Читать книгу Verhängnis dunkler Seelen: 5 Romantic Thriller - Ann Murdoch - Страница 6

Wenn Seelen gequält werden von Carol East

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Tränen verschleierten ihren Blick. Der frisch aufgeworfene Grabhügel vor ihren Füßen, immer noch bedeckt mit Kränzen, Blumen und Schleifen, auf denen die unterschiedlichsten letzten Grüße standen, erschien dadurch seltsam verschwommen.

Die junge Frau mit den langen, blauschwarzen Haaren, die locker nach hinten herabfielen, schüttelte den Kopf, während die Tränenflut sich noch verstärkte. Dabei hatte sie noch vor Minuten geglaubt, gar keine Tränen mehr zu haben. So sehr hatte sie in den letzten Tagen bereits geweint.

Ihr geliebter Peter lag hier begraben – zumindest das, was nach seinem schlimmen Unfall von ihm übriggeblieben war. Es war so wenig, daß niemand von seinem Leichnam hatte Abschied nehmen können. Nur von seinem Sarg, mit beinahe anonymem Inhalt, weil er nichts mehr mit dem Menschen gemeinsam hatte, der Peter vor seinem Tode gewesen war.

Ein spektakulärer Autounfall, der in allen Zeitungen gestanden und über den auch das Fernsehen ausführlich und immer wieder berichtet hatte. Es hatte den Schmerz der Hinterbliebenen und allen voran den Schmerz der jungen Frau mit dem ungewöhnlichen Namen Cruzia Prunata nur noch verstärkt, bis ins Unerträgliche sogar.

„Warum?“ hörte sie sich stöhnen. „Warum nur?“

Nein, wenn man bei weitem nicht einmal seinen dreißigsten Geburtstag hatte feiern dürfen, war es viel zu früh zu sterben. Und die Ursachen des Unfalls waren noch weitgehend ungeklärt: Peter war niemals ein zu wilder Fahrer gewesen. Er hatte im Gegenteil eher zu den defensiven Fahrern gehört. Und trotzdem war er anscheinend mit weit überhöhter Geschwindigkeit mit seinem Wagen aus einer engen Kurve getragen worden, ausgerechnet in den Bergen. Das Auto war in den Abgrund gerast, hatte sich unterwegs mehrmals überschlagen, um in der schmalen Schlucht schließlich in Flammen aufzugehen und zu detonieren.

Es hatte nur noch gereicht, die sterblichen Überreste immerhin soweit zu identifizieren, daß sie eindeutig Peter Harris zugeordnet werden konnten.

Was sich seine Freundin Cruzia, die sich nach wie vor in Liebe nach ihm verzehrte, allerdings fragte, war: „Was hattest du dort überhaupt zu suchen? Wieso bist du in die Berge gefahren? Wir waren doch verabredet gewesen!“

Er war nicht gekommen zu ihrer Verabredung. Er, der sonst eher überpünktlich gewesen war, hatte sie versetzt. Und sie hatte sogleich geahnt, daß etwas Schreckliches geschehen sein mußte, denn das sah Peter keineswegs ähnlich.

Ja, was hatte ihn gegen Abend in die Berge geführt – mit welchem Ziel? Wieso hatte er niemandem etwas davon gesagt, auch seinen armen Eltern nicht, die genauso fassungslos über den Verlust ihres geliebten Sohnes waren wie Cruzia Prunata über den Verlust ihrer großen Liebe?

Peter konnte darauf keine Antwort mehr geben. Hier lag er nun, als Teil der Ewigkeit, in die er zurückgekehrt war. Nur, um Schmerz und Trauer zu hinterlassen.

Ich muß mich abwenden. Ich kann nicht Tag und Nacht hier am Grab verweilen. Das redete sie sich immer wieder ein. Und doch schaffte sie es einfach nicht, sich davon zu lösen. Es war nicht nur wegen Peter, sondern auch, weil sie vor wenigen Jahren erst ihre Eltern verloren hatte, bei einem ähnlich tragischen Unglück. Sie waren allerdings nicht mit dem Auto tödlich verunglückt, sondern mit dem Flugzeug. Es war das erste und einzige Mal gewesen, daß sie ohne ihre Tochter in Urlaub geflogen waren. Ein Urlaub, aus dem es niemals mehr eine Rückkehr gegeben hatte. Zumindest nicht lebend.

Und jetzt abermals ein solch tragischer Verlust! Peter hatte ihr geholfen, den Schmerz über den Verlust ihrer Eltern endlich zu überwinden, nur, um den Schmerz durch seinen eigenen Tod sogar noch schlimmer zu machen...

Aber sie mußte jetzt wirklich das Grab verlassen. Es nutzte niemandem, wenn sie sich hier auch noch den Tod holte. Es wurde schon merklich kühl, und am Himmel türmten sich drohend schwarze Wolken. Bald würde ein Unwetter losbrechen, dem sie rechtzeitig entgehen sollte.

Doch sie konnte sich einfach nicht von der Stelle rühren. Die Trauer und der Schmerz lähmten sie regelrecht.

Sie weinte und sah keinen Grund darin, die Tränen wegzuwischen. Außerdem hatte sie sowieso gar nicht mehr die Kraft dazu.

In diesem Moment hörte sie ein fernes Rufen. Sie konnte es nicht verstehen. Dafür klang es zu verzerrt.

Erstaunt hob sie den Kopf. Es war ihr, als würde jemand speziell nach ihr rufen. Wer?

Abermals ertönte dieses Rufen. Sie schaute unwillkürlich in die Richtung, aus der es kam, konnte aber nichts sehen, sondern mußte zuerst die Tränen wegwischen, um ihren Blick klarer zu bekommen.

Es gelang nur zum Teil. Das Bild blieb leicht verschwommen. Der Friedhof sah aus, als wäre er nicht von dieser Welt. Eine unheimliche Atmosphäre hatte sich ausgebreitet, noch unterstützt von dem seltsamen Licht, das die schwarzen Gewitterwolken verursachten, die sich immer drohender am Himmel auftürmten.

Und da sah sie jemanden. Er war zu weit entfernt, um ihn erkennen zu können, obwohl sich Cruzia redlich bemühte, ihre Augen trockener zu wischen. Diese waren inzwischen so aufgequollen und entzündet, daß sie vergeblich versuchte, ihren Blick noch klarer zu bekommen.

Jetzt winkte der Rufer ihr zu.

„Peter!“ entfuhr es ihr entgeistert. Ja, er sah tatsächlich so aus – bei dem, was sie erkennen konnte. Und er winkte abermals und rief ihr etwas zu, was sie zwar hören, aber nicht verstehen konnte. Als würde der Wind die Worte unterwegs zerfetzen.

„Peter!“ schrie sie unwillkürlich auf. Sie war in diesem Moment felsenfest überzeugt davon, daß nur er das sein konnte. Aber wieso rief er ihr zu und winkte? Wieso kam er nicht herüber zu ihr?

Sie bemerkte es kaum, daß sie sich in Bewegung setzte, erst mit staksigen Schritten, dann immer sicherer und vor allem immer schneller.

Der Fremde, den sie eindeutig als Peter identifizierte, winkte stärker und bemühte sich auch weiterhin, ihr etwas zuzurufen, was sie nach wie vor leider nicht verstehen konnte.

Sie rannte und rannte. Ihren verschleierten Blick ließ sie dabei unverrückbar auf den Fremden geheftet. Dieser schien jetzt freudig zu lachen. Freute er sich, daß sie zu ihm gerannt kam, wie er es sich erhofft hatte?

„Cruzia!“ verstand sie jetzt. Und es war ganz eindeutig die Stimme von Peter, wenn auch seltsam verzerrt, als würde sie nicht von dieser Welt kommen.

Nur noch vielleicht zehn Meter.

Da stand Peter Harris. Er hatte aufgehört zu winken und auch aufgehört zu rufen. Er stand nur so da und lachte ihr entgegen. Gerade so, als wären sie verabredet und als würde sie jetzt endlich zu dieser Verabredung geeilt kommen. Er freute sich über das Wiedersehen, genauso wie sich Cruzia freute, dabei erfolgreich verdrängend, daß sie vorhin doch noch an seinem Grab gestanden hatte.

„Peter!“ rief sie voller Vorfreude.

Und da trat er einfach nur einen einzigen Schritt zur Seite – und verschwand!

Keine Sekunde später war Cruzia an der Stelle, an der er soeben noch gestanden hatte. Da war ein hohes Gebüsch. Sie schaute dahinter. Wieso spielte er Verstecken mit ihr? Was sollte das? Wo sie sich doch schon so darauf freute, ihn in ihre Arme zu schließen und seine Lippen auf ihrem Mund zu spüren, zum innigen Begrüßungskuß?

Aber auch hinter dem Gebüsch war er nicht mehr.

Sie suchte die ganze nähere Umgebung ab, doch sie war offensichtlich allein auf dem Friedhof.

Der erste Blitz zuckte nieder, dicht gefolgt von einem solchen Regen, als würde man volle Wassereimer über ihr auskippen.

Peter blieb verschwunden, und ihre Tränen vermischten sich mit dem Regen, der im Nu ihre Kleider bis auf die Haut durchnäßte. Sie spürte das gar nicht. Sie fror noch nicht einmal, obwohl es dafür nun wirklich kalt genug geworden war.

Der Regen brachte noch mehr Kälte mit sich, die ihr aber seltsamerweise nichts anhaben konnte.

Sie schaute zurück, in Richtung des frischen Grabes.

Nein, sie hatte sich nur etwas vorgemacht, oder ihre Sinne hatten ihr einen üblen Streich gespielt. Peter war tot, unwiderruflich tot. Er konnte nicht hier herumlaufen und ihr zuwinken und zurufen. Das war ganz einfach unmöglich.

Langsam und in gebückter Haltung ging sie zum Grab zurück.

Der Regen übergoß sie, ohne daß es ihr gewahr wurde.

„Peter!“ murmelte sie immer wieder vor sich hin.

*


Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie nun schon wieder am Grab ihres geliebten Peter stand, vom strömenden Regen übergossen. Die Kälte hatte es geschafft, all ihre Gegenwehr zu überwinden. Sie zitterte jetzt am ganzen Körper. Und dennoch blieb sie hier.

„Cruzia?“, hörte sie eine Stimme rufen.

Schon wieder? Sie wirbelte herum.

„Peter!“ rief sie unwillkürlich. War er jetzt wieder da? Ja, er mußte es gewesen sein. Alles war nur ein schrecklicher Irrtum. Peter lebte. Die Identifizierung der Leichenreste wies einen Fehler auf. Aber warum hatte er sie tagelang in diesem schrecklichen Schmerz gehalten?

„Peter?“ Sie konnte niemanden sehen.

Mit dem nassen Ärmel wischte sie sich über die Augen, Aber dadurch wurde es auch nicht besser.

Blitze zerfaserten den Himmel und warfen ein gespenstisches Irrlichtern über die Szene am Grab.

Sie sah den hochaufgewachsenen Schatten.

War es denn inzwischen dunkel geworden? Hatte sie denn so sehr die Zeit vergessen?

„Um Gottes Willen, Cruzia, du holst dir hier noch den Tod!“, sagte der Schatten besorgt. „Du mußt schleunigst ins Warme und deine durchnäßte Kleidung wechseln. Bist du denn völlig von Sinnen, hier herumzustehen, im strömenden Regen?“

Die Stimme war nicht die von Peter. Es war eine andere Stimme. Irgendwie kam sie ihr bekannt vor. Dennoch: Wer war der Mann? Sie konnte sich einfach an nichts mehr erinnern.

Nicht Peter?

Sie schluchzte auf, wie wild. Im nächsten Augenblick hatte sie das Gefühl, jemand würde ihr die Beine unter dem Körper wegreißen. Sie wäre hingestürzt, hätten sie nicht zwei kräftige Arme aufgefangen.

„Cruzia, was, um alles in der Welt, ist los mit dir? Du darfst dich doch nicht selbst vergessen. Das macht doch alles nur noch viel schlimmer. Mit dir haben wir eine Tochter gewonnen, wie wir uns keine bessere wünschen könnten. Sollen wir jetzt nach unserem geliebten Sohn auch noch dich verlieren?“

Der Vater von Peter: Jetzt erinnerte sie sich. Endlich!

Die Welt drehte sich um sie, immer schneller werdend. Sie wußte nicht mehr, wo oben und unten war und war dabei unendlich dankbar dafür, daß Peters Vater sie auf seinen starken Armen trug.

Überhaupt hatte Peter viel von seinem Vater geerbt. Vor allem dessen Stärke. Ein hochgewachsener, stolzer Mann, dem man kaum das fortgeschrittene Alter ansah. Aber auch Peters Mutter war für ihr Alter ungewöhnlich vital und wirkte eher wie ihre eigene Tochter. Als Cruzia die Eltern von Peter zum ersten Mal gesehen hatte, war sie sehr erstaunt darüber gewesen. Sie hätte die beiden auf Anhieb eher für Peters Geschwister gehalten. Allerdings hatte Peter sie schon vorher darauf vorbereitet, daß er gar keine Geschwister hatte. Er war ein Einzelkind.

Das sollten seine Eltern sein? Was hatten sie getan, um sich so jung und dabei so fit zu erhalten? Sie sahen ja gerade so aus, als könnten sie gar nicht altern. Obwohl das natürlich Unsinn war. Wahrscheinlich waren sie nur günstig veranlagt. Das sollte es ja immer wieder geben.

„Bitte“, ächzte sie, „Sie - Sie können mich ruhig wieder herunterlassen. Ich – ich... Mir geht es jetzt gleich wieder besser.“

„Keine Chance!“ blieb Peters Vater streng. „Ich trage dich jetzt bis zu meinem Auto. Ich lasse es nicht zu, daß du länger hier am Grab meines Sohnes schmachtest. Das macht ihn auch nicht wieder lebendig. Wie gesagt: Schlimm genug allein schon, daß wir ihn verloren haben. Jetzt wird es Zeit, daß ich mich einmal um dich kümmere, Cruzia.“ Es klang irgendwie seltsam. Als wäre er nicht der Vater von Peter, sondern... wie ihr eigener Vater. Aber der war doch schon so viele Jahre tot. Sie war auch ein Einzelkind gewesen, und mit dem Tod ihrer Eltern war sie ganz allein zurückgeblieben.

Sie hatte allerdings niemals aufgegeben. Vor allem sich selber nicht. Sie hatte alles getan, um ihren toten Eltern auch weiterhin eine gute Tochter zu bleiben, überzeugt davon, daß diese von irgendwoher in der Lage waren, ihren weiteren Weg durch das Leben zu verfolgen. Sie sollten dort, an jenem jenseitigen Ort, stolz auf ihre einzige Tochter bleiben dürfen.

„Komm zu dir, Cruzia!“ Es klang eindringlich, wie Peters Vater ihr zusprach, während er sie auf seinen starken und anscheinend nimmermüden Armen in Richtung Parkplatz trug. „Peter hätte niemals gewollt, daß du dich dermaßen selbst aufgibst, um ihm viel zu früh in das eiskalte Grab zu folgen. Du weißt, daß er über dich wacht, von jenem jenseitigen Ort aus, gemeinsam mit deinen Eltern. Du wolltest immer, daß sie stolz auf dich sein können. Wären sie denn stolz, wenn sie sehen würden, wie sehr du dich aufgibst?“

Als hätte er ihre Gedanken gelesen... Aber nein, das war ja unmöglich. Und er hatte auch noch recht, unbestreitbar.

Sie hätte ihm gern widersprochen, aber es fiel ihr nichts ein, kein noch so lahmes Gegenargument. Weil er eben im Grunde genommen recht hatte. Deshalb blieb sie lieber stumm.

Er redete weiter: „Cruzia, du hast deine Eltern verloren, schon vor Jahren – und wir haben unser einziges Kind verloren. Aber jetzt bist du da. Bitte, wir wollen dich nicht bedrängen, sondern nur unterstützen, soweit du es zuläßt. Es hilft uns, meiner Frau und mir, über den grausamen Schmerz hinwegzukommen, den der Verlust unseres geliebten Sohnes für uns bedeutet. Und es wird sicherlich auch dir helfen. Davon sind wir völlig überzeugt.“

„Bitte, Mister Harris, lassen Sie mich herunter!“ flehte sie. „Ich bin wirklich in der Lage, wieder auf meinen eigenen Beinen zu stehen.“

„Nur unter einer Bedingung!“ entgegnete er freundlich.

„Bedingung?“

Er lachte leise.

„Ja, nämlich unter der Bedingung, daß du aufhörst, mich Mister Harris zu nennen. Hatten wir denn nicht vereinbart, daß ich für dich Samuel heiße? Du kannst mich auch abgekürzt Sam nennen, wie alle meine Freunde. Und meine Frau ist für dich Carla und nicht mehr Mrs. Harris.“

„Entschuldigung, ja, ich – ich hatte es vergessen.“

„Ist ja schon gut“, lachte er und entsprach endlich ihrem Flehen, indem er sie jetzt tatsächlich auf ihre eigenen Beine stellte. Das tat er mit einer Leichtigkeit, als würde Cruzia überhaupt nichts wiegen.

Sie blinzelte verwirrt, was ihr zumindest ein wenig half, wieder klarer zu sehen.

Seltsam, diese Kälte war wie weggeblasen. Sie spürte durchaus noch, wie kalt es war und daß ihre Kleidung völlig durchnäßt war, als hätte sie darin gebadet, aber es machte ihr nichts mehr aus. Neue Wärme durchströmte sie und gab ihr auch wieder mehr Kraft.

Die freundliche Zuwendung von Samuel Harris bewirkte wahre Wunder bei ihr.

Dankbar lächelte sie ihn an, wie er da groß und stark vor ihr stand. Sie mußte den Kopf in den Nacken legen, um sein Gesicht zu sehen.

Das diffuse Licht der vom Dunst umschleierten Parkplatzbeleuchtung, das immer wieder von zuckenden Blitzen aufgehellt wurde, ließ dieses Gesicht beinahe gespenstisch wirken, doch gleichzeitig lag in ihm ein freundliches Lächeln, das den gespenstischen Eindruck gleich wieder wettmachte.

„Vielen Dank!“ sagte sie artig.

„Wofür?“

„Für alles!“

„Gern geschehen, Cruzia. Vergiß nie, Carla, meine Frau und auch ich, wir sind uneingeschränkt für dich da. Als wärst du unsere leibliche Tochter. Bitte nicht falsch verstehen. Du bist nicht unser Ersatz für den verlorenen Sohn. Du bist mehr, viel mehr – nämlich etwas sehr Wichtiges, das zu erhalten von immenser Bedeutung ist. Wir würden wirklich alles für dich tun. Dazu sind wir bereit – und dazu waren wir auch schon bereit, als unser Peter noch lebte. Ja, vergiß das nie!“

Sicherlich freundlich gemeinte Worte, die ihr helfen sollten, sich wieder zu fangen, aber Cruzia mußte zugeben, daß sie dennoch recht eigenartig klangen.

Sie lauschte diesen Worten nach, konnte aber auch im Nachhinein darüber hinaus nur Ehrlichkeit und Offenheit darin erkennen. Obwohl eben die Wortwahl so eigenartig anmutete, war es ganz gewiß genauso gemeint, wie Samuel Harris es ausgesprochen hatte. Und er schien außerdem vorher mit seiner Frau darüber gesprochen zu haben. Da er nicht wie ein typischer Macho erschien und im Gegenteil seine Frau über alles verehrte, wie Cruzia wußte, durfte sie fest davon ausgehen, daß er niemals in ihrem Namen gesprochen, wenn sie davon nichts gewußt hätte.

Er deutete zur Seite.

„Es ist nicht mehr weit, Cruzia. Ich schlage vor, ich nehme dich mit meinem Wagen mit. In deinem Zustand wäre es nicht klug, wenn du deinen eigenen Wagen nehmen würdest. Der kann ja ruhig hier stehenbleiben. Es wird sicherlich nichts dran kommen, nicht wahr?“ Er lachte ein offenes und sehr sympathisches Lachen.

Cruzia versuchte, ebenfalls zu lachen, aber es mißlang kläglich. Dazu war sie noch lange nicht fähig, obwohl Samuel Harris es geschafft hatte, sie entscheidend aufzuheitern.

Wie in Trance blieb sie an seiner Seite, als er gemeinsam mit ihr zu seinem Wagen schritt. Unterwegs überlegte sie, ob sie ihm das Erlebnis auf dem Friedhof schildern sollte, als sie fest geglaubt hatte, Peter würde nach ihr rufen und sogar nach ihr winken. Und daß Peter von einer Sekunde zur anderen plötzlich wieder verschwunden war.

Sie entschied sich dagegen, weil sie befürchtete, Samuel Harris hätte sie ansonsten vielleicht für verrückt gehalten.

Anders konnte es sowieso nicht sein: Sie mußte sich dies alles eingebildet haben. Ihre überreizten Sinne hatten ihr einen Streich gespielt. Sie hatte ja auch noch an den Verlust ihrer Eltern denken müssen, als sie so am Grab gestanden hatte. Das war alles viel zuviel für sie gewesen. Da mußte auch der gesündeste Mensch Halluzinationen bekommen.

Obwohl sie irgendwie nicht so ganz daran glauben mochte – an ihre Halluzinationen.

Weil sie nach wie vor hoffte, alles würde sich als großer Irrtum erweisen und Peter lebte in Wirklichkeit noch?

Das war zwar völlig widersinnig, um nicht zu sagen: irrsinnig, aber der Schmerz schürte diese unheilvolle Hoffnung – und sie war nicht in der Lage, sich dagegen zu wehren.

