlen sollte, weil seine Lizenz seit ein paar Monaten abgelaufen war. Der Fernseher stand bis zu ihrem Tod bei seiner Mutter. Bei dem Gedanken an seine Mutter durchfährt ihn ein flaues Gefühl.

* * *

Es hatte gewittert an jenem Abend im August, als er mit vielen widersprüchlichen Gedanken bei ihr zum Essen erschien. Er wusste nicht, wie er das Gespräch auf die Ergebnisse der Autopsie bringen sollte. Deshalb beobachtete er sie erst schweigend. Als sie wie gewohnt ihre Stäbchen mit links aufnahm und in den geraspelten Kartoffeln mit Paprika stocherte, sah er einen geeigneten Zeitpunkt für seine Fragen.

„Wir haben herausgefunden, dass der Mörder von Lao Zhang Linkshänder sein muss.“

Aufmerksam beobachtete er ihre Reaktion.

„Ach ja? Habt ihr denn noch mehr Hinweise?“

Sie schien nicht beunruhigt durch seine Aussage.

„Nur, dass er am Tatort umgebracht wurde, mit einem kleinen Messer. Er hatte keine Brieftasche dabei, es kann sich also auch um einen Raubmord handeln.“

Hua Junshis Mutter kaute gewissenhaft ihre Kartoffeln.

„Schrecklich, was ihm passiert ist!“

Es klang ehrlich. Hua Junshi nahm sich ein Herz, er konnte nicht länger um den heißen Brei reden.

„Mutter, ich befürchte, du wirst auch als Verdächtige gehandelt. Vor allem, wenn sie mitkriegen, dass du Linkshänderin bist.“

Entsetzt sah die Mutter auf.

„Du sagst es ihnen doch etwa nicht, oder?“

„Ich muss“, gestand Hua Junshi. „Ich würde wichtiges Beweismaterial zurück halten, wenn ich es nicht tue.“

Sie sah ihren Sohn an.

„Glaubst du, ich wäre zu so etwas fähig?“

Beschämt blickte Hua Junshi auf seine Schale Reis, auf der noch ein paar Stückchen doppelt gebratenes Rindfleisch lagen.

„Ich weiß nicht, was ich glauben soll. Mir ist völlig unklar, was ihr damals für eine Beziehung hattet. Ich kann überhaupt nicht mehr einschätzen, zu was ein Mensch fähig ist, auch du nicht.“

Schweigend aßen sie weiter.

„Ich bin enttäuscht, mein Sohn, dass du mir das zutraust“, sagte seine Mutter schließlich.

„Ich traue es dir nicht zu, aber ich brauche Gewissheit. Erzähl mir, was ihr damals für eine Beziehung hattet.“

Sie saßen den ganzen Abend bis spät in die Nacht zusammen und seine Mutter erzählte.

In den Nächten, in denen Hua Junshi sie weinen gehört hatte, ging es nicht um Trauer und Sehnsucht nach Trost, es ging um Schmerz und Wut, auf Lao Zhang.

„Erinnerst du dich noch an die vielen Sachen, die Lao Zhang uns selbst in der großen Hungersnot brachte? Nun, ich musste dafür bezahlen.“

Hua Junshis Mutter sieht auf den Boden, in ihren Augen vermischen sich Scham und Wut zu gleichen Teilen.

„Was meinst du damit, bezahlen?“

Auch wenn er schon ahnte, was seine Mutter antworten würde, hoffte er bis zuletzt, dass es eine andere Art der Bezahlung war.

„Ich habe mit meinem Körper bezahlt. Es war ihm egal, ob ich wollte oder nicht, ich habe es oft über mich ergehen lassen, manchmal wandte er auch Gewalt an. Ich hatte jedes Mal Angst, ihr würdet meine Blutergüsse am Körper sehen, ich hätte nicht gewusst, wie ich euch das erklären sollte.“

Tränen füllten sich in ihren Augen bei der Erinnerung.

„Zu Anfang“, fuhr sie fort, nachdem sie mit ihrem weißen Taschentuch die Augen abgetupft hatte, „zu Anfang hat er mich einfach verführt. Er war ein paar Jahre jünger als ich, ich fühlte mich geschmeichelt, aber er hat es nicht getan, weil er in mich verliebt war. Ich glaube, er hatte sich einfach ein paar Frauen überall so gefügig gemacht.“

„Warum hast du nie was gesagt?“

„Junshi, was sollte ich denn sagen? Er hätte meine Worte im Munde umgedreht, keiner hätte mir geglaubt. Und abgesehen davon brauchten wir den Reis und das Fleisch, was er uns besorgte.“

Hua Junshi bekam ganz plötzlich ein schlechtes Gewissen. Hätte er seine Mutter damals ansprechen sollen? Sie fragen sollen, warum sie weint?

„Ich kann es nicht mehr ändern und auch du hättest nichts ändern können“, unterbricht die Mutter seine Gedanken, die sie offenbar gelesen hatte. „Du warst viel zu jung um wirklich zu verstehen, was los war. Ich habe eine Entscheidung getroffen und die Entscheidung war, uns alle fünf am Leben zu erhalten.“

Sie legte ihre Hand auf Hua Junshis, sah ihn an und hob dann sein Gesicht, dass er ihr in die Augen blicken musste.

„Und glaube mir“, sagte sie in einer Stimme, die Hua Junshi einen Schauer über den Rücken jagte. „ich habe ihn nicht umgebracht!“

Sie sah ihm immer noch fest in die Augen, Hua Junshi suchte nach einem Ausdruck, einem Gefühl, das ihre Worte bestätigte, aber er sah und fühlte nur Leere.

„Warum sollte ich ihn jetzt, nach all den Jahren, töten? Das hätte ich doch dann auch schon früher tun können.“

Früher brauchtest du seinen Schutz. Während der Kulturrevolution war er ebenfalls hilfreich, jetzt war er nutzlos, du hättest es tun können. Erschrocken lauschte Hua Junshi seinen Gedanken. Rache, du wolltest dich rächen! Wolltest, dass er für alles bezahlt, was er dir angetan hat. Mit einer ruckhaften Bewegung schüttelte Hua Junshi seinen Kopf, als ob er die Gedanken damit hinauskatapultieren könnte.

„Du glaubst mir nicht“, hörte er seine Mutter tonlos sagen.

Gequält sah er sie an, ihm musste schnell etwas einfallen, er musste sie beruhigen. Aber er fand nicht ein Wort, das er hätte sagen können. Er wusste nicht, was er glauben sollte.

* * *

Taumelnd und unter heiterem Gejohle seiner Kollegen erhebt sich Hua Junshi.

„Ich muss mal eben zum Waschraum“, erklärt er unnötigerweise.

„Warum zum Waschraum, spül doch mit kaltem Bier nach!“

Fast gehässig klingt das Lachen in seinen Ohren.

„Ich komme mit dir mit!“ Dong Lian steht ebenfalls auf.

„Nein, nein, brauchst du nicht“, wehrt Hua Junshi ab.

Er wartet auf den nächsten Witz, aber es kommt keiner. Heute hat er sich zum Abschluss noch mal richtig zum Gespött gemacht. Aber die meisten wird er nicht wieder sehen. Ist doch also sowieso egal.

„Ich muss aber auch.“

Dong Lian lässt sich nicht abschütteln, ergreift aber auch nicht, wie er vorhatte, den Arm seines Freundes, um ihn zu stützen. Dankbar für die Zurückhaltung setzt sich Hua Junshi schwankend in Bewegung. Erst draußen auf dem Gang packt Dong Lian ihn kräftig am Arm und führt ihn in die Männertoilette.

„Na, das ist ja ein Abschied“, sagt er in einem Ton, der Hua Junshi mitteilen soll, dass er sich vor ihm nicht zu schämen braucht.

„Ich hoffe, das ist gleich vorbei“, bringt Hua Junshi, noch immer vom Würgereiz verfolgt, heraus. „Wie spät ist es denn?“

„Gleich neun, die Folter ist bestimmt bald vorbei.“

In dem nach Urin stinkendem Klo beugt sich Hua Junshi über die in den Boden eingelassene Toilette und wartet. Der Würgereiz hat nachgelassen, aber er ist sich nicht sicher, ob nicht vielleicht doch noch was nachkommt. Er hört seinen Kollegen nebenan in die Schüssel pinkeln, begleitet von einem wohligen Seufzer. Dong Lian zieht den Hosenschlitz zu.

„Bist du okay oder soll ich warten?“

„Nee, nee, geh ruhig, ich warte noch mal fünf Minuten und komme dann.“

„Nicht, dass du durch die Hintertür verschwindest“, ermahnt ihn Dong Lian. „Dann bist du für die nächsten Jahre bestimmt der Waschlappen des Reviers“, fügt er grinsend hinzu.

„Das bin ich doch eh“, murmelt Hua Junshi.

Die Tür geht auf und herein kommt eine alte Frau.

„Nein, Xiaohua, du musst in die andere Toilette.“

Hinter der scheinbar verwirrten Frau schaut ein altes Männergesicht entschuldigend zu Dong Lian und Hua Junshi. Sanft zieht der Alte seine Frau aus der Tür und lotst sie in die richtige Richtung. Hua Junshi kommen die beiden bekannt vor. Er sieht fragend zu Dong Lian. Wo hatte er sie nur schon gesehen?

* * *

Seit dem Abend, als Hua Junshis Mutter ihren Sohn eingeweiht hatte, kühlte sich ihr Verhältnis merklich ab. Der junge Polizist fühlte sich hin und her gerissen: Auf der einen Seite stand sein erster Fall, seine Bewährungsprobe. Wenn er diesen Fall nicht lösen würde, dann lastete er bestimmt für immer auf ihm, wahrscheinlich würde er dann keine anspruchsvollen Kriminalfälle mehr bekommen. Schlimmer noch: wieder versetzt werden. Auf der anderen Seite standen seine Mutter und das Wissen, was er von ihr erfahren hatte. Ein Wissen, mit dem sie als der vermeintliche Mörder entlarvt werden könnte. Er wusste immer noch nicht, was er glauben sollte. Hatte seine Mutter etwas mit dem Mord an Lao Zhang zu tun? Könnte sie einen gehassten Menschen kaltblütig umbringen? Hat sie ihn überhaupt wirklich gehasst? Oder hat sie vielleicht jemanden beauftragt? Er quälte sich mit einer Entscheidung, ob er über das Gespräch einen Bericht schreiben sollte oder nicht. Allerdings hatte er diese schon am Tag nach dem Gespräch unbewusst gefällt.

„Hast du die Alibis von den bislang Verdächtigen überprüft?“ hatte der Vorgesetzte Liu am nächsten Morgen gefragt.

„Ja, habe ich!“

„Und? Muss ich dir alles aus der Nase ziehen?“

„Nein, Vorgesetzter Liu, natürlich nicht“, hatte Hua Junshi gestammelt, noch verzweifelt versucht, Zeit zu schinden. „Äh, also, die Frau von Lao Zhang sagt, sie hätte geschlafen. Es gäbe keine Zeugen. Meine Mutter ebenfalls, sie hat aber Zeugen.“

Wie Schmierseife aus der Hand war der letzte Satz aus Hua Junshis Mund geflutscht.

„Was für einen Zeugen?“ hatte der Vorgesetzte nachgefragt.

„Äh, ein Freund, ich habe ihn schon befragt, er bestätigte, was meine Mutter sagte.“

Verzweifelt hatte Hua Junshi versucht, seine innere Unruhe zu verbergen. Der Vorgesetzte Liu hatte ihn noch einmal scharf angesehen und dann langsam genickt.

„Außerdem sind beide Rechtshänder.“

Hua Junshi hatte offen gelassen, wen er meinte, die Witwe und den Freund oder seine Mutter. Aber im Grunde wusste er, dass er die zweite Lüge aufgetischt hatte.

„Haben sich die Kollegen aus Anhui schon gemeldet?“

Erleichtert über den Themenwechsel hatte sich Hua Junshi merklich entspannt und vorgeschlagen, dass Dong Lian und er selbst vielleicht besser nach Anhui fahren sollten, um vor Ort mit den relevanten Personen zu sprechen. Die Kollegen dort schienen die Sache nicht so ernst zu nehmen. Bis jetzt hatte sich noch keiner gemeldet.

„Ich werde das mal beantragen. Macht aber nichts, ohne mich zu informieren“, hatte der Vorgesetzte Liu gewarnt.

