Читать книгу Die Hexenkönigin - Anna Rawe - Страница 6
ОглавлениеKapitel 2
Es war einer jener ungemütlichen Herbsttage, der ihr Schicksal für immer bestimmen würde.
Der eisige Wind riss die letzten, braunen Blätter von den kahlen Ästen und fegte sie in den Dreck der regennassen Straßen. Man konnte kaum einen Schritt gehen, ohne sich in einer der riesigen Pfützen die Schuhe aufzuweichen. Die ganze Welt schien in Grau gehüllt, wartend, bis der Winter einbrach und das Elend unter seiner weißen Decke verbarg.
An ebendiesem trostlosen Morgen, im Schimmer der Dämmerung, sah man eine Gestalt durch die Gassen der Stadt huschen. Das heißt, man hätte sie gesehen, wäre man an diesem Herbsttag schon in der Morgendämmerung auf den Beinen gewesen. Man hätte schon von Weitem gehört, wie die nackten Füße der Gestalt durch die Pfützen am Straßenrand klatschten. Und man hätte gewusst, dass diese Gestalt, unter einem großen Umhang verborgen, sich offenbar wenig darum scherte, ob sie bemerkt wurde oder nicht. Sie hatte es einfach nur eilig. Der zerrissene Saum ihres Umhangs schleifte im Dreck, genau wie das darunter hervorblitzende Kleid, an dem kaum ein Fitzelchen Stoff war, das ursprünglich zu diesem Stück gehört hatte. Überall Flicken und Löcher, die den mageren Körper dieser Frau nur notdürftig verhüllten. Und doch, wäre dieses Kleid nicht gewesen, die nackte, dreckige Haut stattdessen sauber und die dicke, verfilzte Mähne gewaschen und gekämmt, hätte man die Frau tatsächlich als hübsch bezeichnen können.
Sie war höchstens zwanzig, mit wunderschönen Locken und einem Ausdruck in den dunklen Augen, der Bände sprach. Sie hatte viel erlebt, zweifellos. In ihrem kurzen Leben musste sie schon so viel Elend ertragen haben, wie nur wenige Menschen auf dieser Welt. Und trotzdem sprühte ihr Blick vor Mut. Mut und einer Leidenschaft, wie man sie nur selten fand. Diese Frau hatte sich noch nicht aufgegeben, so viel stand fest. Sie war bereit zu kämpfen.
Mit ihren dürren Fingern – fahl wie Papier – drückte sie ein Bündel an ihre Brust. Unzählige Lagen Stoff, die dieselbe Farbe hatten wie die nassen, glitschigen Blätter auf dem Pflaster umhüllten ihr kleines Geheimnis. Konnte man nicht durch die Augen dieser Frau sehen, war es unmöglich, zu erraten, was sich darunter verbarg. Doch die prüfenden Blicke der Frau, die Liebe und der Schmerz, die ihren Blick gleichermaßen erfüllten, sprachen eine eigene Sprache.
Geräuschlos huschte sie durch die schlafende Stadt, einem unbekannten Ziel entgegen. Ihr Weg führte sie durch verworrene Gassen, Schleichwege, über Treppen und Brücken, bis sie schließlich stehenblieb.
Die Straße sah aus wie hunderte andere in dieser Stadt. Häuser reihten sich dicht an dicht, manche kerzengerade und hoch wie Felsen, andere krumm und schief wie buckelige Frauen. Dazwischen verlief eine unebene, pfützenübersäte Pflasterstraße, gerade einmal so breit, dass zwei schmale Fuhrwerke aneinander vorbeipassten.
Das Haus, vor dem die Frau stand, stach nicht aus der Menge. Es hatte zwei Stockwerke, bot also Platz für eine sechsköpfige Familie. Das ehemalige Weiß des Fachwerks war von Wind und Wetter bereits in ein dreckiges Graubraun verwandelt worden und die Wände standen leicht schief. Die Augen der Frau wanderten an den Fenstern entlang – kleine Fenster mit niedlichen Spitzengardinen, die ein schöneres Innenleben vermuten ließen als der Rest des Hauses. Hinter keinem dieser Fenster brannte Licht und nach einigen Minuten, die sie in der Mitte der Straße stand und das Haus anstarrte, wusste sie auch mit Gewissheit, dass keiner seiner Bewohner auf den Beinen war.