*


Als sie in das Auto von Sam einstieg, fiel ihr etwas auf, trotz ihres elenden Zustandes, in dem sie sich befand: Im Wagen war es ungewöhnlich kalt! Nicht so, als sei Sam vorhin erst damit angekommen, sondern... als würde er schon viel länger hier stehen.

Wie lange eigentlich?

Wieso war Sam überhaupt zu so später Stunde noch hierher gefahren? Etwa ihretwegen?

Und wenn er tatsächlich schon länger hier verweilte: Wieso hatte er sich vorhin erst ihr gezeigt?

Es war ihr zwar unerklärlich, doch sie verkniff es sich, ihn danach zu fragen. Statt dessen kauerte sie sich auf den Beifahrersitz und lehnte das Angebot von Sam, seinen Mantel überzuziehen, kategorisch ab. Dabei gab sie sich ungewöhnlich energisch, obwohl sie nicht gedacht hätte, dazu überhaupt noch fähig zu sein. Aber die seltsamen Gedanken, die ihr ständig kamen, im Zusammenhang mit Sam... Irgendwie hatte sie den Wunsch, auf Distanz zu ihm zu bleiben. Und wenn sie seinen Mantel annahm, dann war diese Distanz gefährdet.

Aber da fiel ihr etwas ein: Wenn er schon länger den Wagen hier abgestellt hatte, war er ja wohl kaum darin sitzengeblieben. Er mußte ihn verlassen haben. Doch dann war sein Mantel genauso durchnäßt wie ihre eigenen Kleider. Er hatte den Mantel angehabt, noch während er sie auf seinen Armen getragen hatte. Dabei hatte sie natürlich nicht darauf geachtet. Das bereute sie jetzt. Und bevor er eingestiegen war, hatte er den Mantel abgelegt, um ihn ihr hinzuhalten.

Jetzt lag er auf dem Rücksitz.

Während Sam den Motor startete und sich anschnallte, betrachtete sie den älteren Mann von der Seite. Wenn sie nicht gewußt hätte, daß er Peters Vater war, hätte sie ihn jetzt für noch jünger gehalten als bei ihrer ersten Begegnung. Das war erst wenige Wochen her. Oft hatte sie Peters Eltern nicht zu Gesicht bekommen. Nur ein paarmal und dabei immer nur recht kurz. Vielleicht einmal auf einen Tee. Irgendwann hatten sie ihr die vertrauliche Anrede angeboten. Sie hatte natürlich angenommen. Schließlich waren sie die Eltern des Mannes, den sie über alles liebte. Doch irgendwie hatte sie sich bis jetzt noch nicht daran gewöhnen können. Es kostete sie Überwindung, so vertraulich mit Sam und seiner Frau umzugehen. Obwohl sie doch so überaus nett zu ihr waren. Sie hatten sie vom ersten Augenblick an voll und ganz akzeptiert. Mehr noch: Es war ihnen offensichtlich eine große Freude gewesen, daß sie ihren Peter gefunden hatte – und dieser sie.

Und wieso fürchtete sie sich jetzt vor Sam?

Ihr Blick glitt tiefer, während der Wagen anfuhr. Die Scheibenwischer bemühten sich, die Wassermassen zu teilen, die auf die Windschutzscheibe niederprasselten und sich dabei alle Mühe gaben, dem Fahrer die Sicht zu nehmen. Er mußte sich dabei sehr konzentrieren. Deshalb fielen ihm die forschenden Blicke seiner Beifahrerin nicht auf.

Er wirkte völlig trocken!

Ihre Augen weiteten sich bei dieser Erkenntnis.

Der Wagen bog vom Parkplatz auf die heller erleuchtete Straße ein. Es war nicht so arg weit von hier bis zum Haus von Peters Eltern. Viel lieber hätte sie es jedoch gehabt, wenn er sie zu ihrer eigenen Wohnung gebracht hätte. Lieber wäre sie jetzt allein als bei den Eltern von Sam. Da war die Beklemmung, die von ihr Besitz ergriffen hatte und sogar noch den Schmerz über den Verlust ihres geliebten Peter überstieg.

Sam war völlig trocken, als hätte er keinen Fuß vor das Auto gesetzt und hätte sich die ganze Zeit über hier drin befunden, um auf sie zu warten.

Aber das war doch nicht möglich. Sie wußte ganz sicher, daß er sie auf seinen Armen hergetragen hatte, bis fast zum Auto.

Ja, er hatte den Mantel angehabt. Jetzt lag dieser auf dem Rücksitz. War es seinetwegen, daß Sam völlig trocken geblieben war? Hatte der Mantel den strömenden Regen abgehalten?

„Ich – ich hätte jetzt doch lieber den Mantel. Mir ist nämlich kalt“, hörte sie ihre eigene Stimme und wunderte sich, daß diese so ruhig klang. Das leichte Zittern darin konnte man noch der Kälte zuordnen, die sie angeblich gepackt hielt. Obwohl diese Kälte ihr in Wirklichkeit überhaupt nichts ausmachte. Sie hatte auch keine Bange, sich durch die Nässe erkältet zu haben, weil sie noch niemals in ihrem Leben krank gewesen war, noch nicht einmal in ihrer Kindheit. Sie konnte sich jedenfalls an keinerlei Krankheit erinnern.

Auch ihre Eltern hatten stets vor Gesundheit gestrotzt.

Wenn sie es recht bedachte: Auch sie hatten für ihr Alter noch ziemlich jung gewirkt. In anderer Weise vielleicht als das Ehepaar Harris, aber doch ähnlich ungewöhnlich.

„Aber ja“, sagte er freundlich, ohne sie dabei anzusehen. Er konzentrierte sich lieber auf die Straße. Bei diesem Unwetter war das sicherlich besser so. „Nimm ihn dir ruhig. Ich habe ihn dir ja angeboten.“

Sie fischte danach. Nicht, weil sie ihn tatsächlich benötigte. Einfach nur deshalb, weil sie unbedingt wissen wollte, ob er außen so naß war, wie er hätte sein müssen. Außerdem wollte sie wissen, ob er wasserdicht verarbeitet war. Es wäre eine Erklärung gewesen, die sie ungemein beruhigt hätte.

Aber als sie den Mantel berührte, wußte sie, daß es für sie keine Beruhigung mehr gab. Jedenfalls nicht in dieser Art. Denn der Mantel war völlig trocken, sowohl außen als auch innen. Als hätte es draußen überhaupt nicht geregnet.

Aber sie konnte es sich doch nicht eingebildet haben?

Natürlich nicht. Schließlich war sie ja selber klitschnaß, und das war ja wohl nicht von allein entstanden. Daran war der strömende Regen draußen schuld, der gar nicht mehr aufhören wollte. Als sei die neue Sintflut angebrochen, um die Stadt und das gesamte Umfeld zu ersäufen.

Sie nahm den Mantel nach vorn und umklammerte ihn mit zitternden Händen. Dabei packte sie so fest zu, daß ihre Knöchel weiß hervortraten.

Was geht hier vor? hämmerte es in ihrem hübschen Kopf. Immer wieder: Was geht hier vor?

Jetzt warf er doch noch einen Seitenblick auf sie.

„Vernünftig von dir, Cruzia. Der Mantel wird dich wärmen. Wirst sehen. Er wird dir guttun.“

Zitternd deckte sie sich damit zu, bis zu den Schultern, obwohl sich gleichzeitig alles in ihr dagegen sträubte. Als sei der Mantel verseucht oder total schmutzig. Er war zwar nichts dergleichen, im Grunde genommen ein ganz normaler Mantel, aber einer, der sich völlig trocken anfühlte - aus dem strömenden Regen kommend.

Alle ihre Gedanken drehten sich nun nur noch um dieses Thema. Es flößte ihr Furcht ein. Aus der anfänglichen Beklemmung wurde Angst, und aus der Angst wurde Panik, die sie mühsam unterdrücken mußte.

Jetzt bloß nicht durchdrehen! redete sie sich ein und schaute seitlich aus dem Fenster, um sich abzulenken.

Trotz des miesen Wetters waren Passanten unterwegs, ungewöhnlich viele Passanten sogar, fand sie. War das denn überhaupt die richtige Richtung, in die sie fuhren?

„Wir sind bald da“, meldete sich Sam zu Wort. Seine freundlich klingende Stimme wollte sie einschmeicheln, doch ihre Panik wurde dadurch in keiner Weise geringer. Am liebsten hätte sie jetzt den Wagenschlag aufgestoßen und wäre in voller Fahrt nach draußen gesprungen.

Schon war ihre Hand am Verschluß des Sicherheitsgurtes. Wenn sie sich jetzt losschnallte, während die andere Hand die Tür aufstieß...

Sie tat es dann doch nicht. Was hätte es gebracht? Sie hätte sich bestimmt böse verletzt. Und dann wäre sie Sam erst recht ausgeliefert gewesen.

Ausgeliefert? Was waren das denn für ketzerische Gedanken, ausgerechnet beim Vater von Peter? Der es überaus gut mit ihr meinte und stets freundlich und zuvorkommend blieb? Er hatte ihr doch nur seine Hilfe angeboten, und sie hatte diese Hilfe angenommen.

Nein, eigentlich hatte er ihr die Hilfe regelrecht aufgedrängt.

„Bitte, fahre mich zu mir nach Hause!“ Endlich hatte sie es geschafft, es auszusprechen.

Sie schaute ihn wieder von der Seite an.

„Aber gern, Cruzia! Das werde ich tun.“

Sie erwischte sich dabei, daß sie erleichtert aufatmete. Hoffentlich merkte er das nicht.

„Erst jedoch fahren wir zu uns nach Hause, Cruzia. Das ist viel näher. Da mußt du unbedingt trockene Sachen anziehen. Sonst wirst doch uns doch noch krank. Das will niemand, du auch nicht. Und dann, wenn du dich endlich aufgewärmt hast, dann fahre ich dich sofort zu dir nach Hause. Sofern du das dann noch willst. Alles so, wie du es dir wünschst, ja, klar.“

Er hält mich nur hin! dachte sie erschrocken.

Aber in einem zumindest hatte er rechtbehalten: Der Mantel wärmte sie. Es schien ihr, als würde er sogar die Nässe regelrecht von ihr wegsaugen. War das nur Einbildung, weil er sie eben wärmte?

Sie schaute wieder nach draußen.

Nicht mehr weit? Wieso waren sie dann noch nicht angekommen? Wäre nur die Sicht besser gewesen. Oder lag es vielmehr an ihren vom Weinen entzündeten Augen, daß sie nicht mehr richtig sehen konnte? Alles erschien verschwommen. Natürlich, der Regen, der seitlich gegen die Scheibe klatschte. Der bewirkte das. Und die Scheibe war auch leicht beschlagen.

Sie hob den Arm und wischte mit dem Ärmel über die Scheibe. Dadurch wurde es ein wenig besser.

Der Wagen wurde langsamer.

Natürlich kannte sie die Straße und auch das Haus, in dem Sam und seine Frau wohnten. Schließlich war sie ein paarmal hier gewesen. Wieso kam ihr jetzt trotzdem alles so fremd vor?

Ich bin einfach nur durchgeknallt, redete sie sich ein. Ist ja kein Wunder. Vor Minuten noch habe ich mir sozusagen die Augen vor den Kopf geweint. Ich sehe gar nicht mehr richtig, so schlimm muß es gewesen sein. Sam hat mich regelrecht gerettet – und ich habe Angst vor ihm? Ach, wie ungerecht bin ich bloß. Er ist so ein guter Mensch. Genauso wie seine Frau. Sie haben Peter verloren, genauso wie ich. Das haben wir gemeinsam. Wir sollten wirklich in unserer gemeinsamen Trauer zusammenhalten und versuchen, uns gegenseitig die nötige Kraft zu geben, damit wir diesem Jammertal endlich wieder entrinnen.

Der Wagen rollte aus, am Straßenrand. Cruzia sah die Passanten. Einer von ihnen wandte ihr unvermittelt das Gesicht zu.

Es war das Gesicht von Peter!

Es wirkte unendlich traurig. Vor allem die Augen. Für Sekundenbruchteile begegneten sich ihre Blicke. Dann hastete Peter davon und entschwand sogleich wieder ihren nacheilenden Blicken.

Sie war wie erstarrt. Anstatt jetzt hinauszuspringen und ihm hinterherzurennen, war sie unfähig, auch nur einen Finger zu rühren.

Sam schien es nicht zu bemerken.

„Willkommen daheim!“ sagte er in seiner stets netten und überaus sympathischen Art. „Warte, ich steige aus und öffne dir den Wagenschlag, wie es sich gehört.“

Sogleich tat er das.

Cruzia blieb sitzen. Weil sie sowieso nicht in der Lage war, zu öffnen und auszusteigen.

Die Tür wurde von draußen geöffnet. Von Sam. Er beugte sich halb über sie und löste den Gurt.

Sie fühlte sich wie gelähmt. Was war los mit ihr? Dabei wäre sie doch viel lieber dem Mann nachgelaufen, der wie Peter ausgesehen hatte.

Er mußte es gewesen sein! Egal, wie widersinnig dies auch klingen mochte...

Aber wie war er überhaupt hierhergekommen? Sie hatte ihn auf dem Friedhof gesehen. War er denn anschließend zu Fuß bis hierher gelaufen? Woher hatte er überhaupt gewußt, daß sie kommen würde?

Fragen über Fragen, die sie nervten und allen Schmerz zu verdrängen suchten, der zwar nach wie vor blieb, aber nicht mehr ganz so schlimm war.

Dafür quälte sie etwas ganz anderes, nämlich am Ende die alles entscheidende Frage:

Bin ich denn... verrückt geworden vor Kummer? Fängt so der Wahnsinn an?

Sie hörte wie aus weiter Ferne eine Stimme. Es war die Stimme von Sam. Er half ihr, auszusteigen.

Als dies geschehen war, schlug er die Tür wieder zu.

Sie stand auf dem Bürgersteig. Weit und breit war niemand zu sehen. Alles glänzte klitschnaß, aber es hatte aufgehört zu regnen. Schon länger oder jetzt eben erst?

Sie vermochte es nicht zu sagen.

Wo war eigentlich der Mantel geblieben, mit dem sie sich zugedeckt hatte?

Es war ihr auf einmal völlig egal.

Willenlos ließ sie sich am Arm hinüberführen zum Haus der Harris.

Carla Harris würde sicher schon auf sie warten. Vielleicht hatte sie ihren besonderen Tee schon bereitet? Selten in ihrem Leben hatte Cruzia Tee trinken dürfen, der ihr dermaßen gut geschmeckt hatte...

Und vielleicht gab es sogar etwas Gutes zu essen? Irgendwie spürte Carla nämlich Hunger in sich aufsteigen, so mächtig, wie sie es eigentlich noch nie zuvor erlebt hatte. Als könnte sie den sprichwörtlichen Ochsen verschlingen.

Es wunderte sie allerdings nicht, weil sie gar nichts mehr wunderte. Auch die Angst war wie weggeblasen und hatte statt dessen einer ungewohnten Leere Platz gemacht.

Dennoch versuchte sie, sich jetzt auf Peters Mutter Carla zu freuen. Diese war wahrlich herzallerliebst. Man konnte sich keine bessere Mutter wünschen. Ach, wie gut, daß sie, Cruzia, eine solche Mutter gefunden hatte. Ja, ja, das war gut, sogar sehr gut...

*


Die Haustür öffnete sich und verschlang Cruzia wie das Maul eines gewaltigen Untiers. Der verklärte Ausdruck in ihrem Gesicht blieb, und er wurde ihr nicht bewußt. Ihre Haut kribbelte, als würde sie sich in einem elektrischen Feld befinden, auf das sie reagierte. Die Nässe ihrer Kleidung war vergessen, genauso wie die Kälte. Es war ihr, als würde eine unbestimmbare Melodie in der Luft liegen, die sie einlullte und gegen die es keine Gegenwehr gab. Obwohl: Warum sollte sie sich denn überhaupt dagegen wehren? Es war alles so angenehm, weil unkompliziert.

„Willkommen daheim!“ wiederholte Sam an ihrer Seite fröhlich und ging mit ihr den kurzen Flur mit der Garderobe entlang.

Die Tür zur Wohnstube öffnete sich. Cruzia sah Peters Mutter Carla. Sie lächelte ihr entgegen und breitete jetzt die Arme aus. Es war wie in einem Traum, genauso unwirklich.

Plötzlich fürchtete sie sich davor, aus diesem Traum jemals wieder zu erwachen. Jetzt war kein Schmerz mehr in ihrem Innern, keine Verzweiflung. Sie hatte Peter verloren, aber dafür ein neues Zuhause gefunden. Schlimm, daß sie keine Eltern mehr hatte, aber dafür hatte sie jetzt neue Eltern, die alles für sie tun würden, wirklich alles.

Mit weiterhin verklärtem Gesichtsausdruck schaute sie umher. Die Wohnstube war überaus geschmackvoll eingerichtet. Hier konnte man sich wohlfühlen – vor allem sie!

Noch zwei Schritte, und sie flog förmlich in die ausgebreiteten Arme von Carla, die sie an sich drückte, küßte und herzte, wie eine verlorene Tochter, die nach langer Zeit endlich wieder heimgekehrt war.

Die Stimmen von Sam und Carla drangen wie aus weiter Ferne an Cruzias Ohren. Sie konnte nicht verstehen, was gesprochen wurde, aber sie setzte sich mit den beiden in die Sitzgruppe, und sie strahlten sich gegenseitig glücklich an.

Ein ketzerischer Gedanke entstand irgendwo im Hintergrund ihres Denkens und drängte nach vorn. Schon wieder einmal! Diese glückliche, gelöste und irgendwie auch fröhliche Atmosphäre erschien diesem ketzerischen Gedanken irgendwie nicht ganz passend. Waren sie nicht hier zusammengekommen, um gemeinsam den Verlust von Peter zu betrauern? Hatte sie sich nicht noch vor Minuten schier die Augen aus dem Kopf geweint und nicht mehr von seinem Grab weichen wollen?

Peter!

Sie schaute sich wieder um, diesmal jedoch mit anderen Augen. Überall sah sie Zeugnisse seines Lebens. Dies hier war sein Zuhause gewesen. Vor seinem tragischen Tod. Bilder standen auf dem Board, auf denen er gemeinsam mit seinen Eltern lachte. Auf dem Schrank standen ein paar Pokale, die er aus seiner Schulzeit noch aufbewahrt hatte.

Sie mußte die Augen schließen, weil sie dies alles nicht mehr sehen wollte.

Doch dann riß sie die Augen wieder weit auf. Die Fröhlichkeit von Peters Eltern war keineswegs mehr ansteckend. Das Gegenteil bewirkte sie: Die Angst begann, aus den Wänden zu sickern, die so viele Jahre Peter beherbergt hatten und noch immer nach ihm, seiner Anwesenheit, förmlich rochen. Die Angst kauerte in jeder Ecke, bereit, sie anzufallen und niederzumachen, gnadenlos, mitleidlos. Die Angst kam auch aus den lachenden Gesichtern von Carla und Sam.

„Nein!“ schrie Cruzia auf einmal gellend und sprang auf. „Was geht hier vor? Ich lasse mich nicht von euch vereinnahmen. Ich bin ich und bleibe ich. Es gibt keinen Grund zur Fröhlichkeit. Wir haben Peter verloren.“

Sie wollte noch viel mehr sagen, lauschte aber ihren bereits ausgesprochenen Worten nach und empfand sie im Nachhinein als total verfehlt. Was redete sie denn da?

Verwirrt griff sie sich an den Kopf.

Im nächsten Augenblick begehrte alles in ihr auf gegen die Atmosphäre hier: Dies war nicht ihr Zuhause und würde es auch niemals sein können. Dies war das Zuhause von Peter – und Peter war tot!

Tot?

Stand er nicht da, in der noch offenstehenden Tür? Wieso fiel kein Licht auf ihn? Wieso war er nur ein Schatten in dieser Tür?

„Peter!“ murmelte sie mehr vor sich hin denn an ihn gewandt und starrte auf diesen Schatten.

In diesem Augenblick trat dieser einen Schritt vor. Ein verirrter Lichtstrahl fiel auf sein Gesicht.

Er war es tatsächlich: Peter!

„Du – du lebst?“ ächzte sie.

Er schaute sie nur stumm an, mit seinen unendlich traurigen Augen. Er sagte nichts, er tat nichts. Er schaute nur. Für seine Eltern hatte er keinen Blick übrig.

Jetzt sprangen auch Carla und Sam auf. Carla griff nach Cruzia, doch diese wehrte ihre Hände ab. Sie wollte keine Berührung. Nicht von diesen Menschen, denen sie plötzlich nicht mehr trauen konnte. Überhaupt nicht mehr.

„Peter, du lebst?“ wiederholte sie. „Warst du die ganze Zeit über hier? Aber wieso...?“ Sie brach ab, schöpfte tief Atem und fuhr dann erst fort: „Wieso wurdest du für tot erklärt? Die Beerdigung. Dieser Schmerz. Und deine Eltern hier. Jetzt weiß ich, wieso sie so fröhlich tun konnten. Sie wußten als einzige, daß du in Wirklichkeit lebst. Aber wer befindet sich an deiner Stelle im Sarg? Wer fuhr deinen Wagen? Wer stürzte mit diesem in den Abgrund?“

Jetzt versuchte Sam, nach ihr zu greifen. Aber Cruzia wehrte auch ihn ab, ohne zu ihm hinzusehen. Sie konnte ihren Blick nicht von Peter wenden. Er stand wahrhaftig vor ihr, nur wenige Schritte entfernt. Ein hoher Schatten. Lediglich das Gesicht wurde hell genug beleuchtet, um ganz genau erkennen zu lassen, daß sie sich nicht täuschte.

