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Viertes Kapitel.

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Inhaltsverzeichnis

Orkutt war kein Mann, auf den weibliche Reize mit ihren verführerischen Künsten Eindruck machten. Ob nun seine Unempfindlichkeit aus einem früheren Herzenserlebnis entsprang, welches er vor dem Geklatsch der Nachbarn und sogenannten guten Freunde zu verbergen gewußt hatte, oder aus einer von Natur kalten Gemütsart, gewiß ist, daß er jahrelang sowohl der schmeichelhaften Annäherung anerkannter Schönen als den schüchternen Bemühungen anderer liebender Herzen mit einer Geflissentlichkeit ausgewichen war, die an Geringschätzung grenzte.

Mit dem Tage, an welchem Imogen Dare sein Haus betrat, ward dies jedoch anders. Von ihr ging ein Licht aus, das für den trockenen Geschäftsmann zu einem neuen Lebenselement wurde und ihm die düstere, alte Behausung freundlich erhellte.

In Sibley hatte man längst vergessen, daß dies schöne, stolze, einnehmende Mädchen einst als namenloses Findelkind auf der Schwelle einer armen Frau gefunden worden war, die es mitleidig aufgenommen und Mutterstelle an ihm vertreten hatte. Der Frau, welche allein in der Welt stand, erschien das Kind als eine wahre Gottesgabe. Zu einer solchen wurde es auch wirklich für sie, denn jedermann wetteiferte, ihr bei der Pflege und Erziehung der reizenden begabten Kleinen mit Rat und Tat beizustehen, so daß ihr die nötigen Mittel völlig ungesucht zuflossen.

Zwar verlor Imogen in ihrem elften Jahre die Wohltäterin ihrer Kindheit durch den Tod, aber sie hatte das Glück, sofort eine neue Heimat zu finden. Ein reiches, herzensgutes Ehepaar nahm sie an Kindesstatt an und gab ihr Gelegenheit, sich die Schätze einer höheren Bildung anzueignen und die feineren Umgangsformen der Welt, welcher sie jetzt angehören sollte, zu erwerben. Sie bewahrte dabei jedoch die Eigenart ihres Charakters, die schon früh zu Tage getreten war, und zugleich gewann ihre äußere Erscheinung täglich neue Reize. Ein kräftiger, kerngesunder Körper, ihre einzige, kostbare Mitgift für das Leben, trug noch dazu bei, die Pracht ihrer Schönheit zu erhöhen, die sich mit der Zeit immer herrlicher entfaltete.

So verflossen für Imogen fünf Jahre in Glück und Wohlstand, als plötzlich ihr Geschick abermals eine neue Wendung nahm. Ihre Pflegeeltern verloren durch einen Bankerott ihr ganzes Vermögen, und als sie bald darauf starben, sah sie sich, kaum erwachsen, gezwungen, auf eigenen Füßen zu stehen. Zwar fehlte es ihr nicht an mancherlei Anerbietungen, um ihre Zukunft zu sichern, sie wies jedoch alle fremde Hilfe zurück und suchte nach einer Stelle, wo sich ihr Gelegenheit böte, ihre Kräfte zu verwerten und sich durch Arbeit ihren Unterhalt zu erwerben.

Eine solche fand sich denn auch bald für sie in dem Hause des Rechtsanwalts Orkutt als Stütze seiner betagten Schwester, welche der Wirtschaft vorstand. Die alte Dame bedurfte einer jüngern Kraft, die ihr die Arbeit erleichtern und zugleich neues Leben und Interesse ins Haus bringen sollte. Daß das Mädchen eine Schönheit war, schien ihr kein Hindernis; sie ließ Imogen frei schalten und walten, und legte ihr selbst dann keinen Zwang auf, als sie sah, welche Anziehungskraft die neue Hausgenossin auf ihren Bruder ausübte. Schon Imogens erster Anblick hatte ihn mit Bewunderung erfüllt, und bald fügte er sich willenlos ihrer unbewußten Herrschaft. Sie schien ihrer ganzen Natur nach für keine untergeordnete Stellung geschaffen und ward bald der leitende Geist an Orkutts Tisch und Herd.