Vorsichtig ging sie einige Schritte auf den Eingang zu – eine schlichte Steintreppe, die in drei Stufen hinauf an die dunkle Haustür führte. Auf der letzten Stufe blieb sie stehen, blickte unschlüssig an der schiefen Fassade nach oben und warf zuletzt einen Blick auf das Bündel, das immer noch in ihrem Arm lag. Zärtlich schoben ihre Hände die Stofflagen beiseite, bis ein winzig kleiner Kopf zum Vorschein kam.
Friedlich schlafend lag der Säugling in ihrem Arm. Ihr Blick verharrte eine Weile auf ihm und Trauer stand in ihren sonst so furchtlosen Augen. Federleicht streiften ihre Fingerspitzen die Wangen des kleinen Mädchens. Dann, ganz langsam, senkte sie ihren Kopf über das kleine Ding in ihrem Arm und hauchte ihm einen Kuss auf die Stirn.
Einen Moment später richtete sie sich auf sah sich um. Die Straße war noch immer leer. Niemand hatte sie bemerkt, die Gestalt, die an ebenjenem Herbsttag vor ebenjenem Haus stand. Behutsam beugte sich die Frau herunter und bettete den Säugling auf die oberste Stufe. Ihre Hand verharrte noch einen Herzschlag über dem Kopf des Kindes, als hoffte sie, dass es eine andere Möglichkeit – eine andere Zukunft gab. Dann wandte sie sich in einer fließenden Bewegung ab, zog den Umhang näher um sich und ging. Ihre Schritte hallten durch die leeren Gassen, während ein leichter Nieselregen einsetzte. Als sie irgendwann stehenblieb, weit weg von dem grauen Fachwerkhaus in jener Gasse, perlte ein Tropfen über ihre Wange. Ein Tropfen des Nieselregens, der sich unter die Kapuze des Umhangs verirrt hatte. Oder vielleicht eine Träne.
Ich erwachte mit klopfenden Herzen und dem Gefühl, etwas Wichtiges vergessen zu haben. Noch im Halbschlaf richtete ich mich auf und strich mir die wirren Strähnen aus dem Gesicht. Meine Laken waren zerwühlt und es brauchte keine Hellseherei, um zu wissen, dass ich wieder einen Alptraum gehabt hatte. Die Szenen aus dem Schlosshof verfolgten mich noch immer jede Nacht. In manchen Nächten schreckte ich hoch – bereit zu schreien – während die Bilder noch immer wie ein grausamer Film vor meinem inneren Auge abliefen. In anderen Nächten wachte ich auf, ohne mich an den Traum zu erinnern, doch ein Blick in den Spiegel genügte, um mich zu versichern, dass mein Schlaf alles andere als erholsam gewesen war.
Ausgelaugt rieb ich mir den letzten Rest des Traumes aus den Augen, bevor ich die Decke zurückschlug und aufstand. Conan regte sich zwischen den Laken und ich fragte mich, ob auch er von jener Nacht träumte. Unwillkürlich schweifte mein Blick hinüber zu Ethans Bett, doch wie gewohnt war das Bettzeug säuberlich gefaltet und nichts außer ein paar trockenen Blättern und Erdklümpchen auf dem Boden deutete darauf hin, dass er jemals in der Hütte gewesen war. Ich wandte mich ab.
Es war schon fast beängstigend, wie stark der Prinz sich seit unserer Flucht aus dem Schlosshof von uns distanziert hatte. Bereits während des Ritts zu den Hexen hatte er kaum mehr als ein Wort mit mir gewechselt und seit wir in Cathair dearmad angekommen waren, schien er alles zu tun, um Conan und mir aus dem Weg zu gehen. Unsere Begegnung gestern im Wald war das längste Gespräch gewesen, das wir seit zwei Wochen geführt hatten und nicht selten fragte ich mich, was ich eigentlich in ihm zu sehen geglaubt hatte. Der Ethan, den ich am Schloss kennengelernt hatte, hatte nichts mehr mit dem Geist gemein, der nachts ungesehen in unsere Hütte schlüpfte und vor dem Morgengrauen wieder im Schutz des Waldes verschwand.