„Warum nur, warum? Warum hast du das getan? Warum hast du mir das angetan?“

Beinahe hätte sie wieder geweint, diesmal jedoch nicht vor Trauer und Schmerz, sondern vor Zorn und Enttäuschung.

„Und deine Eltern machen gemeinsame Sache mit dir. Was ist denn in Wirklichkeit passiert? Hat jemand deinen Wagen gestohlen und ist damit davongebraust, um damit in den Tod zu fahren? Aber wieso habt ihr so getan, als seist du tot, obwohl es nicht so ist?“

„Cruzia!“ sagte Sam. Es klang sehr eindringlich. „Cruzia!“ wiederholte er: „Da ist niemand! Peter ist tot, wirklich tot. Begreifst du denn nicht: Er lebt nicht mehr. Was du zu sehen glaubst, kann gar nicht sein.“

Sie blinzelte verwirrt und schaute Sam an.

Er wirkte ungewöhnlich ernst – und seine Augen schauten fast so traurig drein wie die Augen von Peter.

Cruzia sah nach Carla. Auch diese stand nur da und schenkte ihr einen traurigen Blick.

Cruzia deutete mit ausgestrecktem Arm auf die hohe Gestalt mit dem Gesicht von Peter. Diese Gestalt war immer noch da.

„Peter ist dort. Wieso wollt ihr mir einreden, es würde nicht stimmen, wenn ich ihn doch mit eigenen Augen sehen kann? Warum tut ihr mir das an?“ Sie wandte sich wieder an Peter. „Sag doch endlich auch mal etwas! Warum tust du mir das an? Hast du mich überhaupt jemals geliebt? Sage es mir! Ich will es von dir hören, hier und jetzt, vor deinen Eltern. Hast du mir die ganze Zeit über nur etwas vorgemacht?“

Alle Kraft verließ sie, von einer Sekunde zur anderen. Sie ließ sich einfach auf den Sessel zurückfallen, von dem sie vorhin hochgesprungen war.

Peter schaute sie nur mit seinen unendlich traurigen Augen an, ohne auch nur ein einziges Wort zu sagen. Und dann... verschwand er einfach.

Nein, er hatte sich nicht bewegt. Er war nicht einen Schritt zurückgetreten oder so. Er war einfach nur... verschwunden. Wie eine Projektion, die man ausschaltete.

Carlas geweitete Augen starrten hinüber. Sie suchten, aber sie fanden nichts mehr. Der Raum war gut beleuchtet. Wenn tatsächlich jemand dort stehen würde, wäre er gut sichtbar. Vor allem würde er nicht nur wie ein hoher Schatten erscheinen.

„Aber dieser Schatten...“ Sie konnte nicht mehr weiterreden, weil die Stimme ihr den Dienst versagte.

Cruzia schaute Sam und Carla an.

„Dieser Schatten hatte Peters Gesicht. Ich schwöre es. Aber wieso ist er einfach wieder verschwunden, ohne etwas zu sagen, von einer Sekunde zur anderen?“

„War es das erste Mal, daß du ihn gesehen hast?“ erkundigte sich Sam mit ruhiger Stimme. Sie klang so ruhig, daß sie sogar eine beruhigende Wirkung auf Cruzia ausübte.

Diese schüttelte heftig den Kopf.

„Nein, nicht zum ersten Mal habe ich ihn gesehen. Auf dem Friedhof, weit weg von seinem Grab. Er stand einfach nur da. Und dann diese unendliche Traurigkeit. Ich habe ihn ein zweites Mal gesehen vor dem Haus. Als wir ankamen.“

„Du hast niemanden gesehen, hörst du, Cruzia? Rede es dir nicht ein. Es ist nicht gut für dich“, sagte Carla besorgt. „Wir hätten ihn doch auch sehen müssen, nicht wahr?“

„Und wenn er doch nicht selber den Wagen gefahren hat?“ widersprach sie lahm. „Wenn ich recht habe und ein Dieb ihm den Wagen gestohlen hat, um damit...?“

Sam schüttelte entschieden den Kopf.

„Es gibt keinen Dieb. Peter ist selber gefahren.“

„Und wieso? Er war mit mir verabredet. Wieso hat er mich versetzt und ist statt dessen in die Berge gefahren, um sich dort in den Tod zu stürzen?“

„Wir – wir hatten einen kleinen Streit“, gab Carla zu und schlug die Augen nieder. „Peter war sehr zornig darüber, stieg in seinen Wagen und brauste davon.“

„Ich bin ihm sofort hinterhergefahren“, gab jetzt auch Sam zu. „Aber er war schneller als ich. Er fuhr wie der sprichwörtliche Henker. Da konnte ich nicht mithalten. Wir haben dann ja erlebt, was dabei herausgekommen ist.“

„Aber wieso in die Berge? Ich hätte verstehen können, wenn er in der Stadt umhergefahren wäre!“ widersprach Cruzia.

„Wir haben in den Bergen ein Häuschen. Dort haben wir immer wieder wunderschöne Sommerferien verbracht. Vielleicht wollte er zu diesem Ort, an dem er immer so glücklich gewesen war?“

Cruzia weinte wieder. Sie konnte es nicht verhindern. Sie schlug beide Hände vor das Gesicht und schluchzte einfach hemmungslos.

Plötzlich fiel ihr etwas ein, was sie abrupt innehalten ließ. Sie nahm die Hände herunter und schaute die beiden vorwurfsvoll an.

„Dann seid ihr ja indirekt schuld an seinem Tod!“

Sam schlug jetzt ebenfalls die Augen nieder.

„Was glaubst du, wie oft wir uns das schon selber vorgeworfen haben? Immer wieder haderten wir mit uns, weil es diesen kleinen Streit zwischen uns gab.“

„Aber Peter war in keiner Weise streitbar. Was war es denn gewesen, was ihn dermaßen verwirrt hat, daß er am Ende sogar den Tod fand?“

Sam schaute wieder auf.

„Es war nur eine Kleinigkeit, eine Meinungsverschiedenheit. Ich weiß noch nicht einmal mehr, um was es überhaupt ging. So schrecklich belanglos war es gewesen - und dann mit einer solch schrecklichen Wirkung, mit solch grausigen Folgen.“

Irrte sich Cruzia oder weinte Sam jetzt tatsächlich ebenfalls?

Aber auch Carla standen die Tränen in den Augen, bei ihr noch deutlicher sichtbar.

„Wir sind indirekt schuld an seinem Tod“, ächzte sie mehr als daß sie es sagte, „aber was nutzt es jetzt noch, sich wegen dieser Schuld selbst zu kasteien? Das bringt uns Peter nicht lebendig wieder zurück.“

„Er war hier!“ sagte Cruzia bestimmt. „Ich habe ihn gesehen – und er hat mich so unendlich traurig angeschaut. Ich weiß nicht, wieso. Auch wenn ihr ihn nicht gesehen habt... Ich weiß nicht, ob ich euch das überhaupt glauben soll. Ich weiß jedoch, er war hier. Und er war auch auf dem Friedhof. Niemand auf dieser Welt kann mir das ausreden.“

„Aber wieso, wo er doch in den Tod gestürzt ist?“ rief Sam verzweifelt. „Cruzia, Kind, ich bitte dich, komm zu dir: Die Obduktion hat einwandfrei bewiesen, daß nur er es gewesen sein kann. Wir haben ihn für immer verloren. Er kommt niemals wieder zurück. Wir können uns niemals wieder für den kleinen Streit bei ihm entschuldigen. Es ist vorbei, endgültig vorbei.“

„Für mich nicht!“ beharrte Cruzia.

„Kind, bitte“, flehte jetzt Carla, „tu uns das nicht auch noch an: Du bist doch das einzige, was wir jetzt noch haben!“

„Und wir sind das einzige, was dir jetzt noch geblieben ist“, fügte Sam betont sanft hinzu. Dafür, daß er soeben noch so verzweifelt geklungen hatte, wirkte er sehr gefaßt. „Du hast deine Eltern verloren und wir unseren Sohn. Was spricht dagegen, daß wir in dir eine Tochter statt dessen gewonnen haben und du neue Eltern? Was spricht denn dagegen, daß wir drei wieder glücklich werden können, ohne selbstverständlich darüber Peter jemals zu vergessen, denn er wird für immer in unser aller Herzen bleiben. Wir wissen, nicht nur in unseren, sondern auch in deinem. Wir haben ihn alle drei geliebt.“

Cruzia schaute ihn an bei diesen Worten, und seine Augen hatten dabei irgendwie etwas Hypnotisches. Schon spürte sie, wie es sie einlullte. Sie wollte alles Negative gleich wieder vergessen, wollte nur noch das Positive sehen, daß Sam vollkommen recht hatte. Ja, was sprach eigentlich dagegen? Alles wurde gut. Peter blieb bei ihnen, in ihren Herzen. Sie würden eine glückliche Familie werden. Wie füreinander geschaffen.

„Nein!“ rief sie aus und fuchtelte dabei mit den Armen umher, als müßte sie sich gegen einen bösen Feind wehren. „Nie und nimmer! Ich werde euch nie verzeihen, daß ihr meinen Peter in den Tod getrieben habt. Von wegen kleiner Streit: Ich weiß nicht, worum es ging, aber ich weiß definitiv, daß Peter niemals wegen nur einer Kleinigkeit so verzweifelt reagiert hätte. Er hätte mich einfach nur angerufen, wäre zu mir gekommen, hätte sich vielleicht von mir trösten lassen. Wir hätten über alles gesprochen. So war Peter gewesen. Nicht wie ihr ihn schildert. Er wäre niemals in seinen Wagen gestiegen, um wie ein Irrer davonzubrausen, um in den Bergen den Tod zu finden. Auf dem Weg zu eurem Ferienhäuschen? Er hat mir nie davon erzählt. Obwohl er dort angeblich immer so glücklich gewesen war?“

Sie schauten sie verständnislos an, als sie langsam, wie vorsichtig, aufstand und sich seitlich von der Sitzgruppe wegschob, in Richtung Tür.

„Ihr könnt mich nicht einlullen. Ich gehöre euch nicht. Ich bin ich und bleibe ich. Ich werde kein Teil von euch. Das habt ihr euch ja schön ausgedacht...“

Sie wandte sich ab und wollte hinauseilen, doch da versagten die Beine ihr den Dienst. Der Länge nach fiel sie hin.

Alles drehte sich um sie. Sie wollte sich verzweifelt aufrappeln und weiterfliehen, doch es ging nicht. Die ganzen Ereignisse, der Schlafentzug der letzten Tage, die unendlich erschienenen Stunden auf dem Friedhof, die Nässe, die Kälte, die Verzweiflung, die Verwirrung... Dies alles war letztlich zuviel für sie.

Cruzia fiel in eine tiefe Ohnmacht: Es wurde schwarz vor ihren Augen.

*


Ein Wispern und Raunen drang zu ihr hin. Wachte sie bereits oder träumte sie noch? Sie weigerte sich, die Augen zu öffnen – und sie wollte, daß dieses unheimliche Wispern und Raunen wieder aufhörte. Doch es wurde nur noch eindringlicher.

Wie Stimmen, die von allen Seiten auf sie eindrangen. Und irgendwie erinnerten diese Stimmen alle an - Peter.

War er es? Aber wieso sprach er nicht deutlicher zu ihr?

Jetzt riß sie die Augen doch noch auf und starrte zur Decke.

Vergeblich versuchte sie, sich an alles zu erinnern. Es gelang nur zum Teil.

Peter war tot – und sie befand sich im Haus seiner Eltern. Wie war sie hierhergekommen? Was suchte sie noch hier? Warum lag sie da?

Das Raunen und Wispern war allgegenwärtig. Sie wandte den Blick zum Fenster. Die Übergardinen waren zugezogen und dunkelten den Raum etwas ab. Draußen war hellichter Tag.

Moment mal: Hatte sie das Haus hier nicht am Abend betreten? Und sie lag hier, weil sie hier übernachtet hatte? Aber wieso?

Es fiel ihr einfach nicht mehr ein.

Das Zwielicht gab dem Zimmer etwas Unwirkliches. Was verursachte dieses Raunen und Wispern? Der Wind, der um das Haus strich? Nein, es drang aus allen vier Wänden auf sie ein. Oder sogar auch noch aus der Decke und aus dem Boden? War die Quelle jenes Raunen und Wispern alles das, was im Leben von Peter eine Bedeutung gehabt hatte?

Die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag: Dies war das Zimmer ihres geliebten Peter! Hier hatte er die Nächte verbracht und große Teile des Tages. Hier hatte er sich stets wohlgefühlt, wie er ihr versichert hatte. Alles an diesem Zimmer war gewissermaßen er geworden. Ein wichtiger Teil zumindest seines Lebens. Und jetzt seines Todes?

Das Wispern und Raunen hatte keinen natürlichen Ursprung. Das wurde ihr klar, aber sie spürte deswegen keine Furcht. Denn jetzt wußte sie, daß der Raum ihr auf diese Weise von Peter erzählte. Der Raum lebte, während Peter selbst bereits tot war. Sein Körper lag verstümmelt in einem Sarg und war mit diesem beerdigt worden, doch seine Erinnerungen waren nach wie vor eingebettet in jedem Gegenstand in diesem Zimmer. Auch in dem Bett, auf dem Cruzia lag.

Sie schaute an sich herab. Sie war nach wie vor vollständig angezogen. Die Kleider, die klitschnaß gewesen waren. Carla hatte ihr keine anderen Kleider gegeben. Aber wieso hatte sie nicht selber die Kleider gewechselt, ehe sie sich hingelegt hatte?

Jetzt erst fiel ihr ein, daß sie zusammengebrochen war. Irgendwie hatte es eine Auseinandersetzung mit Peters Eltern gegeben. Sie kannte nicht mehr den Grund. Ging es um Peter? Aber wieso sollten sie sich wegen ihm streiten?

Sie stützte sich mit den Ellenbogen auf.

Die Kleider waren inzwischen längst trocken. Das Ehepaar Harris hatte Cruzia einfach vom Boden aufgelesen und hierhergebettet. So sah es aus.

Cruzia schaute umher.

Das Raunen und Wispern kam tatsächlich von allen Seiten. War es der Rest ihrer Träume? Hatte sie die Wirklichkeit doch noch nicht ganz erreicht? Träumte sie gar nur, hier zu liegen, im Zimmer von Peter? Sie wußte doch, daß das Ehepaar Harris noch ein Gästezimmer besaß. Lag sie in Wirklichkeit dort und bildete sich nur ein, hier zu liegen? Und vielleicht kuschelte sie sich unter eine warme, weiße Decke, anstatt in ihren Straßenkleidern zu stecken?

Sie schüttelte den Kopf, wie um einen Alpdruck los zu werden. Doch der Eindruck blieb: Sie lag auf dem Bett von Peter, und alles dies, womit er dieses Zimmer mit Leben erfüllt hatte, wisperte und raunte ihr im Chor zu.

Sie konzentrierte sich auf das Board mit Spielfiguren aus seiner Kindheit: Das Wispern und Raunen schwang sich eine Oktave höher und klang wie die dünnen Stimmchen von kleinen Kindern, die aus weiter Ferne zu ihr hinwehten.

„Nein!“ sagte sie vor sich hin und richtete sich zum Sitzen auf. Der Klang ihrer eigenen Stimme schaffte es tatsächlich, jenes unwirkliche Raunen und Wispern zum Verstummen zu bringen.

Auf dem Bett sitzend schaute sie sich noch einmal um.

Jetzt war alles ruhig.

Nein, nicht ganz: Sie hörte nach wie vor Stimmen. Sie kamen diesmal jedoch von außerhalb des Zimmers und waren viel zu weit weg, als daß sie Einzelheiten hätte verstehen können.

Jetzt wußte sie auf einmal, daß dieses Raunen und Wispern daher stammten. Es waren jene Stimmen, die tatsächlich zu ihr hin drangen, aber sie war wohl doch noch nicht ganz wach gewesen, und ihre Fantasie hatte ihr einen Streich gespielt.

Sie rutschte zum Bettrand und ließ die Beine herunterbaumeln. Und dann konzentrierte sie sich stärker auf diese Stimmen. Ohne Erfolg: Sie waren nicht zu verstehen. Waren es die Stimmen von Carla und Sam? Von wem denn sonst?

Sie verließ das Bett und huschte zur Tür hinüber.

Wenigstens die Schuhe hatten sie ihr ausgezogen. Sie lief auf Strümpfen.

Lauschend legte sie ein Ohr gegen das Türblatt.

Immer noch nichts zu verstehen, obwohl die Stimmen deutlicher geworden waren.

Sie griff nach der Türklinke und drehte sie. Die Tür ließ sich lautlos öffnen. Nur einen Spaltbreit. Das genügte, um die Stimmen endlich deutlich genug werden zu lassen.

Carla sagte gerade:

„...zu früh, Sam, bitte!“

„Du hast ja recht, Carla“, antwortete die Stimme von Sam. „Ich weiß es selbst, aber ich weiß mir andererseits einfach keinen Rat mehr. Deshalb mein Vorschlag. Sie muß es erfahren.“

„Ja, aber nicht schon jetzt. Wer weiß, was wir damit anrichten würden? Sie muß lernen, loszulassen. Sie kann sich nicht an Peter festklammern.“

„Und wenn wir doch...?“ Sam brach ab. „Wenigstens zum Teil?“

„Nein!“ Es klang sehr entschieden aus dem Mund von Carla. So energisch hatte Cruzia sie noch nie gehört. Sie hätte es noch nicht einmal für möglich gehalten.

Sam gab tatsächlich klein bei: „Ja und noch einmal ja. Carla, mir ist ebenfalls klar, was es bedeutet, aber so lange Cruzia nicht losläßt und endlich akzeptiert, daß Peter nicht mehr unter uns weilt, wird es nie enden. Wer weiß denn, wie Cruzia sich noch entwickelt? Sie wird sich nicht beruhigen. Es wird nicht die Zeit kommen, da wir ihr alles sagen können. Sie wird vielleicht irgendwie durchdrehen? Zumindest wird sie Dinge tun, die nicht nur ihr schaden. Das müssen wir in Betracht ziehen, und das weißt du ebenso gut wie ich.“

„Trotzdem ist es zu früh. Wenn wir nicht weiterhin abwarten und alles tun, um sie für uns zu gewinnen, um sie vorzubereiten auf die Wahrheit, kann das wirklich schlimme Folgen haben. Wir müssen einfach geduldig sein und wenn es uns noch so schwer fällt.“

„Nun, bei dem Zustand, in dem sich Cruzia zur Zeit befindet...“, führte Sam aus. „Ich kann gar nicht glauben, daß es noch schlimmer kommen könnte.“

„Still!“ befahl Carla plötzlich. „Vielleicht ist sie schon wach?“

„Ich werde einmal nachsehen gehen“, versprach Sam, und Cruzia hörte seine sich nähernden Schritte. Er betrat die Treppe, die nach hier oben führte.

Blitzschnell schloß Cruzia die Tür und huschte zurück zum Bett. Sie legte sich darauf, beruhigte ihren vor Aufregung beschleunigten Atem und schloß die Augen.

Gerade noch rechtzeitig: Die Tür öffnete sich wieder. Sam trat leise ein.

„Bist du schon wach, Cruzia, mein Kind?“ murmelte er.

Cruzia tat so, als würde sie davon erst erwachen. Sie blinzelte wie verwirrt, was ihr keineswegs schwerfiel, öffnete die Augen ganz und wandte Sam den Blick zu.

Er lächelte entwaffnend.

„Endlich geht es dir wieder besser. Hast du Hunger?“

Hunger? echote es in ihrem Innern. Hatte sie nicht einen geradezu Bärenhunger gehabt, als sie das Haus betreten hatte? Was war daraus geworden? Irgendwie hatte sie ihn danach völlig vergessen. Wie war das überhaupt möglich?

Sie nickte schwach.

„Ja – und wie!“

„Dann steh bitte auf und komm herunter. Oh, ich sehe, deine Kleider sind total unordentlich. Kein Wunder. Sie waren ja völlig durchnäßt. Carla wollte sie dir ausziehen, aber ich war dagegen. Ich wollte nicht, daß du beim Erwachen das mißverstehst. Deshalb haben wir dich so gelassen, wie du warst. Deine Kleider waren ja auch kaum noch naß gewesen. Sie waren ziemlich schnell getrocknet, unten, in der warmen, guten Stube.“

Er redete wie der sprichwörtliche Wasserfall, nickte Cruzia noch aufmunternd zu und verschwand wieder nach draußen. Hinter sich schloß er die Tür.

Cruzia sprang vom Bett und eilte hinüber. Sie öffnete die Tür wieder einen Spaltbreit.

Soeben betrat Sam die Treppe nach unten.

„Kommt sie?“ erkundigte sich Carla.

„Ich denke schon. Sie macht einen reichlich verwirrten Eindruck.“

„Kein Wunder. Also, ehrlich gesagt, mich würde es eher wundern, wenn es nicht so wäre. Denke daran, was sie in den letzten Tagen alles mitgemacht hat, die Ärmste.“

„Jetzt wird ja alles gut. Ganz bestimmt. Sie ist bei uns gut aufgehoben.“

„Und wenn sie darauf besteht, uns zu verlassen?“

„Wir sollten alles tun, um das zu verhindern. Nur wenn wir bei ihr sind, können wir rechtzeitig eingreifen, falls es zur Eskalation kommen sollte.“

„Wir können sie wohl kaum mit Gewalt festhalten“, gab Carla zu bedenken.

„Davon war ja auch keine Rede. Aber ich denke mal, sie wird vernünftig genug sein, die Notwendigkeit einzusehen: Wir müssen in dieser schweren Zeit unbedingt zusammenhalten!“

Mehr wurde nicht mehr gesprochen. Es war offensichtlich, daß die beiden auf sie warteten – und dabei nicht von ihr belauscht werden wollten.