In allem erwies sie sich als das gerade Gegenteil der Mädchen, mit welchen er bisher verkehrt hatte. Zuerst zurückhaltend, stolz, unnahbar, dann, als ihr Bildungstrieb mehr und mehr erwachte, lernbegierig, unverdrossen, bereit auf alle seine Erklärungen und Beweisführungen einzugehen. Zwischen jenen Stunden aber, welche sie seiner Aufforderung folgend, bei ihm im Studierzimmer zubrachte, aus seinen Büchern lesend und lernend, und der weit gefährlicheren Zeit, da er sie im Wohnzimmer aufsuchte, an ihrer Seite saß und nicht in Büchern, sondern in ihren Augen zu lesen suchte, lag ein langer, harter Kampf.

Orkutt liebte sie. Aber so heftig die Leidenschaft auch sein Herz ergriffen hatte, er hielt den Gedanken an eine Heirat lange Zeit von sich fern. Sie sollte seine Tochter werden, die Erbin seines Vermögens, seine Stütze im Alter. Dieser Entschluß war jedoch nur von kurzer Dauer. Imogen kam von einem Besuch in Buffalo zurück, wohin er sie geschickt hatte, als sein innerer Zwiespalt allzustark wurde, und er erkannte gleich beim ersten Wiedersehen klar und deutlich, daß jene Absicht unausführbar sei. Sie mußten einander als Gatten angehören, oder es galt, die Verbindung zwischen ihnen ein für allemal abzubrechen.

Es war ein einziger Blick ihrer Augen, der ihn so völlig besiegt hatte, ein verschämter, fast demütiger, entzückender Blick, dem er nicht zu widerstehen vermochte. Aeußerlich blieb sein Wesen zwar unverändert, aber von jener Stunde an gab es für ihn kein Zweifeln und Zaudern mehr; sie sein eigen zu nennen, war allein noch Ziel und Zweck seines Lebens.

Ihr gegenüber schwieg er jedoch noch immer. Es lag in ihrem Wesen etwas Rätselhaftes, ihm Unverständliches, das sie von allen andern Frauen unterschied. Nach ihrer kurzen Abwesenheit von seiner Seite schien ihm dieser dunkle Zug noch stärker hervorzutreten als früher. Ob er Gutes oder Böses bedeute, wußte er nicht; aber die Ungewißheit zwang ihn, auf seiner Hut zu sein. Als er dann endlich doch im Drange des Augenblicks seine Gefühle offenbarte, und der Schleier zerriß, der ihr seine Leidenschaft bis dahin verhüllt hatte, sprach er daher keinen bestimmten Wunsch und Plan aus und sagte ihr nicht, daß er sie zum Weibe begehre.

Die Wirkung seines Geständnisses war anders, als er erwartet hatte. Imogen schien völlig überrascht und bekannte, ihr sei der Gedanke, daß er sie auf solche Weise auszeichnen könne, noch nie gekommen; die folgenden zwei Tage schloß sie sich in ihr Zimmer ein und wollte weder ihn, noch seine Schwester empfangen. Als sie wieder zum Vorschein kam, war sie zwar blühend wie eine Rose, aber gemessener und zurückhaltender in ihrem Benehmen als zuvor, unergründlicher denn je. Die stolze, weibliche Würde, mit der sie sich umgab, hinderte jede vertrauliche Annäherung und machte den Verkehr mit ihr bald unwiderstehlich anziehend, bald peinlich und gezwungen.

Sie wartet auf einen bestimmten Antrag, dachte Orkutt bei sich.

