Читать книгу Böser Junge - Anna Ldies - Страница 3
Prolog
ОглавлениеIch erinnere mich genau: Es war mein zwölfter Geburtstag, der mein Leben komplett verändern sollte. Es war der 16. Mai 1992. Meine Mutter hatte mir gerade einen Kuchen gebacken, und ich freute mich darauf, ihn gemeinsam mit meinem Freund zu essen. Es waren nicht viele Freunde eingeladen, denn mein Vater verbot mir dieses. Ich hasste meinen Vater. Er trank immer zu viel und behandelte meine Mutter gar nicht gut, im Gegenteil, immer wieder schlug er sie. Er war ein grausamer Mensch, doch bis zu meinen zwölften Geburtstag hatte mich mein Vater kein einziges Mal geschlagen.
An meinem Geburtstag hatte sich meine Mutter wirklich viel Mühe gegeben und alles schön dekoriert. Sie bastelte aus Servietten kleine Kunstwerke und hing Girlanden auf. Es war ein schöner Tag, ein besonderer Tag, denn es sah so aus, als wäre mein Vater sogar nüchtern, und dann konnte er ein fast liebenswerter Mensch sein. Doch die Stimmung schlug schnell um, denn mein Vater erhielt einen Brief von seiner Arbeitsstelle. Er war gefeuert. Mein Vater rastete aus und sagte zu mir: „Mein Sohn, du bist an allem schuld, du allein, du kleiner Scheißer!“ Obwohl Vater nüchtern war, verlor er jegliche Kontrolle über sich und fiel dann über meine Mutter her. Er schlug sie und nannte sie „Miststück“. Wir fühlten uns nicht mehr sicher. Wie ein wildes Tier prügelte mein Vater auf meine Mutter ein.
Ich lief in die Küche und nahm dort das erste Messer, das ich fand. Vater sollte einfach meine Mutter in Ruhe lassen! Als ich aus der Küche kam, schlug er noch immer auf sie ein. Sie lag am Boden, und er trat und beschimpfte sie weiter. Sein Rücken war zu mir gewandt, also lief ich auf ihn zu und stach ihm das Messer mit voller Wucht hinein. Niemals mehr sollte er meine Mutter quälen! Sie sollte frei sein! Mein Vater musste sterben! Er sank zu Boden, und ich zog das Messer aus seinem Rücken. Er röchelte, aber ich wusste, er würde es überleben.
Meine Mutter erhob sich vom Boden und schrie mich an: „Was hast du getan?“
Ich verstand ihre Worte nicht. Ich hatte sie doch gerade gerettet! Aber sie schrie mich weiter an. Ich wollte dem allem jetzt ein Ende setzen und meinen Vater ein für allemal töten, also nahm ich das Messer in beide Hände und holte zum letzten Stich aus, doch gerade als ich zustechen wollte, ging meine Mutter dazwischen, und anstatt meinen Vater zu treffen stach ich meiner Mutter mitten ins Herz. Ich sah, wie sich ihre Augen verdrehten, der Lebenssaft aus ihr rann. Sie starb binnen weniger Sekunden.
Ich schrie: „Mama! Mama! Nein!“ Doch mein Schreien half nichts. Meine Mutter starb in meinen Armen, und mein Vater, der Mistkerl, röchelte immer noch vor sich hin. Er sollte für alles büßen, denn er war es, der meine Mutter getötet hatte. Ich konnte es nicht gewesen sein, denn ich wollte sie beschützen. Darum zog ich das Messer aus meiner Mutter heraus. Das Blut spritzte nur so um sich. Ganz langsam schleifte ich mich zu Vater und flüsterte ihm ins Ohr: „Das hier werde ich genießen!“ Ich konnte die Angst in seinem Gesicht erkennen. Er war nicht mehr der starke Mann, nein, ich hatte die Kontrolle und konnte über Leben und Tod entscheiden, und dieses Gefühl der Erhabenheit war enorm. Ich fühlte mich wie Gott. Ich war Richter und Henker. Und dann stach ich immer und immer wieder auf meinen Vater ein. Später sagte mir die Polizei, dass er mit über 80 Stichen getötet wurde, und wisst ihr was? Es hat mir Spaß gemacht! Ich habe alles genossen – das Blut, das umher spritzte, die Schreie, die ich hörte. Die immer leiser wurden, bis nichts mehr davon übrig blieb. Mein Vater wurde abgeschlachtet, und ich war der Schlächter. An diesem Tag wurde ich neu geboren. Mein Vater hatte zuerst meine Mutter umgebracht, und dann habe ich ihn getötet.