„Nein, natürlich nicht!“

Hua Junshi hatte gewartet, bis sein Chef in seinem Zimmer verschwunden war und ist dann langsam zu den roten Thermoskannen gegangen, die immer im Flur neben dem Heißwassergerät bereit standen, um eine mit an seinen Schreibtisch zu nehmen. Ein heißer Tee würde ihm jetzt gut tun. Trotz der Hitze in dem kleinen Büro, war ihm kalt.

Es schien, als ob die Konzentration der Polizei bei der Suche des Mörders auf die Witwe von Lao Zhang übertragen wurde. Und sie sprachen natürlich von der Möglichkeit, in Anhui einen Täter zu finden. Die Fahrt wurde genehmigt und Dong Lian sowie Hua Junshi fanden sich wenig später im Zug wieder in Richtung Süden. Wie sie vermuteten, hatte keiner der Kollegen in Anhui auch nur einen Finger krumm gemacht. Sie frönten fast ausschließlich nur den Annehmlichkeiten: Essen und Trinken. Ab und zu in weiblicher Gesellschaft, von der keiner sagen konnte, wo die Damen herkamen. Dong Lian, im Grunde seines Herzens ein gewissenhafter Polizist, ließ sich aber am ersten Tag einlullen und ging mit auf ein Gelage, welches angeblich zu Ehren der Ankunft der Kollegen aus Peking abgehalten wurde. Hua Junshi nahm am Bankett teil, ging aber danach gleich in das Hotel, dem besten in der kleinen Stadt Tuxian. Als Dong Lian gegen frühen Morgen ins Zimmer kam, war Hua Junshi schon längst wach.

„Ich muss ein bisschen schlafen“, lallte Dong Lian unnötigerweise. „Weck mich doch in drei Stunden“, bat er, sank dabei aufs Bett und fing noch in sitzender Haltung an zu schnarchen, bevor er wie ein Sack Reis nach hinten kippte.

Hua Junshi war sauer und stolperte absichtlich einige Male lautstark über den einzigen Stuhl im Zimmer. Da er aber seine Zeit nicht verplempern wollte, machte er sich auf in den Frühstücksraum, aß eine fade Suppe mit Ölgemüse, danach einen Hefekloß und ging noch kauend hinüber zu der einzigen Polizeiwache in Tuxian. Tatsächlich fand er seine Anfrage, die er per Telefon übermittelt hatte, am schwarzen Brett wieder. Seufzend machte sich Hua Junshi an die Arbeit.

Es gab nur einen Ort, an dem die Fäden zusammenlaufen konnten: dem örtlichen Gefängnis. Hier hatte Lao Zhang während der Kulturrevolution gearbeitet, als Dienst habender Chef. Das Gefängnis war groß, hier wurden damals alle Gefangenen der Provinz Anhui eingesperrt, mittlerweile gab es in jeder größeren Stadt ein Zuchthaus. Mitte der 60er Jahre wurden die Zellblöcke nach Geschlechtern aufgeteilt, der rechte Flügel war den Männern, der linke, etwas kleinere Flügel den Frauen vorbehalten. Doch während der Kulturrevolution nahmen die Anstaltsleiter es nicht so genau. Wo Platz war, wurde der Gefangene hingebracht. Ein einziger Unterschied wurde allerdings immer beachtet und zwar, ob es sich bei dem Delinquenten um einen politischen oder kriminellen Insassen handelte.

Hua Junshi meldete sich bei dem Anstaltsleiter, ein gewisser Herr Bo.

„So, Sie suchen also einen Mörder?“ fragte dieser sichtlich gelangweilt. „Wieso hier? Ich denke der Mord ist in Peking passiert.“

„Das stimmt“, antwortete Hua Junshi. „Wir müssen aber alle Spuren verfolgen und die genauen Lebensverhältnisse des Opfers überprüfen. Lao Zhang hatte mehrere Jahre hier in diesem Gefängnis Dienst gehabt. Es kann durchaus sein, dass der Mörder ihn von hier kannte.“

Hua Junshi nahm eine Schachtel Zigaretten aus seiner Jackentasche, zog eine heraus und gab sie Herrn Bo, ohne zu fragen, ob er rauchen würde. Letztere nahm sie, zündete sie an und verzog beim Auspusten des Rauchs sein Gesicht, als ob er scharf nachdenken würde.

„Sind noch Kollegen von Lao Zhang im Dienst, die ich befragen könnte?“ begann Hua Junshi seine Vernehmung.

„Das müsste ich raussuchen lassen, ist ja schon ein paar Jahre her, dass der Typ hier war“, antwortete Herr Bo gedehnt.

Frustriert erkannte Hua Junshi, dass niemand sich auf seinen angekündigten Besuch vorbereitet hatte, weder die Polizei noch die Gefängnisleitung.

„Wie lange, denken Sie, wird es dauern, bis ich ein paar Namen von seinen damaligen Kollegen bekommen kann?“

Herr Bo runzelte die Stirn, ließ sein Gesicht in der Denkermine und ärgerte sich insgeheim, dass er diesem Grünschnabel behilflich sein musste.

„Morgen früh, spätestens morgen Mittag.“

Hua Junshi schluckte seine Wut über den offensichtlich unkooperativen Gesprächspartner runter.

„Ich hatte auf heute Nachmittag gehofft.“

Ein dröhnendes Lachen war die Antwort.

„Wissen Sie eigentlich, wie viele Leute hier kommen und gehen? Meine Sekretärin muss sich durch sämtliche alten, verstaubten Akten wühlen, aber die hat auch noch anderes zu tun!“

Ja, Tische für die Banketts im Restaurant organisieren und dir den Hintern abwischen, dachte Hua Junshi zornig.

„Machen wir es doch so, sie soll die alten Akten heraussuchen und ich sehe sie selbst durch.“

Misstrauisch sah Herr Bo Hua Junshi an. Er überlegte eine Weile, wog ab, welche Informationen in den Akten sein könnten, die nicht jeder wissen sollte, kam zu dem Schluss, dass alles was ihn angeht, gar nicht in Frage kommen konnte, da er erst vor drei Jahren in der Anstalt zu arbeiten begonnen hatte. Er ließ es sich aber nicht nehmen, noch mal laut zu stöhnen, als ob dies alles ein riesiger Aufwand wäre.

„Na gut“, sagte er schließlich, „so können wir es machen. Vor Mittag brauchen Sie hier aber nicht wieder angelaufen kommen, Genosse!“

Mit sichtlicher Freude, doch die Fäden in der Hand zu haben, strich er sich über seinen dicken Bauch und räkelte sich gnädig in dem breiten Bürosessel. Hua Junshi ging ohne sich zu verabschieden aus dem Raum, schloss die Tür, ging zum Treppenhaus und schlug mit der Faust dreimal gegen die Wand, dass der Putz abblätterte. Danach ging es ihm besser und er nutzte die Zeit, sich das Gelände anzusehen.

In dem mittleren Trakt waren die Büros der Angestellten, eine Kantine sowie eine große Halle bei der Eingangstür, wo ein Wegweiser die einzelnen Zimmer auflistete. In einem Sitzungsraum, durch dessen gläserne Tür Hua Junshi neugierig schielte, hingen Bilder von Kadern an der Wand. Er drehte an dem Türknauf und freute sich, dass nicht abgeschlossen war. Die Portraits an der Wand stellten in chronologischer Reihenfolge die ehemaligen und den derzeitigen Anstaltsleiter vor. Unter jedem Bild standen der Name, das Geburtsdatum sowie herausragende Leistungen, die diese Person vollbracht hatte. Die Leistungen waren nachträglich angebracht worden, voraussichtlich nach dem Weggang der Person, denn unter dem Kopf von Herrn Bo klaffte eine auffallende Lücke. Hua Junshi grinste spöttisch. Ein Geräusch an der Tür ließ ihn herumfahren.

„Was machen Sie hier? Wer sind Sie?“

Der Pförtner aus dem kleinen Kabäuschen am Eingang hatte die offene Tür entdeckt und wollte nach dem Rechten schauen. Als Hua Junshi sich erschrocken umdrehte, erkannte der Pförtner aber gleich den Polizisten. Er hatte sich ja erst vor kurzem in dem großen Buch registriert.

„Ach, Sie sind es!“

Erleichtert nickte der schon etwas ältere Mann.

„Ich hatte nur grad die Fotos gesehen und war neugierig“, erklärte Hua Junshi, dann stutzte er und hätte sich fast mit der Hand auf die Stirn geschlagen, als ihm der Gedankenblitz kam. „Sagen Sie, waren Sie schon hier als Lao Zhang Dienst hatte?“ fragte er den Mann.

„Lao Zhang? Wer ist denn das? Ich kenne hier jeden, müssen Sie wissen, ich arbeite schon seit meiner Kindheit in diesem Gefängnis“, fügte er noch stolz hinzu.

„Ich meine Zhang Huiwen“, erwiderte Hua Junshi.

„Zhang Huiwen, Zhang Huiwen, ja, der Name sagt mir was“, überlegte der Pförtner zögernd.

„Dieser hier ist es.“

Hua Junshi zeigte auf eines der Fotos an der Wand. Der Pförtner kam näher und sah sich das Bild genauer an.

„Ja, natürlich kenne ich ihn, der war von 1968 bis 1972 hier.“

Diese Aussage überzeugte Hua Junshi nicht sehr, denn es stand unter dem Foto.

„Er hatte damals mit eiserner Faust die Geständnisse aus den ganzen Konterrevolutionären herausgequetscht!“

Auch diese plötzliche Erinnerung des Alten stand fast wortwörtlich ebenfalls dort. Hua Junshi bezweifelte langsam, mit diesem Pförtner genau die richtige Person für die Informationen, die er brauchte, gefunden zu haben. Der Mann schien schon senil zu sein.

„Als er in Tuxian ankam, sollte er den Bürgermeister ersetzen, der war nämlich auch ein Rechter und hier in diesem Gefängnis mitsamt seiner Familie eingesperrt worden. Und seine erste Amtshandlung war, den zu verhören. Mann, da flogen die Fetzen!“

Hua Junshi horchte auf, nicht alle Gehirnzellen waren anscheinend der Altersdemenz verfallen. Er zog einen Stuhl heran, deutete dem Pförtner, sich zu setzen und nahm sich selbst auch einen. Er gab dem Alten eine Zigarette, doch dieser lehnte ab.

„Hat der Arzt verboten, chronische Bronchitis.“

Als Beweis hustete er geräuschvoll. Den Schleim, der sich dabei im Mund ansammelte, spuckte er unbekümmert neben seinen Stuhl.

„Und weil er das so brillant gemacht hatte, wurde er gleich auf den Amtsleiter Stuhl gesetzt. Seine Hauptaufgabe war, die schweren Fälle zu verhören.“

Schwere Fälle waren die, die nicht zugeben wollten, dass sie Konterrevolutionäre waren. Oftmals waren sie es auch nicht, sondern wurden nur verhaftet, weil ein anderer sich rächen wollte. Solche Missverständnisse gab es viele während der Kulturrevolution. Nur wenige hielten die Folter und Verhöre aus, ohne etwas zu gestehen, was sie gar nicht begangen hatten. Die meisten waren aber so verzweifelt, dass sie ihre angeblichen Missetaten zugaben, um Gnade bettelten und mit einer Strafe davon kamen, die dann wenigstens die tägliche Folter abstellte. Einige schafften beides nicht und brachten sich um. Wieder andere waren schon so geschwächt von der mangelhaften Nahrung, der Zwangsarbeit und den seelischen und körperlichen Misshandlungen, dass sie während der Haft starben.