So standen die Dinge damals, während man in den Bekanntenkreisen bereits auf eine bestimmte Entscheidung und Verlobung wartete. Da trat, wie schon berichtet, das schreckliche Ereignis ein und zeigte ihm das Mädchen in einem ganz neuen Lichte. War es möglich, daß Imogen auf eine ihm unbegreifliche Weise dem Geheimnis auf die Spur gekommen war, welches das furchtbare, verwegene Verbrechen umhüllte?

Er hätte den Gedanken als völlig widersinnig sofort von sich gewiesen, wäre des Mädchens Auftreten in der Witwe Haus weniger unpassend und unerklärlich gewesen. Dazu kam noch der Umstand, daß er allen Grund zu der Annahme hatte, jener Ring gehöre ihr in Wahrheit nicht, obwohl sie ihn vor aller Welt als ihr Eigentum anerkannte. Bei dem rätselhaften Ausruf der Sterbenden: »Ring! Hand!« hatte er sie einen schnellen Blick voll Angst und Entsetzen auf das Juwel werfen sehen. Kannte sie dessen Eigentümer? Argwöhnte sie vielleicht, wer den Ring am Finger getragen hatte, bevor sie ihn an ihre eigene Hand steckte? –

Orkutt hatten alle diese Fragen von vornherein mit banger Unruhe erfüllt; war es da zu verwundern, wenn er nicht ohne Schrecken inne wurde, daß Imogens Benehmen auch andern aufgefallen war, wenn ihn nach der Unterredung mit dem Detektiv ein namenloses Grauen überfiel?

Er stand jetzt vor seiner Gartenpforte. Als er sie öffnete, sah er zu seiner größten Bestürzung Fräulein Dare im Reiseanzug mit einer Handtasche am Arm ihm entgegenkommen.

Imogen, rief er, was soll das bedeuten? Wo wollen Sie hin?

Ihr Gesicht, das sie ihm langsam zuwandte, trug einen unnatürlich gespannten Ausdruck. Ich fahre nach Buffalo, sagte sie.

Nach Buffalo! – Also wollte sie die Stadt verlassen, plötzlich, ohne den Grund anzugeben; das ließ Raum für die schlimmsten Befürchtungen. – Und weshalb diese unerwartete Abreise? fragte er in heftiger Bewegung.

Eine Nachricht, die ich erhalten habe, ist die Veranlassung. Ich muß fort. Einer von – von meinen Bekannten ist krank. Halten Sie mich nicht auf!

Seine Hand, die auf der Türklinke lag, zitterte, aber er machte keine Anstalt, dem Fräulein den Weg freizugeben.

Verzeihen Sie, Imogen, sagte er, aber ich kann Sie nicht fortlassen, bevor ich Sie gesprochen habe. Folgen Sie mir ins Haus, es soll nicht lange währen!

Mit zerstreuter Miene schüttelte sie langsam und traurig den Kopf.

Es ist zu spät, murmelte sie, ich werde den Zug verfehlen, wenn ich noch länger zögere.

Wir müssen es darauf ankommen lassen, rief er voll Bitterkeit, in der Qual des Augenblicks alles andere vergessend. Was ich zu sagen habe, leidet keinen Aufschub. Kommen Sie!

Der gebieterische Ton aus dem Munde dessen, der bisher jeden ihrer Wünsche als Befehl angesehen hatte, war ihr neu. Aber sie besann sich, blickte ihn an, als verstehe und ehre sie sein Gefühl und erwiderte ruhig, wenn auch mit erbleichenden Wangen:

Sie haben recht, Ihr Anspruch geht vor. Ich will die Reise bis morgen aufschieben. Damit schritt sie ihm voran ins Haus und stellte ihre Tasche auf einem Tischchen ab.

Im Bibliothekzimmer setzten sie sich einander gegenüber. Die innere Erregung, in der sich Orkutt befand, gab seiner Stimme einen rauhen, fast strengen Klang, als er anhub:

Nun sagen Sie mir, Imogen, warum Sie mein Haus verlassen wollen?