Dies war auf jeden Fall die Version, die ich in meinem Kopf behielt. Ich hoffe, er leidet in der Hölle noch immer, denn nur dort gehört er hin.
Zwei Stunden blieb ich neben den Leichen meiner Eltern sitzen, umgeben von all ihrem Blut. Ich bewegte mich kein Stück, bis es an der Tür klingelte. Mein Besuch war gekommen. Nun konnte ich also endlich meinen zwölften Geburtstag feiern. Ich machte die Tür auf, in der Hand hielt ich noch das blutverschmierte Messer. Mein bester Freund stand mit seiner Mutter vor der Türe, und sie fingen beide zu schreien an. Ich wollte es ihnen noch erklären, aber da war es schon zu spät.
Kurze Zeit später kam die Polizei. Sie brachen die Tür auf und stürmten das Haus. Sie fanden mich und meine toten Eltern. Ein gewisser Chief McDouglas legte mir eine Decke um und nahm mich mit. Er war gut zu mir, und auf dem Revier gab er mir erst einmal eine Tasse heiße Schokolade. Ich fühlte mich zum ersten Mal geborgen. Meine Mutter hatte sich auch immer gut um mich gekümmert, doch mein Vater unterdrückte sie, und sie schaffte es nicht, sich gegen ihn zu behaupten. So hatten wir kein schönes Leben gehabt. Nach dem Tod meiner Eltern fühlte ich mich zum ersten Mal frei.
Der Chief befragte mich, was passiert war, und ich erzählte ihm alles. Normalerweise würde man denken, dass man nach einem solchen Erlebnis eingeschüchtert wäre und unter Schock stünde, aber dem war nicht so. Die Worte sprudelten nur so aus mir heraus. Ich merkte es an der Mimik des Chief, dass er sehr erstaunt darüber war. Je mehr ich sprach, desto mehr verschlug es ihm die Sprache. Es gefiel ihm nicht, was ich sagte und wie ich es tat. Am Ende des Gespräches hatte ich sogar ein kleines Lächeln auf meinen Lippen. Der Chief war schockiert, und mir gefiel seine Reaktion. Ob ich normal bin? Ich weiß es nicht und wollte es auch gar nicht wissen. Obwohl er jetzt die ganze Geschichte kannte, teilte er mir mit, dass ich noch minderjährig wäre, und so würde das alles als Selbstverteidigung dargestellt werden. Dass ich so oft zugestochen hätte, wäre eine psychische Reaktion auf die erlebten Dinge gewesen, die mir widerfahren waren und die ich hatte mit ansehen müssen. Ich hatte also einen Freibrief, denn als Minderjähriger konnte ich nicht angeklagt werden.
Nachdem ich einen Tag auf dem Revier verbracht hatte, wurde ich in ein Waisenheim überstellt. Das Haus sah von außen wie ein altes, riesiges Gemäuer aus. Es war wahrscheinlich schon lange nicht mehr renoviert worden. Es wirkte kahl. Dieses Waisenheim wurde von Nonnen geführt und sollte für die nächsten Jahre mein Zuhause werden. Darauf freute ich mich nicht besonders, aber wo sollte ich sonst schon hin? Es wurde mir in Aussicht gestellt, dass sich vielleicht eine Familie finden würde, die mich adoptieren könnte, wenn ein bisschen Zeit vergangen wäre. Doch ich wollte eigentlich gar nicht adoptiert werden, denn ich beschloss, ab jetzt nur noch auf mich zu hören, denn so wie ich diese Welt kennengelernt hatte, würde sich niemand um mich kümmern, also musste ich das selbst übernehmen.