Obwohl dies bereits geschehen war.

Cruzia schloß die Tür und dachte bei sich: Von wegen vernünftig! Was immer ihr darunter versteht: Es ist keineswegs vernünftig, in diesem Haus zu bleiben. Alles hier erinnert viel zu sehr an Peter. Es tut mir regelrecht weh. Wie soll ich jemals diesen Schmerz und meine Trauer überwinden, so lange ich damit konfrontiert werde? Nein, ich muß unbedingt wieder zu mir nach Hause, um ein wenig Abstand zu gewinnen, in den eigenen, vertrauten vier Wänden.

Sie lehnte ihre heiße Stirn gegen das kühle Türblatt.

Das alles, was sie gehört hatte bei ihrer Lauschaktion: Sie konnte es nicht verstehen. Worüber hatten sich die beiden überhaupt unterhalten? Irgendwie war es um sie, Cruzia, gegangen, aber der Zusammenhang war mehr als undurchsichtig. Sie sollte etwas erfahren, was die beiden Wahrheit nannten, aber angeblich war es dafür zu früh? Ging es denn um Peter? Worum sonst? Peter war tot. Jetzt war sie sich wieder völlig sicher. Ihre überreizten Sinne hatten ihr böse Streiche gespielt. Kein Wunder, daß sie am Ende regelrecht zusammengebrochen war. Sie hatte sich Dinge eingebildet, die einfach nicht sein konnten.

Nein, es hatte keinen Sinn, sich jetzt wieder den Kopf darüber zu zerbrechen.

Unwillkürlich dachte sie statt dessen an ihre verstorbenen Eltern. Diese hatten ihr ein nicht unbeträchtliches Vermögen hinterlassen. Es genügte jedenfalls, um ein zwar bescheidenes aber ansonsten sorgloses Leben zu bestreiten. Trotzdem hatte sie vor knapp zwei Jahren zu arbeiten begonnen. Als Verkäuferin in einer Boutique. Dazu, ihr Studium fortzuführen, hatte ihr einfach die Kraft gefehlt. Durch die Trauer über den Verlust ihrer geliebten Eltern hatte sie soviel Zeit verloren, daß sie es sich einfach nicht mehr zutraute, weiterzustudieren. Und die Arbeit in der Boutique hatte ihr sogar Spaß gemacht. Mit der Zeit hatte sie sich mit der Besitzerin angefreundet. Jetzt, da sie quasi unentschuldigt fehlte, würde diese nicht sauer reagieren. Das wußte sie. Denn es war ja bekannt, daß Peter umgekommen war – und ihre Freundin und Chefin Lucie Balloon konnte durchaus nachfühlen, daß sie dadurch vorerst nicht in der Lage war, wieder arbeiten zu kommen. Und dennoch nahm sich Cruzia jetzt vor, als erstes dorthin zu gehen, um vielleicht mit der Arbeit sich von den Geschehnissen abzulenken.

Auch wenn das Ehepaar Harris augenscheinlich völlig anderer Meinung war und sie am liebsten hier eingesperrt hätte: Cruzia nahm sich außerdem vor, sich dagegen nach Kräften zu wehren.

Sie zupfte an ihrem Pullover. Der war inzwischen dermaßen verdorben, daß sie ihn wahrscheinlich wegwerfen mußte. Genauso wie die Hose.

Hatte sie nicht auch eine Jacke angehabt? Sie konnte sich nicht erinnern, diese ausgezogen zu haben. Wahrscheinlich hatte Carla ihr die Jacke ausgezogen, bevor sie gemeinsam mit Sam sie hier heraufgebracht hatte.

Es würde sich zeigen!

Entschlossen öffnete Cruzia die Tür und trat hinaus. Es war für sie, als würde sie dabei eine völlig neue und daher fremde Welt betreten. Ein seltsames Gefühl – und beunruhigend.

*


„Da ist sie ja!“ rief Carla erfreut, als sie ihrer ansichtig wurde. Sie winkte ihr sogar zu. „Ich habe das Mittagessen bereits gemacht. Es wurde ziemlich spät bei dir. Aber wir haben uns gesagt, daß du diese Ruhe dringend nötig hast.“

Es war bereits Mittagszeit? Cruzia erschrak darüber. Wie hatte sie so lange schlafen können? War sie wirklich dermaßen erschöpft gewesen?

Es schien so. Kein Wunder, daß sie sich kaum an die Ereignisse des Vorabends erinnern konnte. Alles erschien ihr wie hinter einem Nebel des Vergessens verborgen. Lediglich die Szene, als sie das Haus betreten hatte, war ihr wach im Gedächtnis geblieben. Und dann mußte sie eben irgendwann regelrecht zusammengebrochen sein. Aus ihrer Ohnmacht war später tiefer Schlaf geworden. Und sie hatte durchgeschlafen bis zum nächsten Mittag – ganz offensichtlich.

Sie zwang sich zu einem Lächeln.

„Danke für deine Fürsorge, Carla!“ Die vertrauliche Anrede kam nur sehr schwer über ihre Lippen. Es paßte nicht zu ihrem Wunsch, zu den Harris auf Abstand zu bleiben. Irgendwie waren ihr die beiden nicht geheuer, obwohl sie zur Zeit nicht zu sagen vermochte, woher das kam. Wo die sich doch offensichtlich alle Mühe gaben, ihr freundlich zu begegnen. Aber sie hatten so seltsam gesprochen. Das einzig Positive dabei, nach Meinung von Cruzia, war die Bemerkung gewesen, daß sie nicht vorhatten, sie hier mit Gewalt festzuhalten.

„Ach herrje, wie sehen denn deine Kleider aus, Kind?“ rief jetzt Carla aus und schlug die Hände über dem Kopf zusammen. „Warte, ich gebe dir was zum Wechseln.“ Schon wandte sie sich zum Gehen. Doch dann zögerte sie und winkte Cruzia zu. „Am besten, du kommst gleich mit und suchst dir selber was aus.“

Sich etwas aussuchen? Etwa Klamotten von Carla?

Cruzia lief hinter ihr her, weil sie nicht wußte, was sie sonst hätte tun sollen. Einfach ignorieren wollte sie die Aufforderung nicht. Das wäre nun wirklich zu unhöflich gewesen, und so lange es keinen echten Grund gab, wollte sie möglichst freundlich bleiben. Schließlich handelte es sich hier um die leiblichen Eltern ihrer großen Liebe Peter.

Dabei wurde ihr wieder bewußt: Immer, wenn sie an diesen dachte, versetzte ihr das einen schmerzhaften Stich in der Herzgegend. Als würde ihr jedesmal jemand ein Messer in die Brust rammen. Ja, schlimmer hätte ein solcher Schmerz wirklich nicht sein können.

Carla ging vor ihr die Treppe hinauf. Dort oben befanden sich ja die Schlafzimmer. Nicht nur das von Peter, sondern auch das Elternschlafzimmer. Cruzia war immer noch der Meinung, Carla wollte ihr Kleidung von sich ausborgen.

Unwillkürlich betrachtete sie die Ältere von hinten. Nun, ihr Stil war nicht gerade das, was man zeitgemäß nennen konnte. Eigentlich war dies der einzige Hinweis darauf, daß Carla wirklich schon viel älter war. Ihrem Gesicht und ihrer Figur nach hätte sie genauso gut noch zwanzig sein können.

Cruzia schüttelte den Kopf. Nein, sie hatte nicht vor, sich so etwas anzuziehen. Schließlich war sie als Verkäuferin in einer Boutique auf dem Laufenden, was Mode betraf. Selbst war sie zwar nicht gerade das, was man abfällig ein Modepüppchen nannte, aber zumindest ein wenig Geschmack nahm sie sich dennoch heraus. Was Carla so beliebte, anzuziehen, war eher eine modische Beleidigung, als daß es irgendeinem Trend hätte entsprechen können.

Nur die pure Höflichkeit hinderte Cruzia daran, schon gleich auf der Stelle kehrt zu machen und einfach zurück in die Wohnstube zu gehen.

Doch dann stockte ihr vor Überraschung der Atem, denn Carla öffnete keineswegs die Tür zum Elternschlafzimmer, wo auch der große Kleiderschrank der beiden stand, sondern sie ging daran vorbei zum Gästezimmer. Dieses lag am anderen Ende des Flures, aus dem insgesamt vier Türen führten: Peters Zimmer, das Elternschlafzimmer, das Gästezimmer und letztlich die Tür zum zweiten Bad hier oben. Auch im Erdgeschoß unten gab es nämlich ein Bad, neben der Küche, wie Cruzia wußte.

Carla öffnete die Tür zum Gästezimmer, huschte quer hinüber zum Fenster und zog die Übergardinen zurück, um die Sonne hereinzulassen.

Jetzt war das Zimmer im wahrsten Sinne des Wortes taghell erleuchtet.

Carla ging zum Schrank und öffnete ihn.

Cruzia sah den Schrank nicht zum ersten Mal, aber es war für sie das erste Mal, daß man ihr einen Blick in das Innere gewährte.

Und ihr gingen dabei schier die Augen über, denn dieser Schrank war voll von Kleidern: Kleider einer Frau. Einer jungen Frau, um genauer zu sein.

Carla griff einfach hinein, wahllos, und zog ein Kleid hervor.

Es entsprach eindeutig der neuesten Mode! Wenn Carla dies angezogen hätte und wäre damit in eine Disko gegangen, hätte sie sich von anderen Jugendlichen kaum unterschieden. Vielleicht hätte ihr Gesichtsausdruck reifer gewirkt, aber ansonsten...

Cruzia bemerkte, daß ihr regelrecht die Kinnlade heruntergeklappt war, und klappte sie jetzt wieder ein wenig verschämt hoch.

Der Blick von Carla wechselte zwischen dem Kleid und Cruzia hin und her, und dann entschied sie sich: „Nein, das ist ja eher ein Ausgehkleid. Etwas Sportliches wäre sicherlich besser geeignet.“

Sie stopfte das Kleid wieder in den Schrank und begann zu suchen, während Cruzia unfähig war, sich zu rühren, geschweige denn etwas zu sagen.

Was ging hier vor?

Hatte sie sich das nicht schon gestern abend immer wieder gefragt?

Zumindest daran konnte sie sich jetzt erinnern.

Carla wurde bald fündig und zog eine sportliche Hose und die dazu passende Bluse hervor.

Jetzt gab sie sich zufrieden: „Na, gefällt es dir auch, Cruzia? Schließlich mußt du damit einverstanden sein, nicht wahr?“

„Wo... woher haben Sie die ganzen Sachen hier, Mrs. Harris?“ stotterte Cruzia.

Carla drohte ihr scherzhaft mit erhobenem Zeigefinger: „Na, na, hatten wir nicht die vertrauliche Anrede vereinbart?“

„Äh, ja, sorry, Carla, aber...“ Cruzia benötigte einen erneuten Anlauf, bis es aus ihr regelrecht herausplatzte: „Wieso kaufen Sie sich Kleider nach der neuesten Mode, ohne sie anzuziehen?“

Carla lachte auf.

„Aber nein, Cruzia, Kind, das sind keine Kleider für mich. So etwas würde ich niemals tragen. Dafür bin ich nun wirklich viel zu alt. Das ist etwas für junge, adrette Frauen, so wie du eine bist, Kind.“

„Für wen?“ schnarrte Cruzia und wunderte sich über den harschen Unterton, der sich mit eingeschlichen hatte, ohne daß es ihr bewußt gewesen war. Sie bemerkte es erst, als sie ihren eigenen Worten hinterherlauschte.

Carla erschrak regelrecht.

„Aber hat dir denn Peter nichts davon erzählt?“

„Wovon?“ herrschte Cruzia sie ungewöhnlich hart an. Es kam einfach so. Cruzia wollte es nicht wirklich. Sie tat das nicht bewußt. Aber dies alles hier kam ihr dermaßen unwirklich vor, daß es gar nicht mehr anders ging. Die ganze Fröhlichkeit, diese Ausgelassenheit... Peter war schließlich erst frisch unter der Erde – und hier geschahen Dinge, die nicht nur deshalb äußerst merkwürdig anmuteten. Vor allem hatte Cruzia einen ganz schlimmen Verdacht: Konnte es sein, daß Carla ihretwegen diese Kleider gekauft hatte? War es die Vorbereitung dafür gewesen, sie hier festzuhalten? Es hatte ihr vielleicht an nichts fehlen sollen, vor allem nicht an neuen Kleidern?

Carla schüttelte traurig den Kopf und senkte ihren Blick zu Boden.

„Dann kannst du es ja auch nicht wissen, Cruzia. Diese Kleider...“ Sie brach ab und schluckte schwer.

Kam jetzt das Eingeständnis, daß sie alles nur ihretwegen gekauft hatte? Na, Cruzia nahm sich vor, ihr dafür geharnischt die Meinung zu sagen. Wie konnte sie sich erlauben...?

Carla hob wieder den Blick und schaute Cruzia voll an: „Wir hatten uns doch so sehr eine Tochter gewünscht! Dann kam Peter zur Welt. Nicht, daß wir nicht glücklich darüber gewesen wären. Wir haben Peter niemals das spüren lassen, daß wir uns eigentlich auf eine Tochter gefreut hatten. Wir haben ihn geliebt, wirklich geliebt. Er sollte keine Sekunde jemals daran zweifeln müssen.“

„Eine Tochter?“ fragte Cruzia ungläubig dazwischen. „Aber das sind Kleider für eine Erwachsene, nicht für ein Baby!“

„Ja, aber sie wäre inzwischen ja erwachsen, nicht wahr? Sie wäre so alt wie Peter, und da wären diese Kleider hier genau das Richtige für sie. Findest du nicht auch?“ Es klang jetzt begeistert. Ihre Augen glänzten, als sie die Kleiderpracht in dem Schrank bewunderte. „Ich habe mir alle erdenkliche Mühe gegeben, das Richtige für sie zu finden.“

Aber...“, begann Cruzia. Sie verstummte wieder. Carla beachtete sie gar nicht mehr. Cruzia schöpfte tief Atem und hub erneut an: „Aber es gibt diese Tochter doch gar nicht!“

Carla blinzelte verwirrt und wandte sich ihr wieder zu.

„Natürlich nicht!“ antwortete sie. „Aber warum sollte ich nicht trotzdem Kleider für sie kaufen? Es hätte ihr eine große Freude bereitet – und sie hätte sicherlich nichts dagegen gehabt, wenn ich etwas davon dir ausleihen werde. Ihr habt dieselbe Figur. Es wird dir dies alles passen wie angegossen.“

Ein Blick genügte, um Cruzia zu zeigen, daß sie recht hatte: Die Kleider waren wirklich wie für sie maßgeschneidert. Konnte es sein, daß sie heimlich so eine Art Vorbild gewesen war für die Vorstellung der Harris von einer Tochter, die gar nicht existierte?

Die ist verrückt, total verrückt! dachte sie respektlos und gab sich Mühe, sich diese Gedanken nicht anmerken zu lassen. Wer kam denn jemals auf die Idee, Kleider zu kaufen für jemanden, den es gar nicht gab – aber von dem man sich wünschte, er sei irgendwann geboren worden? Da mußte man sich doch an den Kopf fassen!

So gesehen bekamen die belauschten Worte einen ganz anderen Sinn. Besser gesagt: Dadurch bekamen sie sogar erst eine Bedeutung! Vorher war alles viel zu verworren erschienen. Sollte jetzt sie, Cruzia, an die Stelle von Peter treten, wie schon befürchtet? Genauer gesagt, an die Stelle jener Tochter, die nie geboren worden, weil statt ihrer Peter zur Welt gekommen war?

Aber hatte die Harris denn keine Ultraschalluntersuchung vornehmen lassen, während sie schwanger gewesen war? Wie hatte sie sich denn dermaßen darin verrennen können, eine Tochter auszutragen, wo es doch in Wirklichkeit ein Sohn geworden war?

Cruzia hütete sich davor, jetzt noch danach zu fragen. Sie überlegte vielmehr fieberhaft, wie sie mit dieser eigentlich unmöglichen Situation umgehen sollte.

Carla nahm ihr die Entscheidung ab, indem sie Hose und Bluse ihr hinhielt: „Hier, Kind, ziehe es einfach einmal an. Ich bin sicher, dir wird es mindestens genauso gut gefallen wie mir!“ Sie lächelte beinahe liebevoll. Nein, so schaute keine normale Frau eine andere an. So schaute eine liebende Mutter ihre... leibliche Tochter an!

Ich bin nicht deine Tochter! wollte Cruzia sie anschreien, doch sie tat nichts dergleichen. Sie nahm einfach die beiden Kleidungsstücke entgegen und blieb stumm. Sie bemühte sich sogar auch noch um ein Lächeln.

Carla gab sich zufrieden und wandte sich zum Gehen.

„Ich lasse dich dann so lange allein, bis du dich umgezogen hast. Wenn du auch noch Schuhe brauchst: Du findest eine reichliche Auswahl im Seitenteil des Schrankes!“

Sprachs und huschte hinaus. Die Tür schloß sich hinter ihr leise.

Cruzia stand da wie betäubt. Sie wußte nicht, was sie tun sollte.

*


Nach einer kleinen Weile kam wieder Leben in sie. Cruzia betrachtete die beiden Kleidungsstücke in ihren Händen. Ja, was sollte sie tun?

Sie betrachtete ihre eigene, verdorbene Kleidung. So konnte sie unmöglich draußen herumlaufen. Das sah ja schlimmer aus, als hätte sie unter einer Brücke übernachtet.

Also gut: Sie zog sich aus, bis auf die nackte Haut, und schaute im Schrank nach. Im linken Seitenteil gab es Unterwäsche. Eine so reichhaltige Auswahl, als würde sie sich in einer Boutique befinden. Cruzia fischte sich heraus, was sie benötigte und schnupperte daran. Alles wirkte sehr frisch. Nicht wie neu gekauft, sondern als hätte Carla es nach dem Kauf erst einmal gewaschen und gebügelt und dann erst in den Schrank gelegt.

Sie zog die Unterwäsche an und nahm wieder Hose und Bluse in die Hände. Nach kurzem Zögern zog sie sich beides über. Jetzt suchte sie auch nach passenden Strümpfen, fand sie und zog auch diese an.

Schuhe? Im rechten Seitenteil befand sich in der Tat eine reichhaltige Auswahl. Sie bediente sich. Schwer war es nicht, etwas nach ihrem Geschmack zu finden. Überhaupt, alles, was sie im Schrank fand, entsprach eigentlich ihrem Geschmack. Als hätte sie das alles selbst gekauft und zwar für sich.

Nur ein Zufall?

Daran mochte sie nicht glauben. Trotzdem genierte sie sich nicht, sich die neuen Klamotten anzuziehen und anschließend ihre verdorbenen Kleider auf einen Haufen zu legen. Kurz überlegte sie, ob sie den Haufen mit nach unten nehmen sollte. Dann entschied sie sich dagegen und verließ das Zimmer.

Sie lauschte kurz. Unten wurde nicht gesprochen.

Eigentlich schade, fand sie.

Lautlos huschte sie zur Treppe. Unterwegs knarrte eine Diele. Das Geräusch ließ sie erschrocken zusammenfahren. Jetzt brauchte sie nicht mehr leise zu tun. Die beiden hatten sie gewiß schon gehört. Also lief sie normal weiter und stieg die Treppe nach unten.

Beide standen da und strahlten sie an.

„Es steht dir ausgezeichnet, Cruzia!“ lobte Sam sie.

„Als wäre unsere richtige Tochter zum Leben erwacht!“ schwärmte Carla.

Also doch! Die Zornesader verunzierte Cruzias hübsche Stirn.

„Damit wir uns nicht falsch verstehen, Carla: Ich habe das alles angezogen, weil ich nichts anderes dabei habe. Ich werde es aber mit Sicherheit nicht behalten. Sobald ich es nicht mehr benötige, bringe ich es zurück.“

„Aber, Kind“, widersprach Carla erschrocken, „das ist wirklich nicht nötig. Du kannst alles haben, was im Schrank ist. Wir benötigen es nicht mehr.“

„Weil ihr ja jetzt die Tochter habt, die ihr euch immer gewünscht habt?“ vermutete Cruzia zerknirscht. „Allmählich wird mir vieles klar. Auch, worum es bei eurem Streit mit Peter ging. War es wegen der gewünschten Tochter, aus der ein unerwünschter Sohn wurde? Ich kann mir nichts vorstellen, was Peter mehr aus der Bahn hätte werfen können als eine solche Eröffnung.“

„Aber nein, Cruzia, das siehst du ganz falsch!“ widersprach Sam ungewohnt energisch, nachdem er mit seiner Frau einen bedeutsamen Blick ausgetauscht hatte. „Peter weiß... äh, wußte das doch schon immer. Es war nichts Neues für ihn. Und er wußte auch, daß wir ihn dafür nicht minder liebten. Und was spricht dagegen, wenn wir uns diese Tochter nach wie vor ersehnt haben? Das hat doch nichts mit Peter zu tun. Er hatte sein eigenes Zimmer – und unsere Tochter ebenfalls.“

„Obwohl sie nie geboren wurde!“ erinnerte Cruzia grimmig. „Wieso eigentlich nicht? Wieso habt ihr es denn nicht erneut versucht?“

Abermals ein bedeutsamer Blick, der zwischen den Eheleuten ausgetauscht wurde.

„Nun, ja, das ist eine berechtigte Frage...“, begann Sam zögernd, brach jedoch sogleich wieder ab. Er schien nach Worten zu suchen.