„Außerdem war er für die Leitung der Anstalt natürlich zuständig, über ihn lief alles“, erzählte der Pförtner weiter, „Beschwerden, Ergebnisse aller anderen Verhöre, Gefangenenberichte und so weiter. Der war ein harter Brocken, was der alles wegsteckte. Der hat ohne mit der Wimper zu zucken schwangere Frauen getreten und geschlagen, immer wieder auf die gleiche Stelle. Teilweise stachen die gebrochenen Rippen durch die Haut durch. Selbst dann war er noch nicht zufrieden, einmal musste er noch wenigstens drauf hauen.“

Hua Junshi fröstelte. Er dachte an einen früheren Freund, Wang Xu, dessen Familie während der Kulturrevolution als Kapitalisten eingestuft wurde. Hua Junshi hatte mit einem Kollegen zusammen Wang Xu verhört, das war ganz am Anfang seiner Laufbahn. Und als Wang Xu nicht gestehen wollte, hatte sein Kollege angedeutet, dass Hua Junshi ruhig schlagen dürfe. Am Anfang tat ihm fast jeder Schlag genauso weh, wie er Wang Xu weh getan haben musste. Der saß mit einem fassungslosen Gesicht auf dem Stuhl, seine Hände hinten an der Lehne festgebunden und die Tränen rannen sein Gesicht hinunter. Dann plötzlich machte es sogar Spaß, er hatte richtig angefangen, den früheren Freund für seine Schlappschwänzigkeit zu hassen. Der saß einfach da und heulte wie ein Baby! Er schlug immer wieder mit der Faust auf das linke Auge, bis dieses vollkommen zugeschwollen war. Bei einem Schlag hörte er das Krachen, als der Wangenknochen brach. Trotzdem hatte er weitergemacht, bis Wang Xu bewusstlos wurde. So hatte sich Hua Junshi den Respekt seiner Kollegen verdient, das hatte keiner dem schmächtigen Jungen damals zugetraut. Nachdem Wang Xu hinausgetragen wurde und Hua Junshi mit der Blutlache alleine im Zimmer war, wurde ihm bewusst, was er getan hatte. Er schwor sich, niemals wieder so aus der Kontrolle zu geraten, und noch viele Jahre später senkte er reuevoll den Kopf, wenn er Wang Xus schiefes Gesicht auf der Strasse erkannte. Diese schreckliche Szene lief wie eine Wiederholung im Fernsehen vor Hua Junshis innerem Auge ab, während der alte Pförtner von den sogenannten Heldentaten Lao Zhangs erzählte.

Mit Gewalt riss er sich zusammen und hörte wieder aufmerksam zu. Erst als die Erzählungen des Alten zu unwichtig wurden, mischte er sich ein.

„Gab es Kollegen, die Zhang Huiwen gehasst haben, vielleicht, weil er so schnell die Leitung der Anstalt übertragen bekommen hatte?“ fragte Hua Junshi, als der Pförtner eine Pause machte.

„Na ja, der Cui war natürlich nicht sehr glücklich, der wurde ja von seinem Platz verdrängt.“

Hua Junshi schaute auf das Foto, was links von Lao Zhang hing. Ein runder Kopf mit kleinen Augen lächelte etwas gequält in die Kamera.

„Warum wurde er ersetzt?“ fragte er nach.

„Der hatte keine Durchsetzungskraft und war der Regierung von Tuxian schon lange ein Dorn im Auge. Aber sie hatten keinen Nachfolger. Die wollten ja alle hohe Quoten erreichen in der Bekämpfung der Rechten, wissen Sie? Und der Cui hat sich eher auf seinem Posten ausgeruht. Als dann der Zhang kam, war es nur eine Formalität. Der Cui hatte bestimmt nicht damit gerechnet, von einem Ortsfremden abgelöst zu werden. Sauer war der schon.“

„Sauer genug, um sich zu rächen?“

Der Pförtner runzelte die Stirn. „Hm, kann schon sein . . .“

„Lebt der Cui noch hier?“

„Keine Ahnung, ich hab den nie wieder gesehen. War wie vom Erdboden verschluckt.“

Hua Junshi machte sich eine Notiz in sein schon etwas zerfleddertes Heft, das er immer dabei hatte.

„Wissen Sie, ob Lao Zhang vielleicht Feinde hatte?“ fragte er anschließend.

„Feinde? Was ist eigentlich los?“

„Wir ermitteln in einem Fall, in den Lao Zhang verwickelt ist“, beantwortete Hua Junshi ausweichend die Frage. Er sah den Pförtner erwartungsvoll an.

„Feinde“, wiederholte der. „Na ja, was heißt Feinde. Er war bei einigen nicht sehr beliebt, das steht fest. Aber hier hackt ja keine Krähe der anderen das Auge aus.“

„Auch nicht, wenn mittlerweile Zeit vergangen ist und dieser jemand keine, ich sag mal, Konsequenzen zu erwarten hat?“

„Ich denke, der Cui war bestimmt der sauerste von allen. Der hat sich sogar mir gegenüber ziemlich ärgerlich über den Zhang ausgelassen. Die Vorgänger hatten eigentlich keinen Grund, sich über den Zhang zu beschweren.“

„Wie kam es denn, dass Lao Zhang wieder von seinem Posten abgesetzt wurde.“

Hua Junshi hoffte, da vielleicht einen Hinweis zu bekommen. Aber er wurde enttäuscht.

„Er wurde wieder nach Peking beordert, soweit ich weiß, auf eigenen Wunsch. Er wollte wieder zu seiner Familie.“

Der Pförtner spähte zur Tür. Er hatte ein bisschen Angst, dass jemand merkte, dass er lange nicht mehr auf seinen Platz zurück gekehrt war.

„Sollen wir lieber in Ihren Raum gehen?“

Hua Junshi hatte den Blick bemerkt, wollte aber verhindern, dass das Gespräch abbrach.

„Nein, ist schon in Ordnung“, beruhigte ihn der Pförtner.

„Gab es vielleicht Gefangene, die einen besonderen Groll auf Lao Zhang hegten?“ nahm Hua Junshi die Befragung wieder auf.

Der Pförtner lachte gehässig.

„Jeder Gefangene hier hat Lao Zhang gehasst! Die hatten ja nun gar nichts unter ihm zu lachen.“

„Gab es vielleicht ein paar, die besonders schlimm behandelt wurden?“

„Nee“, kam prompt die Antwort, „der war zu jedem gleich mies. Im Gegenteil, ein paar hat er sogar besser behandelt.“

„Wen denn?“

„Nun“, druckste der Pförtner, „Frauen vor allem. Ja, eigentlich nur die Frauen.“

„Fallen Ihnen vielleicht Namen ein von den Frauen?“ fragte Hua Junshi, in der Hoffnung, dass sich ein Eifersuchtsdrama abgespielt haben könnte. Oder ein gehörnter Ehemann hat sich gerächt, wie die Witwe von Lao Zhang auch schon sagte. Von Treue, das wusste Hua Junshi ja schon, hielt der Alte Zhang nicht viel.

„Namen? Sie sind gut! Wissen Sie, wie viele Gefangene zu der Zeit hier waren? Die kamen und gingen doch am laufenden Band!“

Hua Junshi machte sich eine weitere Notiz: Herrn Bo nach den Akten der Gefangenen fragen. Langsam befürchtete er, in eine Sackgasse geraten zu sein. Der ganze Fall war nicht so einfach, wie er dachte. Leider gab es keinen Verdächtigen, der unter allen heraus stach und auch zusätzlich kein Alibi hatte und sogar gestehen würde. Stattdessen musste Hua Junshi jetzt Akten wälzen und womöglich hunderte von Namen notieren, die Leute ausfindig machen und, was das schlimmste war, sie befragen. Das kann ja noch Jahre dauern, dachte er mutlos. Wo bleibt eigentlich Dong Lian? Zu zweit ginge es bestimmt schneller. Der Pförtner rutschte auf dem Stuhl herum und wartete ungeduldig auf die nächste Frage. Hua Junshi entschuldigte sich.

„Ich denke, ich habe erst einmal genug erfahren. Sollte mir noch etwas einfallen, komme ich noch mal zu Ihnen.“

Mit einem zustimmenden Grunzton erhob sich der Alte und schlurfte aus dem Zimmer. Das rechte Bein zog er ein wenig nach.

„Was ist mit Ihrem Bein passiert?“ fragte Hua Junshi.

Verlegen sieht der Pförtner auf den Boden.

„Ich war eine zeitlang auch hier eingesperrt. Einen Monat saß ich in der Isolierzelle. Danach war es dann so.“

„Wann waren Sie denn eingesperrt und warum?“

„Ach herrje, ich weiß es gar nicht mehr genau, 1971 oder 1972. Ich wurde fälschlicherweise für einen Rechten gehalten.“

„Danke!“

Hua Junshi blieb nachdenklich sitzen und beobachtete, wie der Pförtner in sein Kabäuschen zurück hinkte. Er war zur Zeit Lao Zhangs eingesperrt, Lao Zhang hat ihn in die Isolierzelle gesteckt, davon hat er einen bleibenden Schaden erlitten. Kann man den Namen des Anstaltsleiters vergessen, dem man einen bleibenden Schaden zu verdanken hatte? Reichte das, um den Pförtner auch als Verdächtigen auf die Liste zu setzen? Wahrscheinlich konnte er alle auf die Liste schreiben, die während Lao Zhangs Zeit in der Isolierzelle saßen. Der Ausdruck Zelle ist dabei irreführend. Denn es handelt sich mehr um einen kleinen Käfig, höchstens einen Kubikmeter groß. Die Gefangenen können weder stehen noch liegen, sie verbringen Tage und sogar Wochen in einem zusammengekrümmten Zustand. Wenn ihnen das Essen aus der Hand fällt, haben sie meistens nicht genug Bewegungsfreiheit, um es wieder aufzuheben. Dem Pförtner musste das Bein abgestorben sein, so wie er humpelte. Aber auch diejenigen, die keine bleibenden Schäden zurück behalten hatten, würden diese Zeit nie vergessen.

Hua Junshi sah auf die Uhr. Gleich war Mittagspause, mit anderen Worten, dann passierte lange Zeit gar nichts. Er ging schnell zurück in die Etage, wo Herr Bo saß. Er erwischte ihn gerade noch, als dieser zum Essen wollte.

„Herr Bo, entschuldigen Sie, wenn ich noch kurz störe. Wäre es möglich, wenn Ihre Sekretärin mir zeigen würde, wo sich die Akten der Kollegen, sowie der Gefangenen zwischen 1968 und 1972 befinden, dann würde ich selbst einfach mal alles durchschauen.“

Als sein Blick die Sekretärin streifte, sah er schon den Schmollmund. Die gute Frau mit ihren auftoupierten Haaren passte gut zu Herrn Bo, beide rühmten sich nicht mit Hilfsbereitschaft. Auch das Gesicht von Herrn Bo sah nicht besonders entgegenkommend aus. Doch er schien es sich kurzfristig anders überlegt zu haben.

„Fräulein Shi, zeigen Sie dem Pekinger Genossen, wo die Akten stehen und lassen Sie ihm einen Tee bringen.“

Verwundert und erfreut drehte sich Hua Junshi zu Fräulein Shi um. Die strafte ihn mit einem bösen Blick aus den kräftig geschminkten Augen und raste dann urplötzlich los. Hua Junshi hatte Mühe, zu folgen und fand sich kurze Zeit im Keller wieder, vor drei hölzernen Schränken.

„Das sind die Akten der Gefangenen von 1965 bis 1975. Da hinten“, sie zeigte in eine dunkle Ecke mit weiteren Holzschränken, „da sind die der damaligen Angestellten und Amtsleiter.“

Die Sekretärin Shi drehte sich ohne ein weiteres Wort um. Tee bekam er natürlich keinen. Zum Glück gab es einen Tisch und einen klapprigen Stuhl, so dass er wenigstens ein wenig Komfort hatte. Er suchte den ersten Ordner heraus, Gefangene 1968, und begann seufzend darin zu blättern. Als er in der Mitte des ersten Ordners angelangt war, hörte er das Geräusch von Schritten.

„Ach, hier bist du!“

Dong Lian steckte den Kopf durch den Türspalt und trat ein.

„Da kann ich ja lange suchen!“

„Na, jetzt hast du mich ja gefunden.“

Hua Junshi war verärgert über seinen Kollegen, dass er sich nicht besonders pflichtbewusst zeigte.

„Hol dir einen Stuhl und hilf mir“, befahl er. Dong Lian sah ihn zuerst verwundert, dann beschämt und dann belustigt an.

„Du befiehlst mir?“

„Wir sind hier, um einen Mord aufzuklären.“ sagte Hua Junshi betont langsam. „Und nicht, um bis morgens um sechs die Sau rauszulassen.“ fügte er hinzu, als Dong Lian immer noch grinste. Der kratzte sich am Kopf, murmelte etwas, das Hua Junshi nicht verstand, es aber einfach als Entschuldigung auffasste. Dong Lian holte sich einen Stuhl aus dem Nebenraum und wartete auf weitere Anweisungen.

„Das Jahr 1968 habe ich fast durch, beginn du mit 1969. Wir suchen Leute, die einen Grund gehabt hätten, Lao Zhang zu ermorden. Sei bei weiblichen Gefangenen besonders aufmerksam. Anscheinend hatte Lao Zhang Affären mit einigen gehabt.“

Dong Lian nickte und vertiefte sich wie Hua Junshi in die Papierberge.

* * *

„Na, wo ward ihr so lange?“ fragt der Vorgesetzte Liu, als Hua Junshi und Dong Lian wieder in den Raum treten. Sein Partner hatte doch vor der Tür auf a Junshi gewartet.

