Читать книгу Einer meiner Söhne - Anna Katharine Green, Anna Katharine Green, Kristine Kathryn Rusch - Страница 3
Erstes Buch
ОглавлениеErstes Kapitel.
An einem rauhen Herbstabend ging ich schnellen Schrittes die Avenue hinauf, als ich an der Ecke der Fünfzigsten Straße plötzlich zum Stillstehen veranlaßt wurde. Eine Kinderstimme hatte mich von der Straßentreppe eines der schönen Häuser aus angerufen, an denen mein Weg mich vorüberführte.
O lieber Herr! hörte ich ängstlich rufen, bitte, kommen Sie doch herein! Bitte, kommen Sie zu Großpapa! Er ist krank und braucht Sie!
Ueberrascht, denn ich kannte keinen von den Bewohnern dieses und der Nachbarhäuser, sah ich mich um. In der offenen Tür stand die zitternde Gestalt eines kleinen Mädchens, dessen liebreizendes, aber aufgeregtes Antlitz von einer Fülle goldener Locken umrahmt war.
Du irrst dich, liebes Kind! rief ich zu der Kleinen hinauf. Ich bin nicht der, für den du mich hältst. Ich kenne euer Haus gar nicht. Sage mir, wen du holen sollst, und wenn er hier in der Nähe ist, so will ich ihm sagen, daß er sofort zu deinem Großpapa gehen soll.
Aber damit war sie nicht zufrieden. Sie lief die Treppe herunter, packte mich mit kindlichem Ungestüm am Arm und rief: Nein, nein! Dazu ist keine Zeit! Großpapa sagte mir, ich solle den ersten Mann hereinbringen, den ich vorübergehen sähe. Sie sind der erste Mann. Kommen Sie!
Es lag etwas Eindringliches in ihrem Ton, und unwillkürlich gab ich ihrer Aufforderung nach und ließ mich von ihr nach der Treppe hinziehen. Aus der prunkvollen Ausstattung der Fassade konnte ich schließen, daß das Haus von einem sehr reichen Mann bewohnt war; ich fragte die Kleine:
Wer ist dein Großpapa? Wenn er krank ist, so sind doch die Dienstboten da ...
Aber weiter kam ich nicht; ungeduldig stampfte ihr kleiner Kinderfuß auf, und sie rief:
Großpapa wartet niemals! – Damit zogen ihre Händchen mich die Stufen der Treppe hinauf und zur offenen Tür hinein. »Wenn Sie nicht schnell machen, wird er glauben, ich hätte nicht getan, was er mir befahl.«
Wer hätte da nicht nachgegeben? Wie ich vom Eingang aus bemerkte, war das Treppenhaus mit verschwenderischer Raumentfaltung und mit großer Pracht angelegt. Die ganze Art der Einrichtung verriet sofort eine strenge Solidität und ungewöhnlichen Reichtum; so sonderbar das Erlebnis auch war, ich sah nichts dabei, was mich mit irgendwelchem Mißtrauen hätte erfüllen können. Ich trat also mit dem Mädchen in das Haus und machte die Tür hinter mir zu. Im Nu war das Kind durch die Halle gelaufen; vor einer Tür dicht an deren Ende blieb es stehen und rief mir zu:
Hier! Hier!
Ich habe mir schon manchmal die Frage vorgelegt, ob in meinem Aeußeren etwas besonders Vertraueneinflößendes liege. Das Vertrauen, womit mich die Kleine anrief, und ihr hübsches Bild in dem Lichtschein, der aus der geöffneten Tür des Zimmers herauskam, dies alles rührte mich und zog mich unwillkürlich an ihre Seite. Da hatte ich nun einen Anblick, der mich ihre ganze Angst begreifen ließ; ich verstand, warum sie einen ganz unbekannten Straßenpassanten herbeigerufen hatte.
In der Mitte eines kleinen Zimmers, das ebenso schmucklos und einfach wie das Kontor eines Geschäftsmannes eingerichtet war, erblickte ich einen alten Herrn, der offenbar – auch meine unerfahrenen Augen erkannten dies – nicht bloß krank war, sondern sogar an der Schwelle des Todes stand.
Etwas so Ernstliches hatte ich nicht erwartet; der Anblick regte mich auf, und ich wollte mich umwenden, um schnell Hilfe herbeizurufen; aber das Mädchen eilte an mir vorüber, umfaßte seines Großvaters Knie und sah mich mit einem so flehenden Blick an, daß ich's nicht übers Herz bringen konnte, sie mit dem Sterbenden allein zu lassen.
Es wäre auch grausam von mir gewesen, wenn ich gegangen wäre. Selbst mir, der ich doch ein Mann bin, schnürte der Anblick des Kranken die Kehle zusammen. Obwohl dem Tode nahe, lag er nicht, sondern stand aufrecht da. An den großen Schreibtisch sich anklammernd, bot seine hochgewachsene Gestalt ein Bild seelischen und körperlichen Leidens, wie ich es nie zuvor gesehen hatte und wie es mir unvergeßlich in der Erinnerung bleiben wird. Die eine Hand hielt er gegen das Herz gepreßt, die andere klammerte sich mit ausgespreizten Fingern in verzweifelter Anstrengung an den Tisch an, und auf sie stützte sich das ganze Gewicht seines Körpers, so daß er nur schwankte, aber nicht fiel. Sein Blick war auf die Tür gerichtet, und als ich in das Zimmer eintrat, ging plötzlich ein Zittern durch die zusammensinkende Gestalt, die geballte Hand, die er gegen sein Herz gepreßt hielt, öffnete sich ein wenig, und ich bemerkte zwischen seinen Fingern einen zerknitterten Papierfetzen.
Mich rührte der Anblick dieses augenscheinlich sonst starken und kräftigen Mannes, der jetzt so hilflos war, und ich murmelte einige bedauernde und aufmunternde Worte. Hierauf – in der Annahme, daß er mit seiner Enkelin allein im Hause sei – erkundigte ich mich, ob ich ihm einen Dienst erweisen könne.
Er sah mit einem bedeutungsvollen Blick auf seine Hand hinunter; da er jedoch bemerkte, daß ich ihn nicht verstand, machte er eine übermenschliche Anstrengung und streckte diese Hand aus. Hierbei brachte er einige unzusammenhängende Worte hervor, die ich so auslegte, daß ich ihm den Zettel abnehmen möchte, den seine erstarrenden Finger nicht mehr loslassen konnten.
Um ihm in seinen Todesnöten jeden in meiner Macht liegenden Beistand zu gewähren, tat ich, was er wünschte, und zog das Papier zwischen seinen Fingern hervor. Dabei bemerkte ich zweierlei: der Zettel war ein Teil eines Briefbogens, und er war zusammengefaltet.
Was soll ich damit machen? fragte ich, indem ich mit einem Blick zugleich sein sich schnell mit einem trüben Schleier überziehendes Auge befragte.
Er suchte mit einem schnellen Blick auf dem Tisch umher; dann ließ er sein Auge an einem bestimmten Punkt haften. Ich verstand ihn. Ich sollte den Zettel in einen Umschlag stecken.
Ich zog einen Umschlag aus dem Gestell heraus, schob den Papierfetzen hinein und verschloß die Klappe. Dann befragte ich ihn mit einem lächelnden Blick, ob ich recht getan habe und was er weiter wünsche. Er antwortete mit einem Blick, in dem sich Dankbarkeit und Vertrauen so deutlich aussprachen, daß ich mich ganz beschämt fühlte, denn mein kleiner Dienst war doch nicht der Rede wert. Es lag etwas ganz Eigentümliches in jenem Blick, und ich wollte gerade fragen, welchen Namen ich auf den Umschlag schreiben solle, als es ihm mit größter Anstrengung gelang, ein paar schwache Worte zu flüstern.
Ich hörte ihn sagen:
Keinem ... keinem anderen Menschen ... nur –
Gerade in diesem kritischen Augenblick, als der Name schon auf seinen Lippen schwebte, verließ ihn seine Kraft. Er bemühte sich, das Wort zu bilden, aber er brachte keinen Ton mehr hervor.
Seine Verzweiflung machte einen furchtbaren Eindruck auf mich, und angstvoll suchte ich ihm zu Hilfe zu kommen, indem ich ihn fragte:
Ist der Brief für Ihren Anwalt bestimmt? Und als er kein Zeichen machte, fuhr ich hastig fort: Für Ihren Arzt? Für Ihre Frau? Für irgend jemanden hier im Hause?
Er sah mich noch einmal an, richtete dann seine Augen nach oben und stand einige Sekunden lang mit einer so ausdrucksvollen Gebärde hoffnungsreicher Erwartung da, daß ich vor Erstaunen keine Worte mehr finden konnte und einen Augenblick lang vergaß, daß ich mich in Gegenwart des Todes befand. Aber dies dauerte nur wenige Augenblicke. Während ich mich noch verwundert fragte, was wohl die plötzliche Veränderung im Gesichtsausdruck des Mannes bedeuten könne, stieß plötzlich das Kind, das seine Knie umklammert hielt, einen Schrei des Entsetzens aus und ließ seine Aermchen sinken. Ich sah ihn nach Atem ringend zusammensinken und dann vornüberfallen; ich sprang hinzu und fing ihn in meinen Armen auf, ehe er den Fußboden erreichte. Leider war dies der letzte Dienst, den ich ihm erweisen konnte. Als ich ihn behutsam auf die Diele niedergleiten ließ, hatte er bereits ausgeatmet, ich war allein mit einem zitternden kleinen Mädchen und einem Toten, der mir mit dem letzten Lebenshauch einen mir völlig unverständlichen Auftrag gegeben hatte. Ich wußte nichts weiter, als daß ich unter keinen Umständen den mir anvertrauten Brief an eine andere Person ausliefern durfte, als an die, für welche er ihn bestimmt hatte.
Aber wer war diese Person?
Zweites Kapitel.
Inzwischen war das Kind in die Halle hinausgelaufen und sprang mit ängstlichen Rufen: Papa! Papa! die Treppe hinauf.
Es mußte also doch jemand in diesem Hause sein, in dem ich geglaubt hatte, mich mit dem Mädchen und dem Toten ganz allein zu befinden. Ueberrascht eilte ich ihr nach in das erste Stockwerk, wo sie vor einer geschlossenen Tür stehen blieb. Eine seltsame Scheu schien die Kleine zurückzuhalten, denn in leisem Flüsterton sagte sie mir:
Hier drinnen ist Papa.
Wenn dies richtig war, so befand er sich jedenfalls nicht allein. Gelächter, lautes hastiges Sprechen und Gläserklingen ließ sich deutlich durch die Tür hindurch vernehmen. Der Gegensatz zwischen diesem lustigen Gelage und dem feierlichen Augenblick, den ich unmittelbar vorher durchlebt hatte, fiel mir schwer aufs Herz; ich zögerte, das Zimmer zu betreten, und sah mich um, ob ich nicht irgend jemand vom Dienstpersonal bemerken könnte; denn soviel war mir jetzt klar, daß in diesem reichen Hause unbedingt Diener anwesend sein mußten. Plötzlich aber rief das Kind, das sich angsterfüllt an meinem Rock festhielt:
Papa ist doch wohl nicht hier. Papa mag keine Karten leiden. Aber Onkel George spielt gern. Bitte, bitte – wir wollen Papa suchen!
Sie zog mich nach einer anderen Tür hin; ich öffnete sie, aber das Licht war ausgedreht, und der Papa der Kleinen war nicht da.
Vielleicht ist er bei Onkel Alph! stammelte sie weinerlich. Damit sprang sie eine zweite Treppe hinauf, indem sie sich mehreremal umsah, ob ich ihr auch folgte.
Was sollte ich anders machen? Ich mußte mit ihr gehen, bis ich irgendeiner Menschenseele begegnete. Ich eilte also ebenfalls die Treppe hinauf; doch als ich oben ankam, war sie bereits in ein Zimmer eingetreten.
O, Onkel Alph! hörte ich sie weinend rufen, Großpapa liegt unten auf dem Fußboden. Ich kann Papa nicht finden. Ich hab' solche Angst!
Und schluchzend lief sie auf den jungen Mann zu, der von seinem Stuhl am Schreibtisch aufstand. Merkwürdigerweise schienen ihre Worte gar keinen Eindruck auf ihn zu machen, denn er starrte sie wie geistesabwesend an. Dieses Verhalten war natürlich sehr auffallend, und ich musterte dabei die Erscheinung des jungen Mannes auf das genaueste. Er war schön und auf den ersten Blick als Lebemann zu erkennen. In seiner ganzen Erscheinung lag etwas Anziehendes, aber man fühlte dies mehr, als daß man vermocht hätte, sich im einzelnen darüber Rechenschaft zu geben. Freunde, die öfter mit ihm die Avenue entlang geschlendert waren, erzählten mir später, daß er stets aufzufallen pflegte. In seinen Zügen, in der Haltung, in den Bewegungen von Kopf und Schultern läge etwas, was einen veranlasse, sich den Mann nicht nur anzusehen, sondern sich auch nach ihm umzusehen. In diesem Augenblick fiel mir allerdings weniger seine stattliche Erscheinung auf, als der unruhige, fieberhaft erregte Ausdruck seiner Züge.
Bei unserem Eintritt war er beschäftigt gewesen, einen Brief zu schreiben, den er, als das Kind ihn so ängstlich anrief, zerknüllte und in den Papierkorb warf. Mir fiel auf, daß er dies mit einer gewissen Hast tat, und ich fragte mich unwillkürlich, was wohl in dem von ihm vernichteten Briefe stehen möchte.
Inzwischen war er anscheinend bemüht, sich zusammenzunehmen und zu begreifen, was die Kleine von ihm wolle. Mich hatte er offenbar noch gar nicht bemerkt, obwohl ich in der weitgeöffneten Tür stand. Ich hielt es daher für angebracht, mich ihm selber vorzustellen, und sagte:
Ich bitte um Verzeihung – mein Name ist Arthur Cleveland, von der Anwaltfirma Robinson und Cleveland. Ich kam an Ihrem Hause vorbei und wurde von der Kleinen hier hereingerufen, um ihrem Großvater Hilfe zu leisten, den ich leider in sehr bedenklichem Zustand in seinem Arbeitszimmer fand. Wenn er Ihr Vater ist, so gestatten Sie mir, Ihnen zu seinem plötzlichen Verscheiden mein Beileid auszusprechen. Er starb vor wenigen Minuten in meinen Armen, und da ich Zeuge seiner letzten Augenblicke war, so konnte ich das Haus nicht verlassen, ohne seinen Angehörigen den Grund meiner Anwesenheit mitzuteilen.
Tot! Vater?! rief der junge Mann aus.
Kein Schmerz, kaum ein leichtes Erstaunen lag in diesem kurzen Ausruf, aber etwas anderes lag darin, was mich mit Entsetzen erfüllte. Welch seltsamer Ausdruck in seinem Ton! Welch eigentümliches Feuer sprühte aus seinen Augen! Doch dies war in einem Augenblick vorüber. Er nahm das Kind auf seine Arme, verbarg sein Antlitz hinter den blonden Mädchenlocken und stürzte nach der Tür. Von mir nahm er fast keine Notiz. Er schien gar nicht auf meine Worte gehört zu haben, denn er fragte:
Wo ist er?
Das Kind antwortete ihm:
In der Hinterstube, Onkel Alph. Aber ich will nicht mitkommen. Ich hab' solche Angst! Bitte laß mich los; ich will Hope suchen.
Hastig setzte er sie nieder, und das Kind sprang davon. Dann erst schien er sich meiner Gegenwart bewußt zu werden und fragte mit verwunderter Miene:
Sie wurden von der Straße hereingerufen? Das verstehe ich nicht! Wo waren denn meine Brüder? Sie waren doch nahe genug, um ihm Beistand leisten zu können. Warum also einen Fremden ins Haus rufen?
Auf diese Frage konnte ich keine Antwort geben; ich schwieg also. Doch schien er mein Schweigen gar nicht zu bemerken, denn nach kurzem Besinnen sagte er:
Wir wollen hinuntergehen.
Ich öffnete die Tür, die die Kleine hinter sich zugeschlagen hatte, und ging dem jungen Mann voran auf die Treppe zu. Während unseres kurzen Gespräches hatte ich mehrmals unbestimmte Geräusche wie von Stimmen gehört; ich erwartete daher, das ganze Haus in Aufruhr zu finden, denn der Tod des Hausherrn mußte es doch alarmieren. Aber die Spieler im ersten Stock saßen noch bei ihren Karten. Mein Begleiter blieb stehen und tat ein paar scharfe Schläge gegen die Tür, hinter welcher ein so unziemlicher Lärm laut wurde.
Vater ist krank! rief er mit vor Aufregung heiserer Stimme. Eine Antwort wartete er nicht ab, sondern eilte an mir vorüber und die Treppe hinab; ihm nach stürzten sechs oder sieben halbwegs ernüchterte junge Leute.