Seine Frau kam ihm zuvor: „Wir bekommen keine Kinder mehr! Das stand schon kurz nach der Geburt von Peter fest. Es gab Komplikationen. Dadurch wurde ich unfruchtbar. Aber frage mich bitte nicht nach Einzelheiten. Ich kenne mich mit diesen medizinischen Fachbegriffen nicht so recht aus.“

„Ich auch nicht“, beeilte sich Sam zu versichern.

Dadurch klang es in den Ohren von Cruzia erst recht wie eine Ausrede. Was steckte wirklich dahinter?

Sie wollte nicht weiter auf diesem Thema herumreiten, sondern kam lieber wieder auf Peter zurück: „Dieser Streit vor seinem tragischen Tod... Da ging es um die nicht existente Tochter. Der Schrank ist voll mit Kleidern, die mir wie angegossen passen. Da war ich also offensichtlich so eine Art Vorbild, als ihr eingekauft habt.“

„Nicht ich habe eingekauft, nur Carla“, sagte Sam lahm.

Carla versuchte, möglichst freundlich zu lächeln

„Ja, natürlich, Cruzia, Kind, warst du dabei so eine Art Vorbild. Ich habe schon immer versucht, mir vorzustellen, wie sie wohl aussehen würde, wäre sie am Leben. Und dann haben wir dich kennengelernt. Ich wußte schon beim ersten Blick, daß du haargenau diesem Idealbild entsprichst, das ich von ihr hatte. Es fiel mir dadurch viel leichter, die passenden Kleider zu finden. Ach, wenn sie das alles sehen würde – ihr Zimmer, ihren wohlgefüllten Schrank...“

„Aber das ist doch der helle Wahnsinn!“ rief Cruzia dazwischen. „Und wenn die Mode wechselt, wirfst du dann alles wieder weg und kaufst neu ein, obwohl es niemand getragen hat? Und das tust du immer wieder, seit der Geburt von Peter? Alles hast du doppelt gekauft: Für euren Sohn und für eine nichtexistente Tochter.“

„Keiner der beiden sollte je benachteiligt werden“, verteidigte sich Carla halbwegs beleidigt. „Peter sollte es an nichts fehlen – und seiner Schwester auch nicht.“

„Wie hätte sie denn eigentlich geheißen?“ erkundigte sich Cruzia leicht anzüglich.

„Petra!“ antworteten beide wie aus einem Munde.

Der dritte bedeutsame Blick, den die beiden austauschten. Dann fügte Carla zögernd hinzu: „Bis wir dich kennengelernt haben zumindest.“

Cruzia erschrak jetzt doch wieder, obwohl sie gedacht hatte, in dieser Beziehung könnte sie nichts mehr erschüttern.

„Soll das heißen, jetzt nennt ihr sie... Cruzia?“

Wie beschämt senkte Carla den Blick.

„Es tut mir leid, ich weiß, wir hätten dich zuerst fragen sollen. Aber als wir dich kennenlernten... Du warst wie die Fleisch gewordene Petra. Ich hoffe sehr, sie wäre nicht beleidigt darüber, daß wir ihr daraufhin deinen Namen gegeben haben.“

Cruzia schüttelte heftig den Kopf.

„Nein, hier halte ich es nicht mehr länger aus, in diesem Irrenhaus!“ schrie sie aufgebracht. „Kein Wunder, daß ihr damit den armen Peter in den Tod getrieben habt. Das mußte ja irgendwann so schrecklich enden. Ich will hier raus. Ich will nach Hause, sofort, auf der Stelle!“

„Aber, Kind“, versuchte Carla einzuwenden, „nun beruhige dich doch erst mal. Und ich dachte, du hättest solchen Hunger...?“

„Jetzt nicht mehr!“ entgegnete Cruzia knapp und wandte sich dem Ausgang zu. „Ich gehe zu Fuß. Das brauche ich. Die frische Luft wird mir helfen, den Kopf frei zu bekommen – nach all diesem Irrsinn.“

„Nein, nein, Cruzia, ich werde dich fahren!“ wollte Sam sich ihr aufdrängen.

Cruzia winkte entschieden ab.

„Geschenkt! Ich traue euch nicht mehr. Bleibt hier, mit eurem Wahnsinn. Einen Sohn wie Peter hattet ihr gar nicht verdient. Und jetzt ist er euretwegen tot. Aber ich glaube nicht, daß ihr in eurem Wahnsinn das überhaupt so richtig begreift. Und merkt euch ein für allemal: Es gibt eure Tochter nicht. Es wird sie niemals geben. Vor allem wird sie nicht Cruzia heißen – und sie wird nicht ich sein können!“

Schon war sie draußen, in dem kurzen Flurstück mit der Garderobe. Sie eilte weiter, zur Haustür.

Sam wollte ihr folgen. Sie hörte seine Schritte und geriet darüber halbwegs in Panik. Würde er jetzt doch noch mit Gewalt versuchen, sie hier festzuhalten? Obwohl er gesagt hatte, dies vermeiden zu wollen?

Klar war, daß sie alles hatten tun wollen, um sie nicht gehen zu lassen. Jetzt war es anders gekommen, und Cruzia würde sich um nichts in der Welt von ihrem Entschluß mehr abbringen lassen – nicht ohne Gewalt jedenfalls.

Schon riß sie die Haustür auf. Für Sekundenbruchteile hatte ihr Atem gestockt und war ihr Herz stehengeblieben – vor Bange, es sei vielleicht abgeschlossen. Aber die Tür ließ sich ohne Probleme öffnen.

Kühle Luft wehte herein, und schon war Cruzia draußen.

Sie hörte noch, wie Sam vorwurfsvoll zu seiner Frau sagte: „Siehst du nun, was du angerichtet hast? Sie hätte das von unserer Tochter niemals erfahren dürfen...“

Falls er noch mehr zu ihr sagte, war es ihr egal. Sie hörte es sowieso nicht mehr, auch nicht die Entgegnung von Carla, mit der sie sich vielleicht zu verteidigen versuchte. Cruzia rannte die Straße entlang und fühlte sich wie auf der Flucht.

Und das war es ja auch im Grunde genommen.

Als sie auf dieser Flucht einen Blick über die Schulter zurückwarf, dann nur deshalb, um sich zu vergewissern, daß es keine Verfolger gab.

Dafür sah sie etwas anderes, was ihre Flucht jäh beendete und sie so unvermittelt veranlaßte, zu stoppen, daß sie beinahe ins Stolpern gekommen und hingestürzt wäre: Die Haustür stand noch offen. Sie schloß sich nicht von allein. Und in der offenen Tür stand eine hochgewachsene Gestalt. Diese Gestalt hatte eindeutig das Gesicht von... Peter Harris, ihrem toten Geliebten!

*


Es gab keinerlei Spuren mehr vom Unwetter am Vorabend. Jetzt war Mittagszeit. Die Sonne stand hoch im Zenit, an einem wolkenlosen Himmel.

Trotzdem gelang es ihr nicht, den Schatten besser zu beleuchten. Er blieb ein diffuser Schatten. Nur das Gesicht war so deutlich wie es nur sein konnte.

Die Gestalt tat einen Schritt nach vorn und verließ die geöffnete Tür. Das Türblatt schwang hinter ihr zu. Niemand war dort zu sehen. Hatte Sam eingesehen, daß er Cruzia nicht mehr aufhalten konnte? Resignierte er und schloß die Haustür?

Als die Tür ins Schloß gefallen war, stand die Schattengestalt regungslos davor. Das Gesicht schaute unverwandt in Richtung Cruzia. Sie sah die Trauer in diesen Augen trotz der Entfernung.

Cruzia bemerkte, daß sie sich in Bewegung setzte, ohne eigenes Zutun. Ihre Beine machten sich regelrecht selbständig. Sie trugen sie hinüber, zu dieser Schattengestalt mit dem Gesicht von Peter.

Sie flüsterte seinen Namen und hatte dabei den Eindruck, er würde es sehr genau hören, obwohl er dazu eigentlich noch viel zu weit entfernt war und sie wirklich nur sehr leise flüsterte.

Näher und näher rückte die Schattengestalt. Cruzia fühlte sich wie betäubt. Eine Betäubung, die ihren ganzen Körper erfaßte. Die Kleider, die sie angezogen hatte, klebten auf ihrer Haut. Oder hatten sie sich mit ihrer Haut vereinigt? Waren es ihre eigenen Beine, die sich selbständig gemacht hatten, oder die Hosenbeine, die sich mit ihren Beinen verbunden hatten, um die Herrschaft zu übernehmen?

Diese Kleider waren wie ein Zwangskorsett. Sie war auf einmal überzeugt davon, daß sie keine Chance gehabt hätte, in ihrem Bemühen, lieber davonzurennen. Diese Kleider hätten es verhindert.

Ein eigentlich irrsinniger Gedanken, der ihr aber in diesem Moment so real vorkam, als könnte es gar nicht anders sein – und als wäre ein solcher Vorgang die selbstverständlichste Sache von der Welt.

Sie war fest überzeugt davon: Dies sind keine normalen Kleider. Sie sind in der Lage, ein Eigenleben zu entwickeln. Jene Tochter gab es nicht real, aber alles andere war real. Die Kleider eben genauso wie vielleicht andere Gegenstände, die sich in dem Zimmer befanden, in dem Cruzia vordem eigentlich eine Art Gästezimmer vermutet hatte. Vielleicht war sogar das Bett lebendig? So lebendig wie alles auch im Zimmer von Peter? Er hatte jedem Gegenstand, der in seinem Besitz gewesen war, einen Teil seines eigenen Lebens eingehaucht. Dieses Leben war nach wie vor da, obwohl sein Körper zerschmettert und verstümmelt im Sarg lag, in der Erde begraben.

Und seine Schwester, die nie geboren worden war? Ihre Eltern hatten alles getan, um sie zu einem Pseudoleben zu erwecken. Dies war auch vortrefflich gelungen. Und als sie Cruzia kennengelernt hatten, war die Tochter erst recht zum Leben erwacht.

Um jetzt dabei zu sein, sie regelrecht zu übernehmen: Aus der Original-Cruzia sollte allmählich die Tochter Cruzia werden, die Schwester des toten Peter?

Toter Peter? Aber wenn er wirklich tot war, wieso stand er dann dort als diffuser Schatten, mit seinem lebendigen Gesicht?

Und wieso schaute er so unendlich traurig drein?

Cruzia erreichte ihn und blieb stehen. Peter stand vor ihr, in voller Größe. Zwar immer noch nicht deutlich erkennbar, außer in seinem Gesicht, aber sie spürte seine Anwesenheit, roch ihn förmlich.

Jetzt versuchte er ein Lächeln. Es wurde eine verzerrte Grimasse daraus. Als würde ihn etwas sehr quälen.

„Ich – ich habe kein Gesicht mehr, keinen Körper“, murmelte er. Es klang zwar nach seiner Stimme, doch gleichzeitig war es Cruzia, als würde sie diese nicht mit ihren Ohren hören, sondern als würde sie direkt in ihrem Kopf aufklingen. „Ich gebe mir Mühe, doch es gelingt mir nicht. Diese Qual... Warum hilfst du mir nicht, Cruzia? Warum hilfst du mir nicht?“

„Bin ich noch die Cruzia, die du geliebt hast?“ hörte sie sich fragen und wunderte sich über die eigenen Worte. „Oder bin ich längst zu Cruzia, deiner Schwester, geworden?“

Er schaute jetzt nicht mehr so unendlich traurig, sondern eher überrascht drein.

„Cruzia, meine Schwester?“ echote er verständnislos. „Was meinst du damit?“

Sie forschte in diesem bleichen Gesicht, das wie das Gesicht eines Toten wirkte.

Aber ja, sagte sie sich, er ist ja auch ein Toter!

Aber wie kam es dann, daß sie hier standen, am hellichten Tag, und sich miteinander unterhielten?

„Deine Eltern haben mir von deiner Schwester erzählt.“

Ein gequältes Lächeln huschte über sein bleiches Gesicht.

„Ach ja, das darfst du nicht so ernst nehmen, Cruzia.“

„Nicht ernst nehmen?“ regte sich Cruzia auf. „Der Schrank voller Kleider, die alle mir passen. Deine Eltern wollen, daß ich bei ihnen bleibe, als ihre Tochter.“

„Nein, nein, das siehst du gewiß falsch, Cruzia. Meine Eltern...“ Er hielt inne. Eine steile Falte erschien auf seiner Stirn, als würde er angestrengt nachdenken. „Meine Eltern...“, hub er erneut an - nur, um sich abermals zu unterbrechen.

Im nächsten Augenblick stöhnte er auf und griff sich an die Kehle.

Die Hand war nur ein schwarzer Schatten, keine richtige Hand. Und auch die Kehle war nur ein schwarzer Schatten.

Peter – oder besser gesagt: Peters Erscheinung! – würgte sich. Er stöhnte erneut, verdrehte dabei die Augen, daß nur noch das Weiße sichtbar war. „Traue... ihnen... nicht..., sie...“

Im nächsten Augenblick verschwand die Erscheinung. Einfach so.

Einfach so? Nein, die Haustür schwang gleichzeitig auf. War es das, was die Erscheinung vertrieben hatte?

Sam tauchte auf. Er wirkte überrascht.

„Cruzia, du bist noch da? Oder bist du... zurückgekehrt?“ Eine hoffnungsfrohe Frage.

„Gib dir keine Mühe, Sam, ich bin schon so gut wie weg. Ich glaubte lediglich, etwas vergessen zu haben, aber das hat sich erledigt.“

„Deine Wohnungsschlüssel? Deine Wagenschlüssel?“ fragte Sam und hielt ihre kleine Handtasche hoch.

Ihre Handtasche? Wieso hatte sie keine Sekunde lang daran gedacht? Weder gestern, noch heute? Wieso war sie einfach davongelaufen, mit leeren Taschen, ohne sich Gedanken darüber zu machen, wie sie überhaupt in ihre eigene Wohnung kommen sollte?

Kurz schwindelte es ihr, aber Cruzia gelang es erstaunlich schnell, sich wieder in den Griff zu bekommen.

Ohne ein Dankeschön schnappte sie sich einfach ihre handliche Tasche, wandte sich ab und lief davon. Die Tasche hängte sie sich achtlos über die Schulter. Jetzt wußte sie wieder, daß sie das immer tat. Gestern hatte sie noch eine Jacke angehabt. Die Tasche hatte sie unter dieser Jacke getragen, wie sie es oft tat. Als sie zusammengebrochen war, hatten Carla und Sam ihr beides abgenommen und sie anschließend hinauf in das Zimmer von Peter getragen.

Abermals blieb sie abrupt stehen.

Ja, die beiden hatten sie in das Zimmer von Peter gebracht, ausgerechnet. Und wieso nicht in das Zimmer ihrer nichtexistenten Tochter? Wäre das nicht einleuchtender gewesen?

Sie schaute wieder zum Haus zurück.

Sam stand diesmal in der offenen Haustür. Er wirkte irgendwie verloren. Sein Blick war nicht minder traurig wie vordem der Blick des toten Peter.

Irgendwie paßte das nicht zu dem Bild, das Cruzia von Peters Eltern gewonnen hatte: Ja, wieso hatten sie Cruzia nicht in jenes andere Zimmer gebracht, das mit allem angefüllt war, was jemanden vortäuschte, den es nicht gab? Sie hätte es verstehen können, da sie ja nach wie vor fest davon überzeugt war, jene Rolle der nichtexistenten Tochter übernehmen zu sollen.

Statt dessen eben hatten sie Cruzia in das Zimmer des toten Peter gebracht...

Verwirrt wandte sie sich ab und lief weiter, in Richtung ihrer Wohnung. Es war eine ordentliche Strecke zu gehen. Dabei beeilte sie sich, als würde es darauf ankommen, möglichst rasch möglichst viel Entfernung zwischen sich und dem Haus der Harris zu bringen.

Unterwegs schaute sie noch mehrmals über die Schulter zurück.

Niemand verfolgte sie, und auch von Peter war nichts mehr zu sehen.

*


Erst als Cruzia an der Boutique vorbeikam, in der sie arbeitete und die auf dem Weg zu ihrer Wohnung lag, kam sie zu sich. Sie zögerte: Sollte sie zumindest einmal guten Tag sagen? Sie hatte sich immer noch nicht für ihr Fehlen entschuldigt. Ihre Chefin und gleichzeitige Freundin Lucie Balloon würde ihr zwar deswegen gewiß nicht böse sein, weil sie ja vom Tod ihres Geliebten wußte, aber wenn sie schon hier vorbeilief, konnte sie auch kurz einmal hineinschauen.

Gedacht, getan: Sie öffnete die Eingangstür und trat ein. Es war hier drinnen nicht ganz so hell wie draußen. Einzelne Angebotsständer wurden von Spotlights erleuchtet, um zusätzlich darauf aufmerksam zu machen. Das war Lucies Konzept – und ihre Kunden hatten es schon vor Jahren angenommen. Man konnte sagen, die Boutique war zwar nicht sonderlich groß, aber sie ging gut genug, um auch noch eine Verkäuferin wie Cruzia zu ernähren. Obwohl diese nicht unbedingt darauf angewiesen gewesen wäre und in letzter Zeit mehrmals mit Peter darüber gesprochen hatte, vielleicht doch wieder das Studium aufzunehmen. Peter war sehr dafür gewesen.

Jetzt ist aber alles trotzdem wieder ganz anders, dachte Cruzia. Sie wußte, daß sie so schell nicht wieder die Universität aufsuchen würde, nicht nachdem Peter gestorben war. Sie würde bald wieder bei Lucie zu arbeiten beginnen, um auf andere Gedanken zu kommen.

Es befand sich keine Kundschaft in dem Laden. Ausnahmsweise. Lucie kam aus dem Nebenraum, von der Türglocke angelockt.

„Cruzia!“ rief sie erfreut, doch sogleich umwölkte sich ihre Stirn. „Entschuldige, Cruzia, ich freue mich natürlich, dich wiederzusehen, aber andererseits...“

„Schon gut, Lucie.“ Cruzia bemühte sich um ein entschuldigendes Lächeln.

„Ich – ich möchte dir mein Beileid aussprechen, Cruzia, mein herzliches Beileid!“ Es klang ehrlich aus dem Mund von Lucie.

Cruzia trat näher.

„Ich bin gerade vorbeigelaufen und dachte, ich schau mal rein, weil ich so bald wie möglich wieder bei dir arbeiten möchte. Entschuldige bitte, daß ich unentschuldigt gefehlt habe, aber...“

Lucie winkte großzügig ab.

„Gar kein Thema!“ versicherte sie. „Aber meinst du wirklich, es sei nicht zu früh, wieder an Arbeit zu denken? Und hast du mir nicht erzählt, eventuell wieder mit dem Studium beginnen zu wollen?“

„Da hat Peter...“ Ihre Stimme versagte. Cruzia benötigte einen erneuten Anlauf: „Da hat er noch gelebt. Jetzt aber...“ Sie brach abermals ab.

Und Lucie trat hinter dem Tresen hervor, ging auf ihre Freundin zu und umarmte sie herzlich.

„Armes Ding!“ Sie unterdrückte die Tränen, die sich ankündigten und sicherlich ihre sorgfältig aufgetragene Schminke zu einer häßlichen, zerlaufenden Maske hätten werden lassen. Aber Cruzia hörte durchaus das Zittern in der Stimme der Freundin. Lucie war zwar nicht mit der Beerdigung gegangen, weil sie anscheinend keinen Ersatz für ihren Laden bekommen hatte für diese Zeit, aber sie fühlte durchaus mit ihr.

Dann drückte Lucie ihre Freundin wieder auf Armlänge von sich weg und betrachtete sie.

„He, was hast du denn für Klamotten an?“

„Nicht meine eigenen“, antwortete Cruzia prompt – dankbar, daß Lucie das Thema gewechselt hatte.

„Nein, das meine ich nicht, aber ich kenne die Hose und die Bluse. Sie stammen beide aus meinem Laden.“

„Wie bitte?“ wunderte sich Cruzia. „Aber, ich habe sie nie hier gesehen. Wieso...?“

„Ach was, nicht so wichtig“, meinte Lucie leichthin und wollte offensichtlich abermals das Thema wechseln.

Cruzia war nicht einverstanden damit. Sie hakte sogleich nach:

„Wie soll ich das verstehen, Lucie: Hose und Bluse stammen aus deinem Laden?“

„Ja, sie wurden bestellt. Ich habe sie besorgt und verkauft. Du warst zum jeweiligen Zeitpunkt eben nicht da. Du warst ja nicht den ganzen Tag über im Laden.“

„Also die Kundin kam immer nur zu einer Zeit, da ich nicht anwesend war? Deshalb habe ich sie nie zu Gesicht bekommen – genauso wenig wie die bestellten Klamotten?“

„Ja, so ungefähr. Reiner Zufall, wie ich vermute.“

„Also doch! Ich wollte nur sozusagen auf den Busch klopfen, Lucie, aber diese Kundin war mehrmals da?“

„Hin und wieder“, wich Lucie aus. Das Thema war ihr sichtlich unangenehm. Cruzia sah, daß sie sehr nervös wurde.

Lucie wandte sich jetzt ab und verschwand so geschwind hinter dem Tresen, als wollte sie so vor Cruzia fliehen.

Doch Cruzia ließ sich nicht beirren – jetzt nicht mehr: „Diese Kundin hieß nicht zufällig Carla Harris?“

„Ja, stimmt, aber woher weißt du?“

„Nun, sie ist die Mutter von Peter!“

„Wie bitte?“ Die Überraschung schien echt zu sein. „Carla Harris ist...? Aber, Kind, das wußte ich wirklich nicht. Zwar hast du mir erzählt, daß dein Peter Harris hieß, aber ich dachte, das sei ein Zufall.“

„Genauso ein Zufall wie die Tatsache, daß Carla immer nur dann in den Laden kam, wenn ich nicht da war?“ Cruzia schüttelte heftig den Kopf: „Gib es zu: Sie hat ganz bewußt vermieden, mir über den Weg zu laufen, nicht wahr?“

„Nein, nein, Cruzia, du interpretierst da was hinein, was...“

„Sage mir die Wahrheit!“ verlangte Cruzia. Sie schrie es fast.