„Genosse Hua hier hat halt ein paar zu viel gehabt, der hat den Weg glatt dreimal zurück gelegt“, zieht Dong Lian Hua Junshi auf und macht dabei den Kollegen einen schwankenden Gang vor. Hua Junshi grinst verschämt, nicht weil er betrunken ist, sondern weil er seinem Freund dankt, dass er nicht die Wahrheit gesagt hat. Er kann noch recht gut geradeaus gehen, findet jedenfalls Hua Junshi. Seine Gefühlsausbrüche allerdings wären ein weiteres gefundenes Fressen für die anderen Kollegen, die sich immer gerne eine Kollegen suchen, auf dem sie herum hacken können und auf dessen Kosten immer wieder neue Witze erfinden.

Die Kellnerin kommt auf ein Zeichen Lius, in beiden Händen mit großen Flaschen Yanjing Bier bewaffnet, an den Tisch und schenkt die Gläser wieder voll. Der Vorgesetzte Liu greift sein frisch nachgefülltes Glas, wieder landet ein wenig von dem Bier in dem scharfen Huhn, und wartet, bis die anderen auch mehr schwankend als stehend ihre Gläser heben.

„Unserem ehrenwerten Kollegen!“

Die ganze Runde dreht sich zu Hua Junshi. Auch wenn sie gerne ihre Späße machen, sind sie doch alle gute Kollegen. Hua Junshi beschließt, dass er sich für diesen letzten Abend nicht mehr über die Spitzen ärgern wird. Sollen sie doch alle denken, was sie wollen.

„Unserem ehrenwerten Kollegen“, wiederholen alle.

Gan bei!“

Und wieder landen die leeren Gläser auf dem Tisch. Zum Glück neben und nicht in dem Huhn. Hua Junshi ist dem Vorgesetzten Liu dankbar, dass er mit seiner Trinklust unbewusst das Thema gewechselt hat, alle plappern plötzlich von den Fällen, die Hua Junshi, meistens zusammen mit Dong Lian, gelöst hat. Er hört Satzfetzen wie: „Weißt du noch, der kleine Trickbetrüger, dem sie einen Mord anhängen wollten . . .“,

„ . . . wer hätte gedacht, dass die Schleuserbande . . .“,

„ . . . oder als die ganzen Nutten völlig verstört über die Straße rannten . . .“ und ähnliches. Sein Alkoholpegel verhindert die Konzentration auf die einzelnen Redner. In sich zusammen gesunken sitzt Hua Junshi sichtlich angeschlagen auf seinem Stuhl. Sein Kopf ruht auf der rechten Hand. Der Blick geht ins Leere. Erst als der Name Zhang Huiwen fällt, wird er wieder wacher.

„Tja, wer den wohl auf dem Gewissen hat“, hört er den Fotografen Peng sagen, „das würde mich wirklich brennend interessieren.“

„Ich denke, es war wohl doch Raubmord.“

„Aber was hat er in dieser Gasse gemacht? Spazieren gegangen ist er wohl nicht“, bemerkt Dong Lian. „Mir scheint, er wurde dorthin gelockt.“

„Vielleicht war es alles Zufall“, fällt Hua Junshi seinem Kollegen ins Wort. „Kann ja sein, dass er dort ein geheimes Treffen hatte und danach dann seinem Mörder begegnete.“

„Möglich ist wohl alles und wie es aussieht, werden wir es nie erfahren.“

Nachdenklich sieht Hua Junshi in die Runde. Er hat eine Ahnung, wer es war. Aber er hat diese Vermutung nie mit jemandem geteilt. Und er wird sich hüten, das jemals zu tun.

* * *

Bis spät in die Nacht saßen Hua Junshi und Dong Lian über den Akten. Sie notierten alles, was sie finden konnten, auf einzelne Zettel. Ein paar Unregelmäßigkeiten fielen ihnen auf. Zum Beispiel die Akte von He Mei, sie wurde beschuldigt, für den Tod eines Rotgardisten verantwortlich zu sein, schien aber ein recht freizügiges Leben hinter Gittern verbracht zu haben. Dann war da die Akte einer gewissen Li Xiaohua, die besonders wenige Eintragungen enthielt, dabei war sie mit Abstand am längsten in dem Gefängnis gewesen, als alle anderen zu der Zeit. Fast drei Jahre lang, nur mit jeweils kurzen Unterbrechungen. Sie wurde zwei Wochen vor Lao Zhangs Rückkehr nach Peking entlassen. Es schien, als ob jemand die Eintragungen vernichtet hatte. Oder die Wärterin Wu, die ohne Angaben von Gründen suspendiert wurde. Am Ende hatten die beiden Polizisten fast dreißig eng beschriebene Zettel in der Hand, von Leuten, die sie überprüfen mussten. Sie machten sich am nächsten Tag gleich an die Arbeit, herauszufinden, wo sich die Leute mittlerweile aufhielten. Es war eine mühsame Aufgabe, aber zum Glück gab es das System der Einheiten in China. Kein Chinese existierte praktisch ohne seine danwei, die entweder die Arbeitsstelle war oder die Schule beziehungsweise Universität. Hua Junshi und Dong Lian wurden telefonisch von einer Einheit zur nächsten geschickt, bis sie schließlich alle Aufenthaltsorte herausgefunden hatten. Fünf der gesuchten Leute waren mittlerweile verstorben.

„Weniger Arbeit“, hatte Dong Lian kommentiert.

Die restlichen waren fast über ganz China verteilt. Da sie nicht damit rechnen konnten, dass ihnen noch eine weitere Reise durch sämtliche Provinzen genehmigt würde, begannen Dong Lian und Hua Junshi telefonisch die Befragung der einzelnen. Wie Hua Junshi berechtigterweise einwarf, gingen ihnen dadurch wertvolle Informationen verloren, die sie bei einem Gespräch hätten sammeln können, wie zum Beispiel das Minenspiel, die Stimmung oder die Nervosität. Einige hatten sogar die Dreistigkeit, ohne ein Wort aufzulegen, als sie erfuhren, worum es ging. Bei denen machte Dong Lian ein großes Kreuz hinter die Namen. Sollten die Ermittlungen wieder in einer Sackgasse landen, dann müssten sie den Vorgesetzten Liu noch mal um eine Reisegenehmigung bitten. Bis auf vier ehemalige Gefangene hatten sie am dritten Tag die Befragungen beendet und konnten noch am gleichen Abend in den Zug nach Peking steigen. Die noch fehlenden vier wohnten in Peking. Das vorläufige Ergebnis war allerdings niederschmetternd. Die Mehrzahl hatte ein Alibi, was sie nachprüfen konnten, nur zwei kamen letztendlich mit Vorbehalt auf die Liste der hochgradig Verdächtigen: der frühere Amtsleiter Cui sowie eine Frau namens Wei, die durch die gewalttätige Behandlung im Gefängnis sowohl ihr ungeborenes Kind damals verlor, als auch den rechten Arm. Sie war voller Hass auf Zhang. Hua Junshi zweifelte aber an ihrer Schuld. Wenn sie es getan hatte, warum versuchte sie dann nicht, den Verdacht von sich wegzuschieben? Genau wie die Frau von Lao Zhang machte sie keinen Hehl aus ihrer abgrundtiefen Feindseligkeit. Im Gegenteil, sie freute sich, dass Lao Zhang eines gewaltsamen Todes gestorben war.

„Hoffentlich hat er sich vor Angst in die Hose geschissen und genauso gelitten wie ich damals“, fügte sie sogar noch hinzu.

Dong Lian war nicht so einfach zu überzeugen.

„Sie kann es auch als Manöver benutzt haben, weil sie sich dachte, dass wir sie dann nicht mehr verdächtigen würden.“

„Nein“, widersprach Hua Junshi, „die war ziemlich emotional, sie war nicht kalt genug, um so dreist zu sein. Das würde eher zu der Frau von Lao Zhang passen. Aber auch bei ihr habe ich meine Zweifel.“

Dong Lian seufzte. Ihm wäre es am liebsten gewesen, sie verhafteten einfach jemanden und könnten den ganzen Fall zu den Akten legen. Aber nein, Hua Junshi musste ja oberkorrekt sein! Als ob Hua Junshi seine Gedanken erraten hatte, sagte er: „Wir haben noch vier auf unserer Liste, wenn die auch nichts hergeben, dann kümmern wir uns noch mal intensiver um den Cui und die beiden Frauen.“ Dong Lian war einverstanden.

Zurück in Peking machten sie sich sofort an die Befragung der letzten Leute. Zwei davon waren ehemalige Kollegen und die konnten sie gleich streichen. Der eine hatte ein Alibi, der andere war körperlich nicht in der Lage gewesen, einen Menschen zu töten, er war seit einem Unfall vor drei Jahren querschnittsgelähmt. Bei den beiden anderen handelte es sich um weibliche Gefangene von damals. Aber auch dort erhärtet sich der Verdacht nicht. Die eine Frau, Li Xiaohua mit der dünnen Akte, war geistesgestört, ihr Mann Lao Liang gab bereitwillig Auskunft über alles, was er von früher wusste, konnte aber auch nicht beantworten, warum so wenig nur aufgeschrieben wurde. Zur Tatzeit hielten sich beide im Krankenhaus auf, Frau Li hatte einen Schlaganfall und der alte Liang wachte zu der Zeit Tag und Nacht an ihrem Bett. Die andere Frau war He Mei, die zwar durch Lao Zhangs Hilfe viel früher aus dem Gefängnis entlassen wurde als sie sollte und somit keinen Groll hegen durfte, aber Hua Junshi hoffte auf einen eifersüchtigen und vor allem geständigen Ehemann. Der war allerdings schon vier Jahre tot.

In seiner Verzweiflung nahm sich Hua Junshi noch mal alle Notizen zu den einzelnen Personen und versuchte die herauszufiltern, die einen guten Grund gehabt hatten, Lao Zhang zu töten und nahm dabei auch die Ehepartner sowie sonstige nahe stehenden Angehörige mit unter die Lupe. Er blieb an zwei Namen hängen: der ehemalige Anstaltsleiter Cui und, ohne eigentlich genau zu wissen, warum, Li Xiaohua. Er ging in das Krankenhaus, in dem Li Xiaohua nach dem Schlaganfall lag und suchte die damals zuständigen Krankenschwestern. Er hatte Glück, beide hatten Dienst, die Nacht- als auch die Tagschwester von Frau Li. Er bat erst die Nachtschwester zu sich, denn der Mord geschah ja in der Nacht. Er erklärte kurz, worum es ging und wurde schon bei der Erwähnung der Namen des alten Paares unterbrochen.

„Ach, die beiden! So süß! Er macht wirklich alles für seine Frau! Ich hatte kaum Arbeit mit ihr. Er wusch und fütterte sie, er drehte sie auf die Seite, damit sie keine wunden Stellen bekam. Er ging mit ihr im Rollstuhl spazieren, er war ständig da. Ich glaube, er hat das Krankenhaus immer nur kurz verlassen, um zu schlafen.“

Hua Junshi horchte auf.

„Hatte er eine Gewohnheit? Ging er zum Beispiel immer um die gleiche Zeit?“

„Nein, es war nicht auf die Minute genau, wenn Sie das meinen. Manchmal ging er um eins, manchmal erst um zwei.“

Hua Junshi konnte sein Glück nicht fassen, der Alte hätte demnach eventuell kein Alibi für die Tatzeit. Die Nachtschwester zerstörte aber prompt seine Hoffnungen auf die heiße Spur.

„Zum Abendessen war er aber immer wieder da. Er hat wohl immer nur zwei oder drei Stunden geschlafen.“

Den letzten Satz hörte Hua Junshi gar nicht mehr, so heftig nahm ihn die Erkenntnis mit, dass die Nachtschwester von nachmittags sprach.

„Ist er vielleicht irgendwann mal nachts nach Hause gegangen?“

„Nein, nicht, dass ich wüsste. Immer wenn ich nach dem rechten sah, saß er an ihrem Bett und hielt ihre Hand.“

„Haben Sie feste Zeiten für Ihre Runden, Schwester?“

„Ja, die habe ich, jede Stunde mache ich meinen Gang durch alle Zimmer auf meinem Stockwerk. Das dauert, wenn es keine Zwischenfälle gibt, zehn Minuten.“

Ist es machbar, vom Krankenhaus innerhalb von 50 Minuten ungesehen zu Lao Zhang zu fahren, ihn umzubringen und dann wieder zurück zum Krankenhaus zu fahren? Der Tatort war nicht in der Nähe von Lao Zhangs Haus. Wo war Lao Zhang eigentlich kurz bevor er ermordet wurde? Ob er seinen Mörder kannte und vielleicht blindlings in eine Falle gelaufen ist? Hua Junshi merkte, wie wenig er bis jetzt eigentlich wusste. Er machte sich eine Notiz, dass dies unbedingt nachgeholt werden musste.

