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Kapitel 2

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„Wir würden gerne nochmal den zwölften Juni rekonstruieren“, begann Georg Jasper. „Bitte schildern Sie uns den Tag aus Ihrer Sicht.“

„Das habe ich doch bereits hunderte Male getan!“

„Bitte, Frau Delevigne.“

Lily seufzte und verschränkte die Hände im Schoß. Der Kommissar wartete.

„Also. Ich bin um sechzehn Uhr, also eher sechzehnuhrfünfzehn, von der Schule nach Hause gekommen. Dann habe ich auf André gewartet, der mich gegen… ja, gegen siebzehn Uhr abholen wollte. Er kam aber nicht.“ Sie sprach ruhig, die Finger hatte sie jedoch immer noch im Schoß verkrampft. „André tauchte also nicht auf und hinterhertelefonieren wollte ich ihm aus Stolz auch nicht. Da das Wetter immer schlechter wurde, bin ich daheim geblieben.“

„Sie haben also den ganzen Abend das Haus nicht mehr verlassen!? Sind auch nicht zum Wigands Fels hoch, wo er vielleicht auf Sie hätte warten können?“

„Nein“, antwortete sie entschieden. „Meine Mutter kann das bezeugen.“

Als sie aus der Mittagspause zurückkam, stapelten sich auf Camillas Schreibtisch bereits die Notizen ihrer Assistentin. Rasch sah sie alles durch und noch bevor sie sich am Computer wieder angemeldet hatte, kam Laurent herein.

Laurent Gainsbourg war der Museumleiter und durch die nun bereits zweijährige Zusammenarbeit hatte Camilla eine große Abneigung gegen ihn entwickelt.

„Na, Kollegin?“ Er grinste breit und ließ sich in den Stuhl vor ihrem Schreibtisch fallen. „Ausgiebig Mittagspause gemacht?“

Sie antwortete kühl:

„Ich wüsste nicht, was Sie meine Mittagspause angeht.“

Er grinste immer noch und lümmelte sich tiefer in den Stuhl. Er machte Camilla aggressiv. Etwas zu heftig haute sie ihr Passwort in die Tasten.

„Womit kann ich Ihnen dienen, Laurent?“

„Oh, da fiele mir eine ganze Menge ein“, sagte er anzüglich, wurde dann jedoch geschäftlich und beugte sich vor. „Hat Heidegger sich bereits zur zweiten Statue geäußert?“

„Sie meinen die Muse Thalia?“ Camilla kontrollierte sicherheitshalber ihre E-Mails. „Nein, bisher noch nicht. Hat er Ihnen auch nichts geschickt?“

„Kein Sterbenswörtchen.“

„Mist.“

Laurent zählte an den Fingern auf:

„Wir brauchen die Zusage für die Muse, wir müssen den Transport der anderen Statue noch klären und die Verträge sind auch noch nicht fertig! Plus“, seine finstere Mine hellte sich auf, „wir müssen natürlich noch Vasen begutachten!“

Camilla runzelte die Stirn.

„Ich dachte, das hätte Lydia bereits getan?“

Lydia Koch war eine der Gutachterinnen des Museums. Eigentlich hatte sie die für die Ausstellung wichtigen Vasen untersuchen sollen, welche Heidegger, ein privater Sammler, dem Museum zur Verfügung stellte.

„Lydia ist krankgeschrieben und deshalb werden wir beide, Signorina Weiss, zusammen nach Rom fahren und dort mit Marco alle Leihgaben von Heidegger abwickeln!“

Camilla verdrehte innerlich die Augen. Eine Reise? Jederzeit gerne! Zusammenarbeit mit dem italienischen Gutachter Marco Renzi? Super! Eine Reise mit Laurent Gainsbourg? Grauenhaft! Eine Reise mit Laurent Gainsbourg zu dem eingebildeten Gecken Franz Heidegger? Ein Albtraum!