Im Waisenheim wurde ich von der Oberschwester empfangen. Sie hieß Agatha und hatte einen sehr seltsamen Blick. Sie musste schon sehr alt sein, denn ihr Gesicht hatte vielen Falten und war eingefallen. Sie wirkte nicht gerade freundlich, und auch ihre ersten Worte waren nicht sehr einladend. Sie zeigte mir mein neues Zimmer. In diesem befand sich nicht viel. Ein kleines Bett aus Holz, darauf lag eine alte Matratze und eine Decke, die mir vorkam, als wäre sie seit Jahren nicht mehr gewaschen worden. Ein Schreibtisch aus Holz befand sich ebenfalls im Zimmer und ein alter Schrank. Auch dieser war aus Holz. Das Zimmer wirkte wie eine Zelle. Mir wurde verboten, jegliche Dekoration aufzuhängen, denn dies sei in diesem Waisenheim nicht gestattet. Auch wurde mir mein Name genommen. Ich bekam eine Nummer, damit sich die Schwestern diese leichter merken konnten. Ach, da fällt mir gerade ein, dass ich euch meinen Namen ja noch gar nicht verraten habe. Ich heiße eigentlich John, aber in diesem Waisenheim bekam ich die Nummer 68.
Am Abend wurde ich in die Mensa geführt. Dort bekamen wir alle das Essen. Ihr könnt es euch schon denken, bis jetzt waren 68 Kinder in diesem Waisenheim. Ich war sozusagen der neueste Zugang. Das Essen war erbärmlich. Es gab Bohneneintopf, der schmeckte, als wäre er zehn Jahre alt. Doch ich hatte Hunger und so schlang ich das Essen irgendwie runter. Gleich nach dem Essen mussten wir eine Stunde lang beten. Ich hatte zuvor noch nie gebetet, denn ich war ohne einen Glauben aufgewachsen und wollte jetzt auch nicht damit anfangen. Doch wenn man sich zu beten weigerte, bekam man einen Schlag mit dem Stock, und nach dem dritten Schlag wollte ich nicht mehr geschlagen werden und so betete ich mit. Die Kinder waren alle sehr ängstlich, denn für alles gab es eine Strafe. Aß ein Kind das Essen nicht komplett auf, so wurde der Teller mitsamt dem Essen auf den Boden geworfen, und das Kind musste dieses dann mit seinen Fingern vom Boden essen. Tat es dies nicht, folgten wieder Schläge mit dem Holzstock. Weinte das Kind, half ihm dies gar nichts. So aß es den Rest vom Boden auf. Ich fühlte mich wie ein Sklave und jetzt kam mir mein altes Zuhause wie ein Paradies vor.
In der Nacht musste ich weinen. Ich weinte so laut, dass es eine Schwester mitbekam. Als sie mein Zimmer betrat, schrie sie: „Du weinst? Das werde ich dir schon austreiben!“ Also gab es wieder Schläge. Dann versuchte ich nicht mehr zu weinen. Ich zog meine Füße an und rollte mich ganz klein zusammen. Ich war ein Häufchen Elend und wusste, dass wir alle in den Augen der Schwestern nichts wert waren. Wir waren die Verstoßenen, und das ließen sie uns spüren.
Am nächsten Morgen mussten wir in den Unterricht. Aber auch dort herrschte das gleiche Bild. Wenn man etwas nicht wusste, musste man die ganze restliche Stunde mit den Augen zur Wand in der Ecke stehen, und wenn man sich nur einmal umdrehte, folgten wieder Schläge mit dem Stock. Eines der Kinder wollte etwas dagegen sagen, also wurde es vor der ganzen Klasse vorgeführt. Es musste die Hosen runterlassen und bekam mit der flachen Hand zehn Schläge auf den Allerwertesten. Es wurde erniedrigt. Die Schwestern führten ein Terrorregime – und das bei Kindern, die sich nicht wehren konnten. Was waren das nur für Menschen, die kleinen Geschöpfen so etwas antaten? Und das im Sinne des Herrn! Sie waren keine Menschen Gottes, sie waren Menschen, die sich auf Gott beriefen, um dann alle diese Grausamkeiten in seinem Namen durchzuführen. Dort schwor ich mir, niemals an einem Gott zu glauben, der so etwas für richtig hielt.