Sie blieb kalt und unbeweglich wie ein Marmorbild. Ich habe es ja bereits gesagt, entgegnete sie in sanfterem Tone, als er erwartet hatte, eine Nachricht, die ich erhalten habe, ruft mich nach Buffalo, aber nur auf wenige Tage.

Er hielt dies für eine leere Ausflucht. So gedenken Sie hierher zurückzukehren? fragte er, sich mühsam zur Ruhe zwingend.

Natürlich, versetzte sie überrascht. Hier ist ja meine Heimat.

Die Worte fielen ihm wie ein Hoffnungsstrahl in die Seele; ihre Hand ergreifend, blickte er sie lange und forschend an.

Imogen, rief er endlich, sagen Sie mir, was für eine Last auf Ihrem Herzen liegt! Machen Sie mich zum Vertrauten Ihres Kummers. Was hat diese völlige Veränderung in Ihnen bewirkt seit dem schrecklichen Ereignis heute mittag?

Sein Flehen war vergeblich. Ihre Miene belebte sich nicht, ihr Wesen war nur noch verschlossener.

Ich habe Ihnen nichts mitzuteilen, sagte sie.

Nichts? – Er ließ ihre Hand los und saß in tiefes Sinnen versunken da. Zwischen ihnen lag ein unheilvolles Geheimnis; es betraf das heute verübte Verbrechen, darüber war kein Zweifel. Aber wie sollte er, ohne ihr zu nahe zu treten, ohne ihre Würde zu verletzen, sie dazu bewegen, dies einzugestehen und ihm den Schlüssel ihres Innern auszuliefern?

Sie mit Fragen zu bestürmen – das sah er wohl – war ein nutzloses Beginnen. Selbst wenn er es über sich vermocht hätte, seinen Befürchtungen Worte zu verleihen, so sagten ihm doch ihre starren, unbeugsamen Mienen nur zu deutlich, daß jeder derartige Versuch mißlingen oder nur dazu dienen werde, ihn in ihren Augen verächtlich zu machen. Er mußte ein anderes Mittel ergreifen, mußte sich auf der Stelle von dem furchtbaren Druck befreien, der ihm auf der Seele lastete; doch durfte er um keinen Preis dabei die Liebe aufs Spiel setzen, die jetzt mehr als je das tiefste Bedürfnis seines Lebens geworden war.

Trotz all seines Scharfsinnes, all seiner Weltklugheit fand er nur einen Ausweg. Er wollte ihr seine Hand antragen, wollte sie zum Weibe begehren – noch diesen Augenblick. An der Art, wie sie dies aufnehmen werde, hoffte er zu erkennen, welcherlei Gedanken und Gefühle sie im Busen hege. Zeigte sie sich ihm willfährig, gab sie auch nur von ferne zu verstehen, daß ihr seine Werbung nicht unwillkommen sei, so meinte er sich fest darauf verlassen zu können, daß kein wirkliches Unrecht, kein unseliges, entwürdigendes Geheimnis, kein Argwohn, der ihren Frieden bedrohte, zwischen ihnen lag. Wie rätselhaft ihm dies ungewöhnliche Mädchen auch zu Zeiten erscheinen mochte, seine Ueberzeugung von der Ehrenhaftigkeit ihrer Gesinnung war unerschütterlich.

Sich innerlich gewaltsam zusammenraffend, um gerüstet zu sein, welches auch der Erfolg seiner Werbung sein möge, zog er sie sanft an sich.

Sie wollen mir Ihr Vertrauen nicht schenken, Imogen, sagte er, aber ich habe Ihnen ein Wort zu sagen, ein Wort, das Sie schwerlich ganz unerwartet treffen kann; doch würde ich es wohl kaum heute über die Lippen bringen, wenn die Ereignisse mir nicht den Wunsch nahelegten, es möchte mir das Recht vergönnt sein, Ihnen Schutz und Mitgefühl zu gewähren.