Einer von diesen fiel mir besonders auf; nach dem Aussehen zu schließen, mußte er ein Bruder des von der Kleinen als »Onkel Alph« angeredeten jungen Mannes sein. Er hatte dieselbe imponierende Gestalt, merkwürdigerweise aber auch die gleiche, fast geistesabwesende Miene. Doch ich hatte nicht lange Zeit, über diese physiognomische Beobachtung nachzudenken. Nachdem so unbegreiflich lange alles still gewesen war, hatte sich jetzt plötzlich die alarmierende Nachricht wie ein Lauffeuer in den unteren Räumen des Hauses verbreitet, und wir fanden ein Halbdutzend Dienstboten in und vor dem kleinen Zimmer, in welchem der Herr des Hauses auf dem Fußboden ausgestreckt lag. Einige von ihnen rangen die Hände, andere weinten, und noch andere starrten, regungslos vor Entsetzen, auf das bleiche Antlitz, das sie kurz vorher noch von den Farben der Gesundheit belebt gesehen hatten.
Als die Dienstboten uns bemerkten, zogen sie sich natürlich in die Halle zurück, und auf einmal befand ich mich zwischen der von ihnen gebildeten Gruppe und den drei oder vier jungen Gästen, die nicht mit den Brüdern in das Zimmer gegangen waren. Ich bemerkte unter ihnen einen, dessen Gesichtszüge mir nicht ganz unbekannt waren, und von diesem erhielt ich die erste Auskunft über den Mann, dessen Todeskampf ich mit angesehen und von dem ich den seltsamen Auftrag empfangen hatte, der mich zwang, in dem fremden Hause in der peinlichen Lage eines Eindringlings zu verbleiben.
Der Tote war der allgemein bekannte Börsenkönig und Eisenbahnfürst Archibald Gillespie, dessen Name in jedermanns Munde war, seitdem er mit einem einzigen Geschäft in kaum zwei Monaten zwei Millionen Dollars verdient hatte.
Während ich mich noch mit dem jungen Mann unterhielt, kam einer von den Herren, die mit den Söhnen des Verstorbenen in das Zimmer gegangen waren, mit sehr bleichem Gesicht wieder heraus. Er war Arzt, doch allem Anschein nach nicht der Hausarzt.
Will einer von euch den Doktor Bennett holen? fragte er. Er muß sofort und auf alle Fälle kommen. Herr Gillespie darf nicht angerührt werden, bevor er da ist.
Doktor Bennett war offenbar der Hausarzt.
Warum darf er nicht angerührt werden? fragte einer der Herren, die neben mir standen. Ist irgend was nicht in Ordnung? Herr Gillespie war vor ungefähr einem Monat schwer krank. Wahrscheinlich ist er zu früh wieder aufgestanden!
Aber der junge Arzt antwortete nicht, sondern ging in das kleine Zimmer zurück. Wir alle hätten ihn gerne noch näher befragt, aber nur wenige von uns murmelten ein paar Worte, worauf kein Bescheid erfolgte. Einer von den jungen Herren entfernte sich eilig, um dem von seinem Freund soeben ausgesprochenen Wunsche Folge zu leisten.
Lebt Frau Gillespie noch? fragte ich nach einigem Zögern meinen Bekannten.
Was für 'ne Frage! lautete die von einem verwunderten Blick begleitete Antwort. Sie ist ja schon volle fünfzehn Jahre tot!
Für seine Frau war also der Brief nicht bestimmt.
Plötzlich bemerkte ich, daß ein Auge mich scharf fixierte. Es war einer von den Dienern, die auf einen Klumpen zusammengedrängt auf der anderen Seite der Halle in einer offenen Tür standen, welche, wie es mir vorkam, in einen großen Speisesaal führte. Als der Mann sah, daß er meine Aufmerksamkeit erregt hatte, machte er mir ein kaum bemerkbares Zeichen. Ich glaubte seinem Wink folgen zu müssen, denn er war ein grauhaariger alter Mann. Kaum war ich bei ihm, so flüsterte er mir mit einem vertraulichen Lächeln zu:
Sie scheinen der einzige hier zu sein, der noch bei Besinnung ist. Lassen Sie sie nichts machen, bis der junge Herr Leighton Gillespie nach Hause kommt. Der ist der einzige in dieser Familie, der noch religiöse Grundsätze hat!
Ist er der Vater des kleinen Mädchens? fragte ich.
Der Mann nickte.
Nicht nur das, sondern auch ein guter Mann! setzte er mit Nachdruck hinzu. Ein sehr guter Mann!
War dies die aufrichtige Meinung des alten Dieners oder Spott? Ich hatte gehört, daß alle drei jungen Gillespies ihrem Vater unendliche Sorge bereitet hätten.
Ein tiefes Schweigen der Trauer hatte sich inzwischen in dem prachtvollen Hause verbreitet. In einem seltsamen Widerstreit der Gefühle – denn ich fühlte mich als Eindringling und zugleich als eine wichtige Person in dem Drama, das ich soeben miterlebt hatte – zog ich mich in einen möglichst stillen Winkel zurück und wartete wie die anderen auf die Ankunft des Hausarztes.
Endlich ertönte die Hausglocke. So gespannt war unsere Erwartung, daß wir alle sofort in Bewegung kamen, und ein paar von uns eilten auf die Haustür zu. Diese wurde jedoch bereits von dem grauhaarigen Diener mit jener mechanischen Pünktlichkeit geöffnet, die eine langjährige Gewohnheit zur zweiten Natur macht. In der ruhigen Verbeugung des gutgezogenen Dieners lag aber doch etwas, woraus wir sofort schließen konnten: der sehnlich Erwartete ist endlich da!
Ich hatte den Doktor Bennett mehr als einmal gesehen, niemals aber in solcher Aufregung wie in diesem Augenblick. Mochte diese Aufregung ihren Grund in der Plötzlichkeit der Mitteilung oder in einer anderen Ursache haben – genug, der alte erfahrene Arzt befand sich in ebensolcher Erregung wie wir selbst. Der junge Arzt erwartete ihn bereits auf der Schwelle der Hinterstube und zeigte ihm durch eine Handbewegung den Ort an, wo die Leiche lag. Ich bemerkte an Bennett ein seltsames Zögern, das in eigentümlichem Widerspruch stand zu der Hast, womit er der Handbewegung seines jungen Kollegen Folge leistete. Ich würde dies unter anderen Umständen Wohl kaum beobachtet haben, und ich bin sicher, daß keinem von den übrigen Anwesenden in dem Gehaben des Hausarztes auch nur das Geringste auffiel; aber mir war jeder noch so kleine Umstand merkwürdig, von dem ich annehmen konnte, daß er mir den Schlüssel zur Lösung des Rätsels bieten würde, in welches ich mich auf so sonderbare Art tief verstrickt sah.
Doktor Bennett verweilte einige Minuten bei dem Toten; die Tür der Hinterstube hatte der junge Arzt verschlossen, so daß sich außer den beiden Kollegen nur die jungen Gillespies im Sterbezimmer befanden. Dann trat der alte Arzt zu uns heraus. Augenblicklich erkannte ich an seinem Gesichtsausdruck, daß unsere oder vielmehr die von dem jungen Doktor ausgesprochenen Befürchtungen nicht unbegründet gewesen waren. Indessen war Bennett augenscheinlich bemüht, keinen unnötigen Alarm zu erregen und sagte in kühlem, berufsmäßigem Ton:
Ein trauriger Fall, meine Herren! Herr Gillespie hat eine zu große Dosis Chloral genommen. Wir müssen ihn liegen lassen, wo er ist, bis der Coroner In Amerika und England der Beamte, der bei verdächtigen Todesfällen die sofortige Untersuchung zu leiten hat. kommt.
Kaum hatte er diese Worte ausgesprochen, so hörte man aus dem Speisesaal einen schweren, seufzenden Atemzug und das Klirren von zerbrechendem Glas. Der grauhaarige alte Diener hatte ein Weinglas fallen lassen, das er gerade von dem Kaminsims fortzuräumen im Begriff war. Im Nu war Bennett an seiner Seite und fragte:
Was ist das?
Der Diener beugte sich nieder, um die Scherben aufzuheben und antwortete:
Nur das Glas, woraus Herr Gillespie trank. Er forderte vor einer halben Stunde ein Glas Wein. Ihre Worte haben mich erschreckt, Herr Doktor!
Er sah allerdings durchaus nicht erschrocken aus, aber alten Dienern, die lange in großen Häusern gewesen sind, ist ja freilich eine seltsame Unbeweglichkeit der Gesichtszüge eigentümlich.
Ich will diese Scherben an mich nehmen, sagte der Arzt, indem er sich neben dem Diener niederbeugte.
Der Mann zog sich zurück, und der Arzt las die Glasscherben zusammen. Sie waren alle trocken. Offenbar war das Glas ausgewischt worden.
Als Bennett den Speisesaal wieder verließ, musterte er mit einem scharfen aber nicht unfreundlichen Blick die Gruppe der jungen Leute, die sich in der offenen Tür drängten, und fragte:
Wer von Ihnen war bei Herrn Gillespies letzten Augenblicken zugegen?
Ich verbeugte mich. Ich befürchtete, daß er mich ausfragen würde, sah aber keine Möglichkeit, mich seinen Fragen zu entziehen. Hätte doch der alte Gillespie das eine Wort noch hervorbringen können, das mich von aller Verantwortlichkeit in dieser Angelegenheit würde entbunden haben!
Sie sind der Herr, der von Herrn Gillespies Enkelin ins Haus gerufen wurde? fragte der Doktor.
Ja, antwortete ich. Hierauf erzählte ich meine Erlebnisse einfach und sachlich, wie die Umstände es erforderten. Nur von dem Brief, der mir zur Aushändigung an eine unbekannte Person anvertraut worden war, von diesem Brief sagte ich nichts. Wie hätte ich auch anders handeln können? Auf Herrn Gillespies Gesicht war nicht das geringste Zeichen der Bejahung zu lesen gewesen, als ich ihn fragte, ob der Brief für seinen Arzt bestimmt sei.
Mein Bericht schien den Arzt in der Ansicht zu bestärken, die er sich durch die Untersuchung der Leiche bereits gebildet haben mußte. Er führte die vor dem Kamin des Speisesaals aufgelesenen Glasstücke an seine Nase und beroch sie lange und sorgfältig. Die beiden jungen Gillespies sahen ihm immer erstaunter zu. Als Doktor Bennett die Scherben wieder hinlegte, konnten wir alle kaum unsere Neugierde zurückdrängen.
Sie haben uns irgend etwas Furchtbares mitzuteilen, murmelte der ältere Sohn.
Der Doktor zauderte mit der Antwort; er ließ den Blick vom einen zu dem anderen der beiden hübschen Gesichter wandern und versetzte endlich:
Ihr Bruder ist nicht hier. Wissen Sie vielleicht, ob er bald nach Hause kommen wird?
Wo ist mein Bruder Leighton? fragte Alfred, zu den Dienstboten gewandt. Ich glaubte, er wollte heute abend zu Hause bleiben.
Der alte Diener trat in ehrerbietiger Haltung näher und sagte:
Herr Leighton ging vor ungefähr einer Stunde aus. Er und Herr Gillespie hatten ein kurzes Gespräch in der Hinterstube, gleich darauf zog er seinen Ueberzieher an, setzte den Hut auf und ging fort.
Haben Sie bei dieser Gelegenheit Ihren Herrn gesehen? fragte der Arzt.
Nein, Herr Doktor, ich hörte nur seine Stimme.
Und kam die Stimme Ihnen wie gewöhnlich vor?
Der alte Diener schien ungern antworten zu wollen, da er aber den befehlenden Blick des Arztes auf seinen niedergeschlagenen Augen haften fühlte, so gab er zögernd zu:
Die Stimme war nicht ruhig – wenn Sie mit Ihrer Frage darauf hinaus wollen. Herr Gillespie schien ärgerlich oder sehr aufgebracht zu sein. Er sprach sehr laut.
Wo waren Sie? forschte der Arzt weiter.
Im Speisesaal, Herr Doktor. Ich räumte den Eßtisch ab.
Hörten Sie, was Ihr Herr sagte?
Nein, Herr Doktor. Es war irgend was von Religion; von zu viel Religion.
Mein Bruder besucht ja viele religiöse Versammlungen, und das gefiel meinem Vater nicht, erklärte Alfred leise.
Der Doktor nickte, verwandte aber kein Auge vom Gesicht des Alten und fragte weiter:
Fand dieses Gespräch statt, bevor Herr Gillespie das Glas Wein trank, das er, wie Sie vorhin sagten, verlangt hatte?
Jawohl, Herr Doktor; einen Augenblick vorher. Herr Leighton bestellte es selber. Er sagte, sein Vater sehe angegriffen aus.
So – und wie kommt es denn, daß das Glas nachher auf dem Kaminsims im Eßzimmer stand?
Das weiß ich nicht, Herr Doktor. Vielleicht hat Herr Gillespie es selbst dorthin gestellt. Er konnte es niemals leiden, wenn auf seinem Schreibtisch etwas stand, was nicht dahingehörte.
Ich bemerkte, daß nach dieser Erklärung der ältere Bruder den Mund öffnete; aber er sagte nichts. Es war jetzt keine Spur mehr an ihm zu bemerken, daß er gezecht hatte.
Zeigen Sie mir die Flasche, woraus Sie den Wein eingeschenkt haben!
Der Diener – wie ich später erfuhr, hieß er Hatson – ging dem Doktor voraus in das Speisezimmer zu dem großen Anrichteschrank, der die ganze Hälfte der einen Wand einnahm. Von meinem Platz in der Halle konnte ich sehen, wie er auf eine Flasche deutete, allem Anschein nach eine Sherryflasche. Plötzlich fuhr er zusammen und rief so laut, daß ich seine Worte hören konnte:
Das ist nicht die richtige! Die Flasche, woraus ich den Wein für Herrn Gillespie einschenkte, war halb leer; diese hier ist ja aber ganz voll!
Wieder sah ich, wie des älteren Bruders Lippen sich bewegten; aber wieder schloß er den Mund, ohne zu sprechen.
Es wäre mir lieb, wenn diese Flasche gefunden würde, sagte der Arzt. Aber für den Augenblick braucht niemand danach zu suchen. Es ist besser, wir enthalten uns aller weiteren Schritte, bis Herr Leighton wieder da ist. George und Alfred – wenn ich bitten darf, lassen Sie mich ein paar Minuten mit Ihrem Vater allein! Und sorgen Sie dafür, daß niemand in den Speisesaal geht. Ich möchte nicht nötig haben, mich hinterher bei dem Coroner entschuldigen zu müssen. Ihr Vater ist keines natürlichen Todes gestorben!
Wir waren schon durch das ernste Benehmen des jungen Doktors auf diese Mitteilung vorbereitet gewesen. Trotzdem schien es mir auffallend, einen wie geringen äußerlichen Eindruck sie auf die beiden machte. Sie sahen sich nicht an, sie wechselten in diesem ernsten Augenblicke kein Wort des Trostes, der Aufmunterung untereinander. Standen sie nicht gut miteinander?
Ich muß jetzt telephonieren, fuhr Bennett fort. Sie müssen verzeihen, wenn ich dadurch scheinbar die einem Toten schuldige Ehrfurcht verletze. Die Umstände erfordern es.
Er warf noch einen schnellen Blick in den Speisesaal, um sich der Ausführung seiner Anordnungen zu vergewissern, und ging dann in die sogenannte Hinterstube, deren Tür er hinter sich verschloß.
Einen Augenblick darauf hörten wir seine Stimme am Fernsprecher.
Ich verstehe Doktor Bennetts sonderbares Benehmen nicht, hörte ich eine Stimme neben mir flüstern. Es war George, der diese Worte in leisem Tone zu seinem Bruder sprach. Dieser aber antwortete nicht, sondern sah sich mit merkwürdigem Ausdruck nach der zum ersten Stocke führenden Treppe um, als ob er dort jemand zu sehen erwartete.
Vater nahm regelmäßig Chloral, fuhr George flüsternd fort. Ich war aber immer des Glaubens, daß er damit bis zum Schlafengehen wartete. Ich habe nie gehört, daß er das Mittel hier unten eingenommen hätte.
Diesmal antwortete Alfred:
Heute abend hat er eine Ausnahme gemacht. Als ich um halb neun nach deinem Zimmer ging, begegnete ich Claire, die mit einem Fläschchen in der Hand aus Vaters Schlafstube kam. Sie war hinaufgeschickt worden, um das Chloral zu holen und brachte es ihm.
George sah seinen Bruder mit einem mißtrauischen Blick an und fragte:
Sagte sie das?
Ja.
Das arme Mädchen! Sie wird ihren Großpapa sehr vermissen. Ob sie wohl schon alles weiß?
Ich fühlte, daß ich nicht das Recht hatte, diesem Gespräch zuzuhören. Aber ich stand immer noch auf demselben Platz, wo ich mit dem Doktor gesprochen hatte, und ich wagte nicht eher fortzugehen, als bis ich von einer dazu befugten Person Erlaubnis erhalten. In dem Augenblick, wo ich mich wenigstens von den beiden Brüdern entfernen wollte, kam Bennett wieder aus der Hinterstube heraus und sagte zu mir:
Es wird Ihnen wohl sehr schlecht passen, daß Sie hier warten müssen. Aber ich muß Sie bitten, noch eine kleine Weile länger hier zu bleiben. Wollen Sie nicht im Salon Platz nehmen?