Wir durften untereinander auch nicht sprechen, denn ich glaube, die Nonnen fürchteten, dass wir uns zusammenschließen könnten. Jeglicher Kontakt wurde von vornherein unterbunden. Doch unsere Blicke reichten aus, um zu wissen, dass wir alle das Gleiche dachten. In unserem Geist waren wir vereint. Wir schlossen unsere Gefühle in eine Truhe, sperrten diese zu und warfen danach den Schlüssel weg. Nur so konnten wir alle diese Grausamkeiten überleben, nur so konnte wir ein kleines Stück unserer Seele retten, denn ein SOS würde sowieso nicht erhört werden. Wir waren allein.
Nach mehreren Wochen im Waisenheim war auch das letzte bisschen Leben in mir erloschen. Ich fühlte mich wie ein lebender Toter, denn alle diese Schläge und Demütigungen hatten mir jegliche Menschlichkeit genommen, und so wurde mir klar, dass ich handeln musste, wollte ich mich selbst retten. Und das tat ich auch.
Es war an einem Freitag, als wir wieder alle in die Mensa zum Mittagessen geführt wurden. Eines der Kinder wurde wieder zu Unrecht schikaniert, doch dieses Mal sah ich nicht weiter zu. Sie schmissen sein Tablett mit dem Essen auf den Boden und zwangen das Kind wie einen Hund, das Essen vom Boden zu lecken. Ich nahm eine Gabel und schlich mich an eine der Schwestern von hinten an. Ganz langsam kam ich ihr näher. Sie war so damit beschäftigt, diesen armen Jungen zu traktieren, dass sie mich gar nicht bemerkte. Kurz bevor ich in Stichweite war, hielt ich die Gabel immer fester in meiner Hand, dann stach ich zu. Zuerst in ihr rechtes Bein. Die Nonne sank zu Boden, dann stieß ich ihr die Gabel in den Rücken, immer und immer wieder. Das Blut spritzte aus ihr heraus, und ich geriet in Ekstase. Ich fiel in einen Rausch. Es war betörend. Ich liebte es. Dann fielen zwei der Schwestern über mich her und rissen mich zu Boden. Ich lachte und, obwohl sie mich schlugen, lachte ich immer weiter. Am Ende mussten mich vier Schwestern festhalten und mir eine Beruhigungsspritze geben, die selbst einen Elefanten umgehauen hätte.
Als ich einen Tag später wieder zu Sinnen kam, war ich an ein Bett gefesselt. Ich hatte überall blaue Flecken, sie mussten mich also weiter geschlagen haben. Ich hatte bis auf eine Unterhose keine Kleidung mehr an.
Oberschwester Agatha kam zu mir: „Na, Kleiner? Da bist du wohl ziemlich stolz auf dich? Aber wir werden dir schon zeigen, was mit Kindern passiert, die sich so aufführen wie du! Haha!“
Zwei weitere Schwestern kamen mit einem Gerät ins Zimmer. Ich wusste nicht, was auf mich zukam, aber dass es schmerzhaft würde, war mich klar, denn die Schwester, die ich angegriffen hatte, musste sich einer Notoperation unterziehen. Sie hatte einen durchstochenen Lungenflügel und sehr, sehr viel Blut verloren.
Oberschwester Agatha nahm das wohl sehr persönlich. „Du hast einer Schwester sehr viel Leid zugefügt, darum müssen wir jetzt dir sehr viele Schmerzen zufügen. Denn anders als Jesus leben wir nach dem Prinzip ‚Augen um Augen und Zahn um Zahn‘. Wir werden jetzt ein bisschen spielen, und es wird für dich elektrisierend sein, so viel kann ich dir schon versprechen! Haha!“
Und sie hielt Wort. Das Gerät war normal für geistig abnorme Menschen gedacht. Zwei Elektroden wurden an meinem Kopf befestigt, und dann kam ein Elektroschock nach dem anderen. Einen ganzen Tag lang zerpruzzelten sie mein Hirn. Immer und immer wieder. Es waren keine langen Elektrostöße, sonst wäre ich vermutlich schon längst tot gewesen. Nein, sie wollten mich nur leiden sehen. Doch alles, was sie bekommen werden, ist Rache!