Erschreckt hielt er inne: bei den letzten Worten war sie totenblaß geworden, und ihr Atem ging schwer; allein etwas in ihrem Wesen gab ihm den Mut, fortzufahren und seine aufsteigenden Befürchtungen niederzukämpfen. Sie wich nicht vor ihm zurück, als er, so ruhig er vermochte, weitersprach:

Ich liebe Sie, Imogen! Erhören Sie meine Bitte, werden Sie mein Weib und machen Sie mein Haus zu einer Stätte des Glücks auf immerdar!

Jetzt erst schien sie recht zum Bewußtsein zu erwachen. Sie fuhr zusammen und streckte wie abwehrend die Hände aus, aber nur einen Moment. Noch ehe er sich sagen konnte, daß alles aus sei, daß seine schlimmste Furcht sich bestätige, da nur das Bewußtsein einer unübersteiglichen Kluft zwischen ihnen ihr Zurückschaudern erklären könne, hatte sie sich ihm schon wieder zugewandt. Aus ihren Zügen sprach ein schwerer Kampf, eine düstere Wolke lag auf ihrem Antlitz, aber die Scheu und Entfremdung, vor der ihm so namenlos bangte, war nicht darin zu lesen.

Lange fand sie kein Wort der Erwiderung, dann kam es in kurzen abgerissenen Sätzen von ihren Lippen:

Sie sind sehr gütig – Ihre Frau zu sein – wäre mir ein Schutz – eine Ehre. – Ich weiß sie zu würdigen. Doch bin ich heute nicht imstande, Worte der Liebe aus eines Mannes Mund anzuhören. In einem halben Jahr vielleicht –

Aber schon hielt er sie in den Armen. Seine Freude über die Erlösung von der entsetzlichen Angst war so groß, daß er alles darüber vergaß. Imogen, murmelte er, teures Mädchen!

Mit angstvollem Stöhnen machte sie sich frei; sie fühle sich matt und krank, sagte sie, und wolle auf ihrem Zimmer Erholung suchen. Sie litt sichtlich, und schon wollte er sie von sich lassen, als ihm zur rechten Zeit noch einfiel, daß er zwar über die Hauptsache beruhigt sei, aber für die andern Rätsel noch keine Erklärung wisse.

Imogen, bat er, nur noch einen Augenblick. Ich muß noch eine Frage an Sie richten, so schwer es mir fällt, Sie zu quälen. – Was bedeutet Ihr Interesse an dem furchtbaren Verbrechen, das heute begangen wurde? Warum hat es auf Sie eine so erschütternde Wirkung geübt, daß Sie förmlich wie umgewandelt sind?

Sie sah ihm fest in die Augen.

Ist es nicht ganz natürlich, wenn ich Anteil nehme an dem gewaltsamen Tode einer Frau, deren Namen ich hier im Hause häufig vernommen habe?

Das wohl; aber auffällig war es, sich an den Ort des Verbrechens zu drängen, von dem jedes andere Mädchen sich schaudernd ferngehalten hätte.

Ich bin nicht wie die andern. Wenn ich von etwas Dunklem, Rätselhaftem höre, wünsche ich es zu verstehen. Die Leute mögen von mir denken, was sie wollen.

Aber Ihre unverkennbare Angst, Ihr Entsetzen, Imogen! Sehen Sie in den Spiegel, wie verstört Sie noch jetzt aussehen! – Wenn Frau Klemmens für Sie eine Fremde war, wie Sie mich immer glauben ließen, woher dann diese furchtbare Aufregung über das heutige Trauerspiel?

Sie wich der forschenden Frage aus.

Mir machen solche Schrecknisse einen dauernden Eindruck, sagte sie; ich kann nicht so schnell vergessen, wie andere Leute.

Sich der Tür nähernd, legte sie die Hand auf den Drücker. Er sah, daß sie unter dem Handschuh den Ring nicht mehr am Finger trug, den sie in der Witwe Haus angesteckt hatte.