Lucie zuckte unwillkürlich zusammen.

„Aber, Cruzia, so kenne ich dich ja gar nicht? Was ist denn in dich gefahren?“

„Sage mir die Wahrheit!“ verlangte Cruzia erneut, diesmal in einem gemäßigteren Tonfall.

„Die Wahrheit? Ach was, wer weiß denn schon, was wahr ist und was nicht?“

„Bitte!“ Es klang eindringlich.

Lucie wich ihrem forschenden Blick aus. Es wirkte irgendwie verschämt.

„Ja, sie hat mir gesagt, dich zu kennen, und sie habe eine Tochter, die sie mit den Kleidern überraschen wollte. Ja, so hat sie das erklärt. Ihre einzige Tochter wohlgemerkt! So hat sie es formuliert. Von Peter war niemals die Rede gewesen. Und sie sagte mir, ihre Tochter habe eine frappierende Ähnlichkeit mit dir. Sie wolle ihre Tochter mit den Kleidern überraschen, die sie bei mir bestellte. Und es sollten Kleider sein, die dir ebenfalls gefallen würden. Ich kenne ja deinen Geschmack inzwischen, klar. Also war das kein Problem.“

„Nicht nur Kleider, sondern auch Wäsche und sogar Schuhe, obwohl du normalerweise gar keine Schuhe führst?“

„Nur auf Bestellung eben. Und wieso sollte ich ablehnen? Diese Carla Harris scheint nicht jede Münze zweimal umdrehen zu müssen, bevor sie sie ausgibt. Und für mich gab es kein Risiko. Ich bestellte, was sie haben wollte – nach meiner ausführlichen Beratung. Das Bestellte kam und wurde bar bezahlt. Was wollte ich mehr?“

„Und wieso hast du mir nie etwas davon erzählt? Wie lange ging das denn eigentlich?“

Lucie vermied immer noch, sie anzuschauen. Sie war jetzt das personifizierte schlechte Gewissen. Aber Cruzia blieb unerbittlich. Lucie wußte, sie würde nicht eher Ruhe geben, bis alles erzählt war.

Nur deshalb wohl antwortete sie wahrheitsgemäß: „Wenn ich es recht bedenke, fing es an, unmittelbar nachdem du deinen Peter kennengelernt hattest.“

„Er muß seiner Mutter von mir erzählt haben – und davon, daß ich hier, bei dir, arbeite. Und dann kam sie gleich schon zu dir, um Kleider zu kaufen, die mir nicht nur passen würden, sondern die sogar meinem Geschmack entsprachen? Angeblich für ihr Tochter, die mir so sehr ähnele?“

„Sie nannte mir sogar deren Namen: Petra!“ verteidigte sich Lucie lahm.

„Und noch einmal: Wieso hast du mir nichts davon erzählt?“

„Bitte, Cruzia, sei doch jetzt nicht gleich so sauer. Es ist doch nichts Schlimmes passiert. Sie hat mich eindringlich gebeten, dir nichts zu sagen, und ich habe ihr immer rechtzeitig mitgeteilt, wann du nicht da warst. Sie begründete es damit, daß sie dich nicht beunruhigen wollte. Du solltest nicht das Gefühl bekommen, das Ganze habe etwas mit dir zu tun. Es sei halt nur, weil wegen der Ähnlichkeit...“ Jetzt wagte es Lucie erst wieder, Cruzia anzuschauen. „Ich habe mir wirklich nichts dabei gedacht, Kind! Das alles erschien mir durchaus einleuchtend. Ich hatte niemals das Gefühl, dich damit vielleicht zu hintergehen oder so. Oder siehst du das jetzt anders?“

„Sie ist die Mutter von Peter. Es gibt keine Petra!“ Und Cruzia erzählte ihr mit knappen Worten von der niemals geborenen Tochter.

Lucie erschrak regelrecht darüber.

„Um Gottes Willen, Cruzia, wenn ich das gewußt hätte... Aber das ist ja völlig durchgeknallt.“

„Nette Umschreibung“, murmelte Cruzia grimmig. „Ich würde sagen, Carla Harris benötigt dringend ärztlichen Beistand – und ihr Ehemann ebenfalls. Die sind sich beide ganz offensichtlich gar nicht darüber im klaren, wie krank sie sind.“

„Der arme Peter!“ Kaum hatte Lucie es ausgesprochen, schlug sie erschrocken die Hand vor den Mund. „Entschuldige, Cruzia, aber ich wollte jetzt nicht...“

„Schon gut, Lucie: Du hast ja völlig recht. Ich glaube inzwischen, Peter ist vor Verzweiflung in den Tod gefahren. Nein, nicht etwa absichtlich, aber es hat Streit mit seinen Eltern gegeben. Ich bin überzeugt davon, es ging um diese Verrücktheiten mit der nichtexistenten Tochter – und vielleicht in diesem Zusammenhang auch um mich. Er ist daraufhin mit dem Wagen losgebraust. Dabei ist es zu diesem Unfall gekommen.“

Lucie schaute sie entgeistert an.

„Das wird ja immer schrecklicher! Kind, wo bist du da nur hineingeraten?“

Cruzia nickte heftig.

„Das frage ich mich inzwischen ebenfalls!“ Kurz barg sie ihr Gesicht in den Händen und kämpfte gegen die Tränen der Trauer an, die schon wieder in ihr Fuß fassen wollte. Nein, sie durfte sich nicht so gehenlassen, nicht vor Lucie. Außerdem benötigte sie einen möglichst klaren Kopf – bei allem, was sie seit gestern abend erfahren hatte.

Und daß ihr jetzt Peter schon mehrmals erschienen war, das erzählte sie Lucie lieber nicht. Sonst hielt diese sie ebenfalls für krank im Kopf.

Sie nahm die Hände wieder herunter.

„Eines verstehe ich allerdings nicht“, meinte Lucie nachdenklich.

„Was denn?“

„Wieso hast du die Klamotten da angezogen? Hat Carla Harris sie dir gegeben? Und warum hast du sie angenommen, wenn du mit ihren Verrücktheiten nichts zu tun haben willst?“

„Weil meine Klamotten total verdorben waren“, verteidigte sich Cruzia. „Ich stand gestern, bei dem schrecklichen Unwetter, auf dem Friedhof, die ganze Zeit. Bis Sam Harris auftauchte und mich zu sich nach Hause nahm. Ich habe dort die Nacht verbracht, im Zimmer von Peter. Bis heute mittag habe ich geschlafen.“

„Moment mal, Moment!“ unterbrach Lucie und winkte mit beiden Händen ab. „Du hast dort übernachtet?“ Sie mochte es scheinbar gar nicht glauben.

„Da wußte ich noch nichts von der eingebildeten Tochter“, erläuterte ihr Cruzia. „Außerdem ging es mir ziemlich schlecht. Ich brach regelrecht zusammen. Ich habe die letzten Tage so gut wie nicht geschlafen, habe nichts gegessen und nichts getrunken...“

Sie unterbrach sich selber, weil ihr in diesem Zusammenhang einfiel, daß sich das in der Zwischenzeit keineswegs geändert hatte: Sie hatte weder gegessen noch getrunken. Obwohl es ihr angeboten worden war. Dabei spürte sie jetzt auf einmal wieder diesen unbändigen Hunger. Doch wenn sie darüber nachdachte, erschienen keine dampfenden Speisen vor ihrem geistigen Auge, sondern... Ja, was?

Sie schaute Lucie an.

Das Gefühl, Hunger zu haben, wuchs bei ihrem Anblick.

Cruzia erschrak regelrecht darüber – so sehr, daß es ihr wieder gelang, das Hungergefühl zu überwinden.

Genauer betrachtet handelte es sich um eine Art Hunger, wie sie ihn noch niemals zuvor erlebt hatte. Ansonsten benötigte sie anscheinend nichts zu trinken. Sie hatte jedenfalls keinerlei Durst.

Sehr seltsam, wie sie selber fand, aber sie hütete sich wohlweislich, gegenüber Lucie etwas in dieser Richtung zu sagen. Diese hätte das sicherlich noch weniger verstanden als sie selber.

„Aber als du dann die Kleider gesehen hast...“, lenkte Lucie auf das alte Thema zurück. Sie nagte nachdenklich an ihrer Unterlippe. „Da wußtest du doch schon von der Tochter, die es nicht gibt? Und du hast die Klamotten trotzdem angezogen?“

„Ja, blieb mir denn etwas anderes übrig?“ stellte Cruzia die Gegenfrage.

„Aha?“ machte Lucie, und es klang wenig überzeugt. „Aber egal, ist ja deine Sache. Nur, da fällt mir noch etwas ein. Diese Carla Harris hat sich ziemlich ausgiebig nach dir erkundigt. Ich habe mir nichts dabei gedacht. Ich dachte immer, sie wollte nur sichergehen, daß sie für ihre Tochter auch wirklich das Richtige kaufte.“

„Sie hat Fragen gestellt?“ wunderte sich Cruzia. „Welche denn zum Beispiel?“

„Ja, zum Beispiel hat sie mich gefragt, woher dein Name stammt. Ich habe es ihr gesagt: Deine Eltern kamen aus den Karpaten hierher, aus Rumänien also. Aus der Gegend, wo einst angeblich Dracula gelebt hat.“ Sie lachte humorlos. „Hoffentlich bist du jetzt nicht sauer, daß ich darüber mit dieser Carla Harris gesprochen habe?“

„Nein, bin ich nicht“, versicherte Cruzia rasch. „Aber wieso hat Carla das interessiert? Peter hat mich das nie gefragt, deshalb haben wir auch nie darüber gesprochen. Aber Carla wollte das unbedingt wissen?“

„Na, nicht unbedingt“, schwächte Lucie ab. „So kam es mir jedenfalls nicht vor. Es war halt eine eher allgemeine Neugierde, die Frau betreffend, die ihrer angeblichen Tochter so sehr ähnelte.“

„Ach, egal, Lucie, jetzt ist ja alles soweit geklärt. Du weißt jedenfalls Bescheid. Ich glaube auch kaum, daß Carla hier wieder auftaucht.“

Lucie verzog schmerzlich das Gesicht.

„Einerseits geht damit eine gute Kundin verloren, andererseits... Unter solchen Umständen verzichte ich liebend gern auf eine Kundin. Selbst wenn sie wiederkommt: Ich werde sie ernsthaft fragen, was das Ganze sollte. Ich werde ihr jedenfalls nichts mehr verkaufen. Sie bekommt hier von mir sogar Hausverbot.“

„Soweit brauchst du wahrscheinlich gar nicht zu gehen – falls sie überhaupt hier auftauchen sollte. Sie muß ja damit rechnen, daß wir inzwischen uns darüber unterhalten haben.“

Lucie streckte ihr spontan die Rechte hin.

„Wieder Freunde?“

„Aber ja“, lächelte Cruzia und schlug ein. „Ich habe keinen Augenblick daran gezweifelt. Du konntest ja nicht wirklich ahnen, was dahintersteckte, und hast dir halt nichts dabei gedacht.“

„Ich kann dir gar nicht sagen, wie froh ich bin, daß du das auch so siehst, Cruzia!“

Lucie kam hinter dem Tresen hervor, trat zu Cruzia und umarmte sie herzlich.

Cruzia spürte ihren Körper, die Wärme dieses Körpers, das in ihm brodelnde Leben - und der Hunger übermannte sie schier. Sie spürte, wie sich etwas in ihr veränderte. Sie wollte es nicht. Sie verstand es noch nicht einmal. Dieser Hunger...

Ihre Augen weiteten sich entsetzt. Lucie bekam nichts davon mit.

Cruzia schaute in den Spiegel, der sie beide wiedergab, umschlungen wie ein Liebespaar. Sie sah ihre eigenen, geweiteten Augen, ihr leichenblasses Gesicht, auf dem sich das blanke Entsetzen zeigte.

Sie keuchte unwillkürlich.

Da floß etwas in sie, aus dem Körper von Lucie.

Alles in ihr begehrte dagegen auf. Sie wollte das nicht. Dieser unheimliche Hunger... Ächzend löste sie sich von Lucie.

„Du drückst einen ja halbtot!“ behauptete sie, nur um etwas zu sagen, damit Lucie sich nicht wunderte, warum sie jetzt zurückgestoßen wurde.

„Ach, verzeih, Kind, aber ich bin manchmal wirklich zu ungestüm. Vor allem, wenn ich mich so unbändig freue. Du bist mir wirklich ans Herz gewachsen. Unsere Freundschaft ist mir sehr viel wert. Ich könnte es nicht ertragen, wenn etwas zwischen uns stehen würde.“

Vorhin hatte Lucie noch eine frische Gesichtsfarbe gehabt. Jetzt wirkte sie blaß. So blaß wie Cruzia vordem.

Cruzias Linke vergrub sich unterhalb der Herzgegend. Sie spürte, daß ihr Herz wie rasend schlug, obwohl ihr äußerlich nichts davon anzumerken war, wie aufgewühlt sie sich fühlte.

Sie schaute an Lucie vorbei in diesen Spiegel.

Ihre eigene Blässe war tatsächlich und vollständig gewichen. Ihr Gesicht wirkte wieder frischer. Als hätte sie sich mal ordentlich ausgeschlafen.

Und der Hunger war verschwunden. Oder hockte er nur irgendwo im Untergrund, im Verborgenen, darauf lauernd, wieder wie ein Untier über sie herzufallen?

Ich muß unbedingt heim, etwas essen und etwas trinken, redete sie sich ein. Konnte man denn nicht immer wieder nachlesen, daß bei Entzug von Schlaf, Nahrung und Flüssigkeit der Mensch zu halluzinieren begann? Nein, sie wurde nicht etwa verrückt, sondern es lag sicherlich nur daran. Vor lauter Trauerschmerz hatte sie sich selbst tagelang und vor allem nächtelang vernachlässigt. Da war es kein Wunder, daß sie sich jetzt so seltsam fühlte – und vor allem, daß sie andauernd seltsame, unerklärliche Dinge zu erleben glaubte. Wahrscheinlich war ihr sogar Peter kein einziges Mal erschienen, sondern sie hatte es sich nur eingebildet.

Irgendwie beruhigte sie jetzt diese Vorstellung.

Aber Lucie schien es dafür schlechter zu gehen.

„Ist was mit dir?“ erkundigte sich Cruzia unwillkürlich.

Lucie lächelte ein wenig verzerrt.

„Ach, ich weiß auch nicht. Die ganze Aufregung halt. Ich fühle mich irgendwie erschöpft.“ Sie warf einen Blick auf die Wanduhr. „Ich bin sicherlich auch ein wenig überarbeitet. Wird wirklich Zeit, daß du wieder kommst und mich entlastest!“ Es hatte wie ein Scherz klingen sollen, doch das mißlang ihr. „Jedenfalls, wenn weiterhin hier alles tote Hose bleibt heute, mache ich den Laden früher zu, gehe nach Hause und ruhe mich mal ordentlich aus!“

Beinahe hätte Cruzia widersprochen, indem sie gesagt hätte: „Aber vorhin, als ich kam, ging es dir doch noch blendend?“ Sie verkniff es sich im letzten Moment.

„Gut, Lucie, wenn es dir recht ist, komme ich gleich morgen früh?“

„Ist mir recht. Klar, Cruzia. Und dann werden wir auch noch mehr Zeit haben, uns zu unterhalten. Falls es die Kunden nicht verhindern!“ fügte sie augenzwinkernd hinzu.

Cruzia nickte ihr noch lächelnd zu, hob die Hand zum Gruß und wandte sich zum Gehen.

Sie strebte dem Ausgang zu. Dabei war es ihr, als würde jemand davorstehen und neugierig hereinspähen. Es war nur ein Schatten. Allerdings hatte dieser Schatten ein Gesicht. War es das Gesicht von Peter?

Noch bevor sie genauer hinsehen konnte, war die Erscheinung auch schon wieder verschwunden.

Cruzia trat vor den Laden und saugte tief die kühle Luft ein. Sie war zwar als Stadtluft nicht ganz so frisch, aber jetzt erschien sie ihr so köstlich wie Luft nur sein konnte.

*


Krampfhaft versuchte Cruzia beim Weitergehen, zu verdrängen, was in der Boutique vorgefallen war.

Ja, war denn überhaupt etwas vorgefallen?

Hätte sie es beschreiben sollen, wäre sie unfähig gewesen, es in Worte zu fassen. Deshalb dachte sie lieber nicht länger darüber nach. Obwohl ihr das Verdrängen nicht so recht gelingen wollte.

Ihr Herzschlag war deutlich beschleunigt. Sie fühlte sich unruhig, irgendwie sogar ein wenig verschreckt. Nach den letzten Tagen der Trauer und des Schmerzes hatte sich irgendwie ihre gesamte Welt verändert. Um nicht zu sagen: Sie stand kopf! Nicht nur der tragische Verlust ihres über alles geliebten Peter, sondern all jene Merkwürdigkeiten. Eigentlich hatte es damit begonnen, daß ihr Peter auf dem Friedhof erschienen war. Dann war das eine zum anderen gekommen, und nichts davon - wirklich nichts! – war vernünftig erklärbar. Alles Dinge, die eigentlich unmöglich erschienen. Davon reihte sich ein Ereignis an das andere.

Und zuletzt das Erlebnis im Laden ihrer Freundin!

Was war dort geschehen?

Jetzt dachte sie doch wieder darüber nach, obwohl sie sich dagegen zu wehren versuchte: Wieso hatte sich Lucie plötzlich so elend gefühlt? Sie hatte erschöpft gewirkt, als habe sie eine ganze Nacht durchgemacht und wäre auch am Morgen danach nicht zur Ruhe gekommen. Dabei hatte sie ganz normal gewirkt, als Cruzia in die Boutique gekommen war.

Cruzia schüttelte heftig den Kopf, um all diese Gedanken endlich los zu bekommen. Es nutzte zwar nichts, aber endlich hatte sie das Haus erreicht, in dem sie wohnte.

Sie legte den Kopf in den Nacken und schaute hinauf, zum dritten Stock. Dort war ihre kleine, bescheidene Wohnung. Aber für ihre Ansprüche genügte sie voll und ganz. Sie war nahe ihres Arbeitsplatzes, und auch Peter hatte sich bei ihr wohlgefühlt. Sie waren die meiste Zeit bei ihr daheim gewesen. Wenn sie nicht gerade irgendeine Disko unsicher gemacht hatten. Nur ein paarmal war sie mit ihm bei seinen Eltern gewesen und dann immer nur für relativ kurz.

Sie fingerte die Hausschlüssel aus der Handtasche und schloß auf. Im Treppenhaus war es angenehm kühl. Das zeigte ihr erst, daß es draußen für die Jahreszeit ungewöhnlich warm war. Dafür, daß am Vorabend ein solches Unwetter geherrscht hatte... Als würde frühzeitig der Sommer kommen. Da mußte sich der Körper erst darauf einstellen.

Oder hatte die Hitze, die sie in sich spürte, einen anderen Grund?

Und war da nicht schon wieder dieser eigenartige Hunger? Hoffentlich konnte sie ihn zügeln.

Andererseits: Eigentlich müßte ihr Kühlschrank wohlgefüllt sein. In den letzten Tagen hatte sie praktisch nichts davon verbraucht.

Jetzt freute sie sich auf ihre Wohnung und vergaß darüber weitgehend sogar all die düsteren Gedanken, die sie immer wieder heimsuchten.

Oben schloß sie auf und trat ein.

Endlich daheim, jubelte sie innerlich.

Sie schloß hinter sich die Tür und eilte schnurstracks in die Küche. Sie riß den Kühlschrank auf, und noch während sie es tat, spürte sie den Hunger in ihrem Innern stärker werden.

Sie sah all die Köstlichkeiten im Kühlschrank, aber seltsamerweise verspürte sie auf nichts Spezielles Appetit. Obwohl der Hunger sogar noch wuchs.

Es war dieser eigenartige Hunger. Sie hatte ihn zum ersten Mal verspürt vor dem Haus der Harris. Da hatte sie sich noch darauf gefreut, vielleicht zum Abendbrot eingeladen zu werden von Carla Harris.

Zuletzt in der Boutique. Vor allem, während Lucie sie so innig umarmt hatte.

Sie hatte das Gefühl, ihr Herz würde stehenbleiben.

Gab es denn da einen Zusammenhang? Vor der Umarmung, das war vor dem Hunger gewesen. Nach der Umarmung war der Hunger vorübergehend gezügelt gewesen, aber Lucie hatte sich ziemlich schlecht gefühlt. Als würde sie eine schlimme Krankheit ausbrüten.

Cruzia brach der kalte Schweiß aus. Sie hatte auf einmal Angst, schreckliche Angst. Nicht vor irgend etwas, sondern vor... sich selber!

Wie hätte sie es jetzt noch länger leugnen können, daß es da einen Zusammenhang gab, wie auch immer geartet? War sie denn schuld an dem Zustand von Lucie? Was hatte sie der Freundin denn angetan?

Verzweifelt wandte sie sich wieder dem Innern des Kühlschrankes zu. Sie griff wahllos hinein und förderte allerlei Leckereien zutage. Dabei achtete sie überhaupt nicht auf die Zusammenstellung. Es mußte einfach nur eßbar sein, ohne vorangehende komplizierte Zubereitung.