Sie schaffte es, ihren Kollegen hinaus zu bugsieren, ohne sich eine Klage wegen Körperverletzung einzuhandeln. Als das Telefon klingelte, meldete sie sich recht unwirsch.

„Weiss!?“

„Milla? Hier ist Lily.“

Beim Klang der Stimme ihrer besten Freundin entspannte sie sich unwillkürlich.

„Hallo Liebes, wie geht‘s dir?“

Lily schien ein Mal tief durchzuatmen.

„Die Polizei war gerade bei mir.“

Georg Jasper rieb sich nachdenklich über die Stirn. Vor ihm lag sein Notizblock, darauf seine kleine, an Fliegenfüßchen erinnernde Handschrift.

„Kaffee?“

Köster hielt ihm die Kanne hin. Dankend lehnte Jasper ab. Bei der Hitze war es ihm ein Rätsel, wie sein Kollege auch noch heißen, viel zu starken Kaffee trinken konnte.

„Es ist mir ein Rätsel, wie Sie bei so einer Hitze auch noch heißen Kaffee trinken können!“, sprach es Kochalski, der andere Kollege, laut aus.

„Was war Ihr Eindruck von Elke Meyer?“, fragte Jasper ihn.

Falko Kochalski, ein fähiger Kriminalbeamter von vierzig Jahren, mit dem Jasper bereits in vergangenen Fällen zusammen gearbeitet hatte, dachte kurz nach und kratzte sich am Kopf.

„Die Nachbarin? Hm… Waschweib. Tratscht gerne. Aber nicht unehrlich! Die typische Sorte älterer Hausfrau, die gerne und gut ihre Nachbarn beobachtet und bewertet. Aber nicht unbedingt bösartig, auf ihre Weise war sie mir ganz sympathisch.“

„Hab‘ mir übrigens mal den vorläufigen Bericht der Spurensicherung angeschaut“, brummte Gustav Köster aus der Ecke. „Des is‘ Mord.“

„Das ist bisher nur eine Vermutung. Die Pathologie ist noch zu keiner endgültigen Aussage gekommen!“, begehrte Kochalski auf.

„Ich muss ihm leider zustimmen, Gustav“, sagte Jasper. „Er könnte auch am Sturz gestorben sein. Bei dem Abhang nicht ganz unrealistisch. Und wenn nicht, könnte es auch nur ein Totschlag sein, nicht gleich ein Mord.“

Er wartete, ob Köster noch etwa hinzufügen würde, doch sein wortkarger Gegenüber schien alles gesagt zu haben. Unglücklicherweise stimmten die Einschätzungen des Kollegen meistens.

„Mir gefällt diese ganze Schule nicht!“, sagte Jasper dann, um seine Gedanken zu ordnen, „die Edelburgh-Schule. Die war damals schon so eine Neureichen-Schule mit verzogenen Kids und versnobten Eltern.“

„Mein Patenkind ist auf der Schule“, entgegnete Kochalski, „aber grundsätzlich stimme ich dir zu. Allerdings ist das Niveau auch sehr hoch; es gibt eine Unmenge an Angeboten und die Schüler gehen mit einem hochqualifizierten Abitur ab!“

„Ja ja“, brummte sein Vorgesetzter, „Sie haben ja Recht. Nehmen Sie es mir nicht übel!“

„I wo... Was denken Sie denn vom Schulfreund des Opfers, Timo Gehrke?“

„Mir gefällt er nicht, undurchsichtige Type. Schien uns schnell wieder loswerden zu wollen. Ach, hat Benfer inzwischen den zweiten Klassenkameraden ausfindig machen können?“

Genau in diesem Moment kam ihre Kollegin Pia Benfer herein.

„Wenn man vom Teufel spricht!“, grinste Kochalski.