Gedankenverloren schnürte ich die Bänder an meinem Mieder, als ein Stück Papier zwischen meinen Fingern hindurchrutschte und zu Boden flatterte. Susans Brief. Noch während ich mich danach bückte, erinnerte ich mich an das Gespräch, das ich zuvor mit Wallace gehabt hatte. Wir hatten über Morrigan gesprochen und ... Verflucht, wie hatte ich das nur vergessen können?
Innerhalb von Sekunden hatte ich den Rest des Mieders geschnürt und den Brief sicher unter meiner Matratze verstaut. Im Gehen warf ich mir noch einen Umhang über, bevor ich so leise wie möglich aus der Hütte schlich. Das Dorf ruhte unter dem Mantel der Finsternis und die frostigen Vorboten des Winters zierten die Fenster mit feinem Raureif. Kälte drang in meine Knochen und ließ mich zittern. Die Gassen schienen sich endlos zu strecken und mit jedem Schritt wuchsen die Schatten hinter den Hausecken zu furchteinflößenden Gestalten.
Sie ist eine Hexe, nicht wahr? Das Echo meiner Erkenntnis verfolgte mich und hallte tausendfach, viel zu laut durch meine Gedanken. Morrigan konnte Magie wirken und wenn ich Wallace Glauben schenken konnte, wusste Gladys etwas darüber. Ich musste wissen, was es war.
Erst, als ich vor der schweren Holztür mit dem filigran geschnitzten Klopfer stand, hielt ich inne. Mit einem Mal wich die Überzeugung, mit der ich zuvor durch die Gassen gestürmt war, von mir und ließ nichts als eine Frage zurück. Wollte ich die Antworten, die mich erwarteten, wirklich hören?
Je länger ich zögerte, desto mehr Gründe fand ich, umzukehren. Welcher normale Mensch würde schließlich mitten in der Nacht an die Tür der Zirkelvorsteherin klopfen? Nein, die Frage konnte noch einige Stunden warten. Ich musste überdenken, wie ich es anging, was ich sagte, wenn Gladys vorgab, nichts zu wissen.
Ich war gerade in Begriff, mich umzudrehen, als sich die Tür öffnete und ein schmaler Lichtstreifen über den Dorfplatz huschte. Im Türspalt zeichnete sich eine Silhouette ab.
"Evangeline?" Erstaunen färbte Gladys' Stimme. "Was um alles in der Welt tust du hier?"
Völlig perplex sah ich sie an. Die Hexe des Lichts war in die traditionelle weiße Kleidung gehüllt, das schneeweiße Haar in Zöpfen um den Kopf gelegt, als hätte sie meine Gesellschaft bereits erwartet. "Ich wollte ... Ich meine ... Woher wusstest du, dass ich hier bin?"
"Intuition." Gladys öffnete die Tür weiter, bis der goldene Schein der magischen Laternen mich vollständig umschloss. "Ich wusste allerdings nicht, dass du es bist."
Sie lächelte und winkte mich nach drinnen. Zögernd folgte ich ihrer Einladung und betrat die Bibliothek des Zirkels. Unter dem einfachen Ziegeldach des Wohnhauses türmten sich Bücherregale und Schriftrollensammlungen ins Unermessliche. Ich erinnerte mich noch gut an meinen ersten Besuch hier. Anders als damals führte Gladys mich nicht durch die Tür in ihren Wohnraum, sondern bedeutete mir stattdessen, auf einer Bank zwischen den Regalen Platz zu nehmen. Der Duft nach altem Pergament schloss mich in eine vertraute Umarmung und meine Muskeln entspannten sich. Gladys reichte mir einen Becher, bevor sie sich zu mir setzte. Erst, als der Tee meine Fingerspitzen wärmte, realisierte ich, wie durchgefroren ich war. Zitternd schloss ich meine Hände um den Becher und nippte daran. Der herbe Geschmack von Kräutern prickelte auf meiner Zunge, während ich mich fragte, in welcher Realität das Wort Intuition das Aufgießen von Tee für nächtliche Besucher einschloss. Als Gladys den Tee aufgesetzt hatte, hatte nicht einmal ich selbst gewusst, dass ich hier enden würde.