Als sie zufrieden war mit dem Ergebnis, warf sie die Kühlschranktür zu und riß die Packungen auf. Ohne Teller, ohne Besteck aß sie direkt aus der Verpackung, mit bloßen Händen. Der Hunger war so stark geworden, daß sie gar nicht mehr anders handeln konnte.

Ich habe schließlich tagelang nichts gegessen, redete sie sich ein. Da ist das ja gewissermaßen normal.

War es das wirklich?

Sie stopfte sich hinein, in einer Art und Weise, daß sie sich dabei selbst äußerst fremd vorkam. Nein, das war nicht mehr sie. Niemals zuvor hatte sie so gierig in sich hineingeschlungen. Das war ja geradezu widerlich.

Aber es gelang ihr einfach nicht, sich zu zügeln.

Bis ihr Bauch so voll war, daß sie fast meinte, platzen zu müssen.

Der Hunger war jedoch immer noch da. Zwar einigermaßen gezügelt durch das Völlegefühl, aber nicht gestillt.

Und sie ahnte auf einmal, daß dieser Hunger sowieso unstillbar bleiben würde.

Ihre Hände verkrampften sich über dem deutlich vorgewölbten Bauch.

„Was ist bloß los mit mir?“ schluchzte sie auf.

Sie befand sich in einem Wechselbad der Gefühle. Einerseits hatte sie regelrecht Angst vor sich selber, dann dieser Widerwille, weil sie alles in sich hineingeschlungen hatte wie ein gieriges Tier. Und jetzt kam noch Übelkeit hinzu, eben weil sie so geschlungen hatte. In ihrem Bauch rumorte es bedrohlich.

Der Widerstreit der Gefühle ließ sie wieder schluchzen. Tränen rannen ihr die Wangen herunter.

Sie schaute umher. Was sollte sie bloß tun?

Sie ging zum Spülbecken und drehte das Wasser auf. Dann beugte sie sich tiefer und nahm den Wasserhahn direkt in den Mund. Sie trank mit tiefen Zügen. Das Wasser gluckerte in sie hinein. Ihr Bauch schwoll dabei immer stärker an. Es schmerzte höllisch, doch sie konnte nicht mehr aufhören, als würde ihr Mund an dem Wasserhahn festkleben. Bis sie das Wasser einfach abdrehte.

Mit aller Gewalt konnte sie sich jetzt endlich wieder losreißen. Sie packte den Wasserhahn mit beiden Händen, weil ihr auf einmal schwindlig wurde. Die ganze Küche drehte sich. Sie mußte befürchten, das Gleichgewicht zu verlieren und der Länge nach zu Boden zu stürzen.

Dabei weinte sie wieder.

„Ich - ich bin völlig durch den Wind!“ murmelte sie zwischendurch. Und bei weitem nicht zum ersten Mal: „Was ist bloß los mit mir?“

Sie kniff krampfhaft die Augen zu und riß sie wieder auf. Es hatte sich nichts verändert.

Carla und Sam Harris kamen ihr wieder in den Sinn. Dieser Hunger... Ihr eigenes seltsames Verhalten, das sie kaum kontrollieren konnte...

„Immerhin habe ich die ganze Nacht in diesem Haus verbracht und auch noch den halben Tag“, sinnierte sie laut. „Was habt ihr dabei mit mir angestellt? Ist das irgendeine Krankheit oder was?“

Ihr war jetzt so elend, daß sie sich an den Küchenmöbeln entlang zur Tür tastete. Die wenigen Schritte durch den Flur in ihr Schlafzimmer fielen ihr unendlich schwer. Als sie endlich ihr Ziel erreicht hatte, warf sie sich einfach bäuchlings auf ihr Bett.

Sie schloß fest die Augen und hatte nur noch einen Wunsch: Daß diese schreckliche Übelkeit endlich wieder aufhören möge. Vielleicht fand sie ja auch ein wenig Schlaf? Und wenn sie erwachte war vielleicht alles besser?

Kaum hatte sie das gedacht, als sie auch schon hinüberschwebte in eine Welt ohne Grenzen, eine Traumwelt. Doch diese war anders als sie es jemals erlebt hatte – ganz anders...

*


Finsternis. Nicht total, sondern durchbrochen von winzigen Lichtfünkchen. Wie ein Sternenmeer am klaren Südhimmel. Nur befand sich dieses Sternenmeer nicht über ihr, sondern... unter ihr.

Aber wie sollte sie unterscheiden, was oben und unten war, während sie schwerelos dahinschwebte?

Sie spürte es ganz einfach. Und wenn sie wollte, konnte sie hinschweben, wohin sie wollte. Sie konnte sich noch weiter von dem Sternenmeer entfernen, konnte aber auch genauso gut sich diesem nähern. Dabei wurden die einzelnen Lichtfünkchen rasch größer.

Cruzia hielt inne.

Das eigenartigste dabei war, daß sie genau wußte, in Wahrheit bäuchlings auf ihrem Bett zu liegen und dies alles nur zu träumen.

Und sie machte noch eine weitere Feststellung: Sobald sie sich diesen glitzernden und strahlenden Fünkchen näherte, entstand in ihr wieder dieser unerklärliche Hunger. Sie war einfach nicht in der Lage, sich diesen zu erklären. Ein Gefühl, das völlig neu und ihr daher völlig unbekannt war.

Trotz des unangenehmen Gefühls näherte sie sich jetzt dem Funkenmeer. Als die Lichter größer wurden, erkannte sie, daß sie keineswegs einheitlich waren. Sie unterschieden sich untereinander. Manche standen in Gruppen zusammen, andere wiederum weit voneinander entfernt. Es mußte sich um Millionen handeln. Vielleicht sogar Milliarden? Eben wie die Sterne an einem klaren Südhimmel, womit sie es von Anfang an verglichen hatte.

Doch das waren keine richtigen Sterne.

Der Hunger wuchs. Aus dem unangenehmen Gefühl wurde regelrecht Schmerz. Die Lichter vergrößerten sich zu leuchtenden Flecken. Blasse Flecken. Zu klein, um Einzelheiten erkennen zu können. Gab es überhaupt so etwas wie Einzelheiten?

Ja, es gab: Diese Flecken waren nichts anderes als... menschliche Gesichter!

Als sie das erkannte, stockte ihr der Atem. Dabei erst wurde ihr klar, daß sie in diesem seltsamen Nichts, in dem sie schwebte, tatsächlich atmen konnte. Als wäre es von Luft erfüllt. Oder war es nur, daß sie die Luft in ihrem Zimmer atmete, während sie da lag, ihr Geist von diesem eigenartigen Traum entführt.

Näher schwebte sie heran – näher an eine der Lichtergruppen.

Unterschiedliche Gesichter. Der Hunger pochte in ihr und quälte sie. Es war ihr, als würde dieses Hungergefühl von den Gesichtern erst verursacht werden. Wie war das möglich? Oder bildete sie sich das mit ihrem verwirrten Geist nur ein?

Es ist doch nur ein Traum, versuchte sie sich zu beruhigen. Vergeblich. Der Hunger war jetzt so stark, daß er ihr Übelkeit verursachte. Aber war ihr vor dem Einschlafen nicht sowieso schon übel gewesen?

Sie konzentrierte sich auf die Gesichter. Erwachsene und Kinder. Eine Familie anscheinend. Sie befanden sich nah beisammen. Es gab nur ihre Gesichter in der Schwärze. Es waren keine Körper zu erkennen, auch keine wie auch immer geartete Umgebung.

Cruzia schwebte weiter, zur nächsten Gruppe. Diese war größer, viel größer. Mindestens zwanzig Gesichter, unregelmäßig verteilt. Wie zwanzig Menschen in einem Raum, wo sie sich versammelt hatten. Dabei bewegten sie sich nicht. Wie in einer Kneipe etwa. Obwohl davon nichts zu sehen war. Eben nur die Gesichter waren zu erkennen.

Noch näher heran schwebte Cruzia.

Da überwältigte sie der Hunger. Sie glitt näher heran als beabsichtigt und spürte gleichzeitig, daß etwas von den Gesichtern zu ihr herüberfloß, das den Hunger zu stillen begann.

Erschrocken fuhr sie zurück. Der Eindruck verschwand sofort wieder.

Cruzia lauschte in sich hinein. Tatsächlich, der Hunger war nicht mehr ganz so quälend.

Verwirrt schwebte sie zu einer anderen großen Gruppe. Sie war sogar noch viel größer. Die Gesichter standen nicht starr im finsteren Raum, sondern bewegten sich unabhängig voneinander. Wie Kunden in einem Kaufhaus etwa, von dem allerdings nichts zu sehen war.

Wieder wagte es Cruzia, näher zu schweben. Diesmal konnte sie den sprunghaft stärker werdenden Hunger tatsächlich zügeln. Er war nämlich nicht mehr ganz so stark wie vorhin. Sie konnte sich den Gesichtern soweit näher, daß sie alles in ihnen genau sehen konnte. Sie sah die Augen, die suchend umherirrten. Die Augen sahen Dinge, die Cruzia verborgen blieben. Als hätten die Menschen sich Ganzkörperkostüme angezogen, ganz in schwarz gehalten, und ständen vor einem schwarzen Hintergrund. Damit man lediglich ihre hellen Gesichter sehen konnte. Ein sehr eigenartiges Erlebnis für Cruzia.

Ich träume nur, versuchte sie abermals, sich einzureden.

Ja, ein Traum – eine Art Traum zumindest. Mehr nicht? Das bezweifelte sie irgendwie. Denn irgendwie hing es mit ihrem unerklärlichen Hunger zusammen...

Sie machte die Probe aufs Exempel. Jetzt war sie so nahe an den Gesichtern – zumindest an denen, die sich direkt vor ihr befanden -, daß sie jegliche Reaktion ganz genau daraus ablesen konnte: Cruzia ließ ihren Hunger wieder zu. Nur kurz. Und schon wieder spürte sie, wie etwas Unerklärliches von den Gesichtern zu ihr herüberfloß, unsichtbar, jedoch deutlich spürbar. Sie ließ es nur ganz vorsichtig zu, und doch bemerkte sie die Reaktion in den Gesichtern. Das war niemals nur Einbildung. Das war Realität. Sie zapfte etwas ab von den Gesichtern, was man vielleicht mit Energie umschreiben konnte. Lebensenergie? Zumindest etwas ähnliches, obwohl Cruzia noch niemals zuvor von so einem Vorgang gehört hatte. Und diese Energie fehlte den Gesichtern daraufhin. Es war ja nur wenig. Also fühlten sich die betroffenen Menschen nur ein wenig geschwächt und würden sich rasch von diesem kleinen Schwächeanfall erholen. Sie würden sich wahrscheinlich fragen, was denn plötzlich los sei mit ihnen. Sie würden vielleicht annehmen, zu lange in der typischen Kaufhausluft verbracht zu haben. Vielleicht würden sie anschließend in das Cafe gehen, um sich zu stärken. Doch niemand würde auch nur im entferntesten auf die Idee kommen, es könnte mit jemand anderem zusammenhängen, zum Beispiel mit... Cruzia!

Diese Erkenntnis war für sie wie ein Schock. Sie bewegte sich so schnell von den Gesichtern weg, wie sie nur konnte. Die Gesichter rasten regelrecht vor ihr davon, bis sie wieder soviel Abstand gewonnen hatte, daß alles wie ein unendliches Sternenmeer wirkte.

Jeder Stern ein Menschengesicht? Jedes Menschengesicht stellvertretend für einen lebenden Menschen?

„Was geht hier vor?“ wollte sie schreien, doch in diesem Traum gab es keinen Laut, auch keine Stimme.

Ein Traum? Wirklich nur ein Traum? Sie bezweifelte das endgültig, und das wühlte sie so sehr auf, daß sie schlagartig erwachte.

*


Cruzia lag immer noch bäuchlings auf ihrem Bett, wie sie sich überzeugte. Aber die Übelkeit war verschwunden.

Ächzend drehte sie sich auf den Rücken. Ihre Hände legten sich auf den Bauch, der immer noch bedenklich angeschwollen war. Es schmerzte ein wenig, aber das war auszuhalten. Sie spürte, daß sie zwar ganz schön übertrieben hatte, aber daß es sie nicht krank machen würde.

Müdigkeit übermannte sie. Sie wollte sich noch in Gedanken mit dem Erlebten beschäftigen, wollte zumindest versuchen, dies alles zu begreifen, was ihr wahrscheinlich sowieso nicht gelingen konnte, doch der Schlaf verhinderte dies.

Und es wurde ein traumloser Schlaf mit unbestimmbarer Länge.

Als sie schlagartig daraus wieder erwachte, konnte sie nicht sagen, wie lange sie geschlafen hatte. Es konnten inzwischen sowohl Sekunden als auch Stunden vergangen sein. Vielleicht sogar Tage?

Mit noch geschlossenen Augen tastete sie über ihren geschwollenen Bauch.

„Nein, höchstens Stunden“, hörte sie ihre leise Stimme und öffnete die Augen.

Es war dunkel im Zimmer. Die Übergardinen waren zwar aufgezogen, doch draußen herrschte bereits finstere Nacht. Sie erinnerte sich: Es war noch lange Tag gewesen, als sie eingeschlafen war.

Cruzia lauschte in sich hinein. Sie fühlte sich großartig, als habe sie jetzt endlich allen fehlenden Schlaf nachgeholt. Es gab auch keinerlei Hunger mehr. Sie fühlte sich satt, ausgeruht und zufrieden.

Jetzt schaute sie sich in ihrem Zimmer um, denn ihr war etwas aufgefallen: Trotz der Dunkelheit konnte sie Einzelheiten erkennen. Sie mußte es nur wollen. Die Kommode in der dunkelsten Ecke zum Beispiel. Dort schminkte sie sich am liebsten. Der Schminkspiegel, die aufgereihte Kosmetika, die Bilder von ihren Eltern, gemeinsam mit ihr, aus glücklichen Tagen... Wenn sie wollte, konnte sie alles so genau sehen wie am hellichten Tag.

Hört das denn nie mehr auf? fragte sie sich verzweifelt. Was kommt als Nächstes?

Es brauchte nicht mehr zu kommen, denn es war schon da! Cruzia sah es erst, als sie ihren Blick zum Fußende ihres Bettes wandte.

Mit einem erstickten Laut zog sie die Beine an. Als würde das etwas nutzen. Ihre Augen weiteten sich entsetzt.

Es waren zwei Schatten. Einer war deutlich größer als der andere. Den Umrissen nach zu urteilen konnten es... Menschen sein. Aber wieso konnte sie nur die Schatten sehen, obwohl sie alles andere in ihrem Zimmer ganz genau erkennen konnte?

Die diffusen Schatten standen unbeweglich an ihrem Fußende. Cruzia wagte es wieder, die Beine auszustrecken. Hier lag sie nun, den Kopf erhoben, auf die Schatten starrend.

Sie schaffte es, die Ellenbogen unter ihren Körper zu schieben und sich damit aufzustützen. Als könnte sie dadurch besser sehen, kniff sie die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen.

„Peter?“ fragte sie in die Dunkelheit.

„Ja, Cruzia, ich bin es“, antwortete der eine, größere Schatten. Es war eher ein Wispern als ein Sprechen. Es schien auch keineswegs über die Ohren zu ihrem Verstand zu dringen, sondern direkt in ihrem Kopf aufzuklingen.

Kaum hatte Peter ausgesprochen, als in der Kopfgegend ein blasses Schimmern entstand. Aus dem Schimmern wurde rasch das Gesicht von Peter, die vertrauten Züge.

Und wieder dieser unendlich traurige Blick!

„Wer – wer ist der andere Schatten, neben dir?“ erkundigte sich Cruzia mit brüchiger Stimme.

„Das bist du, Cruzia.“

„Ich?“ rief sie erschrocken aus.

Auch dort bildete sich in der Kopfgegend ein blasser Schimmer – und daraus wurde ihr eigenes Gesicht.

Die traurigen Augen betrachteten sie.

„Nein, nicht ganz richtig“, sagte das Gesicht mit ihrer Stimme. „Ich bin nicht du. Ich war Petra und wurde zu Cruzia, weil meine Eltern das so wollten.“

„Aber – aber es gibt dich doch gar nicht“, widersprach Cruzia schwach.

Peter meldete sich wieder zu Wort: „Es gibt uns beide – und es gibt uns wiederum nicht mehr. Wie haben beide gelebt – und sind jetzt tot. Doch es quält uns. Wir sind gequälte Seelen, die keine Ruhe finden dürfen. Das mußt du begreifen lernen, Cruzia. Nur so kannst du uns helfen.“

„Willst du das überhaupt – uns helfen?“ erkundigte sich ihr Ebenbild bang.

„Helfen? Aber wie? Was – was muß ich denn tun?“ begehrte Cruzia auf.

„Frage unsere Eltern. Nur sie können es dir erklären. Zwinge sie, dir die Wahrheit zu sagen!“ verlangte Peter.

„Wie denn: Das letzte Mal hast du mich noch vor ihnen gewarnt, mich gebeten, ihnen nicht zu trauen?“

„Da war mir das auch noch als berechtigt erschienen, Cruzia, aber du hast dich inzwischen geändert.“

„Ich habe mich geändert? Wieso? Inwiefern?“

„Du bist jetzt so wie sie. Du bist ihresgleichen. Du bist nicht mehr die Cruzia, die ich so sehr geliebt habe, bis in den Tod hinein.“

„Was redest du denn da für wirres Zeug?“ klagte ihn Cruzia an. „Ich habe mich nicht verändert. Ich bin immer noch die gleiche Cruzia, die du geliebt hast und die dich immer noch liebt.“

„Es mag sein, daß du mich noch liebst, Cruzia, aber es ist eine unerfüllbare Liebe. Ich kehre nicht wieder zu dir zurück. Ich kann es nicht. Ich bin tot, nur noch eine gequälte Seele, und du hast keinen Begriff davon, wie sehr es mich quält.“ Er wandte kurz den Blick zur Seite, zu Cruzias Ebenbild. „Wie sehr es uns quält!“ ergänzte er.

Cruzia wollte noch etwas sagen, doch da begannen die Schatten, sich aufzulösen.

„Frage unsere Eltern!“ klang es im Chor verwehend zu ihr hin, und dann waren sie verschwunden.

Cruzia sprang aus dem Bett und lief zum Fußende. Sie untersuchte den Boden. Sie durchsuchte am Ende das ganze Zimmer.

Die beiden Schatten blieben verschwunden, als wären sie für immer von ihr gegangen.

Einerseits flößte das Erlebte ihr Angst ein, andererseits wünschte sie sich nichts sehnlicher, als daß die beiden Schatten wieder zurückkehren würden.

Erst als sie sich wieder halbwegs beruhigt hatte, dachte sie zurück an das, was Peter gesagt hatte.

Sie sollte sich seinen Eltern anvertrauen? Ausgerechnet diesen?

Sie schaute zum hohen Spiegel, der an ihrem Schrank hing, sah sich selbst darin, so deutlich, als hätte sie das Licht angeknipst. Konnte sie tatsächlich neuerdings im Dunkeln sehen?

Ihre erschreckt wirkenden Augen erwiderten aus dem Spiegel ihren Blick.

*


Die Unruhe, die sie jetzt packte, trieb sie regelrecht aus dem Haus. Sie zog sich nicht einmal um, geschweige denn, daß sie sich erst noch frisch machte. Sie hatte es eilig, sehr eilig. Sie wollte zunächst zum Friedhof. Nicht, weil sie zum Grab von Peter wollte, sondern weil dort auf dem Parkplatz immer noch ihr Auto stand. Sie konnte es ja wohl schlecht weiterhin dort stehenlassen.

Unterwegs wurde ihr klar, wieso sie nicht gleich zum Haus der Harris eilte, sondern erst ihr Auto holen wollte: Damit würde sich die Konfrontation mit den beiden verzögern. Sie hatte irgendwie Angst davor. Einerseits wollte sie endlich Erklärungen haben für all die eigenartigen, um nicht zu sagen erschreckenden Dinge, die ihr seit gestern widerfuhren. Andererseits hatte sie eben Angst vor der Wahrheit.

Aber würde es tatsächlich die Wahrheit sein? Waren die beiden nicht irgendwie... verrückt? Was würde denn wirklich passieren? Konnte sie denn der Erscheinung eines Toten vertrauen?

Zwei Toten, berichtigte sie sich.

Und bei diesem Gedanken blieb sie so abrupt stehen, als wäre sie gegen eine unsichtbare Mauer gerannt.

Zwei Toten? Aber jene Tochter hatte nie gelebt! Oder etwa doch? Hatte Peter nicht angedeutet, irgendwie, daß seine Schwester gestorben sei, so wie er. Nein, nicht genauso vielleicht, das hatte er sicherlich nicht gemeint, aber...

Cruzia winkte mit beiden Händen ab und schüttelte gleichzeitig den Kopf. Dann eilte sie weiter. Auf die erstaunten Gesichter zufälliger Passanten achtete sie gar nicht. Sie hatte sowieso kein Auge mehr für die Umgebung und das, was um sie herum vorging. Sie wollte einfach nur zu ihrem Auto und mit diesem dann anschließend zu den Harris fahren. Um dort vielleicht endlich Antworten auf die tausend Fragen zu erhalten, die sie quälten.

Und hatten die beiden sich nicht schon am Mittag darüber unterhalten, ob sie ihr, Cruzia, die Wahrheit sagen sollten?

Welche Art von Wahrheit würde das sein?

Auf jeden Fall würde sie darauf bestehen, daß sie ihr alles erzählten, was sie wissen wollte. Unter anderem auch, wieso Peter – zumindest seine Erscheinung – meinte, seine Schwester habe irgendwie schon einmal gelebt...