Ich dankte ihm für seine Freundlichkeit, blieb aber auf meinem Platze stehen, indem ich einen Blick auf die beiden jungen Gillespie warf.
Mit einer Feinfühligkeit, die mich überraschte, verstand George sofort meinen Wink. Er ging nach links, hob einen schweren Plüschvorhang zur Seite, so daß ein reich ausgestatteter Salon sichtbar wurde, und bat mich mit einer Verbeugung, einzutreten und Platz zu nehmen. Kaum aber hatte ich einen Schritt auf den Vorhang zu getan, als die Haustür sich öffnete, und ein Herr eintrat, in welchem ich sofort den sehnlichst erwarteten dritten Bruder vermutete.
Auch er war schön, sogar sehr schön, doch ähnelte er seinen Brüdern in keiner Weise. Anscheinend hatte er mehr Charakter und weniger – nun, ich kann den Eindruck, den er in jenem Augenblick auf mich machte, nicht recht beschreiben. Genug, ich fühlte auf den ersten Blick, daß er keine Alltagsnatur war.
Er sah niedergeschlagen und beinahe todmüde aus; doch raffte er sich zusammen, als er einen Unbekannten bemerkte, und warf sodann einen fragenden Blick auf den Doktor und die Dienstboten, die in einer dichten Gruppe im Hintergrund der Halle standen.
Augenscheinlich hielt er mich für einen von den Zechgenossen seiner Brüder.
Was ist denn los? rief er. – Es kam mir vor, als ob er ärgerlich wäre über die Anwesenheit der vielen Menschen, und ich hoffte im stillen, dies als ein gutes Zeichen für ihn auslegen zu dürfen; denn der Aerger ließ sich so erklären, daß er von den entsetzlichen Vorgängen keine Ahnung hatte. Was ist denn los, George? Was gibt's, Alph?
Das Schlimmste! antworteten beide gleichzeitig.
Vater ist tot! sagte George in dumpfem Ton.
Er hat zuviel Chloral genommen! fügte Alfred hinzu.
Leighton Gillespie stand einen Augenblick wie gebannt da. Dann warf er seinen Hut weit von sich und eilte auf die Hinterstube zu. Aber auf der Schwelle des Sterbezimmers stand Doktor Bennett in einer Haltung, die den jungen Mann zwang, stehen zu bleiben.
Warten Sie einen Augenblick! rief der alte Herr. Meine erste Meinung ist irrig gewesen. Ihr Vater ist nicht an einer zu großen Dosis Chloral gestorben, wie ich zuerst annahm, sondern an einer unbedingt tödlich wirkenden Menge Blausäure. Der Geruch, der von seinen Lippen strömt, beweist das. Und nun, Leighton, können Sie eintreten.
Drittes Kapitel.
Es war eine niederschmetternde Mitteilung; auf allen Gesichtern prägte sich deutliches Entsetzen aus. Und doch waren die drei Söhne augenscheinlich nicht überrascht. Der Börsenfürst mußte doch wohl geheime Sorgen gehabt haben, da sein plötzliches Ende den ihm am nächsten Stehenden als etwas beinahe Natürliches erschien.
Meine Lage begann mir als höchst peinlich zu erscheinen, und der verschlossene Brief in meiner Tasche lastete mir bleischwer auf der Brust.
Doktor Bennett und die drei Brüder waren in das Totenzimmer eingetreten, und hier sagte Leighton in gepreßtem Tone, dem er vergebens einen natürlichen Klang zu verleihen suchte:
Kann sich der Doktor nicht vielleicht irren? Da steht ja das Chloralfläschchen auf dem Kaminsims. Das ist ungewöhnlich – auf diesem Platz ist es sonst nicht zu finden. Da es aber hier ist – können wir daraus nicht schließen, daß Vater das Bedürfnis fühlte, dies Beruhigungsmittel zu sich zu nehmen? Blausäure kann man nur durch Vermittelung eines Arztes erhalten, und ich bin gewiß, daß Sie, Herr Doktor Bennett, ihm niemals ein so gefährliches Gift verschrieben haben!
Nein – denn die Anwendung desselben bei einem Leiden wie dem Ihres Vaters ist gänzlich ausgeschlossen. Aber Sie werden sehen, Leighton, daß er daran gestorben ist; alle Symptome sprechen dafür, und wir haben uns nunmehr bloß darüber klar zu werden, ob er es im Chloral zu sich nahm oder in dem zuletzt getrunkenen Glas Wein, oder auf sonst eine, uns bis jetzt noch unbekannte Weise. Es tut mir leid, daß ich so unzweideutig sprechen muß, aber in meinem Beruf kenne ich kein Vertuschen. Außerdem würde der Coroner keine solche Rücksicht bezeigen, selbst wenn ich aus Zartgefühl schweigen wollte. Die Tatsache liegt klar zutage.
Leightons Antwort konnte ich nicht hören, aber als sie alle wieder herauskamen, sah ich, daß er nicht nur des Doktors Ansicht als richtig anerkannt, sondern inzwischen auch erfahren hatte, in welcher Weise ich an dem Ereignis beteiligt war. Dies war deutlich an der Herzlichkeit seines Grußes zu erkennen, auch ging es aus den Fragen hervor, mit denen er sich bei mir nach seinem Kinde erkundigte.
Hierbei hatte ich Gelegenheit, mir sein Gesicht genauer anzusehen. Es war das melancholischste, das ich je in meinem Leben gesehen hatte, und besonders fiel mir dabei auf, daß diese Traurigkeit anscheinend immer auf seinem Antlitz lag und nicht erst durch den letzten Schicksalsschlag hervorgerufen war.
Es ist mir ein Rätsel, bemerkte Leighton in höflichem Tone zu mir, warum mein Vater in seinen letzten Schmerzen jemanden von der Straße hereinrufen ließ, da doch seine Söhne zu Hause waren. Indessen muß er es wohl für notwendig erachtet haben, und da sein Ruf befolgt wurde, so freue ich mich, daß der Zufall ihm und uns in Ihrer Person einen so menschenfreundlichen und dienstwilligen Helfer zugeführt hat.
Ich antwortete ihm nur mit einer Verbeugung; in der Tat hatte ich auf seine Worte kaum geachtet. Mich beschäftigte immer wieder der Gedanke an den Brief. Sollte ich ihn Leighton übergeben? Ein gewisser Instinkt hielt mich davon zurück – oder mehr noch vielleicht die Vorsicht, die mir in meinem Beruf als Anwalt zur zweiten Natur geworden war und zum Glück als Gegengewicht gegen den ersten Antrieb wirkte. Nach allem, was ich bis jetzt gesehen hatte, konnte ich nicht mit Sicherheit annehmen, daß der alte Gillespie den Brief für einen seiner Söhne bestimmt hatte.
Wollen Sie uns die Freundlichkeit erweisen, bis zur Ankunft des Coroners hier zu warten? fuhr Leighton Gillespie fort. Er hat telephoniert, er werde sofort hier sein.
Ich werde warten, antwortete ich. Er machte eine einladende Handbewegung, und ich betrat jetzt den Salon.
Es verstrich eine viertel – eine halbe Stunde; endlich ließ sich wiederum die Hausklingel vernehmen. Ich hörte verworrenes Stimmengeräusch und Hinundherlaufen und konnte daraus entnehmen, daß der Erwartete endlich eingetroffen war. Indessen mußte ich mich noch eine gute Weile in Geduld fassen, bis der Coroner sich bei mir im Salon einfand. Endlich hörte ich einen Schritt; ich blickte auf und gewahrte einen hageren alten Herrn, der sehr ernst auf mich zukam und sich dicht an meine Seite setzte, so daß er leise mit mir sprechen konnte und nicht zu befürchten brauchte, daß unser Gespräch belauscht würde.
Sie sind Herr Cleveland, begann er. Ich habe von Ihrer Firma gehört und bin mit Ihrem Partner, Herrn Robinson, mehr als einmal zusammengewesen. Kannten Sie Herrn Gillespie oder seine Angehörigen bereits vor dem heutigen Abend?
Nein, ich kannte Herrn Gillespie nur vom Hörensagen.
Es war also reiner Zufall, daß Sie seinen letzten Augenblicken beiwohnten?
Reiner Zufall – wenn wir nicht etwa ein Wirken der Vorsehung annehmen wollen.
Er sah mich mit einem scharf musternden Blick an und fuhr fort:
Erzählen Sie den Hergang!
Hier geriet ich in ein Dilemma. Verlangte die Pflicht von mir, einen Umstand zu enthüllen, den ich bisher sogar vor den Söhnen des Verstorbenen geheimzuhalten mich verpflichtet gefühlt? Diese heikle Frage vermochte ich mir nicht so im Handumdrehen zu beantworten; ich beschloß daher, mich noch ablehnend zu verhalten, und beschränkte mich darauf, meine bereits einmal vorgetragene Darstellung von Herrn Gillespies Ende einfach zu wiederholen. Als ich damit fertig war, fragte der Coroner, ob das kleine Mädchen in dem Augenblick, wo ihr Großvater den letzten Atemzug getan, noch im Zimmer gewesen sei.
Sie hielt seine Knie umklammert, solange er noch aufrecht stand, antwortete ich. Im Augenblick aber wo er hinsank, erschrak sie und lief hinaus.
Sprach er mit ihr? fuhr der Coroner fort.
Soviel ich gehört habe – nein.
Sagte er überhaupt irgend etwas?
Er stammelte ein paar unartikulierte Töne – Namen nannte er nicht.
Verlangte er nicht nach seinen Söhnen?
Nein.
Nach keinem von den dreien?
Nein.
Wie verbreitete sich die Todesnachricht im Hause?
Ich ging mit dem Kinde nach oben und sagte den jungen Herren Bescheid.
Coroner Frisbie rieb sich nachdenklich das Kinn; sein scharfes Auge wandte sich keine Sekunde von mir.
Lag auf dem Schreibtisch oder auf dem Fußboden in dem Augenblicke, als Sie das Zimmer betraten, ein leeres Fläschchen oder ein Stück Papier? frug er weiter.
Ein Papier? wiederholte ich. Was für ein Papier?
Nun, Papier, wie es Apotheker und Aerzte verwenden, um Arzneiflaschen einzuwickeln. Die Blausäure, die Herr Gillespie offenbar eingenommen hat, muß in flüssiger Form gekauft worden sein. Wir müssen also annehmen, daß zum mindesten das Fläschchen und vielleicht sogar das Einwickelpapier irgendwo im Zimmer herumlagen. Das heißt, wenn er dies Gift absichtlich zu sich genommen hat.
Ich erinnerte mich sehr gut, wie das von mir auf Geheiß des alten Herrn in den Briefumschlag gesteckte Papier ausgesehen hatte. Es war nicht von der Sorte, die zum Einwickeln von Arzneimitteln verwandt wird, und ich fühlte mich wesentlich erleichtert, antworten zu können:
Ein derartiges Papier habe ich nicht gesehen.
Wo ist das kleine Mädchen? fragte er weiter. Wenn die Kleine aussagte, ihr Großvater habe mir ein Stück Papier gegeben, so wollte ich dies einräumen und den Umschlag ausliefern. Hatte sie aber den Umstand vergessen, oder in ihrer Angst vielleicht gar nichts davon bemerkt, so wollte ich noch etwas länger darüber schweigen, in der Hoffnung, daß sich mir ein gangbarer Ausweg aus der Schwierigkeit zeigen würde. Es war mir daher ganz lieb, daß der Coroner nach dem kleinen Mädchen fragte.
Ich nehme an, daß Sie nicht gerade gern noch länger hier bleiben würden, fuhr er fort. Wenn Sie mir Ihre Adresse angeben und mir zusichern wollen, sich auf meinen Wunsch sofort zur Verfügung zu halten, so kann ich Sie für heute abend entlassen.
Ich überreichte ihm meine Karte, denn ich sah, daß ich keinen Vorwand hatte, mich noch länger im Sterbehause aufzuhalten, obwohl ich es, in Rücksicht auf meinen geheimen Auftrag, gern getan hätte. Ich ging daher auf die Tür zu. In diesem Augenblick kam der Doktor Bennett eilig in den Salon hinein und rief:
Ich habe was gefunden! ...
Dann schwieg er aber plötzlich, indem er einen schnellen Blick auf mich warf. Er schien im Zweifel zu sein, ob es angebracht wäre, in meiner Gegenwart von seinem Funde zu sprechen. Doch der Coroner schien derartige Bedenken nicht zu haben; er ging eilends auf den alten Hausarzt zu und rief:
Sie haben das Fläschchen gefunden? Oder etwa nur das Papier, worin es eingewickelt gewesen ist?
Bennett zog ihn auf die Seite, und ich sah, wie er dem Coroner einen Gegenstand übergab, der wie ein kleiner Stöpsel aussah.
Haben Sie das in Herrn Gillespies Schreibstube gefunden? fragte der Coroner. Ich glaubte in jenem Zimmer jedes Eckchen und Fleckchen durchsucht zu haben!
Bennett antwortete im leisesten Flüstertöne; trotzdem verstand ich mit meinem ungewöhnlich scharfen Gehör jedes Wort.
Er lag im Speisezimmer auf dem Fußboden, sagte er, unter dem Rand des Kaminteppichs. Ein sehr verdächtiger Umstand, meinen Sie nicht auch? Der alte Gillespie kann ihn auf keinen Fall dorthin geworfen haben. Also irgendein anderer – wer? weiß ich nicht – und! ich sage vorläufig auch nichts – mir wär's sehr unangenehm, wenn ich die Polizei im Hause haben müßte.
Die beiden Herren tauschten einen eigentümlichen Blick miteinander aus, wie ich in dem gegenüberhängenden Spiegel sah. Ich ließ mir aber nicht merken, daß ich es gesehen; ich war mir nur zu wohl bewußt, in welcher delikaten Lage ich mich in diesem Hause befand. In der nächsten Minute gingen wir zusammen hinaus. Im Augenblick, als wir die Schwelle überschritten hatten, hielt der Coroner uns noch einmal zurück und sagte ernst:
Ich bitte um Schweigen! Wir wollen heute abend die jungen Gillespies nicht mehr aufregen, als leider ohnehin nötig ist.
Er wurde durch einen lauten Ruf unterbrochen.
Wo ist Fräulein Meredith? Hat jemand Fräulein Meredith gesehen? Ich kann sie in keinem von den oberen Zimmern finden!
Und eine andere Stimme rief leidenschaftlich:
Hope, Hope! Wo bist du, Hope?
Durch das ganze Haus eilten Männer und Frauen von einem Zimmer zum anderen, und ich hörte nicht nur »Hope Meredith« rufen, sondern auch »Claire«. Dies mußte wohl der Name des kleinen Mädchens sein.
Ist denn auch das Kind nicht zu finden? fragte ich unruhig den Coroner, der noch wartend unten in der Halle stand.
Offenbar. Wer ist Fräulein Meredith?
Der alte Diener, Hatson, nahm das Wort und sagte:
Sie ist eine Cousine der jungen Herren. Herr Gillespie hielt große Stücke auf sie, und sie lebt hier wie die Tochter des Hauses. Man wird sie wohl in einem der Zimmer oben finden.
Darin täuschte der Mann sich aber. Allmählich kamen alle Dienstboten wieder nach der Halle herunter, wo sie sich flüsternd und mit ängstlichen Gesichtern in eine Ecke zusammendrängten. Nach ihnen kam George, ärgerlich dreinschauend und kopfschüttelnd, langsam die Treppen herunter. Ihm folgte Leighton, der sich in einer unbeschreiblichen Aufregung befand. Sein Kind, das ihm über alles ging, war verschwunden!
Sie muß hier sein! rief er wild. Claire! Claire!
Damit rannte er durch den großen Salon, wo sie doch nicht sein konnte, wie er selber gut genug wußte.
Alfred war oben geblieben.
Auf einmal kam mir eine Erinnerung an eine Wahrnehmung, die ich selber gemacht hatte, als ich mit der Kleinen im oberen Stockwerk war, und ich fragte Doktor Bennett:
Sind die Leute schon oben im vierten Stock gewesen? Als ich in Herrn Alfred Gillespies Zimmer im dritten Stock war, hörte ich auf der Treppe Kleider rauschen. Es war ein hastiges Laufen; ich glaubte damals, die betreffende Person eilte nach unten. Es kann aber auch sein, daß sie treppauf lief!
Wir wollen doch nachsehen! sagte der Doktor.
Ich schloß mich ihm ohne Besinnen an. Als wir an Alfreds Tür vorbeikamen, sahen wir ihn in seinem Zimmer stehen. Er war in einem solchen Zustande von Wut, daß er uns gar nicht bemerkte, und riß ein Blatt Papier in Fetzen; es war wieder ein Briefbogen wie jener, den er vorher in den Papierkorb geworfen hatte. Dabei murmelte er Worte vor sich hin, von denen ich nur einige verstand.
Warum denn schreiben? sagte er. Wenn sie mich liebte, würde sie warten. Sie würde nicht in einem solchen Augenblick fortgehen, wenn er nicht ...
Doktor Bennett legte den Zeigefinger auf seine Lippen und ging leise an der offenen Tür vorüber. Ich eilte ihm nach, und wir stiegen zusammen die letzte Treppenflucht hinauf.