„ . . . dann gehe ich manchmal später los.“

Die Nachtschwester hatte einfach weiter geredet, doch Hua Junshi hatte das gar nicht mitgekriegt.

„Äh, wenn Sie Zwischenfälle haben, hat das Auswirkungen auf die Regelmäßigkeit der Kontrollgänge?“

„Das sagte ich doch grad“, schmollte die Schwester, „manchmal gehe ich zur nächsten Runde später los, aber selten. Kommt drauf an, was für Patienten hier liegen und in welchem Zustand sie sind.“

„In der Nacht vom 26. auf den 27. August, gab es da Unregelmäßigkeiten in ihrem Dienst? Irgendwelche Besonderheiten?“

Die Nachtschwester holte ein Büchlein hervor, in dem alles eingetragen wurde, was sich während ihrer Dienstzeit ereignete.

„In der Nacht hatte der Patient in 104 einen akuten Asthmaanfall, den ich medikamentös behandeln musste. Aber das dauerte nicht sehr lange, ich musste nur zum Schwesternzimmer zurück und die Spritze holen.“

„Liegt das Zimmer vor oder hinter dem von Frau Li?“

„Hinter, Frau Li lag auf 101. Ich habe die nächste Runde trotzdem wieder pünktlich begonnen und alles war wie sonst.“

Hua Junshi war enttäuscht. Er sehnte sich so sehr nach einem Faden in dieser ganzen Geschichte, einem konkreten Anhaltspunkt. Und nichts war in Sicht.

„Danke, Schwester, Sie waren eine große Hilfe“, log Hua Junshi.

Geschmeichelt erhob sich die Schwester. Die Unaufmerksamkeit von vorhin verzieh sie ihm.

„Soll ich meine Kollegin jetzt herein bitten?“

„Ja, bitte“, antwortete Hua Junshi fast automatisch. Zerstreut sah er auf seine Notizen. Als die Schwester schon draußen war, steckte sie noch mal den Kopf durch die Tür.

„Ach, eins war noch in der Nacht. Der alte Liang war irgendwie anders. Er kam mir entgegen, als ich die Spritze holte. Er war viel trauriger als sonst. Und von einer inneren Unruhe getrieben. Ich merke so was häufig, da ich eben viel mit Menschen zu tun habe und gelernt habe, auf solche Signale zu achten“, fügte sie nicht ohne Stolz hinzu.

Hua Junshi riss den Kopf hoch. Kann es sein, dass er doch etwas mit der Sache zu tun hatte oder war es nur Zufall, dass er gerade an dem Abend auf dem Gang herumlief? Oder war es schlicht die Sorge um seine Frau, dass er nervös war?

„Wie ging es Frau Li eigentlich an dem Abend?“

Seine Frage klang Anteil nehmend und die Schwester vergewisserte sich noch mal mit einem Blick in ihr Büchlein: „Oh, schon viel besser! Sie wurde am nächsten Tag entlassen.“

Die Tagschwester stand im Türrahmen.

„Darf ich?“

„Häh? Äh, ja, natürlich!“

Im Eiltempo stellte er seine Fragen, nicht darauf eingestellt, etwas Wichtiges von ihr zu hören. Und er behielt recht. Aber trotzdem das Alibi von Lao Liang noch hieb- und stichfest war, wurde er den Gedanken nicht los, dass dieser etwas mit dem Mord zu tun hatte. Er musste dem auf den Grund gehen.

* * *

“Na, schläfst du gleich ein?”

Dong Lian stubst seinen ehemaligen Partner sanft in die Seite. Hua Junshi blickt erschrocken auf. Er kann sich auf dieses seichte Geplänkel seiner Kollegen, das heißt Exkollegen, nicht konzentrieren. Kein Wunder, dass die Erinnerungen ihn überrollen wie eine große Welle. Er reibt sich mit der linken Hand über die Augen und hinterläßt dabei ein Reiskorn an seiner Braue.

„Lange mache ich es wirklich nicht mehr”, flüstert er Dong Lian zu. „Solche Veranstaltungen liegen mir einfach nicht.” Er seufzt laut.

„Ja, ich weiß”, antwortet Dong Lian, während er ihm das Reiskorn aus der Braue zupft. Wo er gerade dabei ist, zieht er ihm auch noch das Jacket an der Schulter gerade.

„Wenn ich daran denke, wie viele Bankette wir über uns ergehen lassen mussten!”

„Ach, komm, wir hatten auch ein paar schöne Abende dazwischen.”

„Ja, schon, aber irgendwie weiß doch immer jeder, worum es geht: Beziehungen knüpfen, um sie später anzapfen zu können.”

Hua Junshi stochert lustlos mit seinen Stäbchen in der kleinen Schale Reis vor ihm. Dong Lian greift zu der Bierflasche neben sich und schenkt beiden wieder ein. Über die Unsitte der Polizei, sich mit gutem Essen bestechen zu lassen, möchte er nun gar nicht reden. Er überlegt fieberhaft, wie er Hua Junshi in ein Gespräch vertiefen kann, das weder mit dem Fall Zhang noch mit etwaigen Fehltritten zu tun hat.

„Prost, mein alter Freund!”

Hua Junshi verzieht das Gesicht, als er auf den vollen Becher mit der gelben Flüssigkeit sieht. Tapfer nimmt er es auf und grinst gequält seinem Nachbarn zu.

„Prost!”

Er nippt nur. Kaum schmeckt er das Bier in seinem Mund, will sein Magen schon wieder rebellieren. Er unterdrückt den Würgereiz und schluckt hinunter. Er schüttelt mit angewidertem Gesicht seinen Kopf. Dong Lian lacht.

„Komm, so schlimm ist es doch auch nicht!”

„Ich glaube, ich esse noch ein bisschen von den Sesambällchen, die beruhigen meinen Magen vielleicht.”

Dong Lian dreht ihm die Tischplatte so zu, dass die gewünschten Bällchen direkt vor im stehen. Hua Junshi piekt eins auf und steckt es gleich ganz in den Mund.

„Ah, der Appetit kehrt zurück”, freut sich Vizeinspektor Liu. “Das ist gut!”

Alle am Tisch blicken auf Hua Junshi, der stumm auf seinem Bällchen kaut. Er versucht, zu grinsen, bringt aber nur eine komische Fratze fertig. Seine Kollegen lächeln und Fotograf Peng hebt sein Glas: „Geschätzter Kollege Hua, lass dich beruhigen, dies ist das letzte Polizeibankett für dich! Das sind doch fantastische Aussichten, oder?”

Hua Junshi hat sich eigentlich immer für einen ganz passablen Schauspieler gehalten, aber scheinbar hat jeder seine Abneigung gegen diese Völlereien mitbekommen. Wenigstens kriegt er jetzt ein vernünftiges Grinsen zustande und hebt ebenfalls sein halbvolles Glas: „Auf die Zukunft!”

„Auf die Zukunft!”

Geräuschvoll schlürfen die Anwesenden ihr Bier und setzen fast gleichzeitig mit einem lauten Klirren die leeren Gläser ab. Wie auf Knopfdruck beginnen einzelne Gespräche mit den Nachbarn. Nur Hua Junshi bleibt stumm und sieht langsam von einem zu anderen.

* * *

Nach dem Gespräch mit der Nachtschwester riss Hua Junshi gleich die Akte an sich, kaum dass er im Revier angekommen war und suchte nach Informationen, was Lao Zhang an dem Abend gemacht hatte. Da stand es: Essen mit drei Kadern im Tuanjiehu Peking Enten Restaurant. Mist, das war am anderen Ende der Stadt. Der alte Liang konnte ihm dort nicht aufgelauert haben, mit ihm in die Gasse gegangen sein, um ihn dann zu ermorden. Das hätte er noch nicht mal geschafft, wenn er geflogen wäre. Trotzdem ließ es Hua Junshi nicht los. Er nahm sich noch mal das Gesprächsprotokoll von dem alten Liang vor. Keine Besonderheiten, keine fehlenden Fragen, alles schwarz auf weiß, was er wissen wollte. Sachlich und ernst hatte Lao Liang es erzählt. Emotionslos zwar, aber er glich eher jemandem, der mit dem Schicksal Frieden geschlossen hatte. Der Alte hatte erzählt, dass Lao Zhang mehr oder weniger verantwortlich war für den Zustand seiner Frau. Die Misshandlungen und Folterungen, physisch wie psychisch, haben Li Xiaohua zu dem gemacht, was sie jetzt war, eine manchmal sabbernde Frau, von der keiner genau wusste, was sie eigentlich mitbekam. Ob Lao Liang ihm etwas vorgespielt hatte? Hua Junshi wollte die Probe machen und nahm sich vor, ihn noch einmal zu verhören. Vielleicht hatte er Glück und er verplapperte sich. Vielleicht suchte er aber auch in der falschen Muschel nach der Perle.

Der Ehemann von Li Xiaohua, Lao Liang, war überrascht, als die beiden Polizisten erneut vor der Tür standen, ließ sie aber ohne zu zögern ein.

„Meine Frau schläft gerade.“

„Ich denke, es wird nicht lange dauern“, antwortete Dong Lian.

Sie setzten sich an den klobigen Wohnzimmertisch und Hua Junshi begann, seine Fragen zu stellen. Er hatte sich alles akribisch notiert, was er wissen wollte, was die Antworten bei der ersten Vernehmung waren und was er noch fragen konnte. Zu seiner Enttäuschung beantwortete Lao Liang die alten Fragen wie zuvor, es taten sich keine Diskrepanzen auf.

„Hat Ihre Frau Ihnen viel von ihrer Zeit im Gefängnis erzählt?“ begann Hua Junshi dann mit dem neuen Verhör. Lao Liang kratzte sich am Ohr, sein schütteres, schon graues Haar war kurz rasiert und stand in Stoppeln nach oben.

„Natürlich hatte sie eine Menge erzählt, es muss grauenhaft gewesen sein.“

Er stockte, schien zu überlegen.

Ob er überlegt, was er mir erzählen darf und was nicht, damit er den Verdacht, den wir hegen, nicht verstärkt, fragte sich Hua Junshi.

„Sie hatte eine Wärterin, die ihr damals so gut sie konnte geholfen hatte. Sie hieß, warten Sie, ich glaube, Wu Jieshi. Die kam dafür immer in Teufels Küche.“

Lao Liang lächelte leicht.

„Und natürlich hat sie von dem Anstaltsleiter Zhang erzählt, der ermordet wurde. Er hat sie tyrannisiert und gequält.“

Hah, dachte Hua Junshi, woher weiß er, dass der ermordet wurde? Er stellte sogleich die Frage.

„Das hatte Ihr Kollege neulich erzählt, deswegen waren Sie doch schon mal da, oder?“

Hua Junshi hätte sich am liebsten selbst eine Ohrfeige gegeben, was für ein Anfängerfehler!

„Ja, klar, deswegen waren wir da.“

Er tat bewusst nachdenklich, um seine Dummheit zu vertuschen. Dong Lian sah fragend zu ihm. Der Kleine verrennt sich in etwas, dachte er. Trotzdem musste er zugeben, Respekt vor ihm bekommen zu haben, seit sie zusammen an diesem Fall arbeiteten. Hua Junshi war ein besserer Polizist, als er vermutet hatte.

„Hat sie vielleicht irgendetwas erwähnt, was besonders einschneidend in der Gefängniszeit war?“

„Oh, ich fand alles, was sie erzählte, einschneidend! Nicht umsonst ist sie ein wenig der Welt entrückt. Sie hat öfter von der Isolierzelle erzählt, ich denke, das war mit das schlimmste, was sie dort erlebt hatte. Sie hat auch noch immer Schmerzen in der Hüfte. Ähem“, Lao Liang stockte kurz, bevor er fort fuhr, „steht meine Frau unter Verdacht?“

„Zur Zeit steht noch jeder in Verdacht, Genosse Liang, auch Ihre Frau“, meldete sich Dong Lian zu Wort.

„Wir müssen alle Spuren verfolgen, die wir haben. Aber, um Sie zu beruhigen, wir glauben nicht, dass es Ihre Frau war. Sie lag ja zu der Zeit im Krankenhaus mit dem Schlaganfall.“

Lao Liang nickte, erleichtert, dass er sich darum keine Sorgen machen musste.