Es war kurz vor Mitternacht, als sie ihr Ziel erreichte. So spät schon? Sie schaute noch einmal hinüber zum Kirchturm und dort auf die Uhr, als wäre diese von einem hellen Spotlight beleuchtet: Tatsächlich!

Sie schaute auf den Friedhof auf der anderen Seite. Wenn sie wollte, war alles wie taghell, obwohl sie gleichzeitig wußte, daß es dort schon ziemlich dunkel war. Es brannte nur auf dem Parkplatz Licht, das kaum ausreichte, bis hinüber zu leuchten. Bis zum Grab von Peter vielleicht noch. Aber auch dort kam nur noch sehr wenig davon an, wie sie wußte.

Sie stieg in ihr Auto und startete den Motor. Dieser kam ohne Murren. Dann fuhr sie los.

Sie mußte sich gewaltsam zusammenreißen, um unterwegs keinen Unfall durch Unaufmerksamkeit zu bauen. Dabei gelang es ihr sogar, nicht andauernd über alles das nachzudenken, was sie so sehr quälte.

Gequälte Seelen? Peter und seine Schwester Petra?

Ich auch, dachte sie voller Ingrimm und gab Gas.

*


Cruzia stellte den Wagen direkt vor dem Haus der Harris ab. Vom Wagen der Harris war nichts zu sehen. Sam hatte ihn wahrscheinlich in die Garage hinter dem Haus gefahren. Oder war er gar damit unterwegs?

Ihr Herz pochte ihr schier bis zum Hals, als sie die Haustür erreichte und die Hand hob, um zu klingeln.

Einen Fingerbreit vor der Klingel verharrte sie. Cruzia zögerte. Sie legte den Kopf in den Nacken und schaute an dem Haus entlang. Sie konnte nirgendwo Licht erkennen. Als sei das Haus unbewohnt.

Was, wenn die Harris jetzt tatsächlich abwesend waren? Dann würde es keine Antworten geben auf all ihre Fragen.

Aber gab es denn überhaupt gültige Antworten – von zwei, die offensichtlich nicht ganz Herr ihrer Sinne waren?

Entschlossen drückte sie jetzt den Klingelknopf. Irgendwo im Innern läutete es.

Bange Sekunden später hörte Cruzia Schritte, die sich aus dem Innern der Haustür näherten.

Dann wurde die Haustür aufgemacht, beinahe zaghaft.

Sam stand vor ihr. Hinter ihm tauchte Carla auf.

Bevor sie noch etwas sagen konnten, drängte sich Cruzia einfach hinein, ohne jeglichen Gruß. Sie drängte beide zur Seite, zwängte sich an ihnen vorbei und betrat den kurzen Flur, der zur Wohnstube führte. Sie ging weiter, bis sie von dem Tisch gestoppt wurde, der inmitten stand. Dort erst wandte sie sich den beiden zu.

Mehr am Rande registrierte sie die Tatsache, daß hier keinerlei Licht brannte. Es hätte normalerweise weitgehend Finsternis herrschen müssen, da sämtliche Übergardinen vorgezogen waren, aber Cruzia konnte trotzdem alles ganz genau sehen.

Sie musterte die bleichen Gesichter der beiden, die es nicht wagten, ihre Blicke zu erwidern.

„Peter hat mich gebeten, euch zu fragen“, begann Cruzia knapp. „Also frage ich: Was ist los mit mir?“

Die beiden wechselten einen raschen Blick. Dann stellte Carla die Gegenfrage: „Du siehst uns deutlich, obwohl das Licht nicht eingeschaltet ist?“

„Ja!“ antwortete Cruzia, ohne zu zögern.

Erneut wechselten sie einen bedeutsamen Blick.

Sam räusperte sich.

„Dann ist es endlich an der Zeit, daß du die Wahrheit erfährst. Ja, du mußt sie sogar erfahren, ehe es eine Katastrophe gibt.“

„Eine – Katastrophe?“

„Ja, wenn du deinen Hunger nicht zügeln kannst! Die Menschen würden auf dich aufmerksam werden. Sie würden dich jagen – und umbringen! Wir sind zwar unsterblich, aber nur, wenn wir nicht eines gewaltsamen Todes sterben müssen. So wie Peter.“

„Und wie eure Tochter?“

Carla wankte plötzlich, als würde sie jeden Augenblick zusammenbrechen.

„Sie – sie hatte gar keine Chance“, murmelte sie wie verstört. „Sie war doch so winzig... Wir wußten doch nicht, daß ich Zwillinge austrug. Wir dachten, es sei ein Einzelkind. Und dann kam zuerst Peter, aber wir merkten, daß etwas nicht stimmte. Es kam noch ein Kind zur Welt. Ein Mädchen. Aber es war ganz blau angelaufen, aus Sauerstoffmangel.“

„Wir hätten die Geburt nicht allein bewältigen dürfen. Wir hätten zumindest vorher einmal einen Arzt aufsuchen müssen“, fügte Sam hinzu. „Aber wir durften es doch nicht wagen. Kein Arzt darf uns untersuchen. Er könnte doch etwas bemerken.“

„Und als wir das blau angelaufene winzige Baby sahen, rief Sam doch einen Arzt. Einen Notarzt. Er mußte ja nicht uns untersuchen - oder mich“, führte Carla weiter aus, „sondern nur das Baby. Und in diesem Stadium sind wir von normalen Menschen nicht zu unterscheiden.“

„Von normalen Menschen?“ echote Cruzia verwirrt.

„Ja, so wie du – vorher. Und so wie Peter, vor seinem Tod. Wir entwickeln uns erst weiter, wenn wir mindestens fünfundzwanzig sind. Du bist die absolute Ausnahme, Kind, denn du bist eigentlich noch viel zu jung dafür. Die Vorgänge der Vergangenheit, der schmerzliche Verlust deiner Eltern und dann auch noch Peter... Das hat das bei dir erheblich beschleunigt, wie man sieht. Manche werden sogar über dreißig, bevor es passiert. Bei Peter war es jedenfalls höchste Zeit, daß wir ihn aufklärten. Auch dich betreffend. Nicht daß er noch zu einer Gefahr für dich geworden wäre. Denn wenn der Hunger kommt, den wir anfangs nicht zügeln können, bei einem Partner, der sich noch nicht verwandelt hat... Es hätte dich womöglich umgebracht. Eine intime Situation, wenn man sich ganz nahe ist... Dann der Hunger...“

Ihr Atem ging keuchend.

Aber auch der Atem von Cruzia ging jetzt keuchend. Sie dachte an ihre Freundin, an Lucie. Bei dieser Umarmung... Der Hunger... Sie hätte Lucie dabei womöglich sogar umbringen können?

„Nein!“ stieß sie entsetzt hervor.

„Doch, Kind, doch!“ widersprach Sam heftig. „Jetzt, da du es am eigenen Leib erfahren hast, kannst du uns glauben. Vorher... Wenn wir vorher versucht hätten, es dir zu erklären... Wir haben es bei Peter versucht, um das Schlimmste zu verhindern, aber er war in Wirklichkeit noch gar nicht soweit. Er hat es nicht begreifen wollen. Ganz im Gegenteil: Als er erkannte, daß wir ihm die Wahrheit über uns sagten, drehte er regelrecht durch. Er rannte aus dem Haus, stieg in seinen Wagen... Du weißt, wie es geendet hat! Er – er lebt nicht mehr! Die Wahrheit hat ihn in den Tod fahren lassen.“

„Die Wahrheit?“ ächzte Cruzia. „Aber – aber was habe denn ich mit alledem zu tun? Was habt ihr mit mir angestellt, als ich hier übernachtet habe? Sprecht! Ihr habt mich irgendwie angesteckt mit eurer Krankheit. Ihr seid doch – seid doch krank?“

Erschüttert starrten die beiden sie an.

„Wir haben dir gar nichts getan, Cruzia, Kind“, meldete sich Carla als erste zu Wort. „Du bist die Tochter der Prunata. Weißt du nichts über deine Familie?“

„Es – es gab nur meine Eltern und mich“, antwortete Cruzia.

„Es gibt noch mehr aus eurer Familie, aber deine Eltern wollten mit niemandem mehr Kontakt. Wir sind allesamt untereinander eher kontaktscheu, immer in der Furcht, falls einer mal auffliegen sollte, daß er sonst andere mit in das Verderben reißen könnte. Deshalb kennst du nichts von deiner Familie. Deine Eltern hatten auch nicht mehr die Chance, es dir zu erklären. Sie kamen ja bei diesem Flugzeugunglück vor Jahren ums Leben. Daran siehst du, auch wir können letztlich sterben, wenn wir nicht vorsichtig sind.“

„Aber – aber was sind wir denn eigentlich? Was, um alles in der Welt, ist das für ein Hunger? Ich - ich habe noch niemals zuvor auch nur von etwas Ähnlichem gehört, geschweige denn...“ Ihre Stimme versagte ihr den Dienst. Deshalb brach Cruzia ab.

Sie griff sich wie würgend an die Kehle. Dabei hatte sie das Gefühl, im nächsten Augenblick müßte sich der Boden unter ihren Füßen öffnen, um sie zu verschlingen.

„Wir sind die Lebensfresser“, murmelte Carla kaum hörbar. „Wir haben es nicht selber gewollt. Wir haben es uns nicht selber ausgesucht, aber die normalen Menschen würden uns dafür tödlich hassen, wenn sie davon wüßten. Deshalb darf niemals ein normaler Mensch davon erfahren.“

„Ich – ich war in der Finsternis. Da waren viele Lichter. Die Lichter waren Gesichter. Unzählige Gesichter. Ich hatte solchen Hunger, und dann...“ Es sprudelte regelrecht aus Cruzia hervor. Doch sie unterbrach sich wieder und starrte mit ungläubig geweiteten Augen das Ehepaar vor sich an.

„Das ist es.“ Carla nickte. „So ernähren wir uns. Aber auf diese Weise schaffen es nur die Besten, so wie du. Kein Wunder, du bist ja auch die echte Prunata. Du stammst unmittelbar von Graf Dracula ab. Er ist dein Ahnherr.“

„Dracula? Aber das ist doch nur ein Hirngespinst. Und ich bin doch kein Vampir oder so etwas!“

„Nein, kein Vampir, aber durchaus etwas Ähnliches. Auch Graf Dracula war kein Vampir. Er war so wie wir. Und er wurde von den Menschen der damaligen Zeit entlarvt, weil er zu unvorsichtig war. Er hat sich zu sicher gefühlt. Die Menschen kamen und haben ihn regelrecht hingerichtet. Nicht nur ihn, sondern die ganze Sippe, sofern sie greifbar war. Nur wenige konnten dem Massaker damals entrinnen. Unter anderem eben deine Eltern. Ich weiß vom Hörensagen, daß sie lange Zeit nicht gewagt haben, länger an einem einzigen Ort zu bleiben. Vor allem wollten sie niemals Kinder zur Welt bringen, für die sie verantwortlich gewesen wären. Sie wollten nicht, daß es noch mehr von unserer Art geben sollte, nach diesem schrecklichen Erlebnis. Doch dann, immerhin nach Jahrhunderten, kamst du zur Welt...“

„Meine Eltern waren damals schon...?“ Cruzia mochte es nicht glauben.

„Sie würden noch viele tausend Jahre leben können, wenn sie nicht vorher diesen gewaltsamen Tod gestorben wären. - Schau uns an“, verlangte Carla, „wir altern nicht. Sobald die Verwandlung beginnt, verändern wir uns nicht mehr äußerlich. Wir bleiben immer so. Deshalb ist es durchaus ratsam, nicht zu lange an einem Ort zu bleiben, sonst fällt man auf, und das kann gefährlich werden. Siehe am Beispiel deines... Großvaters Dracula.“

„Erst war er nur ein Ahnherr und jetzt ist er sogar mein Großvater?“ hielt ihr Cruzia vor.

„Verzeih, Cruzia, aber ich wollte dich nicht überfordern. Natürlich war er dein Großvater, denn er war der Vater deiner Mutter. Sie heiratete deinen Vater, einen gebürtigen Prunata.“

Cruzia war jetzt so schwindlig, daß sie sich in einen Sessel fallen lassen mußte.

Dann fiel ihr etwas ein.

„Petra!“ Sie fixierte Carla mit einem unerbittlichen Blick. „Sie ist also nach der Geburt gestorben? Peter und sie waren Zwillinge?“

Carla wich ihrem Blick aus. Sie wankte näher und ließ sich Cruzia gegenüber in den Sessel fallen.

„Der Notarzt kam, aber es war zu spät. Petra hätte sofort nach der Geburt in einen Brutkasten gesteckt werden müssen. Man hätte sie künstlich beatmen müssen. Weißt du, Kind, es ist äußerst selten, daß unsereins Zwillinge bekommt. Es ist fast ausgeschlossen. Wir sind gewissermaßen nicht dafür geschaffen. Deshalb mußte das ja schiefgehen. Aber Peter war ganz normal entwickelt. Der Arzt hat ihn sorgfältig untersucht, aber nichts gefunden. Nur als er mich untersuchen wollte, habe ich das verweigert. Und später habe ich festgestellt, daß sich durch die Zwillingsgeburt in mir etwas zum Schlechten verändert hat: Wir können seitdem wirklich keine Kinder mehr bekommen.“

„Aber was sollte dieser Wahnsinn mit dem eigenen Zimmer für Petra, mit den Kleidern und so?“

„Es – es tut mir leid, aber ich – ich habe das bis heute nicht verwunden. Wir sind jedem normalen Menschen weit überlegen, aber ich bin in einem gänzlich unterlegen, indem ich keine Kinder mehr bekommen kann. Kein Arzt könnte mir helfen, weil ich eben anders bin als eine normale Menschenfrau. Einmal abgesehen davon, daß jeder Arzt den Unterschied bei einer Untersuchung herausfinden könnte.“

„Aber gibt es denn keine Ärzte, die unseresgleichen sind?“ erkundigte sich Cruzia.

Carla schüttelte den Kopf.

„Nein, natürlich nicht! Stelle dir die Nähe vor, die er zu seinen Patienten hätte. Und stelle dir vor, welche Gefahren das bergen würde. Sollte er denn zur tödlichen Gefahr für seine Patienten werden?“

Cruzia schloß ergeben die Augen. Sie dachte an ihre Freundin Lucie. Zwar würde sie tatsächlich wieder zu dieser zurückkehren, um bei ihr zu arbeiten... Aber sie würde in Zukunft immer vorsichtig sein müssen. Möglichst sollte sie die direkte Nähe zu Menschen vermeiden. Und wenn sie unvermeidbar war, mußte sie lernen, ihren Hunger zu zügeln, bevor sie Schaden anrichtete.

„Ich will das alles nicht!“ weinte sie.

Sam trat hinter sie und legte schwer seine Hände auf ihre zuckenden Schultern.

„Wir haben es uns nicht selber ausgesucht. Wir können es auch nicht ändern. Das einzige, was wir tun können, ist, uns zu zügeln, eben um keinen Schaden anzurichten. Wir sind weder gut noch böse, sondern wir sind halt, was wir sind. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Und wir alle haben mit der Zeit gelernt, damit umzugehen. Vor allem natürlich auch, damit wir niemals auffallen. Oder hast du jemals davon gehört oder gelesen, daß einer von uns aufgefallen wäre? Dracula war die traurige Ausnahme. Aber man sagt deinem Großvater nach, er sei ein blutrünstiger Vampir gewesen. Das war er natürlich ganz und gar nicht. Mache dir deswegen also keine Sorgen. Es ist ein böses Märchen, das über ihn erzählt wird, nichts weiter. Er hat in Wirklichkeit niemandem jemals bewußt geschadet. Er war halt nur zu unvorsichtig gewesen.“

Die Worte beruhigten Cruzia sichtlich.

Doch dann dachte sie wieder an Peter.

„Er ist mir mehrfach erschienen. Er hat mir erzählt, seine Schwester und er seien... gequälte Seelen. Sie leiden tatsächlich. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Aber wir könnte ich ihnen helfen? Und was könntet ihr dabei tun?“

Jetzt ließ sich auch Sam in einen der Sessel fallen. Er barg kurz sein Gesicht in den Händen. Als er die Hände wieder herunternahm, schimmerte es feucht in seinen Augen.

„Es ist nur, wie können nicht loslassen. Nicht, wenn es um Petra geht, aber auch nicht, wenn es um Peter geht.“

Cruzia schaute Carla an, die wieder einmal ihrem Blick auswich.

„Du nennst sie ja neuerdings Cruzia, nicht wahr?“

Carla nickte nur schwach.

Da beugte sich Cruzia vor und griff nach ihren beiden Händen.

Überrascht schaute Carla auf.

Cruzia drückte ihre beiden Hände ganz fest.

„Schau mich an, Carla..., Mutter!“

„Mutter?“ echote Carla verblüfft.

Cruzia nickte heftig. „Nur so können wir die beiden befreien, verstehst du denn nicht? Du mußt Petra loslassen. Sie ist eine gequälte Seele. Sie darf nicht mehr länger leiden. Laß sie frei, laß ihr den ewigen Frieden, den sie verdient. Sie hatte niemals die Chance, richtig zu leben. Ja, gib sie endlich frei. Ich bin ja jetzt bei dir. Ich bin deine Tochter. Wir müssen füreinander da sein. Ich bin für dich da, Carla – und für Sam. Ich bin eure Tochter, die ihr euch immer so sehr gewünscht habt. Und ihr helft mir, Peter loszulassen, damit auch er endlich seinen ewigen Frieden bekommt. Auch ihr müßt ihn loslassen. Haltet nicht beide Kinder fest und laßt sie dadurch leiden!“ Sehr eindringlich klangen ihre Worte.

Carla weinte. Es war eine regelrechte Tränenflut. Sie schaute Cruzia an und mochte gar nicht glauben, was sie soeben vernommen hatte.

Und Sam stand wieder auf, gesellte sich zu ihnen, ergriff ihre Hände und weinte gemeinsam mit ihnen.

Cruzia dachte an Peter. Sie entschuldigte sich in Gedanken bei ihm und war sicher, daß Peter das durchaus mitbekommen würde. Sie schloß die Augen und sagte mit monotoner Stimme:

„Wir müssen es gemeinsam tun, hört ihr? Gemeinsam!“

„Dafür sollten wir zu beider Gräber gehen!“ schlug Sam mit tränenerstickter Stimme vor.

Cruzia riß die Augen wieder auf.

„Beider Gräber?“

„Ja, Kind, du hast es in deiner unendlichen Trauer gar nicht bemerkt, aber neben dem frischen Grab von Peter gibt es noch ein älteres Grab. Es ist das Grab unserer Petra. Dort durften wir sie beerdigen, nach ihrem Tode so knapp nach ihrer Geburt.“

„Es ist überaus traurig, daß ihr beide Kinder verloren habt!“ sagte Cruzia mitfühlend.

„Aber dafür haben wir die beste Tochter dazu gewonnen, die wir uns vorstellen können!“ widersprach Carla – und jetzt war sie sogar zu einem zaghaften Lächeln imstande.

Alle drei standen auf.

„Gut, gehen wir!“ bestimmte Cruzia.

Gemeinsam schritten sie zur Tür. Sie verließen das Haus, und Cruzia bestand darauf, daß sie ihren Wagen nahmen.

Damit fuhren sie schnurstracks zum Friedhof.

Es war finstere Nacht. Nur auf dem Parkplatz brannten dürftig die Laternen. Aber die drei benötigten sowieso kein Licht, um alles das zu sehen, was sie sehen wollten.

Sam zeigte Cruzia, daß auch ein Schloß sie nicht aufhalten konnte. Er öffnete die Friedhofspforte ohne Anstrengung, allein mit seinem Willen.

Für Cruzia war es schwer vorstellbar, daß sie wirklich so vorsichtig sein mußten, damit sie niemals von den normalen Menschen durchschaut wurden. Aber wenn sie darüber nachdachte und erkannte, daß sie gar nicht in der Lage war, so etwas wie Gewalt gegen Menschen anzuwenden... Da fühlte sie sogleich ihre Hilflosigkeit. Nein, sie hätte keine Chance gehabt, wenn die Menschen sie heimgesucht hätten, und deshalb hoffte sie, daß es niemals dazu kommen würde.

Sie würde immer äußerst vorsichtig sein. Niemandem wollte sie schaden, und sie würde sich immer nur soviel Lebensenergie stehlen, wie es nötig war, und niemals zuviel!

Lucie sollte es in Zukunft nicht noch einmal so schlecht gehen wie nach ihrer Umarmung in der Boutique!

Mit diesen Gedanken erreichte sie gemeinsam mit dem Ehepaar Harris die beiden Gräber, von denen Cruzia jetzt erst das eine überhaupt bemerkt. Es stand der Name Petra Harris auf dem Grabstein. Tatsächlich.

Sam und Carla nahmen Cruzia in ihre Mitte. Sie standen engumschlungen an den beiden Gräbern und konzentrierten sich gemeinsam. Dadurch entstand so eine Art Séance, und sie erblickten vor ihrem geistigen Auge Petra, die so aussah wie Cruzia. Und sie sahen Peter.

Diese unendliche Trauer war aus ihren Augen verschwunden. Sie lächelten dankbar und winkten ihnen ein letztes Mal zu.

Und aus der Trauer, die immer noch in ihrer Brust gehockt hatte, wurde schlagartig Glück: Cruzia schaute ihre neuen Eltern an und lachte fröhlich.

Sie erwiderten das fröhliche Lachen. Auch sie waren jetzt glücklich, wußten sie doch: Jetzt wurde alles wieder gut – ja, sogar besser, als es jemals gewesen war!

ENDE

Verhängnis dunkler Seelen: 5 Romantic Thriller

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