Wir befanden uns jetzt in einem Teil des Gebäudes, der auch dem Doktor nicht bekannt war, geschweige denn mir. Hier oben war alles dunkel; nur ein schwacher Lichtstrahl drang durch eine Türspalte; wir sahen nach und fanden in einer der Dachstuben eine niedrig geschraubte Gasflamme brennen. Aber das Zimmer war leer. Auch in einigen anstoßenden Kammern war keine Menschenseele zu finden. Wir gingen wieder auf den Flur und bemerkten beim Schein eines Streichhölzchens, das der Doktor entzündete, zwei verschlossene Türen den bereits durchsuchten Zimmern gegenüber. Die eine führte zu einer gut möblierten Stube, die andere in eine Rumpelkammer, die halb mit Koffern und Kisten angefüllt war.
Nun, das muß ich sagen! rief Doktor Bennett aus, als sein Streichholz ausging, ehe wir noch die Kammer ordentlich hatten mustern können, diese ganze Geschichte steckt voll von Geheimnissen.
Pst! sagte ich. Wir wollen horchen! Wir müssen uns hier oben mehr auf unsere Ohren als auf unsere Augen verlassen!
Mit angehaltenem Atem lauschten wir beide. Und wirklich, wir hörten etwas. Es klang wie das Atmen eines in unserer Nähe versteckten Menschen. Oder konnte es etwas anderes sein? Der Doktor zündete ein neues Streichholz an.
Diesmal sahen wir etwas, aber wieder erlosch das schwache Flämmchen, ehe wir hatten unterscheiden können, was es war. Wir mußten uns unbedingt Klarheit verschaffen, und dazu gehörte vor allem ordentliches Licht. Ich hatte in einer der anderen Kammern eine Kerze bemerkt; ich eilte hin, entzündete sie an der Gasflamme und kehrte, so schnell ich konnte, nach der Rumpelkammer zurück.
Dort hatten wir einen seltsam rührenden Anblick.
An der Wand stand eine weibliche Gestalt. Weit aufgerissene Augen starrten uns an aus einem bleichen Antlitz, das vor Entsetzen über irgend etwas Unerhörtes, Ungeahntes völlig versteinert zu sein schien. Und dies Gesicht war schön, von jener rührenden weiblichen Schönheit, die zu Herzen geht. Rührend war auch der Anblick des im ganzen Hause vergeblich gesuchten kleinen Mädchens – es lag in sanftem Schlummer zu ihren Füßen!
Wer ist das? fragte ich. Ist es Fräulein Meredith?
Der Doktor drückte mir die Hand und flüsterte:
Wir müssen vorsichtig sein. Sie ist in einem Zustande, daß ein plötzliches Erschrecken sie um ihren Verstand bringen kann.
Das Kind scheint aber keine Angst vor ihr zu haben, murmelte ich.
Der Doktor war inzwischen auf das junge Mädchen zugeschritten, das noch immer wie gebannt sich gegen die Wand anpreßte, und lächelnd sagte er:
Warum sind Sie denn in einem so kalten Zimmer? Claire wird sich erkälten. Wollen Sie nicht lieber mit herunterkommen?
Zusammenfahrend sah sie auf die Kleine hernieder, die noch immer, ohne sich zu rühren, zu ihren Füßen lag, und rief:
Wie ist sie denn zu mir gekommen? Ich habe sie nicht gerufen.
Und wie kommen Sie denn selber hier herein? war des lächelnden Doktors Gegenfrage. Mit Ihrem weißen Kleide passen Sie doch nicht in diese Rumpelkammer!
Sie richtete sich kerzengerade auf; von der Bewegung erwachte Claire und fing an zu weinen.
Ich hörte, daß Herr Gillespie tot sei, antwortete kaum hörbar das junge Mädchen mit starren, blassen Lippen. Ich hatte ihn lieb, und in meinem Schmerz flüchtete ich in diese Kammer.
Sie stand noch immer gegen die Wand gepreßt, die Hände hinter ihrem Rücken verbergend. Ich bemerkte, wie ihre Zähne klapperten; das konnte nicht von der Kälte allein herrühren, selbst der plötzliche Tod eines väterlichen Freundes und Wohltäters reichte zur Erklärung einer Aufregung, wie das junge Mädchen sie zeigte, nicht aus. Was mochte sie nur haben?
Wollen Sie nicht mit hinuntergehen? sagte der Doktor eindringlich, indem er Claire zärtlich wie ein Vater auf seine Arme nahm.
Niemals! schienen ihre Lippen rufen zu wollen, aber ich hörte keinen Laut. Und als Bennett, nachdem er mir das Kind gegeben, seinen Arm um sie schlang und sie sanft mit fortzog, da folgte sie ganz fügsam. Doch heftete sie einen seltsam starren Blick auf den alten Mann, einen Blick, den ich damals nicht verstand, und der mir noch lange Zeit nachher ein Rätsel war.
Auf dem Treppenabsatz begegneten wir Alfred. Vielleicht hatte er uns nach oben gehen hören, vielleicht war er von selbst auf den Gedanken gekommen, die Dachkammern zu durchsuchen. Sowie er uns sah, rief er aus:
Sie haben sie gefunden!
Auf das Kind bezog dieser Aufruf sich nicht; denn in vorwurfsvollem Tone setzte er hinzu:
Hope, wie konntest du uns solche Angst machen? Haben wir nicht schon genug zu tragen? Mußtest du noch mit einer neuen entsetzlichen Befürchtung unsere Herzen peinigen?
Ihre Antwort war nur ein unverständliches Flüstern. Sowie sie den jungen Mann erblickt hatte, war ihr Antlitz starr geworden wie eine Maske.
Viertes Kapitel.
Indem ich diese Beobachtung mitteile, möchte ich bemerken, daß ich kein Vorurteil gegen Alfred zu erwecken wünsche. Ich hätte kein Recht dazu, denn als ein paar Sekunden darauf Leighton, der seines Kindes Stimme vernommen hatte, die Treppen hinaufgeeilt kam, bemerkte ich an ihr dasselbe Zurückschaudern, dem ein gleicher Ausdruck von Starrheit folgte. Und abermals dieselbe Beobachtung machte ich unten in der Halle, als George auf sie zueilte und sie mit eindringlichen, aber doch ganz natürlichen Fragen bestürmte, wo sie denn so lange gewesen sei. Dabei war ihr anzusehen, wie sehr sie litt, und daß sie sich krampfhaft bemühte, dieses unwillkürliche Zurückschaudern zu verbergen, das ja auch ihren nahen verwandtschaftlichen Beziehungen zu den drei Brüdern durchaus nicht entsprach. Aber es wurde natürlich bemerkt und erregte in Alfred eine Aufregung, die er vergeblich zu beherrschen suchte, in Leighton Ueberraschung und in George einen wilden Zorn, der sich in jähestem Wechsel der Gesichtsfarbe von Leichenblässe zu dunklem Rot und von dunkelrot zu Leichenblässe äußerte.
Wie hat sie nur von ihres Oheims Tod so bald Kenntnis haben können? flüsterte Bennett mir ins Ohr. Sie sagten doch, Sie hätten sie die Treppe hinaufeilen hören, während Sie in Alfreds Zimmer gewesen seien. Das war doch ganz wenige Augenblicke, nachdem der alte Herr in Ihren Armen verschieden war! Ist es möglich, daß Sie Fräulein Meredith bereits begegnet waren? Hatte sie zu allererst im ganzen Hause Kenntnis von dem Tode ihres Onkels?
Meines Wissens nicht! versetzte ich. Ich habe sie oben in der Dachkammer zum erstenmal gesehen. Es wäre ja aber ganz wohl denkbar, daß sie hier in der großen Halle oder in einem der vielen Zimmer hier unten gewesen ist.
Ich konnte meine Augen nicht von ihrer Schönheit abwenden; das heißt, ich nenne es »Schönheit«, weil ich keinen anderen passenden Ausdruck dafür weiß. Ich glaube, sie war nicht eigentlich schön in dem Sinne, den man diesem Wort gewöhnlich beilegt. Sie brauchte aber auch solche Schönheit nicht; ihr bezaubernder Reiz war auch ohne diese unbestreitbar – zu unbestreitbar, fürchte ich, für Alfred und George Gillespie.
An ihrer Haltung, an dem geradeaus gerichteten Blick ihrer Augen, an den festgeballten Händen, die sie immer noch auf dem Rücken hielt, konnte ich bemerken, daß sie alle ihre Geisteskräfte aufbot, um zu einem bestimmten Entschlusse zu kommen. Und ich fürchte, dieser Entschluß stand wenig im Einklang mit der Haltung einfacher Trauer, die sie an den Tag zu legen bemüht war. Leighton schien dies ebenfalls zu bemerken, denn er setzte das Kind nieder, das er bis dahin gegen seine Brust gepreßt gehalten hatte, trat an seine Cousine heran und richtete ein paar hastige Fragen an sie.
Doch ehe sie antworten konnte, trat der Coroner heran und sagte seinerseits:
Wenn Sie Fräulein Meredith sind, Herrn Gillespies Nichte und Mitarbeiterin, so ist Ihr tiefer Kummer und Schmerz begreiflich. Der alte Herr ist unter höchst seltsamen Umständen verschieden.
Plötzlich bewegte sie ihre beiden Hände nach vorn, die sie bis dahin krampfhaft auf dem Rücken gehalten hatte, aber ihre Augen blickten starr immer auf denselben Punkt. Vielleicht fürchtete sie, den Blicken der drei Brüder zu begegnen, die hinter dem Coroner standen.
Sind die näheren Umstände Ihnen mitgeteilt worden? fragte Frisbie in freundlichem und ermutigendem Tone weiter.
Nein.
Die Antwort kam schnell und scharf heraus; man sah, sie war ein Weib von festem Willen, was ich nach der Art, wie wir sie aufgefunden, nicht von ihr erwartet hatte.
Dann hat also die Kleine nichts gesagt? fuhr er fort, mit einem Blick auf Claire, die sich wieder zu Fräulein Merediths Füßen hingesetzt hatte.
Claire? rief sie, offenbar überrascht. Claire?
Und ihre Augen folgten dem Blick des Coroners, bis sie das Mädchen bemerkte, von deren Anwesenheit sie bis dahin augenscheinlich nichts gewußt hatte.
Nein! erwiderte sie. Sie hat nichts gesagt. Wenigstens habe ich nichts von ihr gehört.
Dabei streckte sie die Hand aus, als wolle sie bitten, das Kind hinwegzubringen. Aber sie vollendete die Bewegung ihres Armes nicht, und ich bezweifle, ob von den Anwesenden jemand außer mir deren Bedeutung ahnte.
Der Coroner hatte offenbar den Wunsch, ihre Gefühle zu schonen und sagte:
Doktor Bennett wird Ihnen mitteilen, zu welchen Schlußfolgerungen wir bis jetzt gekommen sind. Ich wünsche von Ihnen nur zu erfahren, wann Sie Herrn Gillespie zum letztenmal gesehen haben.
Bei Lebzeiten? fragte sie und warf dabei einen verstohlenen Blick auf die Tür der kleinen Hinterstube.
Ja, Fräulein Meredith. Als Toten haben Sie ihn doch ganz gewiß nicht gesehen.
Ich war mit ihm bei Tisch, erwiderte sie. Wir waren alle da – und bei diesen Worten sah sie zum erstenmal ihre drei Vettern einen nach dem andern an. Mein Onkel schien so wohl zu sein, wie er seit seiner letzten Krankheit nur je gewesen ist. Er aß mit gutem Appetit und trank ...
Und trank ... wiederholte der Coroner mit einem ernsten Blick auf die hinter ihm stehenden drei jungen Leute, die alle drei emporfuhren.
... sein gewohntes Glas Wein zum Nachtisch. Er trank allein! rief das Mädchen mit starker Betonung und in plötzlich hervorbrechender Erregung. Niemals kann ich das vergessen, daß er allein trank.
Ein Seufzer oder ein seufzergleicher Hauch antwortete ihr. Einer ihrer Vettern hatte ihn ausgestoßen, aber wer es war, das habe ich niemals erfahren. Als sie den Ton vernahm, fuhr sie zusammen, als wäre sie ins Herz getroffen, hob ihre Hände empor und hielt sich die Ohren zu. Aber sofort ließ sie sie wieder sinken und sah mit unbeschreiblich traurigem Blick langsam die jungen Leute der Reihe nach an.
Wie gern hätte ich nach alter guter Sitte ihm Bescheid getan, hätte ich gewußt, daß dies sein letzter Trunk war, rief sie aus, und dann ließ sie mit einem Seufzer wieder ihr Haupt auf die Brust sinken.
Ich verstehe Sie nicht ganz, sagte der Coroner nach einer kurzen Pause allgemeinen atemlosen Schweigens. Trank Herr Gillespie sonst für gewöhnlich sein Glas zusammen mit seinen Tischgenossen, oder warum erregt Sie der Umstand, daß er es heute abend allein trank, in so hohem Maße?
Ja. Sonst verging keine Mahlzeit, ohne daß zum Schluß einer seiner Söhne irgendeinen Trinkspruch ausgebracht hätte. Das eigentümliche Zusammentreffen der Umstände geht mir so zu Herzen. Aber ich weiß nicht, warum ich davon spreche – niemand konnte voraussehen, daß dies das letztemal sein sollte, wo wir alle vereinigt wären.
Sie sah bei diesen Worten gerade vor sich hin. Es klingt fast unglaublich, aber sie war sich offenbar nicht bewußt, über den Häuptern ihrer drei Vettern das schwarze Banner des Verdachtes aufgepflanzt zu haben. Erst als ein drückendes Schweigen ihren Worten folgte, schien ihr die Tragweite ihrer Aussage klar zu werden, denn plötzlich fuhr sie zusammen, ihre Züge verzerrten sich in einer mich erschreckenden Weise, und mit vorgestreckten Armen rief sie aus:
Sie verbergen mir etwas! Woran ist mein Onkel gestorben? Sagen Sie's mir – sagen Sie's mir sofort!
Leighton sprang vor, nahm sein Kind auf den Arm und eilte mit ihm in ein anderes Zimmer. George zitterte, richtete sich dann aber in stolzer Haltung kerzengerade empor. Alfred, der, um seine Leidenschaft niederzukämpfen, an seinen Nägeln gekaut hatte, trat einen Schritt auf sie zu, wie wenn er sie stützen wollte. Aber sie schien auf keinen ihrer Vettern zu achten. Ihre ganze Aufmerksamkeit war auf den Doktor gerichtet; zu Tod geängstigt hingen ihre Blicke an seinen Lippen.
Ihr Onkel ist das Opfer von Gift geworden! sagte er. Aber wir können annehmen, daß er es geraume Zeit nach dem Abendessen zu sich nahm. Blausäure macht schnelle Arbeit.
Diese Erklärung hörte sie nicht mehr. Sowie sie das Wort »Gift« vernahm, sank sie ohnmächtig zu Boden.
Fünftes Kapitel.
Jetzt hätte ich eigentlich gehen sollen, und ich hätte das auch getan, wenn nicht der immer noch unbestellte Brief in meiner Tasche gewesen wäre. Es schien mir unerlaubt, ja ungesetzlich, zu gehen, ohne dem Coroner Mitteilung zu machen, daß ich ein so wichtiges Papier im Besitz hatte; andererseits wäre es ein Vertrauensbruch gegen den Toten gewesen, hätte ich ohne weiteres gesprochen und den Brief ausgeliefert; denn unverkennbar hatte Herr Gillespie den größten Wert darauf gelegt, daß das Papier nur der Person, für die es bestimmt war, in die Hände käme.
Ich war aber noch nicht völlig überzeugt, daß es mir unmöglich sein würde, diese Person ausfindig zu machen. Mir war in den letzten Augenblicken ein Gedanke gekommen, der mir vielleicht einen Ausweg aus der Schwierigkeit ermöglichen konnte. Aber bevor ich davon Gebrauch machte, mußte ich unbedingt von den Mitgliedern der Familie Gillespie und ihrem gegenseitigen Verhältnis mir nähere Kenntnis verschaffen. Dies war also für mich nicht bloß wichtig, sondern geradezu wesentlich. Und wo konnte ich hoffen, diese Kenntnis schneller zu erlangen als hier an Ort und Stelle?
Ich blieb also, und der mit George befreundete junge Arzt mochte ähnliche Gründe haben, die ihn zum Verweilen bestimmten, denn er ließ gleich mir den deutlichen Wink des Coroners unbeachtet. Wir zogen uns in die Nähe der Haustür zurück und kamen sofort ins Gespräch.
Ein famoses Mädchen! rief er aus. Sie hing sehr an ihrem Onkel. Sie ging ihm bei seiner Korrespondenz an die Hand. Weiber in Ohnmacht fallen zu sehen, ist mir ein Greuel. Ich bin nun schon seit zwei Jahren in der Praxis, aber dieses Gefühl habe ich immer noch nicht überwinden können.
Mir lag außerordentlich viel daran, über die Beziehungen der jungen Dame zu ihrem Onkel etwas Näheres zu erfahren. Ich überwand daher meine Abneigung gegen den jungen Arzt, dessen trunkenes Benehmen im Anfang mich nicht gerade zu seinen Gunsten eingenommen hatte, und brachte, allerdings etwas ungeschickt, wie ich zugeben muß, das Gespräch auf Herrn Gillespie.