„Allerdings stehen Sie auch unter Verdacht, Lao Liang”, fügte Dong Lian noch hinzu. Lao Liang sah erschrocken auf den Polizisten, dann auf den etwas jüngeren Kollegen von ihm. Dieser nickte mit hochgezogenen Brauen.

„Hatten Sie oder Ihre Frau später Kontakt zu Lao Zhang?“

„Gott bewahre! Nein!“

Lao Liang schüttelte entrüstet den Kopf.

„Meine Frau wollte die Zeit so schnell wie möglich vergessen und so wenig wie möglich daran erinnert werden. Es scheint, als ob ihre Seele, nachdem sie mir alles erzählt hatte, für das Vergessen gut gesorgt hat. Es dauerte nicht lange, bis sie langsam in ihre Demenz verfiel. Ich habe oft überlegt, ob sie sich vorgenommen hatte, nach dem letzten Wort darüber in diesen geistesabwesenden Zustand zu fallen. Eines Tages sagte sie zu mir, dass sie nicht mehr darüber reden oder auch nur darüber nachdenken möchte und keine Woche später begann sie, alltägliche Dinge zu vergessen. Bis sie dann irgendwann kaum noch redete, mich nur mit großen Augen ansah, als ob sie überlegen musste, wer ich eigentlich sei. Die Ärzte fanden keine Erklärung, selbst der Psychologe, den wir aufsuchten, war ratlos. Ich glaube, sie wollte es so. Aber dabei ist sie noch so jung.“

Traurig senkte Lao Liang den Blick und heftete ihn auf einen Fleck am Boden neben dem Tisch.

„Wie alt ist Ihre Frau?“ fragte Dong Lian.

„Fünfzig.“ antwortete Lao Liang und sah wieder zu den beiden Polizisten.

„Wann begann Ihre Frau, äh, senil zu werden?“

Hua Junshi war nicht glücklich über seine Wortwahl, aber ihm fiel nichts anderes ein.

„Hm, das muss vor zwei oder drei Jahren gewesen sein. Warten Sie, bis 1975 war sie noch in Anhui, sie war dort zur Umerziehung, wir trafen uns erst kurz vor dem Tode Maos wieder hier in Peking. Das muss so Ende 1975, Anfang 1976 gewesen sein. Und vielleicht ein halbes Jahr später begannen ihre Aussetzer. Ja, vor zwei Jahren“, schloss Lao Liang seine Überlegungen.

„Haben Sie oder Ihre Frau Lao Zhang zu einem späteren Zeitpunkt irgendwann noch einmal gesehen?“

„Nein!“

Ein wenig zu schnell kam die Antwort, fand Hua Junshi, aber Dong Lian bemerkte später, dass dieses Thema durchaus Lao Liang emotional aufgewühlt haben kann und seine Wut auf den Anstaltsleiter ein bisschen in dem Nein mitschwang.

„Haben Sie irgendetwas von ihm gehört, in amtlichen Mitteilungen oder aus der Presse oder vielleicht über gemeinsame Bekannte?“

„Ich glaube nicht, dass wir gemeinsame Bekannte hatten“, schnaufte Lao Liang abfällig, „und falls ich irgendwo mal etwas über ihn gelesen haben sollte, habe ich es mir nicht gemerkt. Der Mensch existierte für mich einfach nicht mehr.“

„Aber werden Sie durch den Zustand Ihrer Frau nicht ständig an ihn erinnert?“ bohrte Hua Junshi weiter. Dong Lian sah seinen jungen Kollegen erstaunt an. Jetzt versuchte er es auf die harte Tour, dachte er, mit der Hoffnung, Lao Liang würde seine Gefühle irgendwann nicht mehr zurückhalten können und etwas Unüberlegtes sagen. Allerdings fragte er sich, was. Für Dong Lian stand fest, dass der Mann nicht der Mörder sein kann. Trotzdem ließ er Hua Junshi aber diese Spur verfolgen. Auch wenn alle Tatsachen dagegen sprachen, hatte Hua Junshi ihn ein wenig mit seinem Gefühl angesteckt, dass Lao Liang etwas damit zu tun haben könnte.

„Nein, der Kerl ist aus meinem Gedächtnis gestrichen. Meine Frau ist krank, sie hat schlimmes durchgemacht, ihre Seele hat sich verschlossen, aber sie ist immer noch die gleiche Person, die ich damals geheiratet habe. Ich benötige meine ganze Kraft, ihr das Leben so angenehm wie möglich zu machen, da brauche ich keine blinde Wut auf den Menschen, der ihr das angetan hat. Die Energie kann ich mir für besseres aufheben.“

Lao Liangs Augen blitzten auf, er zitterte ein wenig, kaum merklich, aber Hua Junshi nahm es trotzdem wahr.

„Und außerdem hat der Halunke sein gerechtes Ende gefunden“, schloss Lao Liang.

„Beruhigt Sie das?“

„Was heißt beruhigen? Es ändert nichts. Meine Frau wird dadurch auch nicht gesund.“

Hua Junshi sah zu Dong Lian. Er wollte prüfen, ob sein Kollege das gleiche dachte, wie er, nämlich dass Lao Liang höchstwahrscheinlich doch nicht ihr gesuchter Mörder war. Dong Lian nickte ganz leicht.

„Lao Liang, danke, dass Sie sich noch mal die Zeit für uns genommen haben, ich denke, wir haben jetzt alles zusammen, was wir noch wissen wollten.“

Hua Junshi erhob sich, mit ihm Dong Lian und Lao Liang.

„Es tut mir leid, dass ich Ihnen nicht sehr helfen konnte“, sagte Lao Liang bedauernd.

„Mehr als Sie denken“, erwiderte Dong Lian. Für eine Sekunde füllten sich Lao Liangs Augen mit einem Schimmer von Unruhe.

Hua Junshi und Dong Lian traten aus der Tür, verabschiedeten sich höflich und gingen langsam die Treppe hinunter. Als sie draußen waren, brach Hua Junshi das Schweigen.

„Scheiße, ich dachte, wir haben ihn.“

„Komm, Kollege, wie hätte er es schaffen sollen. Es war von Anfang an unrealistisch.“

„Er hätte aber allen Grund gehabt, sich zu rächen.“

„Das hatten viele andere auch! Dummerweise können wir bei denen, wie eigentlich auch bei Lao Liang, nachprüfen, dass sie es nicht sein konnten.“

„Ich habe so ein komisches Gefühl“, sagte Hua Junshi langsam, „ein Gefühl, als ob wir etwas nicht sehen oder übersehen oder es ganz vergessen, in Betracht zu ziehen.“

„Für mich ist es relativ klar, dass der alte Liang es nicht gewesen sein konnte. Natürlich, die Verdachtsmomente sind da, die Gelegenheit irgendwo auch, aber nein“, verbesserte er sich, „er hätte es nie und nimmer in der Zeit schaffen können, zu dem Restaurant zu fahren, Lao Zhang überreden, mit ihm in eine dunkle Ecke zu gehen, um ihm dann in aller Seelenruhe die Kehle durchzuschneiden. Glaub es mir, das hätte jemand merken müssen. Außerdem muss das Blut gespritzt haben, wie bei einer abgestochenen Sau, er hätte sich auch noch umziehen müssen, um dann geschniegelt und gebügelt in den gleichen Klamotten, wie vorher“, hier machte Dong Lian eine entscheidende Pause, „wieder im Krankenhaus am Bett seiner Frau zu sitzen. Glaube mir, das kann nicht sein!“

Hua Junshi hatte stumm zugehört, die Argumentation seines Kollegen überzeugte ihn, logisch betrachtet, aber sein Gefühl sagte ihm immer noch, dass irgendetwas nicht ganz geheuer war.

„Vielleicht hatte er jemanden beauftragt“, sagte er schwach.

„Meine Güte! Wir haben ihn doch überprüft, inklusive Bankkonten und sonstiges. Er hatte nie viel Geld, wie sollte er den Killer bezahlen.“

Hua Junshi schwieg, hing seinen Gedanken nach. Vielleicht gab es ja jemanden, der Lao Liang einen Gefallen schuldig war. Hua Junshi behielt die Idee für sich. Bis sie im Revier ankamen redeten sie kein Wort mehr.

„Ich hab hier was, was euch interessieren wird“, rief der Beamte am Empfang des Vierten Polizeireviers, als Dong Lian und Hua Junshi eintraten. Fast gelangweilt blickten sie auf und warteten auf die große Neuigkeit.

„Dieser Cui, dieser Anstaltsleiter vor dem Zhang in Anhui, ratet mal, wann der das letzte Mal in Peking war.“

„Spann uns nicht auf die Folter, sag, was du zu sagen hast“, befahl Hua Junshi ungeduldig. Beleidigt blickte sein Kollege auf den Zettel.

„Ende August“, triumphierte er, allerdings nicht ganz so enthusiastisch wie er vorgehabt hatte. Hua Junshi wurde augenblicklich aus seiner Lethargie gerissen.

„Was sagst du da?“

Er riss dem jungen Polizisten den Zettel aus der Hand.

„Los, an die Arbeit“, forderte er Dong Lian unnachgiebig auf. Der verdrehte die Augen, konnte aber seine Aufgeregtheit auch nicht ganz verstecken.

* * *

Heimlich schaut Hua Junshi auf seine Armbanduhr. Seit drei Stunden sitzt er schon hier. Leider ist es ein Abend zu seinen Ehren und da kann er schlecht aufstehen und sagen: Ich geh dann mal! Glücklicherweise fühlt er sich nach dem Sesambällchen wieder besser, statt Bier gießt er sich heimlich kalten Jasmintee in sein Glas. Keiner scheint es zu merken, denn das schale Yanjing Bier schäumt nicht.

Gelangweilt sieht er zur Tür. Draußen geht gerade das alte Ehepaar vorbei, von dem sich die Frau aus Versehen in der Männertoilette geirrt hatte. Wieder steigt die Frage in Hua Junshi auf, woher er die beiden kennt. Der Mann sieht herüber in das Zimmer und scheint auch zu stutzen. Oder bildet sich Hua Junshi das nur ein? Der alte Mann winkt aber nicht oder unternimmt einen Versuch, zu ihm hinüber zu kommen. Wahrscheinlich sieht er, Hua Junshi, nur jemandem ähnlich. Aber der alte Mann sieht ja auch jemandem ähnlich. Nur wem?

„Siehst du den alten Mann da draußen?” fragt Hua Junshi Dong Lian. Dieser dreht sich um und nickt.

„Was ist mit ihm?”

„Kennst du den von irgendwoher?”

„Ich kann sein Gesicht nicht erkennen, aber nein, eigentlich kommt er mir nicht bekannt vor.”

„Ich bin mir so sicher, dass ich ihn schon irgendwo gesehen habe, kriege aber nicht zusammen wo.”

„Warte, das ist doch der von der Toilette vorhin, dessen Frau ins Männerklo gestolpert kam.”

„Ja, der ist das”, antwortet Hua Junshi enttäuscht, dass sein Kollege nichts beitragen konnte. „Aber auch da kam er mir schon bekannt vor.”

„Nee, tut mir Leid, alter Freund, da kann ich dir nicht helfen.”

Dong Lian dreht sich wieder dem Tisch zu und überlegt, ob er noch etwas essen soll. Eigentlich ist er ja satt, trotzdem locken die vielen Köstlichkeiten, auch wenn sie schon lange kalt sind. Hua Junshi dreht sich auch wieder langsam zum Tisch zurück, grübelt aber noch immer.

„Wenn du nichts zum Rätseln hast, bist du auch nicht glücklich, was?” witzelt Dong Lian mit vollem Mund. Er kaut fröhlich auf einem Stück süßsauren Schweinefleisch. „Du solltest dir das mit der Taubenzucht überlegen, das wird bestimmt furchtbar langweilig. Vielleicht solltest du Privatdetektiv werden. Diese Branche hat ja jetzt Hochkonjunktur.”

Hua Junshi sieht leicht genervt zu Dong Lian. Nimmt sich dann aber zurück und lächelt. Eigentlich ist es eine gute Idee, es gibt schon einige Detekteien in größeren Städten wie Peking, Shanghai oder Chengdu. Die meisten Aufträge werden von Frauen erteilt, die ihre untreuen Ehemänner beschatten lassen wollen. Dafür sind natürlich keine kriminalistischen Kenntnisse notwendig, aber es könnte ein netter Zeitvertreib für den künftigen Rentner werden. Hua Junshi war froh, mit diesen Gedanken abgelenkt zu werden.

„Du kannst dann hübsch auf der Lauer liegen und lernst viele Frauen kennen, die dann wahrscheinlich bald geschieden sein werden.”