„Ich habe ihn!“, entgegnete die junge Frau und wedelte mit dem Hefter, den sie in der Hand hielt. „Lars Gilles, Mitschüler und Fußballfreund des Opfers. Dreiunddreißig Jahre, wohnhaft in einer kleinen Stadt in Norddeutschland und Sportlehrer von Beruf.“ Sie reichte ihrem Vorgesetzten die Unterlagen und schielte dann zur Kaffeekanne hinüber. „Habt ihr Kaffee gekocht?“

„Wenn Sie Kösters Plörre trinken wollen, bitte, bedienen Sie sich.“

Während Kochalski seine Cola und Benfer und Köster ihren Kaffee tranken, hörten sie dem Kommissar zu, der sie auf den neuesten Stand brachte.

„Und die damalige Freundin des Opfers, wie war das Gespräch mit der?“, fragte Benfer neugierig. „Die Schauspielerin. Die interessiert mich ja am meisten! Habt ihr ihren letzten Film Winterkinder gesehen? Der war super!“

Köster machte ein undefinierbares Geräusch, sagte aber nichts.

„Mit Lily Delevigne habe ich heute Vormittag gesprochen“, fuhr Jasper fort. „Ihre Eckdaten sind: zweiunddreißig, geboren im gleichen Jahr wie das Opfer und auch im selben Ort aufgewachsen. War mit ihm zwei Jahre zusammen, bevor er spurlos verschwand. Ging dann mit achtzehn auf die Schauspielschule und hatte bereits mit zweiundzwanzig ihre erste große Rolle. Lebt nun hier in der Stadt, alleine, kein Mann oder Kinder, wenn sie nicht gerade auf Dreharbeiten ist.“

„Und?“ Die junge Kollegin blickte ihn gespannt an. „Was hat sie so gesagt?“

Jasper legte seine Notizen beiseite und seufzte.

„Nicht viel. Sie schien leicht nervös zu sein, konnte es aber ganz gut hinter Distanziertheit und Höflichkeit verstecken. Hat nichts gesehen oder gehört und hat das Haus am zwölften auch nicht mehr verlassen… Ich bin mir noch nicht ganz sicher, was ich von ihr halten soll.“

Pia ließ sich die Worte ihres Chefs nochmal durch den Kopf gehen.

„Weshalb war sie nervös?“

„Wer?“

„Na, Lily Delevigne. Die Freundin unseres Opfers.“

Falko beobachtete neidisch, wie sie sich eine Zigarette anzündete und genüsslich inhalierte.

„Willst du auch eine?“

„Nein, ich halte es schon aus! Bin schon zwei Wochen rauchfrei!“

„Wie du meinst.“

Sie setzten sich auf eine Bank im Innenhof des Präsidiums, eine der wenigen Schattenplätze. Pia zog die Jacke aus und krempelte die Ärmel ihrer Bluse hoch.

„Die Uniform ist so verdammt heiß!“ Sie nahm noch einen Zug und wiederholte dann ihre Frage. „Warum sollte sie nervös sein?“

Ihr Kollege zuckte die Schultern.

„Dafür gibt’s viele Gründe. Die meisten Leute sind in Gegenwart der Polizei nervös, vor allem diejenigen, die ein reines Gewissen haben.“

„Verrückt, oder!?“

„Dabei sind wir doch der Freund und Helfer“, grinste er.

„Aber wenn es wirklich Mord oder Totschlag war, dann ist’s vorbei mit der Gemütlichkeit!“ Sie drückte unvermutet heftig ihre Zigarette mit dem Stiefelabsatz aus. „André Güter war so alt wie mein Bruder jetzt, als er starb!“

Als der Applaus aufbrandete, war alles vergessen. Die Angst, die Trauer, die Sorge; alles weggespült vom berauschten Publikum. Lily verbeugte sich ein letztes Mal, dann schloss sich der Vorhang und die Aufführung war vorüber.

In ihrer Garderobe war es kühl und ruhig. Durch die Wand konnte sie ihre Kollegen in der Nachbargarderobe hören. Lily war auf vertraute Weise müde und aufgekratzt zugleich, wie nach jeder Theateraufführung. Sie setzte sich in den Sessel und goss sich ein Glas Sekt ein.

Genau dafür hatte sie immer gekämpft.

Juniluft

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