Der alte Gillespie war also wohl ein sehr viel beschäftigter Mann? bemerkte ich. Wenigstens ließ der mit Papieren überladene Schreibtisch mich darauf schließen. Ueberanstrengung treibt manchen zum Selbstmord.
Der junge Doktor, der übrigens inzwischen vollständig nüchtern geworden war, sah mich mit einem stechend scharfen Blick an und sagte:
Ja.
Aber in dieser Zustimmung lag ein eigentümliches Mißtrauen verborgen.
Die ohnehin peinliche Lage, worin ich mich in dem fremden Hause befand, wurde durch die kühle Abweisung des jungen Doktors nicht angenehmer. Ich sah mich nach dem Coroner um und bemerkte diesen in ernstem Gespräch mit dem alten Hatson, der zum Umfallen erschöpft zu sein schien. Im selben Augenblick hörte ich zwei Schlüssel rasseln; zwei Türen wurden gleichzeitig geschlossen. So war der Speisesaal gegen Unberufene geschützt; die Schlüssel wurden dem Coroner eingehändigt.
Fräulein Meredith, die in eins der anstoßenden Zimmer gebracht worden war, erholte sich langsam von ihrer Ohnmacht. Ich konnte dies dem Gesicht und der Haltung Alfreds ansehen, der in der offenen Tür jenes Zimmers stand und die Augen unverwandt auf ihr Gesicht geheftet hielt. Ich war mit dem jungen Doktor ganz allein in der Halle, und da dieser es vorzog, in seinem Schweigen zu verharren, so konnte ich vollkommen deutlich die Erzählung anhören, die der alte Diener dem Coroner vortrug.
Ich habe, sagte er, wie gewöhnlich bei Tische aufgewartet, Herr, und die Flasche, die Herrn Gillespie vorgesetzt wurde, habe ich mit meiner eigenen Hand entkorkt. Die jungen Herren haben mit dieser Flasche gar nichts zu tun gehabt; sie haben sie nicht mal angerührt, denn keiner von ihnen schien Lust zum Trinken zu haben. Herr George sagte, er hätte Kopfweh, und Herr Leighton – na, der rührt ja überhaupt keinen Portwein oder andere geistige Getränke an. Herr Alfred sagte nichts, er machte nur einfach 'ne abweisende Handbewegung, als ich das Glas präsentierte. So trank also der alte Herr allein. Er schien sich nicht recht glücklich zu fühlen, Herr, und darüber war Fräulein Meredith so aufgeregt. Es tat ihr immer weh, wenn Herr Gillespie mit ihren Vettern nicht zufrieden zu sein schien.
Und wo ist die Portweinflasche und das Glas, woraus Herr Gillespie bei Tische trank?
O Herr – Sie müssen mich entschuldigen – aber – aber – ich trank selber den Rest, der noch in der Flasche war. Er sagte oftmals, wenn er gerade gut aufgelegt war: »Die können Sie austrinken, Hatson!« Heute abend sagte er das allerdings nicht, aber ich erkühnte mich, an die anderen Male zu denken, wo er's gesagt hatte. Sie müssen wissen, ich bin seit zwanzig Jahren bei der Familie. Ich war ein junger Mann, als Herr Gillespie mich in seinen Dienst nahm, und in den langen Jahren hatten wir beide uns gegenseitig aneinander gewöhnt. Das Glas, Herr, das habe ich ausgewaschen – schon vor langer Zeit. Bis neun Uhr war er ja auch ganz gesund und munter.
Das heißt also, bis er das Glas Sherry getrunken hatte?
Jawohl.
Das Sie ihm ebenfalls brachten?
Nein, Herr. Ich nahm die Flasche aus dem Büffetschrank, und Herr Leighton ging damit nach der Hinterstube. Er klingelte nach mir vom Speisezimmer aus, und als ich heraufkam, verlangte er seines Vaters Sherryflasche, und ich gab sie ihm. Dann ging er wieder nach unten.
Und diese Flasche ist nicht gefunden worden?
Ich habe sie nicht mehr gesehen, Herr. Vielleicht hat ein anderer sie gesehen. Sie war nicht ganz voll. Herr Gillespie hatte bereits vorher ein paar Gläser daraus getrunken.
Sie haben mir noch nicht gesagt, woher Sie das Glas hatten, aus welchem Herr Gillespie den Sherry trank.
Ebenfalls aus dem Büffet. Es steht immer eine Anzahl Gläser unten im Schrank, Herr.
Holten Sie das Glas da heraus?
Wahrscheinlich, Herr.
Nahmen Sie das erste beste, das Ihnen in die Finger kam, und gaben Sie dieses Herrn Leighton?
Ich glaube, ja.
War das Zimmer hell oder dunkel? Konnten Sie klar und deutlich sehen, was Sie in die Hand kriegten, oder hatten Sie umherzutasten, um das Glas zu finden?
Soweit ich mich erinnere, war der Speisesaal nicht gerade allzu hell. Es brannte nur eine einzige Gasflamme, und das Zimmer ist groß. Aber ich sah die Gläser ziemlich deutlich. Ich weiß eben, wohin ich zu greifen habe, Herr!
Schön. Dann haben Sie wohl bemerkt, ob das von Ihnen herausgenommene Glas rein war oder nicht?
Die Gläser sind stets rein. Ich setze meine Brille auf, wenn ich sie ausspüle.
Der alte Diener schien ganz entrüstet zu sein.
Ja, ja – gewiß, bemerkte der Coroner. Sie müssen also eine Brille tragen?
Wenn ich die Gläser reinige! Jawohl, Herr!
Der Coroner stellte keine weiteren Fragen. Wahrscheinlich fürchtete er, diese könnten so aufgefaßt werden, als ob er einen bestimmten Verdacht der Schuld auf Leighton lenken wollte. Uebrigens hätte er auch keine Zeit mehr dazu gehabt, denn in diesem Augenblick erschien Fräulein Meredith auf der Schwelle des Zimmers, in welches man sie getragen hatte. Da stand sie und ließ einen heißen und unruhigen Blick, den Alfred vergebens auf sich zu lenken bemüht war, durch die Halle schweifen.
Claire! Wo ist Claire? fragte sie. Ich möchte sie zu Bett bringen.
Hier ist sie, sagte Leighton, aus dem Salon kommend. Das Kind lag fest schlafend an seiner Brust. Nimm sie, Hope, und gib acht, daß du sie nicht aufweckst. Bringe sie lieber so in ihren Kleidern zu Bett, daß sie nicht noch mal erschrickt.
Hope streckte ihre Arme aus. Ihr Aussehen beunruhigte mich aufs höchste, und auch der Doktor sagte:
Fräulein Meredith ist noch nicht imstande, das Kind die Treppe hinaufzutragen.
Aber die Kleine lag bereits an ihrem Busen, und Hope sagte, indem sie ihren Kopf zurückbog, damit Leighton sein Kind küssen könnte:
Ich kann sie tragen!
Wirklich? fragte Alfred.
Ganz gewiß! erwiderte sie und schlang krampfhaft ihre Arme um das Kind.
Laß mich mit dir gehen! bat er. Doch sein Auge begegnete dem des Coroners, und er setzte schnell hinzu: Das heißt, wenn du Hilfe nötig zu haben glaubst.
Dies war augenscheinlich nicht der Fall, denn im nächsten Augenblick sah ich ihre schwankende Gestalt allein die Treppe hinaufgehen. Von Georges Stirn war die finstere Wolke, die sich darauf zu bilden begonnen hatte, wieder verschwunden, und nur Alfreds Züge sahen verstört aus. Dann aber zog der Coroner die Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf sich, indem er ernsten Tones zu den vor ihm stehenden drei jungen Leuten sagte:
Als Herrn Gillespies Söhne werden Sie gewiß die Notwendigkeit einsehen, daß ich sofort einen Versuch mache, Gewißheit über die Frage zu erlangen, wie und wann Ihr Vater das Gift zu sich nahm, das allem Anschein nach seinem wertvollen Leben, ein Ende gemacht hat.
Und als niemand antwortete, fuhr er ruhig fort:
Es fehlt eine Flasche; die Flasche Sherry, woraus er einige Zeit nach dem Abendessen ein Glas zu sich nahm. Wollen Sie mich ermächtigen, das Haus zu durchsuchen, bis ich diese Flasche gefunden habe? Es ist ja erst eine so kurze Zeit seitdem verstrichen; die Flasche muß noch zu erreichen sein.
Ich kann Ihnen sagen, wo sie ist, versetzte einer der Brüder. Ich bekam Durst auf ein Glas Wein. Es waren Freunde bei mir oben; darum ging ich hinunter und nahm die erste beste Flasche mit. Sie werden sie oben in meinem Zimmer finden. Wir haben alle davon getrunken; in dem Wein kann also kein Gift gewesen sein.
Es war George, der diese Worte sprach, und jetzt wurde mir klar, warum er vorhin mehreremal die Lippen bewegt hatte, um etwas zu sagen.
Der Coroner schien sich erleichtert zu fühlen; indessen machte er eine Bewegung, die in merkwürdiger Weise einem Wink glich, in der Richtung auf den Hintergrund der Halle zu. Dies wunderte mich, denn ich hatte geglaubt, daß die Halle menschenleer sei, seitdem die Dienerschaft hinausgeschickt war. Daß es ein Wink war, erschien mir zweifellos, obgleich er dabei ruhig sagte:
Sie und Ihre Freunde tranken davon? Sehr gut; das beseitigt einen Zweifel.
Er schwieg und wartete, wie es schien, auf einen Bescheid, den ein Mann, dessen Schritt wir jetzt in der Halle hörten, ihm bringen mußte.
Die Schritte näherten sich, und auf einmal kam von der Dienerschaftstreppe her ein junger Mann mit einer Flasche in der Hand. Offenbar war er allen Bewohnern des Hauses ebenso fremd, wie ich selber wenige Stunden zuvor. Ruhig nahm der Coroner ihm die Flasche ab, ruhig und ohne den geringsten Versuch, die Anwesenheit des in so dramatischer Weise von ihm plötzlich auf die Szene gebrachten Fremdlings zu entschuldigen oder auch nur zu erklären, hielt er sie George Gillespie hin und fragte:
Ist dies die Flasche, die Sie meinen?
Der junge Herr nickte bejahend.
Der Coroner hielt die Flasche gegen das Licht. Es waren nur noch ein paar Tropfen darin. Diese prüfte er mit Nase und Zunge. Dann sagte er:
Sie haben recht. Der Inhalt dieser Flasche ist allem Anschein nach rein. Damit gab er sie dem Mann zurück, der sie sofort hinwegtrug.
Leighton schien Lust zu haben, sich zu erkundigen, was das für ein fremder Mann sei. Aber er schwieg. Es schien auch kaum nötig zu sein. Die selbstbewußte Haltung des Mannes, der scharfe Blick, womit er uns alle musterte, dies alles sprach dafür, daß das längst Befürchtete eingetreten war: die Kunde von dem Ereignis war nach draußen gedrungen, und ein Geheimpolizist hatte das Haus betreten.
Der Coroner Frisbie bemerkte sehr wohl den peinlichen Eindruck, den der Anblick des unwillkommenen Eindringlings auf die stolzen drei Brüder machte; aber er kümmerte sich nicht darum und fuhr ruhig fort, an George die Fragen zu richten, die sich von selber aus seiner Aussage ergaben:
Sie waren also kurz vor Ihres Vaters Tod in dieser Etage – vielleicht sogar unmittelbar vor dem Augenblick, wo er den Trank zu sich nahm, der seinem Leben ein so unglückliches Ende setzte?
Ich war vor ungefähr einer Stunde in dieser Etage – jawohl, Herr Coroner!
Sahen Sie dabei Ihren Vater oder sonst jemand?
Nein. Um die Wahrheit zu gestehen – ich wollte mich nicht gerne sehen lassen. Es war noch ein bißchen früh am Abend, um in Gesellschaft Wein zu trinken. Deshalb nahm ich einfach die Flasche vom Büffet und ging damit auf mein Zimmer zurück.
Und die Gläser?
Oh – Gläser habe ich stets in genügender Menge in meinem Zimmer.
Der Coroner strich sich das Kinn. Offenbar fand er sich einem schwierigen Problem gegenüber.
Kein Gift in dieser Flasche, sagte er nachdenklich. Kein Gift in der Flasche, die der alte Hatson leertrank und ebensowenig – soweit wir in diesem Augenblick darüber urteilen können – in dem Chloralfläschchen, das wir auf dem Kaminsims des Arbeitszimmers fanden. Aber Ihr Vater ist an Blausäure gestorben! Kann nicht einer von Ihnen mir zu Hilfe kommen und angeben, wie das wohl zusammenhängen mag? Das könnte uns unnötige Mühen ersparen – und dem Hause vielleicht einigen Skandal.
Diesen Appell konnten Gillespies Söhne nicht gut unbeachtet lassen. Sie erbleichten alle drei unter dem forschenden Blick, womit der Coroner seine Worte begleitete, aber keiner von ihnen sprach, bis zuletzt das Schweigen unerträglich wurde. Endlich raffte Leighton sich gewaltsam auf und bemerkte:
Mein Vater war ein stolzer Mann. Wenn er beschloss ... wenn er beschlossen haben sollte, sich auf so traurige Weise seinen Sorgen zu entziehen, so hätte er es gewiß so eingerichtet, daß keine Spur zurückblieb, wodurch ein Makel auf unser Haus fallen konnte. Hätte er diesen Schritt getan, so würde er gehofft haben, daß man seinen plötzlichen Tod einer Nachwirkung seiner letzten Krankheit zuschriebe. Dies ist ohne Zweifel der Grund, weshalb Sie die Phiole, die das Gift enthielt, nicht aufzufinden vermögen.
Hm, hm. Ihr Vater hatte also Sorgen?
Die Antwort lautete überraschend:
Mein Vater hatte drei Söhne – und mit keinem von diesen konnte er ganz zufrieden sein. Ist das nicht wahr, George? Ist es nicht so, Alfred?
Die beiden Brüder wurden dunkelrot, wagten aber nicht zu widersprechen.
Du hast dich aber doch mit Vater immer ziemlich gut gestanden, sagte George schließlich in mürrischem Ton.
Ein Schatten überzog Leightons Gesicht, und er murmelte, indem er mit tieftrauriger Miene sich abseits wandte:
Ich kann nicht vergessen, daß wir eine Stunde vor seinem Tode einen Wortwechsel miteinander hatten.
Inzwischen war ich zu einem festen Entschluß gekommen. Ich trat von meinem Platz im Hintergrund der Halle, wo ich mit dem jungen Doktor gestanden hatte, auf die Gruppe zu und sagte ruhig aber fest:
Meine Herren, ich habe gewartet, um klar meine Pflicht ersehen zu können. Ich bin Ihnen ein Fremder – trotzdem aber habe ich Ursache zu glauben, daß der Schlüssel zu diesem Rätsel, das Ihres Vaters Tod umgibt, sich in meinen Händen befindet. Wollen Sie mir, ehe ich mich deutlicher ausspreche, erlauben, Ihnen eine einzige Frage zu stellen?
Die drei jungen Gillespies sahen mich überrascht an; nicht weniger erstaunt war auch der Coroner, der wahrscheinlich der Meinung gewesen war, schon beim ersten Verhör von mir alles erfahren zu haben, was ich selber wußte.
Die Frage, die ich an Sie zu richten wünsche, fuhr ich fort, wird Ihnen seltsam und einem so ernsten Anlaß nicht angemessen erscheinen. Aber ich bitte Sie, mir Ihr Vertrauen zu schenken und mir eine offene und unumwundene Antwort zu geben. Besaß Herr Gillespie schauspielerische Begabung? Hatte er ein gewisses mimisches Talent, oder, um mich ganz klar und deutlich auszudrücken: war er imstande, nach Belieben seinen Gesichtszügen einen bestimmten Ausdruck zu verleihen?
Meine Frage erregte Erstaunen, aber keinen Widerspruch.
Vater war ein talentvoller Mann, sagte Alfred halb ärgerlich. Ich habe Claire oft über seine Geschichten lachen hören, und sie sagte immer, es wäre, wie wenn er kleine Theaterstücke vor ihr spielte. Aber uns eine solche Frage bei so trauriger Veranlassung zu stellen – das ist eigentümlich, wenn nicht gar unpassend, Herr Cleveland!