Dong Lians Versuche damals, Hua Junshi zu verkuppeln, haben nie Früchte getragen. Er hatte zwar mal mit der einen oder der anderen eine Affäre gehabt oder sogar eine Beziehung, die über Jahre dauerte, aber es hat nie dazu gereicht, zu heiraten. Er sei kein Mann zum Heiraten, hatte Hua Junshi immer gesagt. Das war nur die halbe Wahrheit. Er hätte gerne jemanden an seiner Seite gehabt. Doch keine Frau hatte die Geduld, so lange zu warten, bis er schließlich genug Vertrauen hatte, um sich ihr zu öffnen. Die Geschichte seiner Mutter mit Lao Zhang hatte ihm mehr zugesetzt, als er sich eingestehen wollte. Auch die korrupte Gesellschaft um ihn herum ließ ihn jedes Mal aufs Neue zögern. Es fiel ihm schwer, zu glauben, was die Leute und vor allem die Frauen ihm sagten. Wahrscheinlich brachte das auch mein Beruf mit sich, denkt er rückblickend. Zu viele Lügner kreuzten seinen Weg, und selbst seine Mutter musste er in diesen Kreis einbeziehen. Er seufzt.

Dong Lian mustert ihn fragend, doch Hua Junshi schüttelt nur mit dem Kopf. Dong Lian meint zu wissen, dass sein Kollege schon wieder bei dem Fall Zhang ist. Ihm ist bis heute nicht klar, was an dem Fall so besonderes war, dass Hua Junshi ihn nicht loslassen kann. Klar, dass der Ermordete wie ein Vater zu ihm war, das setzt einem schon zu. Und dann, dass der Mörder nie gefunden wurde ebenfalls. Aber nach so vielen Jahren muss doch irgendwann mal Schluss sein.

Dong Lian befürchtet, dass sein Kollege nun, mit so viel Zeit an der Hand, nichts anderes tun wird, als über diesen verdammten Fall zu grübeln. Aber gut, wenn er gerne seine Zeit damit verschwenden möchte, ihm, Dong Lian, soll es recht sein. Für ihn war der Fall abgeschlossen. Und zwar in dem Moment, als alle Beweise gesammelt, ausgewertet und im Grunde für nutzlos erklärt wurden.

* * *

Nachdem Hua Junshi erfahren hatte, dass der ehemalige Amtsleiter Cui zur Mordzeit in Peking war, beantragte er zusammen mit Dong Lian eine zweite Reise nach Anhui. Vorgesetzter Liu genemigte die Reise, die neuen Hinweisen schienen tatsächlich auf eine heiße Spur zu führen. Die beiden Polizisten suchten den ehemaligen Anstaltsleiter Cui zu Hause auf. Erschrocken blickte Cui auf die Polizeiausweise der beiden jungen Beamten und ließ sie nur widerwillig eintreten. Hua Junshi verlor keine Zeit.

„Warum haben Sie bei unserem Telefonat nicht erwähnt, dass Sie an dem Abend des 26. August in Peking waren?“

„Sie haben mich nicht gefragt“, erwiderte der dickliche Kader frech.

„Sie wussten doch, dass es um den Mord an Lao Zhang ging, Sie haben Informationen unterschlagen.“

Cui zuckte nur mit den Achseln.

„Wo genau waren Sie an dem Abend?“

„Ich hatte doch schon gesagt, dass ich mit Kollegen essen war.“

„Wo?“

Hua Junshi wurde ungeduldig.

„In einem Peking Enten Restaurant.“

„In welchem und mit wem.“

Cui traten Schweißperlen auf die Stirn.

„Antworten Sie“, herrschte ihn jetzt auch Dong Lian an. Der Anstaltsleiter überlegte, ob er lügen sollte, entschied sich aber dann doch für die Wahrheit, früher oder später würde es herauskommen.

„Im Tuanjiehu, mit Zhang und den anderen“, gab er schließlich kleinlaut zu. Hua Junshi pfiff seinen angehaltenen Atem durch die Zähne aus.

„Was haben Sie danach gemacht?“

„Ich bin direkt ins Hotel gefahren.“

„Wer kann das bezeugen?“

„Äh, tja, das Zimmermädchen, das mir aufgeschlossen hat.“

„In welchem Hotel haben Sie gewohnt?“

„Im Yuyang Hotel, Xindong Strasse.“

„Genosse Cui, ich werde Hausarrest für Sie beantragen, bis wir das geklärt haben. Sie dürfen bis auf weiteres ihre Wohnung nicht verlassen, wir werden einen Beamten postieren, der Sie bewachen wird.“

Dong Lian fand, dass Hua Junshi diese Maßnahme zu schnell ergriff, ließ ihn aber machen.

„Was soll ich denn bitte davon haben, den alten Zhang umzulegen?” fragte Cui nach einer Schrecksekunde über den bevorstehenden Hausarrest.

„Es gibt immer viele Motive und Sie waren ja nicht gerade gut auf ihn zu sprechen.”

“Das nicht, aber das habe ich auch nie dementiert, oder? Deswegen frage ich Sie, warum sollte ich es getan haben.”

“Ganz einfach: Rache.”

“Dann hätte ich ihn doch besser gleich in dem Moment umbringen können, als er mir meine Leitung der Anstalt streitig gemacht hat. Da hätte es ja noch eine Chance gegeben, die Stelle zurückzubekommen.”

„Was Sie sich dabei gedacht haben, weiß ich nun wirklich nicht. Für mich steht fest, dass Sie Grund hatten und im Moment genügt es.”

“Ohne gute Beweise werden Sie nicht weit kommen”, feixte Cui.

Hua Junshi ließ sich nicht wütend machen, sondern rief bei der Dienststelle in Tuxian an, dass drei Beamte zur Bewachung bereit gestellt werden mussten.

Kaum waren sie wieder in Peking, befragten sie das Zimmermädchen des genannten Hotels.

„Wissen Sie, wie viele Gäste hier täglich absteigen? Wie soll ich mich an jeden einzelnen erinnern?“

„Sie haben doch sicherlich Buchungsunterlagen.“

„Ja, aber die sind unten an der Rezeption.“

„So wie ich die Rezeptzionistin verstanden habe, gibt es auf jedem Flur eine Liste der einzelnen Zimmer mit den Namen der dort wohnenden Gäste.“

Das Zimmermädchen zögerte zwei Sekunden, dann sagte sie: „Ja, die gibt es.“

„Also müssen Sie doch wissen, wer in welchem Zimmer war.“

„Ja. Aber ich weiß nicht, wann welcher Gast nach Hause gekommen ist. Das Hotel war voll und fast alle halbe Stunde musste ich aufstehen und jemandem aufschließen.“

Dong Lian und Hua Junshi bemerkten belustigt, wie wütend das Zimmermädchen darüber war. Dabei ist es ihre Aufgabe, den Gästen aufzuschließen. Eigene Schlüssel wurden nicht ausgeteilt. Unauffällig konnten somit die Gäste überprüft werden, ob sie eventuell jemanden in das Hotel schleusen wollten. Natürlich ging es dabei nur um die Kontrolle der Prostitution.

„Es war auf jeden Fall nach Mitternacht“, fügte sie hinzu. „Ich gehe normalerweise um halb zwölf schlafen. Aber wie viel später es war, weiß ich wirklich nicht.“

„Ist Ihnen denn etwas anderes aufgefallen?“

„Was soll mir aufgefallen sein?“

„Vielleicht so was wie dreckige Kleidung oder ähnliches“, versucht Hua Junshi das Mädchen in eine Richtung zu lenken.

„Nein, tut mir Leid, ich kann mich an nichts erinnern.“

So sehr Hua Junshi und Dong Lian es auch versuchten, das Zimmermädchen schien kein verlässlicher Zeuge, um den Anstaltsleiter Cui zu beschuldigen.

Als nächstes nahmen sie sich die Leute vor, die ebenfalls an dem Essen teilgenommen hatten.

„Der Zhang hatte noch einen anderen Termin”, erzählte Kader Wang. „Ich dachte, er wollte sich noch mit einer Frau treffen.”

„Was hat denn Lao Zhang gesagt, als er ging?” hakte Hua Junshi nach.

„Nicht viel, er tat so geheimnisvoll.”

„Aber gerade das kam mir komisch vor”, mischte sich Kader Chen ein. Er war derjenige, der Lao Zhang von allen am besten kannte. „Zhang protzte ja ganz gerne mit seinen Frauengeschichten. Und wenn das Treffen mit einer Geliebten gewesen wäre, hätte er bestimmt was gesagt. Er sah aber eher ernst aus.”

„Wissen Sie, wann er den Termin mit dem oder der Unbekannten vereinbart hat?”

„Nein, nicht genau, aber es muss schon am Tag vorher gewesen sein.”

Hua Junshi sah ein, dass er keine neuen Indizien von den Männern erfahren würde und machte Dong Lian ein Zeichen, dass sie aufbrechen sollten. Sie fuhren zu dem Büro von Lao Zhang und sprachen noch einmal mit der Sekretärin.

„Es war nichts Ungewöhnliches vorgefallen”, erzählte diese, „er bekam einige Anrufe von unterschiedlichen Leuten, aber er wirkte nicht anders oder gar verstört.”

„Wissen Sie noch, wer am Tag vor seiner Ermordung alles angerufen hat?”

„Oh je, nein, er bekommt”, sie stockte und verbesserte sich, „er bekam jeden Tag bestimmt dreißig Anrufe, wenn nicht noch mehr.”

„War ein Anruf dazwischen, der Sie stutzig gemacht hat? Zum Beispiel ein Anruf von einem Unbekannten?”

„Es gibt zwar einige, die oft anrufen, die kenne ich auch. Aber es gibt auch genauso viele, die das erste Mal anrufen. Ich kann nicht jeden kennen. Und ich frage bestimmt nicht nach jedem Anruf, wer das war und was der wollte.”

„Natürlich, das habe ich auch nicht erwartet”, beruhigte Hua Junshi die aufgebrachte Sekretärin. „Aber wenn Sie vielleicht noch mal ganz scharf nachdenken könnten, wäre das eine große Hilfe für uns.”

Die Sekretärin legte den Kopf schief und grübelte. Die beiden Polizisten ließen ihr die Zeit und drängten nicht.

„Nein, tut mir Leid, ich kann mich an keinen erinnern.”

„Ich nenne Ihnen mal ein paar Namen und Sie sagen mir einfach, ob derjenige angerufen hat.” Sie nickte und Hua Junshi begann, aufzuzählen: „Kader Cui.”

„Ja, der hatte an dem Tag angerufen, sogar dreimal, wenn ich mich richtig erinnere.”

„Ich weiß, das ist viel verlangt, aber erinnern Sie sich an die Uhrzeit?”

„Nur von einem Anruf, das muss so kurz vor sechs Uhr abends gewesen sein, ich wollte nämlich gerade nach Hause gehen. Die anderen Anrufe waren früher, ich glaube, sogar noch vor dem Mittag. Und ja, etwas war da noch”, erinnerte sie sich, „nach dem letzten Anruf war Lao Zhang ein wenig aufgebracht. Nicht wirklich wütend, aber doch merklich verstimmt.”

Hua Junshi horchte auf und notierte sich etwas in seinem kleinen Heftchen.

„Sie wissen aber nicht, worum es ging, oder?”

„Nein, nicht wirklich, ich hörte Lao Zhang nur etwas murmeln, es klang so wie „der elende Schmarotzer” oder so was. Aber ich habe keine Ahnung worauf Lao Zhang das bezog.”

Hua Junshi nickte Gedanken verloren und dann fuhr er fort: „Hat ein Herr Liang angerufen?”

„Liang . . . Nein, der Name sagt mir nichts. Aber wissen Sie, die wenigsten sagen ihren Namen, sie verlangen nach Lao Zhang, ich muss immer erst nachfragen, wer überhaupt am Telefon ist.”

„Und da gab es keinen, der sich dann als Liang oder Lao Liang vorstellte?”

„Soweit ich mich erinnere, nicht. Aber ich kann es nicht mit Gewissheit sagen.”

„Wie sieht es mit einer Frau Li aus? Li Xiaohua.”

Dong Lian sah verwirrt auf seinen Kollegen.

„Nein, ich glaube, nicht. Es haben an dem Tag nur zwei Frauen angerufen, die Exfrau von Zhang und eine andere, die hat aber nicht ihren Namen genannt. Aber”, fiel ihr ein, „ein Herr Li hat angerufen. Den kannte ich nicht. Hatte eine sehr angenehme, ruhige Stimme.”