Ihre Blicke begegneten sich und sie erriet seine Gedanken. Sie möchten wissen, sagte sie, woher der Ring stammt, der bei dem heutigen Auftritt so unerwartet zum Vorschein kam? – Ich habe dem Herrn, der ihn aufhob und mir einhändigte, geantwortet, daß er mir gehöre; sollte das nicht auch dem Manne genügen, der heute erklärt hat, er würdige mich eines so unbedingten Vertrauens, daß er mich zu seiner Gattin wählen wolle? – Doch gestehe ich, daß es mich selbst aufs höchste überrascht hat, als der Ring dort im Zimmer vom Boden aufgehoben wurde. Ich hatte ihn vielleicht allzu unbedachtsam in eine Tasche gesteckt – wie oder wann er herausgefallen ist, kann ich nicht sagen. – Was aber den Ring selbst betrifft, so haben wohl junge Damen öfters Besitztümer, von denen ihre Freunde nichts wissen, fügte sie in stolzem Ton hinzu.

Hier war wenigstens die Möglichkeit einer Erklärung gegeben, mit der sich Orkutt wohl begnügt hätte, wäre er nicht, wie schon erwähnt, überzeugt gewesen, daß der Ring bereits am Boden in dem Zimmer gelegen hatte, ehe Imogen es betrat. Dieser entschiedene Beweis ihrer Unwahrhaftigkeit war für ihn ein schwerer Schlag.


Doch sagte er sich, daß sie vielleicht ein Eigentumsrecht an dem Ringe haben könne – so unwahrscheinlich dies auch erschien –, ohne deshalb irgend welche Kenntnis von dem Verbrechen zu besitzen. Von dieser Hoffnung erfüllt, wagte er noch einen letzten Versuch.

Imogen, nur noch ein Wort; mir ist die Angelegenheit zu wichtig, um so schnell darüber hinwegzugehen. Sagen Sie mir nur das eine: hat das Geheimnis, das Sie in Ihrer Brust bergen und das Sie veranlaßte, meine Werbung so aufzunehmen, wie Sie taten, irgendwelche Beziehung zu jenem Verbrechen? Kann es sich trennend zwischen mich und Sie stellen? – Ich frage nicht, weil ich selbst Zweifel hege, fügte er schnell hinzu, als er den Ausdruck verletzten Stolzes in ihren Blicken las, sondern weil Leute, welche unglücklicherweise Zeugen Ihres seltsamen, aufgeregten Benehmens waren, die Andeutung gewagt haben, daß Ihre heftige Erregung nur aus einer geheimen Mitwissenschaft des Verbrechens, aus einer Kenntnis des Täters entspringen könne.

Er hielt inne, atemlos auf eine Erwiderung harrend, die jedoch nicht erfolgte.

Antworten Sie mir, Imogen – haben jene Menschen recht – ja oder nein?

Sie sah ihm mit ihren großen tiefen Augen voll ins Gesicht; es lag bitterer Seelenschmerz in dem Blick, aber auch ein stolzes Selbstgefühl, wie es nur die Wahrheit verleiht.

Nein, sagte sie.

Ohne ein weiteres Wort verließ sie geräuschlos das Zimmer.

*

Am nächsten Morgen nahm Byrd drei Briefe in Empfang. In dem ersten zeigte ihm der Coroner an, daß die Witwe Klemmens um Mitternacht sanft entschlafen sei. Der zweite enthielt einige flüchtige Zeilen von Herrn Ferris, der ihn aufforderte, den heutigen Tag zu benutzen, um eine gewisse dringende Angelegenheit in der benachbarten Stadt zu erledigen. Der dritte war eine Zuschrift des Rechtsanwalts Orkutt, welche also lautete:

»Geehrter Herr!

Nachdem ich mit der betreffenden Person über die bewußte Sache gesprochen habe, versichere ich auf mein Ehrenwort, daß sie keinerlei Kenntnis irgendwelcher Tatsachen besitzt, von denen die Behörden unterrichtet werden sollten.

Tremont B. Orkutt.«

Detektiv Gryce-Krimis

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