Ich hatte Ihnen vorher gesagt, daß meine Frage Ihnen seltsam erscheinen würde, versetzte ich. Dann wandte ich mich an den Coroner und fuhr fort:
Herr Doktor Frisbie, ich muß um Ihre Nachsicht bitten. Als ich von Herrn Gillespies kleiner Enkelin gerufen, dieses Haus betrat, fand ich den alten Herrn nicht nur unter großen körperlichen, sondern unter ebenso großen seelischen Schmerzen leidend. Er wünschte – aber dieser Ausdruck ist viel zu schwach – er begehrte in höchster Erregung die Erfüllung eines Wunsches. Doch seine Zunge versagte ihm bereits den Dienst, und er konnte nicht sagen, worin diese Sehnsucht bestand. Endlich, nach mehreren vergeblichen Anstrengungen gelang es ihm, mir begreiflich zu machen, daß ich ihm ein Papier abnehmen sollte, welches er in seiner zusammengekrampften Hand hielt. Ich tat es, und er bedeutete mir, dieses bereits zusammengefaltete Papier in einen von den Briefumschlägen zu stecken, die auf dem Schreibtisch vor uns lagen. Ich sah keinen Grund, ihm seine Wünsche nicht zu erfüllen, und handelte demgemäß nach seinen Anweisungen. Darauf fragte ich ihn nach Namen und Adresse der Person, für die er diese Mitteilung bestimmte. Mittlerweile waren aber seine Kräfte soweit gesunken, daß er den Namen nicht mehr hervorbringen konnte. Er äußerte nur noch in abgerissenen Lauten: »Keinem ... keinem anderen Menschen ... nur ...« Er brachte den Satz nicht mehr zu Ende. Aber, meine Herren, während ich hier wartete, habe ich durch eigenes Nachdenken den Schluß des Satzes herausgefunden, den Ihr Vater zu sprechen beabsichtigte. Es lag ihm offenbar ungeheuer viel daran, daß der Brief nicht in die falschen Hände käme. Das konnte ich dem flehenden Ausdruck seines bereits vom Todeskampf verzerrten Gesichts ansehen. Deshalb habe ich den Brief bei mir behalten, habe kein Wort davon gesagt und ihn selbst seinen leiblichen Söhnen nicht ausgehändigt, obwohl diese an und für sich gewiß ein höheres Anrecht darauf besitzen als ich, der ich ja in diesem Hause ein Fremder bin. Aber seitdem ich Fräulein Meredith gesehen, und vor allem seitdem ich gehört habe, wie Sie sie mit dem Namen Hope Hoffnung. anredeten – seitdem habe ich die feste Ueberzeugung gewonnen, daß die letzte von Herrn Gillespies Hand herrührende schriftliche Mitteilung für sie bestimmt war. Denn als ich in meiner Ratlosigkeit in ihn drang, er möchte mir irgendein Zeichen machen, woraus ich schließen könnte, ob der Brief für seinen Arzt, seinen Anwalt oder für irgendeinen Angehörigen seines Hauses bestimmt wäre, – da richtete er sich empor, und sein Antlitz nahm einen eigentümlichen Ausdruck an, während er es nach oben richtete. Kurz, ich muß jetzt annehmen, daß er damit versuchen wollte, den Namen, den er nicht mehr aussprechen konnte, mimisch darzustellen. Meine Herren, ich habe Ihnen seine Haltung beschrieben. Auf welchen von den Ihnen geläufigen Namen paßt sie am besten?
Hope! antworteten alle gleichzeitig.
Das war auch meine Meinung.
Damit wandte ich mich an den Coroner Frisbie und setzte noch hinzu:
Ich habe gehört, daß die junge Dame ihres Onkels Vertraute gewesen ist. Wollen Sie mir erlauben, diesen Umschlag an Fräulein Meredith zu übergeben? Ich bin der festen Ueberzeugung, daß ich damit den von Herrn Gillespie erhaltenen letzten Auftrag erfülle.
Meinen Worten folgte ein Schweigen, das von keiner Bewegung unterbrochen wurde. Dann antwortete der Coroner nur:
Ja – wenn es in meiner Gegenwart geschieht.
Ich wandte mich wieder an die jungen Gillespies und sagte:
Ich bitte Sie, entschuldigen Sie mein Verhalten mit der Lage, worin ich mich befinde, und lassen Sie Fräulein Meredith holen. Ich fühle mich verpflichtet, den Brief in ihre Hände zu legen. Wenn ich damit Ihres Vaters letzten Wunsch falsch auslege, so handle ich wenigstens unter Ihren Augen und aus Beweggründen, die nicht falsch gedeutet werden können. Ich kenne ja Ihre Familie nicht näher und weiß daher niemanden, der ein näheres Anrecht auf den Empfang des Briefes hätte als Fräulein Meredith. Oder wissen Sie jemanden?
Niemand versuchte mir etwas zu entgegnen.
Doktor Bennett war bereits hinaufgegangen, um Hope Meredith herbeizuholen.
Sechstes Kapitel.
Während wir auf die junge Dame warteten, prüfte ich die drei Gillespies mit kritischerem Blick, als es mir bisher möglich gewesen war. Das Ergebnis war folgendes: George erschien mir als der aufrichtigste, Leighton als der geistig bedeutendste, Alfred als der unruhigste, der in Liebe und Haß unberechenbar war. Sie waren alle aufgeregt und fühlten sich augenblicklich tief gedemütigt; aber wenn sie auch die gleichen Gefühle hatten, so brachte dies sie äußerlich nicht einander näher; im Gegenteil, jeder schien sich mit seinen eigenen Gedanken zu beschäftigen und von den Brüdern fernzuhalten. Eine längere Beobachtung brachte mich zu dem Urteil, daß Leighton wohl ein interessanter Charakter sein möchte, um so interessanter vielleicht, als er nicht leicht zu ergründen wäre. Alfred mußte stark in seiner Liebe, aber auch gefährlich in seinem Haß sein. Und George war offenbar ein herzensguter Junge, wenn man seinen Rechten nicht zu nahe trat und seine Gemütlichkeit nicht mißbrauchte. Von mir schienen sie alle drei kaum Notiz zu nehmen. Ich war für sie einfach ein Bindeglied zwischen ihrem toten Vater und dem Brief, den ich Fräulein Meredith zu übergeben hatte.
Der Coroner war sichtlich aufgeregt, aber wohl nur in der gespannten Erwartung des Erscheinens der Dame und der Verlesung des Briefes, der wir alle entgegensahen.
Fräulein Meredith kam früher, als wir erwartet hatten. Als ihre leichten Schritte sich auf der Treppe vernehmen ließen, ging mit uns allen eine Wandlung vor. Zusammengesunkene Gestalten richteten sich auf, gefurchte Stirnen glätteten sich. Nur Leighton blieb sich völlig gleich, und daher kam es wohl, daß ihm ihr erster ängstlicher Blick galt, als ihr bewußt wurde, daß der Coroner sie in einer ganz bestimmten Absicht zu sich entboten hatte.
Ich begreife nicht, was man heute nacht noch von mir wissen will, sagte sie, und ihre Stimme klang vor Aufregung so gepreßt, daß sie kaum verständlich war. Ich bin kaum imstande zu sprechen. Aber der Doktor sagte, ich müßte herunterkommen. Warum konnte man mich nicht bei Claire oben lassen?
Das ging nicht an, liebe Hope. Der Herr hier, der, wie du weißt, unserem Vater in seinen letzten Augenblicken beistand, sagt, er habe einen Brief oder eine Mitteilung, die von dem Sterbenden ganz gewiß nur für dich bestimmt worden sei. Hältst du es für wahrscheinlich, daß mein Vater etwas Derartiges für dich hinterlassen haben kann? Siehst du einen Grund, weshalb seine letzten Gedanken nicht seinen Söhnen, sondern dir könnten gegolten haben? Antworte – wir werden uns nicht wundern, wenn du ja sagst.
Sie hatte versucht, sich aufrecht zu erhalten, ohne den von Leighton ihr angebotenen Arm anzunehmen. Aber sie hatte ihre Kräfte überschätzt. Sie mußte sich an ihn anklammern; dann wandte sie sich mit ängstlichem Gesicht zu uns und sagte in kaum hörbarem Flüsterton:
Es ist möglich. Ich habe ihm in letzter Zeit viel bei seinen Schreibereien geholfen. Muß ich den Brief hier lesen?
In ihrer Frage und besonders in deren Betonung lag eine Bitte, beinahe ein Flehen. Aber dies rührte den Coroner nicht, obgleich er offenbar dem Mädchen freundlich gesinnt war. In kurzem, beinahe schroffem Ton antwortete er mit einem befehlenden:
Ja, Fräulein – hier!
Sie hatte diese Antwort wohl nicht erwartet. Flehend wanderten ihre Augen von einem zum anderen, bis sie endlich wieder auf des Coroners Gesicht hafteten.
Ich kann nicht! rief sie aus. Schonen Sie meiner! Ich glaube, ich bin nicht bei voller Besinnung. Alles dreht sich vor meinen Augen – ich kann nicht sehen – erlauben Sie, daß ich den Brief dort im Hellen lese – ich bin ein nervöses, schwaches Mädchen.
Sie hatte Leighton losgelassen und war abseits getreten. Den verschlossenen Briefumschlag hielt sie in ihrer zitternden Hand, ihre Augen wanderten von George zu Alfred und schienen um Beistand zu flehen, den doch die jungen Leute ihr nicht gewähren konnten.
Ich sollte doch wohl eigentlich das Recht haben, die letzten Worte eines so heiß geliebten Verwandten zu lesen, ohne dabei von den Augen von – Fremden beobachtet zu werden, erklärte sie endlich mit einem nur schwach gelungenen Versuch, eine hochfahrende Miene anzunehmen.
War diese Spitze für mich bestimmt? Ich glaubte es nicht, doch konnte ich nicht gut anders, als mich zurückziehen, und ich hatte beinahe die Tür erreicht, als ich den Coroner sagen hörte:
Wenn die Worte, die Sie finden werden, sich nur auf Ihre eigenen Angelegenheiten beziehen, Fräulein Meredith, so können Sie sie für sich behalten. Wenn Sie aber in irgend einer Weise mit den Interessen des Schreibers in Verbindung stehen, so werden Sie selbst den Wunsch hegen, seine Worte laut zu lesen, denn die Art und Veranlassung seines Todes sind ein Geheimnis, dessen unverzügliche Aufklärung Ihnen ebenso nahe am Herzen liegen muß wie den übrigen Gliedern des Hauses Gillespie.
Oeffnen Sie ihn! rief sie plötzlich, und damit drückte sie dem Arzt, der sich inzwischen ebenfalls wieder eingefunden hatte, den Brief in die Hand. Und möge Gott ...
Sie vollendete ihren Ausruf nicht. Allen Anwesenden den Rücken zukehrend, wartete sie, daß Doktor Bennett den geheimnisvollen Brief vorlese.
Es war mir unmöglich, in einem so kritischen Augenblick fortzugehen. Meine Blicke hingen an dem Arzte; ich sah ihn das von mir so sorgfältig verschlossene Papier aus dem Umschlag hervorziehen. Er sah es an, drehte es um, sah es wieder an und machte dabei ein so maßlos erstauntes Gesicht, daß wir alle in die höchste Aufregung gerieten und uns um ihn herumdrängten, um Aufklärung von ihm zu erhalten.
Diese Aufklärung war einfach genug.
Das Papier, das mir so viele Gewissensschmerzen verursacht, das das junge Mädchen nicht hatte lesen wollen, wie wenn etwas unaussprechlich Furchtbares dahinter lauerte – es war vollkommen leer.
Nicht der geringste Schriftzug stand auf der glatten weißen Oberfläche dieses Papieres.
Siebtes Kapitel.
Das ist überraschend! Verstehen Sie es, Fräulein Meredith? Kein einziges Wort steht darauf – das Blatt ist vollständig leer! rief der Arzt aus.
Sie drehte sich um, starrte dem alten Doktor ins Gesicht und brach in ein krampfhaftes Lachen aus.
Leer, sagen Sie? Wie viele Umstände um ein Nichts! Kein Wort, kein einziges Wort? Bitte, lassen Sie mich sehen! Ich glaubte ganz bestimmt, es würde ein letzter Auftrag für mich darin stehen!
Wie seltsam war ihr Benehmen verändert! Einen Augenblick zuvor stand sie als ein zu Tode geängstigtes Weib vor uns, das kaum sprechen konnte – jetzt ließ sie mit einer fieberhaften Hast ihre Worte hervorsprudeln. Sie war nicht wieder zu erkennen. Der Coroner bemerkte nichts von der Erleichterung, die sie zweifelsohne in ihrem Gemüt empfand, oder er tat jedenfalls so, als sähe er nichts, und reichte ihr stillschweigend den Papierstreifen hin. Die drei Brüder waren beiseite getreten und besprachen sich im Flüstertone; es war während meiner Anwesenheit in diesem Hause das erstemal, daß ich sie vertraulich zusammen sprechen sah. Ich selber wußte nicht recht, wie ich mich weiter verhalten sollte. Meine Lage war nur noch peinlicher geworden; man konnte von mir denken, ich hätte gewußt, daß auf dem Papier nichts geschrieben stand; und in welches Licht mußte mich eine solche Mutmaßung setzen! Ich bat die drei Gillespies und das junge Mädchen um Verzeihung; Meredith schüttelte aber nur ungläubig den Kopf und ließ das Papier auf den Fußboden fallen. Ich stammelte einige Worte, um mein Verhalten zu erklären.
Ganz gewiß, sagte ich, werden Sie keine große Meinung von meiner Intelligenz haben; Sie werden vielleicht sogar bezweifeln, daß mich nur der ernstliche Wunsch leitete, mich Ihnen nützlich zu erweisen. Ich schloß aus Herrn Gillespies Bewegungen und besonders aus seinem Mienenspiel, womit er sie begleitete, daß er mir eine Mitteilung von nicht geringer Bedeutung anvertraut habe, und daß diese Mitteilung für Fräulein Meredith bestimmt sei.
Zu meinem Bedauern achtete niemand von den Hauptbeteiligten auf meine Erklärung. Das Mädchen war zu sehr mit sich selbst beschäftigt, da sie kaum ihre Freude über die neue Wendung der Dinge verbergen konnte; die jungen Gillespies aber bemühten sich offenbar mit der Beantwortung der für sie so wichtigen Frage, ob ihre Lage sich verbessert habe. Es war ein leeres Blatt Papier zum Vorschein gekommen, während ein jeder erwartet hatte, daß der rätselhafte Brief nicht nur Worte, sondern sogar sehr wichtige Worte enthalten würde. Welche Bedeutung konnte dies für die unter dem Verdacht eines so furchtbaren Verbrechens Stehenden haben? An ihrer Stelle nahm Doktor Bennett das Wort und sagte noch:
Niemand kann an Ihren guten Absichten zweifeln, Herr Cleveland. Fräulein Meredith wird die erste sein, dies anzuerkennen, sobald sie nur erst wieder ganz zu sich selbst gekommen ist. Sie haben Ihren Auftrag so erfüllt, wie Ihr Gewissen es Ihnen befahl. Daß Sie nicht alle Ihre Hoffnungen verwirklicht sehen, dafür können Sie nichts. Als Rechtskundiger werden Sie die Sache beurteilen, wie sie ist, und als Mensch werden Sie entschuldigen, daß die unerwartete Wendung auf die Angehörigen des Ermordeten, wie es scheint, einen übertriebenen Eindruck gemacht hat.
In diesen Worten, so freundlich sie waren, lag doch zugleich auch ein deutlicher Wink, daß ich nunmehr gehen könnte. Ich verstand ihn natürlich und ging – oder vielmehr, ich wäre gegangen, wenn nicht Fräulein Meredith, deren Aufmerksamkeit durch das Wort »Rechtskundiger« erregt sein mußte, mir einen Blick zugeworfen hätte, der mich veranlaßte, sofort wieder stehen zu bleiben.
Halt! rief sie. Ich möchte mit dem jungen Herrn sprechen. Lassen Sie ihn noch nicht gehen!
Mit diesen Worten trat sie an mich heran und sah mir mit einem weiblich-verschämten und doch zugleich vertrauensvollen Blick ins Gesicht.
Her zu uns, Hope! hörte ich Leighton mit gebieterischer Stimme sagen.
Eine dunkle Röte überflog das Gesicht des jungen Mädchens; offenbar wurde es ihr schwer, der Aufforderung eines so nahen Verwandten nicht zu entsprechen. Aber sie blieb vor mir stehen und sprach:
Ich brauche einen Freund – jemanden, der mir bei einer Aufgabe, deren Erfüllung ohne fremde Hilfe vielleicht zu schwer sein würde, zur Seite stehen will. An meine Vettern kann ich mich um diese Hilfe nicht wenden. Sie stehen in zu naher Beziehung zu den Sorgen, die das traurige Ereignis über uns alle gebracht hat. Auch wird es mir leichter, mich an einen Fremden zu wenden – an jemanden, der kein persönliches Interesse an mir nimmt, wie es Doktor Bennett tun würde; an einen Rechtskundigen – denn gerade einen solchen habe ich vielleicht nötig. Wollen Sie mir also mit Ihrem Rat zur Seite stehen, mein Herr? Ich würde wohl nicht leicht einen anderen finden, der so aufrichtig denkt und handelt, wie Sie es augenscheinlich tun!
Hope! Hope!
Die Stimme klang noch gebieterischer als vorhin; Leighton tat sogar einen Schritt auf sie zu. Sie schwankte augenscheinlich; dann aber fuhr sie flüsternd, doch in festem Tone fort:
Sie werden nicht gehen, bevor ich noch einmal mit Ihnen gesprochen habe – Sie werden nicht gehen!
Nein, ich bleibe! antwortete ich, und damit legte ich meinen Hut wieder weg, den ich bereits in die Hand genommen hatte.