Hua Junshi notierte sich die Bemerkung, obwohl er wusste, dass sie nutzlos war, und las dann noch vier andere Namen vor. Scheinbar hatte aber keiner von denen angerufen. Dong Lian und Hua Junshi verabschiedeten sich und mussten einsehen, dass auch dieses Gespräch keine neuen Erkenntnisse gebracht hatte. Sie entschlossen, noch einmal mit dem ehemaligen Anstaltsleiter Cui zu sprechen. Dieser war zwischenzeitlich nach Peking gebracht worden und galt als Hauptverdächtiger.

Er sah verhärmt und grau aus, als sie sich in dem kleinen, kahlen Vernehmungsraum des Vierten Reviers wieder trafen. Ruhig sass Cui an dem alten, wackelnden Holztisch und wartete überlegen grinsend auf die Fragen.

„Lao Zhangs Sekretärin sagte uns, Sie hätten dreimal bei ihm angerufen am Tag vor dem Mord. Um was ging es dabei?”

„Sie werden es mir eh nicht glauben”, schnaubte Cui verächtlich, „es ging um das Essen am nächsten Tag, wann und wo wir hingehen.”

„Wer hat diese Entscheidung getroffen?”

„Lao Zhang.”

„Wie kommt es, dass Sie bei dem Essen überhaupt dabei waren? Zwischen Ihnen herrschte ja eher eine Abneigung als Freundschaft.”

Der ehemalige Anstaltsleiter zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Er wollte wohl nicht das Gesicht verlieren indem er mich nicht einlädt.”

„Sie haben doch nicht dreimal wegen einem Abendessen telefoniert, worum ging es in den anderen Gesprächen.”

„Meine Güte, ich hatte gehört, dass ein Essen geplant war und da der Chen auch dort sein würde, wollte ich auch kommen. Bei den ersten beiden Anrufen hatte Lao Zhang nicht von dem Essen geredet. Es war offensichtlich, dass er mich nicht einladen wollte. Bei dem dritten Gespräch habe ich ihm dann die Pistole auf die Brust gesetzt. Sind Sie jetzt zufrieden?”

Cui schien es egal zu sein, was die beiden Polizisten von ihm hielten. Für ihn war es ganz normal, das zu bekommen, was er wollte, zu jedem Preis. Und da er wusste, dass Lao Zhang ein traditioneller Chinese war, der empfindlich auf Gesichtsverlust reagierte und trotz eventueller Unannehmlichkeiten sich lieber mit jedem gut stellte, der vielleicht irgendwann mal nützlich sein konnte, war es eine Kleinigkeit, ihn dazu zu bringen, Cui eine Einladung auszusprechen. Zwar hatten ihm die Gespräche mit Kader Chen dann doch nicht das gebracht hatten, was sich Cui erhofft hatte, aber er verbrachte trotzdem einen vergnüglichen Abend auf Staatskosten.

Hua Junshi sah zu Dong Lian hinüber. Er war sehr verwirrt. Irgendwas in ihm wusste, dass Cui nicht der Mörder war. Auch wenn er nicht sicher war, ob dieser nicht doch an irgendeiner Stelle gelogen hatte. Er hatte es im Gefühl, dass er auf der falschen Fährte war. Nur wie durch Nebel hörte er, wie Dong Lian die Befragung fortführte. Aber es interessiert Hua Junshi nicht mehr. Cui war nicht ihr Mann. Für ihn blieben nur zwei Leute über, von denen er sich vorstellen konnte, dass einer der Mörder Lao Zhangs war: Lao Liang oder seine eigene Mutter. Was Dong Lian nicht wusste, war, dass Hua Junshi seine Mutter noch mal verhört hatte, ganz vorsichtig, ein bisschen hinterhältig mit Fallen in den Fragen, aber er brauchte die Gewissheit, dass sie es nicht war. Und auch wenn er glaubte, dass sie durch ihre Offenheit, mit der sie über Lao Zhang gesprochen hatte, ihm nichts verschwieg, ergaben sich einige Lücken in ihren Aussagen, die sie nicht zur Zufriedenheit ihres Sohnes füllen konnte. Und im Gegensatz zu Lao Liang hatte sie kein Alibi. Es fiel Hua Junshi schwer, seine Mutter als Mordverdächtige zu sehen. Eigentlich war Lao Liang für ihn der Hauptverdächtige, aber Dong Lian hatte Recht, er konnte es zeitlich nicht geschafft haben. Blieb dann tatsächlich seine Mutter übrig? War sie ein Mensch, der kaltblütig jemanden umbringen konnte? Er hatte noch einmal mit der Sekretärin von Lao Zhang telefoniert und gefragt, ob jemand mit dem Namen seiner Mutter angerufen hatte. Diese bestätigte aber ihre vorherige Aussage, dass nur die Exfrau von Zhang und eine unbekannte Frau angerufen hätten. Hua Junshis Mutter hatte bei der Frage ihres Sohnes zusammengezuckt und sehr lange, zu lange, für ihre Antwort gebraucht. Das Misstrauen wuchs in Hua Junshi und er wehrte sich vehement gegen dieses immer stärker werdende Gefühl, in seiner Mutter den Mörder gefunden zu haben. Und er focht nächtelang erbitterte Kämpfe mit sich, ob er über seine heimlichen Ermittlungen berichten sollte oder nicht. Er tat es nicht. Er wollte ihr ins Gesicht sagen, dass er wusste, dass sie Lao Zhang auf dem Gewissen hätte, aber dass er sie nicht anzeigen werde. Aber auch das tat er nicht. Er schwieg. Und es brach ihm fast das Herz, dass seitdem eine unsichtbare Mauer zwischen ihnen entstanden ist. Sie war seine Mutter. Wie konnte er sie verraten? Und obwohl sie bei dem letzten Gespräch ihrem Sohn sagte, dass sie wüsste, was er denkt und dass es nicht stimmte, machte er sich mit diesem schrecklichen Gedanken vertraut. Um ihn dann zu verdrängen.

Nach dem fruchtlosen Gespräch mit Cui hatten Dong Lian und Hua Junshi lange zusammen gesessen, waren alle Verhöre durchgegangen und hatten schließlich dem Vorgesetzten Liu mitteilen müssen, dass alle Ermittlungen im Sande verlaufen waren. Für einen kurzen Moment war Liu noch über die Aussage der Mutter Hua Junshis gestolpert. Aber laut Report ihres Sohnes hatte auch sie ein Alibi. Unter großer Anstrengung hatte Hua Junshi unbeteiligt getan und als ob alles in bester Ordnung war. Der Vorsitzende hatte dann die Akte zugeklappt, sah die beiden Polizisten vor ihm an und sagte ohne eine erkennbare Gefühlsregung: „Genossen Dong und Hua, bringen Sie diese ins Archiv und lassen sich dann von Frau He den Fall Chao geben.” Damit war er aufgestanden und hatte die beiden wie begossene Pudel zurückgelassen. Dong Lian hatte mit den Schultern gezuckt, war ebenfalls aufgestanden und ging aus dem Raum. Nachdenklich hatte Hua Junshi die Akte Zhang in seinen Händen gehalten. Es war sein erster Mordfall gewesen und er wusste, dass er keinen schlimmeren Fall als diesen mehr bekommen würde, trotz seiner noch jungen Laufbahn als Polizist. Komischerweise hatte ihn dieser Gedanke sehr beruhigt. Mit der Akte im Archiv verschwanden vorerst seine Zweifel und Gedanken. Für eine Weile wenigstens. Aber sie sollten immer wieder auftauchen und ihn daran erinnern, dass er mit seinem schlechten Gewissen alleine war.

* * *

Der kalte Wind pfeift ihm um die Ohren. Mit der rechten Hand zieht Hua Junshi seinen Mantelkragen am Hals zusammen. Er winkt einem Taxi. Die Verabschiedung von seinen ehemaligen Kollegen gerade fiel genauso aus, wie er es sich gedacht hatte: als ob sie sich am nächsten Tag wieder sehen würden.

„Wang Jing“, teilt er dem Taxifahrer mit, als er einsteigt.

„Wang Jing“, wiederholt der. Als keine korrigierende Antwort kommt, klappt er das Taxameter herunter und fährt los. Hua Junshi dreht den Kopf zum Fenster, nachdem er bemerkt, dass der Taxifahrer heftig nach Knoblauch riecht. Er reibt sich seine hämmernden Schläfen. Zu viel Bier und zu viele Zigaretten, denkt er seufzend. Morgen wird er richtig leiden müssen. Auf einem draußen vorbeiziehenden Werbeplakat wurde einem Herrn Cui viel Lob über eine Mobiltelefonmarke in den Mund gelegt.

Cui.

Warum nur erinnert auch alles mögliche und unmögliche ihn an diese Episode in seinem damals noch jungen Leben? Er fragt sich oft, was gewesen wäre, hätte jemand genauere Nachforschungen über seine Mutter angestellt. Hätte er verhindern können, dass sie verurteilt worden wäre? Wahrscheinlich nicht. Und noch wahrscheinlicher ist, dass es ihn seinen Job gekostet hätte. Und wer weiß, vielleicht hätte ihn dann sogar das gleiche Schicksal ereilt und er säße jetzt immer noch in einer kalten, stinkenden Zelle. Er wird für seinen Fehler noch früh genug bezahlen. Predigen die Buddhisten nicht immer von Karma und Ursache und Wirkung? Wenn die Recht haben, wird er wohl im nächsten leben als Ratte oder Kakerlake wiedergeboren.

Hua Junshi schaut auf die von den Laternen beleuchtete Straße vor sich. Es sind nicht sehr viele Autos unterwegs, die meisten davon sind Taxen.

Er schließt die Augen und versucht, den penetranten Knoblauchgeruch zu ignorieren. Aus einem unerklärlichen Impuls heraus, bittet er den Fahrer, einen Umweg zu fahren. Sie fahren an seinem alten Wohnhaus vorbei, wo die Mutter noch bis zu ihrem Tod gelebt hatte, und an der Müllkippe, auf der Lao Zhang gefunden wurde. An vielen Häuserwänden in den engen hutongs, den alten Pekinger Gassen, steht das Schriftzeichen chai, Abriss. Die ganze Ecke wird in den nächsten Wochen abgerissen und stattdessen werden Einkaufszentren und Bürogebäude mit zwanzig Stockwerken dort hingestellt. Ist dieser Ort sein Verderben? Hat sein Leben hier die Wendung genommen, die ihn für den Rest seines Lebens verfolgen wird? Oder bildet er sich alles nur ein?

Ich muss das endlich vergessen, befiehlt er sich, ich kann es nicht mehr rückgängig machen. Plötzlich fällt ihm ein, woher er den alten Mann und seine Frau kennt, die ihm im Restaurant so viele Rätsel aufgegeben haben. Sie waren Hauptverdächtige im Fall Zhang! Wie kann er das vergessen haben? Er erinnert sich, dass er so große Hoffnungen hatte, den Ehemann überführen zu können. Dann wäre seine Mutter aus dem Schneider gewesen. Er konnte es aber nicht gewesen sein, sein Alibi war hieb- und stichfest. Alle Fäden laufen zu meiner Mutter, denkt er. Ein Zittern durchfährt ihn, er spannt seinen Körper an. Wie ein Mantra sagt er sich: Es reicht! Es reicht! Ab heute ist alles vorbei! Als er sich wieder beruhigt hat und merkt, dass anscheinend tatsächlich eine Last von ihm gefallen ist, entspannt er sich wieder, atmet dreimal tief ein und aus.

„Fahren Sie jetzt bitte direkt nach Wang Jing“, bittet er den Taxifahrer. Hua Junshi hatte sich vor ein paar Jahren in dem neu errichteten Wohngebiet außerhalb des vierten Rings mit dutzenden gleich aussehenden Hochhäusern in weiß und grau eine geräumige Wohnung gekauft. Der Fahrer fährt an der nächsten Ampel links und muss scharf bremsen. Ein Feuerlöschzug donnert ihnen mit erhöhter Geschwindigkeit und Blaulicht entgegen.

„Was ist denn da los?“ murmelt der Fahrer.

Nur ein paar Blöcke entfernt sehen die beiden den roten Schein eines Feuers am Himmel.

„Ich fahre über den zweiten Ring und dann am Dongzhimen raus, okay“, teilt der Fahrer Hua Junshi mit, ohne auch nur mit dem leisesten Protest zu rechnen.

Er antwortet auch gar nicht, starrt zu dem Feuer. Je schneller ich zu Hause bin, desto besser.

Unsichtbare Bänder

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