Im nächsten Augenblick bemerkten wir beide, warum sie in so befehlshaberischer Weise zurückgerufen worden war.
In der Gruppe der Herren war eine Veränderung vorgegangen. An der Stelle, wo soeben noch der Coroner gestanden war, sahen wir einen älteren Herrn, dem eine große Welterfahrung an jedem Zuge seines verwitterten, aber nicht unfreundlichen Gesichtes anzusehen war. Er hielt ein halbes Dutzend Briefbogen in der Hand und machte Fräulein Meredith eine Verbeugung; dann sah er sie mit einem ermutigenden Lächeln an und sagte:
Mein Name ist Gryce Sprich Grais. Fräulein, Detektiv Gryce. Bitte um Entschuldigung, daß ich Sie belästigen muß; legen Sie nicht zu viel Gewicht auf meine Anwesenheit hier! Ich muß nur ein paar Fragen stellen, da der Herr Coroner soeben an den Fernsprecher gerufen wurde. Ich bedarf einiger Aufklärungen, die ich zum Teil von Ihnen erhalten kann. Wie ich höre, machten Sie gewöhnlich für Ihren Oheim die Schreibmaschinenarbeiten?
Ja.
Haben Sie auch diese fünf Briefe hier geschrieben, die wir auf seinem Arbeitstisch vorfanden?
Ja.
Heute abend?
Ja.
Um welche Zeit?
Nach dem Essen; aber vor halb acht, antwortete sie. –
Bisher hatte das Mädchen noch nichts davon gesagt, daß es nach der Mahlzeit mit dem alten Herrn zusammengewesen war. –
Sie waren also bis halb acht Uhr bei ihm? fuhr der Detektiv fort.
Ja – ungefähr bis halb acht.
Und als Sie fortgingen war er in seinem gewöhnlichen Gesundheitszustand?
Allem Anschein nach – ja!
War dies vor der Zeit, da Ihr Vetter Leighton in das Zimmer kam?
Vorher.
Warum gingen Sie weg? War Herr Gillespie mit seiner Arbeit für den Abend fertig?
Das weiß ich nicht – ich glaube, nein. Aber ich war ermüdet, und er bat mich, auf mein Zimmer zu gehen.
In seiner gewöhnlichen Art und Weise?
Ja.
Es machte nicht den Eindruck, als ob er Sie gern aus dem Zimmer entfernen wollte?
Nein.
Und wann kam das Kind zu ihm?
Später.
Nicht gleich nachher?
Nein; etwa eine Viertelstunde später.
Hm! Dann war also eine Viertelstunde vor seinem Tode die Kleine bei ihm?
Wahrscheinlich; aber ich weiß es nicht.
Der Detektiv sann einen Augenblick nach; dann schloß sich seine Hand mit festem Griff über den Briefbogen zusammen, und in besonders ernstem Tone fuhr er fort:
Fräulein – es ist sehr wichtig für uns, zu wissen, ob Herr Gillespie Todesgedanken hatte. Sie kennen diese Korrespondenz: es ist ein Brief an die Anwaltsfirma Simpson & Beals in Dubuque, Iowa, ein anderer an Howard Mac Cartney, St. Augustine, Florida. Dieser hier ist an den Präsidenten der Santa Fé-Eisenbahn und dieser an Clarke, Beales & Co., Nassau Street in der City. Es sind wohl lauter Geschäftsbriefe?
Ganz recht.
Und es ist, wie ich annehme, kein einziger darunter, wie man ihn von einem Mann erwarten sollte, der in der Zeit von einer Stunde seine Rechnung mit dem Leben für immer abzuschließen gedachte?
Kein einziger, lautete die Antwort. –
Wie lakonisch sie war für ein Mädchen, das kaum die Zwanzig erreicht haben konnte! –
Aus diesen Ihnen bekannten Briefen ergibt sich also kein Anzeichen, daß Herr Gillespie an Selbstmord dachte? fuhr der Detektiv fort.
Im Gegenteil. In einem von den Briefen – wenn ich nicht irre, ist es der an Clarke, Beales & Co. – traf er eine Verabredung für morgen. Mein Onkel war in Geschäftsangelegenheiten sehr pünktlich. Niemals würde er eine Zusammenkunft verabredet haben, wenn er nicht angenommen hätte, hingehen zu können.
Steht ihr zwei miteinander im Bunde? unterbrach George sie mit zorniger Stimme. Willst du etwa darauf hinaus, daß unser Vater durch Gewalt umgekommen sei?
Im Bunde? fragte sie. –
Sprach sie diese Worte wirklich, oder lag die Frage nur in ihrem Blick? Mir wurde das Herz schwer, als ich den leidenden, um Verzeihung flehenden Ausdruck in ihren Augen sah. Gryce, wie der Detektiv sich genannt hatte, sah ihn vielleicht auch, aber er tat, als prüfte er den Papierstreifen, den er jetzt aus seiner Tasche zog. Wie wir alle sofort bemerkten, war es der Fetzen, den Fräulein Meredith vorhin auf den Fußboden geworfen hatte.
Sehen Sie mal her! sagte er. Es sieht aus wie ein ganz leeres Stück Papier.
Das ist es auch, erklärte sie. Warum er es mir schicken wollte, das weiß ich nicht. Es wurde mir in verschlossenem Umschlag von jenem Herrn gegeben, der dort bei der Tür steht; er sagt, er habe es von meinem Oheim vor dessen Tode erhalten. Das ist ja allen hier Anwesenden bekannt.
Ganz recht. Nun möchte ich Sie fragen, von welchem Briefbogen wohl Ihr Onkel dieses Stück abgerissen hat? Sie kennen doch das Papier? Sie haben es bereits gesehen?
O ja. Es ist von einem der Briefbogen, die für Maschinenschrift benutzt werden. Das nehme ich wenigstens an. Es sieht ganz genau so aus.
Sweetwater, bringen Sie die Schreibmaschine her! befahl Gryce.
Sweetwater war der junge Mann, der einige Zeit vorher dem Coroner die leere Weinflasche gebracht hatte.
O, was soll denn das bedeuten?! rief Hope zusammenfahrend.
Ein Fluch antwortete ihr. George war der Geduldsfaden endlich gerissen.
Der alte Detektiv blieb aber völlig ungerührt.
Wenige Augenblicke darauf erschien Sweetwater mit der Schreibmaschine auf dem Arm. Er setzte sie auf den im Bibliothekzimmer stehenden großen Tisch nieder, um welchen sich sofort alle Anwesenden herandrängten – außer Sweetwater und mir.
Natürlich konnte ich von meinem Standpunkt nicht in das Bibliothekzimmer hineinsehen. Aber da ich ein sehr gutes Gehör besitze, so konnte ich jedes Wort vernehmen, das dort gesprochen wurde, obgleich ich die Redenden nicht sah.
Als Sweetwater die Schreibmaschine bei mir vorübertrug, hatte ich bemerkt, daß ein Papierstreifen unter dem »Schlitten« hervorragte. Auf diesen Streifen lenkte Gryce zuerst Fräulein Merediths Aufmerksamkeit, indem er sagte:
In der Maschine befindet sich, wie Sie sehen, ein unvollendeter Brief. Haben Sie daran geschrieben?
Sie antwortete nicht sofort. Dann aber stieß sie ein merkwürdig scharf betontes »Nein« hervor.
Ah! Dann befindet sich also sonst noch jemand hier im Hause, der diese Schreibmaschine benutzt?
Herr Gillespie. Er benutzte sie oft, wenn etwas schnell geschrieben werden mußte und ich nicht gleich bei der Hand war.
Herr Gillespie? Glauben Sie, daß er selber diese Zeilen geschrieben hat?
Gewiß. Es war ja sonst niemand da, der sie hätte schreiben können. –
Arbeitete meine Einbildungskraft zu rasch, oder hatte ihre Stimme wirklich einen verschleierten Klang, der darauf schließen ließ, daß sie eine innere Erregung zu verbergen trachtete? –
Nun, erwiderte mit sanfter Stimme der Detektiv, so bedürfen wir keines weiteren Beweises dafür, daß Herr Gillespie bis zu dem Augenblick, wo er seine letzten Zeilen schrieb, bei vollkommen klarem Bewußtsein und in ruhiger Gemütsverfassung sich befand. Ich bezweifle, ob Sie selber, Fräulein Meredith, jemals eine bessere Arbeit auf der Schreibmaschine hergestellt haben. Aber warum ist der Bogen mitten durchgerissen? Die Hälfte des Blattes fehlt und damit zum mindesten auch ein Teil des Briefes.
Sie stieß einen kurzen Ruf der Ueberraschung aus, und auch von den anderen, die in der Bibliothek anwesend waren, konnte ich Bewegungen und unterdrückte Laute vernehmen, die auf großes Erstaunen schließen ließen.
Soll ich das Blatt herausnehmen? fuhr der Beamte fort. Oder will einer von Ihnen den Inhalt vorlesen, ohne daß der Brief aus der Maschine entfernt wird? Ich möchte das vorziehen.
Ich hörte George und Alfred einige abgerissene Worte murmeln, dann erklärte Leighton mit ruhiger Stimme:
Der Brief betrifft ein Geldgeschäft, das mein Vater in Denver zu machen beabsichtigte. Wenn Sie es für nötig halten, will ich Ihnen gern die darauf bezüglichen Worte vorlesen, die mein Vater eine halbe Stunde vor seinem Tode schrieb:
New York, N. Y., den 17. Oktober 1899.
Herrn James C. Taylor, Wohlgeboren,
18 State Street, Boston, Mass.
Sehr geehrter Herr!
Mit Bezug auf die Finanzierung der 10,000,000 Dollars, die wir bei unserer Zusammenkunft am 12. ds. besprachen, ist es von größter Wichtigkeit, daß ich ...
Der Schluß ist bis auf einige Wörter abgerissen, wie Sie ganz richtig bemerkten. Halten Sie diesen Brief für wichtig?
Durchaus nicht, erwiderte der Detektiv. Nur insofern, als daraus hervorgeht, daß Ihr Vater unmittelbar vor seinem um 10 Uhr erfolgten plötzlichen Ende völlig klaren Geistes war. Nicht der Brief an sich sollte Ihre Aufmerksamkeit erregen, sondern der Umstand, daß der abgerissene Teil des Blattes nicht zu finden ist. Ich weiß wohl, fuhr Gryce schnell fort, bevor aus der sich um ihn herum drängenden Gruppe aufgeregter Menschen ein Einwurf gemacht werden konnte, – ich weiß wohl, daß ein Streifen, der anscheinend zu diesem Blatt gehört, vor einigen Minuten in verschlossenem Umschlag in Fräulein Merediths Hände gelangte. Ich habe den Streifen ja bei mir. Aber obwohl er offenbar von diesem Bogen abgerissen ist – und zwar bildete er, wie man an dem einen, glatten Rand erkennt, dessen unteren Teil –, so paßt er doch nicht zu dem noch in der Maschine befindlichen Teil. Ein etwa zwei Zoll breiter Streifen des Bogens fehlt immer noch. Nun, wo sind diese zwei Zoll geblieben? Nicht in dem Zimmer, aus welchem wir die Schreibmaschine hierhergebracht haben, und auch nicht in Herrn Gillespies Kleidern – denn diese haben wir aufs genaueste danach durchsucht.
Es herrschte tiefes Schweigen.
Niemand scheint zu antworten! flüsterte eine Stimme dicht an meinem Ohr.
Hatte dieser verschmitzte und allem Anschein nach sehr tüchtige Polizeibeamte eine Antwort erwartet? Ich nicht! Nur zu oft waren die Fragen, die an diesem Abend in dem Hause aufgeworfen wurden, unbeantwortet geblieben.
Dieser Verlust öffnet mancherlei Vermutungen Tür und Tor, fuhr der alte Detektiv immer noch in demselben freundlichen Tone fort. Zugleich erscheint er der Polizei von großer Bedeutung. Wir werden nach dem aus der Mitte des Blattes fehlenden Streifen Haussuchung halten müssen, falls nicht etwa – was ich allerdings bestimmt hoffe – jemand von den Anwesenden ihn zum Vorschein bringen kann.
Suchen Sie! antwortete jemand in stolzem Ton – es war wiederum Leighton. Wir wissen nichts von dem Papier!
Das ist sehr zu bedauern, fuhr der alte Herr mit einer Freundlichkeit fort, die an einem Mann seines Berufes auffallen mußte. Solch eine Maßregel sollte sich vermeiden lassen. Irgend jemand von Ihnen sollte imstande sein, uns den fehlenden Teil des Briefes zu verschaffen, dessen Vollendung durch den Tod des Schreibers verhindert wurde. Das ist doch eine sehr ernste Tatsache.
Noch immer erfolgte keine Antwort.
Ja, sagte der Detektiv nunmehr, wenn im Zimmer Feuer gewesen wäre – aber im Kamin war nichts. Oder wenn Herr Gillespie sich aus seiner Schreibstube entfernt hätte – –
Sagen Sie's nur frei heraus! rief Leightons ernste Stimme. Sie glauben, einer von uns hat den Streifen an sich genommen.
Das will ich nicht behaupten, antwortete der Detektiv mit verbindlicher Höflichkeit. Aber dieser Streifen muß unbedingt gefunden werden. Das Verschwinden desselben ist auffällig, und es geht daraus hervor, daß das Stück Papier mehr oder minder mit dem geheimnisvollen Tode Ihres Vaters in Verbindung steht.
Dann müssen wir Sie ersuchen, zu tun, was Ihres Amtes ist, um das Papier zu finden, wenn Sie können, versetzte Leighton. George, Alfred – wir wollen uns gutwillig in die Situation schicken; es würde uns nichts nützen, wenn wir der Polizei Schwierigkeiten machen wollten.
Zwei unterdrückte Verwünschungen waren die ganze Antwort; die jüngeren Brüder waren leidenschaftlicher als er, vielleicht auch vermochten sie sich nicht so gut zu beherrschen. Aber sie machten keine Einwendungen, und einen Augenblick darauf erschien der alte Detektiv in der Halle.
Er wechselte einen schnellen Blick mit dem neben mir stehenden jungen Mann. Dieser wandte sich jetzt an mich und flüsterte: Die Nachsuchung werde ich zu besorgen haben. Ich kenne aber das Haus ganz und gar nicht. Wie ich höre, sind Sie schon oben gewesen. –
Von wem konnte er das gehört haben? Von Bennett? Das war leicht möglich. Diese Detektivs wissen auch vorsichtigere Menschen auszuholen, als der gute alte Hausarzt einer war. –
Ich bin durch das Treppenhaus gegangen, räumte ich ziemlich kühlen Tones ein. Ich weiß aber wirklich nicht, inwiefern ich Ihnen behilflich sein könnte.
Das Haus hat, vermute ich, vier Stockwerke, wie alle Gebäude in dieser Straße? fragte der junge Mann.
Ja, es ist vierstöckig.
Er rieb sich linkisch die Hände – linkisch waren überhaupt alle seine Bewegungen – und ging langsam nach dem Hintergrund der Halle. An der Tür der Bibliothek blieb er stehen und blickte, indem er eine ungeschickte, entschuldigende Verbeugung machte, in das Zimmer hinein. Plötzlich aber trat er schnell zurück, als er sah, daß jemand herauskam. Es war Fräulein Meredith. Als sie in der Halle war, fing auf einmal Sweetwater, indem er mit einem seltsam starren Ausdruck seine Augen auf sie heftete, zu murmeln an:
Vier Stockwerke. Unten die Wohn- und Empfangsräume, dann im ersten und zweiten Stock die Schlafzimmer, oben die Dachkammern. Wo soll ich anfangen zu suchen? Aha – ich glaube, ich weiß schon!
Und mit einem Lächeln ging er schnellen Schrittes auf die Treppe zu.
Hope Meredith war, als der junge Detektiv von den Dachkammern sprach, unwillkürlich zusammengezuckt.
Es fiel mir ein, in welcher eigentümlichen Verfassung ich sie dort oben gefunden hatte; auch dem Doktor war es ja bereits auffällig erschienen, daß sie von ihres Oheims Tode schon wußte, ehe noch das Haus alarmiert war, ja ehe ihre Vettern die Nachricht erhalten hatten. Ich mußte daher innerlich der Polizei zugeben, daß ihr Vorgehen völlig gerechtfertigt war. Freilich wurde mir das nicht leicht, denn des jungen Mädchens liebliche Erscheinung hatte einen starken Eindruck auf mich gemacht.
Aber mochte die mißtrauische Haltung der Polizeibeamten nun gerechtfertigt sein oder nicht – soviel sah ich bald, sie gingen mit voller Energie zu Werke. Das wachsame Auge des Coroners hielt uns alle auf unsere Plätze festgebannt, während Sweetwater nach oben ging. Nur Leighton begleitete ihn. Er hatte diese Erlaubnis erbeten und erhalten, damit nicht sein kleines Kind, das oben allein schlief, sich ängstigte, wenn es vielleicht von dem Lärm aufgeweckt würde. Fräulein Merediths Auge folgte den beiden Männern mit einem unruhigen Blick; ich mußte daraus schließen, daß diese Haussuchung irgend welche geheimen Befürchtungen in ihr erregte.
Was sollte ich von einem jungen Mädchen denken, das bei einer Frage, wo es sich um Leben und Tod handelte, es vorzog, die Schweigsame zu spielen? Ich vermied es absichtlich, auf die in mir auftauchenden Zweifel näher einzugehen. Ich wappnete also mein Herz gegen die Macht ihrer schönen Augen und beschloß nur ihr Rechtsbeistand zu sein – nichts als ihr Rechtsbeistand: wenigstens mußten erst diese Rätsel gelöst werden.
Ihre beiden Vettern waren in der Bibliothek geblieben, und auch Herr Gryce war wieder dorthin zurückgekehrt, nachdem er seinem Untergebenen Sweetwater die nötigen Weisungen erteilt hatte. Wir alle standen in aufgeregter Erwartung stumm da, nur Doktor Bennett unterhielt sich vertraulich mit dem Coroner. Den Inhalt seiner Worte konnte ich teilweise an Fräulein Merediths Gesichtsausdruck ablesen; denn diese vermochte ihn zu hören, da sie näher bei den beiden alten Herren stand als ich. Daß es sich um etwas Ernstes handelte, konnte ich auch aus des stumm zuhörenden Coroners Haltung entnehmen. Später fanden auch einzelne Worte ihren Weg zu meinem Ohr. So hörte ich zum Beispiel ganz deutlich:
»Hatte die größte Angst vor Gift ... er nahm niemals eine Medizin ein, ohne mich vorher zu fragen ...« Die nächsten Worte hörte ich nicht; aber dann unterschied ich wieder: »Ich mußte ihm alle Symptome beschreiben ... von allen Giftarten, die es gibt ... er fragte mich neugierig wie ein Kind ... nie und nimmer hat er sich selbst vergiftet!«
Ich konnte den Klang dieser letzten Worte nicht aus den Ohren los werden. Sie waren ja nur leise geflüstert, aber mir war, als müßte jeder in der Halle sie gehört haben. Indessen bemerkte ich an Alfred, der ein paar Schritte hinter Hope auf der Schwelle der Bibliothek stand, keinerlei Veränderung in seinen Gesichtszügen, und George, der in fieberhafter Erregung auf Herrn Gryce einredete, sprach nur noch lauter, als die pathetische Beteuerung von den Lippen des Mannes fiel, der seines Patienten vollstes Vertrauen genossen hatte, dessen Worten daher der größte Wert beigelegt werden mußte.
Inzwischen war Fräulein Meredith bemüht, sich auf Sweetwaters Rückkehr vorzubereiten. Dies sah ich ihr deutlich an, denn ihre Gesichtszüge nahmen einen ganz anderen Ausdruck an, als die Schritte des jungen Detektivs sich wieder hören ließen. Sie schien unwillkürlich zusammenzufahren und legte die Hand auf ihren Busen, wie wenn der gesuchte Gegenstand dort verborgen wäre und nicht in einer der Kammern unter dem Dach. Es war wie ein Zauber, der mich hinderte, meine Augen von ihrer Gestalt abzuwenden. Ich ärgerte mich über mich selber und wandte mich, einer plötzlichen Eingebung folgend, dem zur Rechten liegenden Empfangszimmer zu.
Aber schnell trat ich wieder zurück. Fräulein Meredith, deren Zuversicht, wie es schien, durch meine Gegenwart gestärkt wurde, hatte leise meinen Namen ausgesprochen.
Man hörte oben das Kind weinen, und sie hatte gebeten, zu ihm hinaufgehen zu dürfen; der Coroner hatte dies aber verweigert.
Ich eilte zu ihr und begann trotz Alfreds Stirnrunzeln eine Unterhaltung mit ihr. Sie möchte sich doch beruhigen und geduldig des Detektivs Rückkehr abwarten. Die Kleine hat ja ihren Vater, der bei ihr ist, so schloß ich meinen Zuspruch.
Aber sie schien nicht viel Trost darin zu finden. Aufgeregt rang sie die Hände und nahm sich erst dann mehr zusammen, als ihr Vetter, von dem Detektiv begleitet, wieder auf der Treppe erschien.
Dann nahm sie meinen ihr dargebotenen Arm. Sie bedurfte einer solchen Stütze, denn Todesangst lag in dem Blick, womit sie den Beamten empfing. Und dieser – nun, ich hatte den Mann nie vorher gesehen, aber als ich ihn langsam die Treppe herunterkommen sah, hatte ich das bestimmte Gefühl, er müßte das Gesuchte gefunden haben, und das leise raschelnde Stück Papier, das er in der Hand hielt, müßte das von Herrn Gryce für so außerordentlich wichtig erklärte sein.
Und ich hörte meine Vermutungen schnell bestätigt; denn als Sweetwater die letzte Treppenstufe betrat, murmelte sie:
»Ich hab's versucht – aber das Schicksal war gegen mich. Jetzt sehe ich klar und deutlich meine Pflicht vor mir.«
Hope Meredith beachtete ihren Vetter Leighton nicht, der jetzt zu seinen im Bibliothekzimmer wartenden Brüdern trat. Ich aber folgte ihm mit dem Blick, und ich sah zu meinem Kummer an seiner ganzen Haltung, daß der in der Dachkammer gemachte Fund von einer Bedeutung sein mußte, die die Aufregung des jungen Mädchens vollkommen rechtfertigte.
Sie haben gefunden, was Sie suchten! rief sie dem jungen Polizeibeamten hastig entgegen. Es war, als wäre ihr die Spannung mit einemmal unerträglich geworden, und als hätte sie jetzt keinen anderen Gedanken mehr, als der peinlichen Lage möglichst schnell ein Ende zu machen.
Sweetwater verzog auf eigentümliche Art das Gesicht. Sollte das ein Lächeln bedeuten? Ja, es war ein Lächeln. Dann übergab er das Papier, das er in der Hand hielt, dem Coroner.
Kommen Sie her, Gryce! rief der Beamte, nachdem er schnell einen Blick auf den Streifen geworfen hatte, und fragte ihn dann:
Was bedeutet nach Ihrer Meinung der Inhalt dieses Zettels?
Im Nu war der Detektiv an seiner Seite, und die beiden beugten sich über das Papier. Die Spannung erreichte jetzt einen fast unerträglichen Grad. Endlich sahen wir, wie der Detektiv die Fingerspitze auf eine Stelle der Schrift legte. Der Coroner las den Satz, und sein Gesicht drückte eine tiefe Bewegung aus.
Ah! rief er aus. Was bedeutet das?
Der Detektiv sprach leise einige Worte; dann nahm er den von mir in dem Umschlag überbrachten Streifen und hielt ihn an das in des Coroners Hand befindliche Stück Papier. Wir alle konnten sehen, daß es Teile eines Blattes waren.
Ich möchte noch feststellen, ob der Streifen zu dem in der Maschine gebliebenen Teil des Briefes ebenfalls paßt, sagte der Coroner, ohne die aufgeregten Blicke zu beachten, die von allen Seiten sich auf ihn richteten. Damit schritt er an uns vorüber auf den großen Tisch der Bibliothek zu und legte die drei Stücke aneinander. Unwillkürlich warf er dabei einen mitleidigen Blick auf die jungen Gillespies.
Lassen Sie's sehen! rief Alfred. Was steht in dem Brief? Wahrhaftig, diese Geheimtuerei ist schlimmer als meines Vaters Tod!
Wenn Fräulein Meredith mir erklären will, wie dieser mittlere Teil des Briefbogens in das Versteck der Dachkammer gelangt ist, so werde ich sofort Ihren Wunsch erfüllen, versetzte der Coroner.
Sie hatte keinen Blick auf den wieder zusammengefügten Briefbogen geworfen; jetzt antwortete sie frank und frei, und ohne weitere Umschweife zu versuchen:
Ich habe das Stück Papier selbst dorthin gebracht. Ich kam in meines Onkels Arbeitszimmer und sah ihn leblos auf dem Fußboden liegen. Sofort durchfuhr mich der Gedanke, der Tod könnte ihn ereilt haben, während er an der Schreibmaschine arbeitete. Ich eilte an den Tisch, hob den Wagen der Maschine hoch und las den Brief, um zu sehen, ob er nicht Anhaltspunkte böte, aus denen sich auf das plötzliche Ende meines Oheims schließen ließe. Und ich las – George, Alfred, Leighton! schrie sie mit einemmal heftig auf, indem sie sie mit einem Blick maß, vor welchem alle drei ihre stolzen Stirnen senkten – ich weiß nicht, wer von euch dreien die Last des Verbrechens auf seine Seele geladen hat. Aber einer von euch, einer, sage ich, steht unter dem Bann einer Anschuldigung, die sein leiblicher Vater gegen ihn erhoben hat. Leset!
Und mit zitterndem Finger wies sie auf die letzte Zeile des unvollendeten Briefes.
Ich füge eine getreue Wiedergabe desselben in der Form, in der er sich jetzt unseren Blicken darbot, an dieser Stelle ein:
Diese letzten Worte wurden von ihm selber geschrieben, als er die Wirkung des Giftes verspürte und den Tod herannahen fühlte! setzte sie leidenschaftlich hinzu. Widersprich mir, George! Widersprich mir, Leighton! Oder du, Alfred, wenn du kannst! O tut es! Für mich würde es neues Leben bedeuten – neue Kraft ...
Sie schwankte, sie vermochte kaum die Worte hervorzubringen. Offenbar war sie einer Ohnmacht nahe. Aber keine Hand erhob sich, kein Wort wurde laut. Die furchtbare Beschuldigung hatte sie alle sprachlos, bewegungslos gemacht.
Achtes Kapitel.
Plötzlich erhob sich eine Stimme zu leidenschaftlicher Beteuerung:
Hope! Hope! Ich war es nicht! – Und Alfred eilte mit einer fast flehenden Gebärde auf das junge Mädchen zu.
Eine dunkle Röte überflog Georges Antlitz, und er hob die Faust wie zum Schlage empor; Leighton ließ voll Scham – oder war es Schmerz? – sein Haupt sinken. Im nächsten Augenblick aber hatte er seinen zornigen Bruder am Handgelenk gepackt.
Hope Meredith hielt ihre Augen von den drei Brüdern abgewandt und sagte:
Nur mit einem von euch will ich sprechen – mit dem, der seine Brüder entlasten kann, indem er seine Schuld bekennt ... Rühre mich nicht an!
Dieser letzte Satz galt Alfred, dessen Hand sich nach ihrem Kleide ausgestreckt hatte.
Mit einem Ausdruck von Stolz, wie ich ihn bisher nicht an ihm bemerkt hatte, zog Herrn Gillespies jüngster Sohn sich von dem jungen Mädchen zurück und ging schweigend nach der entgegengesetzten Wand der Halle. Dann aber brach es auf einmal leidenschaftlich aus ihm hervor:
Du bist schnell mit deinem Verdacht bei der Hand! Für was hältst du uns? Genügt dir wirklich ein zusammenhangloser Satz am Ende eines von einem Gesunden begonnenen, aber von einem mit dem Tode Ringenden unvollständig zurückgelassenen Briefes – genügen dir wirklich vier solche Worte, um Männer von deinem eigenen Fleisch und Blut des Mordes zu beschuldigen? Von dir, Hope, würde ich nichts Böses glauben, und wenn selbst viel schwerer Wiegendes gegen dich spräche!
Es lag etwas Berechtigtes in diesem Vorwurf, und er machte daher nicht nur auf das junge Mädchen, sondern auf uns alle Eindruck. Die letzten Worte des Briefes konnten sehr vielsagend sein – vielleicht aber hatten sie gar keine Bedeutung. Wäre der Ruf der jungen Leute ein besserer gewesen, oder wäre der Versuch nicht gemacht worden, den betreffenden Teil des Briefbogens beiseite zu schaffen, so würden die Worte: »einer meiner Söhne hat ...« überhaupt keinen Verdacht erregt haben. Denn war dies wirklich eine Beschuldigung? George und Leighton erklärten mit aller Entschiedenheit, dieses sei ausgeschlossen, und auch Alfred stammelte mit einer Miene beleidigten Stolzes seinen Protest, als plötzlich Hope, ihre Schwäche mit einer gewaltsamen Anstrengung überwindend, sich hoch aufrichtete und langsam einen Brief aus ihrem Busen zog.
Ich will keinen Versuch machen, mich zu entschuldigen, begann sie. Ich habe wie eine Schwester mit euch in diesem Hause gelebt, und ihr würdet mir die Worte, die ich vorhin aussprach, mit Recht zum Vorwurf machen, wenn ich diesen Brief nicht in Händen hätte. Alfred – du sagtest, die letzten Worte, die euer sterbender Vater mit der Maschine geschrieben, seien unzusammenhängend und unverständlich. Willst du aber diesen vor vier Wochen geschriebenen Brief ebenfalls für sinnlos erklären? – Herr Coroner, – mit diesen Worten wandte sie sich an den alten Beamten – vor einem Monat war mein Oheim krank. Es war keine gefährliche Krankheit, aber die ihm verordneten Arzneien – o, Doktor Bennett, kommen Sie mir zu Hilfe! Wie soll ich mich ausdrücken? – die Arzneien waren, wie wir alle wußten, gefährlich, wenn sie in zu großen Gaben eingenommen wurden. Eines Nachts – o mein Gott, ich kann es kaum aussprechen! – eines Nachts geriet er auf die begründete Vermutung, daß ihm etwas in seinen Nachttrunk gemischt sei, und infolgedessen schrieb er diesen Brief und übergab ihn mir zur Aushändigung für den Fall, daß er ... daß er ... o, ich brauche nicht zu sagen, welchen Fall er dabei im Auge hatte. Sie haben des teuren Toten Haupt auf dem Fußboden seines Arbeitszimmers liegen sehen! Aber um eins möchte ich bitten: der Brief ist an meine drei Vettern gemeinschaftlich adressiert – wollen Sie ihnen erlauben, ihn ohne Zeugen zu lesen, wenn sie schwören wollen, das Schreiben unverändert und unversehrt Ihnen wieder einzuhändigen? Ich bitte Sie, erzeigen Sie ihnen nur diese einzige Gunst. Bitte, bitte, erfüllen Sie mir diesen sehnlichen Wunsch – und wäre es auch nur, weil ich so tief gelitten habe. Ich habe das Hereinbrechen dieses Furchtbaren beschleunigt ... und ich wollte ... ich wollte doch nur ...
Sie vermochte sich kaum noch auf den Füßen zu halten; aber sie streckte dem Coroner den Brief hin. Dieser warf einen schnellen Blick darauf und gab ihn sofort an Leighton weiter, da dieser in der über sein Haus hereingebrochenen Katastrophe verhältnismäßig noch am meisten Besinnung und Stärke bewahrt hatte.
Gott wolle verhüten, sagte der Coroner Frisbie, daß ich Söhnen das Vorrecht bestritte, ihres Vaters letzte Willensmeinung zuerst zu lesen.
Mit diesen Worten verließ er das Bibliothekzimmer, in welchem die drei Brüder allein zurückblieben; aber er ließ den Türvorhang zurückgeschlagen und verwandte während der langen Zeit, die die Verlesung des Briefes beanspruchte, kein Auge von den Gillespies.
Sie sehen, ich hatte einen Freund nötig! flüsterte Hope Meredith mir ins Ohr.
Ich warf ihr einen freundlich tröstenden Blick zu. Das arme Mädchen tat mir aufrichtig leid. Von den Männern, gegen die sie die Beschuldigung des ungeheuerlichsten Verbrechens hatte erheben müssen, waren zum mindesten zwei in sie verliebt – ich mußte dies aus allem, was ich sah, unbedingt schließen –, Alfred leidenschaftlich, George mit weniger offener Darlegung seiner Gefühle, aber wahrscheinlich mit nicht geringerer Innigkeit und Glut.
Sie hätten den Brief für sich behalten können, flüsterte ich zur Antwort ihr zu.
Aber sie sah mit edlem Stolz mir voll ins Gesicht und versetzte:
Sie wollen andeuten, daß ich durch den Versuch, den Streifen zu verheimlichen, den Verdacht auf meine Vettern gelenkt habe. Aber es spricht so viel Belastendes gegen sie, und so konnte ich nicht mehr darauf rechnen, daß sie eine Gelegenheit finden würden, den Brief gemeinschaftlich zu lesen. Und gemeinschaftlich müssen sie ihn lesen. Das legte mein Oheim mir dringend ans Herz. Freilich dachte er nicht, daß Polizeibeamte dabei anwesend sein würden.
Der Coroner unterbrach sie, indem er auf sie zutrat, um mehrere Fragen an sie zu richten. Ich freue mich, sagen zu dürfen, daß meine Gegenwart ihr Standhaftigkeit verlieh, auch dieses neue qualvolle Verhör auszuhalten. Ihre Aussagen waren kurz.
Was in dem Briefe stehe, wisse sie nicht. Ihr Oheim habe ihn geschrieben, während er noch krank zu Bett gelegen, und er sei dazu durch ein Erlebnis veranlaßt worden, worüber in dem Schreiben selbst das Nähere sich finde.
Der Brief gelangte einige Wochen später in seinem Wortlaut zu meiner Kenntnis. Ich will ihn aber schon an dieser Stelle in meine Erzählung einfügen, da dies zum Verständnis der folgenden Ereignisse notwendig ist.