"Ich bin die Hexe des Lichts, Liebes." Ihre Stimme riss mich aus meinen Gedanken und als ich den Kopf hob, lächelte sie. Es war zwecklos, sie darauf hinzuweisen, dass sie soeben ihre eigenen Regeln gebrochen hatte. Ich sollte Calideyas Lektionen wirklich einen höheren Stellenwert einräumen.
"Also, weshalb bist du hier?"
Ich nippte an meinem Tee, während ich nach den richtigen Worten suchte.
"Morrigan ist eine Hexe", sagte ich schließlich geradeheraus.
Gladys' ungerührte Miene bestätigte meine Vermutungen. "Was hat dich auf den Gedanken gebracht?"
"Feuer." Ich straffte die Schultern und atmete, bevor ich zu einer Erklärung ansetzte. "Es war während des Angriffs aufs Schloss. Zuerst war ich mir nicht sicher. So viele Dinge sind gleichzeitig passiert – überall waren Menschen und die Schreie ... Ich habe die Flammen nur im Augenwinkel wahrgenommen und bevor ich überhaupt realisiert hatte, was geschah, hat Ethan ... mich aufs Pferd gezogen."
In meiner Kehle bildete sich ein Kloß, als die Schuldgefühle erneut an die Oberfläche drängten. Entschlossen schluckte ich sie herunter. Das war weder die Zeit noch der Ort dafür.
"Jedenfalls habe ich mich umgedreht", fuhr ich fort. "Es war kaum eine Sekunde, doch je länger ich darüber nachdenke, desto sicherer bin ich mir. Die Flammen, die ich gesehen habe – es war ein Feuerball. Und Morrigan hat ihn geschleudert."
Gladys nickte. "Ich habe auf die richtige Gelegenheit gewartet, es anzusprechen."
"Ihr wusstet es bereits." In meiner Stimme schwang Resignation. Dann hatte nicht nur ich es vermieden, über meine Ängste zu sprechen.
"Schlimmer", erwiderte Gladys. "Ich fürchte, ich bin verantwortlich für die Macht, die sie heute besitzt."
"Du bist ..." Sprachlos sah ich sie an. "Wie? Was meinst du damit?"
Ein Seufzen wich von Gladys' Lippen, bevor sie die Schultern straffte und mich ansah.
"Ich bin diejenige, die sie unterrichtet hat", eröffnete sie dann. "Morrigan war meine Novizin."
Ich musterte sie – fassungslos – während nur eine einzige Frage auf meinen Lippen lag. "Was ist passiert?"
"Ich weiß es nicht", murmelte sie, während ihr Blick in den Tiefen des Tees versank. "Sie war ein so außergewöhnliches Mädchen. Doch ich hätte wissen sollen, dass all diese Leidenschaft, all diese Energie, mit der sie die Dinge anging, früher oder später zu unserem Verhängnis werden würde."
Es kostete mich große Vorstellungskraft, Morrigan nicht als die furchteinflößende Königin zu sehen, als die ich sie kennengelernt hatte. Wie sie als junges Mädchen gewesen war, stand auf einem vollkommen anderen Blatt. Und bisher war mir nicht einmal der Gedanke gekommen, dass es eine Geschichte sein könnte, die alles erklärte. Eine Geschichte, die offenbarte, wer Morrigan wirklich gewesen war, bevor sie zur bösen Königin wurde.
"Sie war ein Straßenkind", fuhr Gladys in diesem Moment fort. "Sie hatte für ihr Alter eine unglaubliche Ausstrahlung. Ich wusste sofort, dass sie eine Hexe ist. Allerdings hatten es die Menschen bis dahin nicht gut mit ihr gemeint."
Gladys hob den Blick und sah mich an. In ihrer Miene las ich Bedauern. "Wir Hexen waren damals zwar noch keine Gejagten, doch unser Verhältnis zu den Menschen war schon immer schwierig. Sie achteten und respektierten uns, ersuchten unsere Hilfe bei Krankheiten und Seuchen – und doch fürchteten sie unsere Macht."
Gladys seufzte. "Ich habe Morrigan damals mit zu mir genommen. Wie sich herausstellte, war ihr Talent einzigartig. Sie hatte seit ihrem vierten Lebensjahr Visionen empfangen und verstand es, die Komponenten einzelner Tränke nach Augenmaß zusammenzusetzen und blind herauszuselektieren. Ich war diejenige, die die Meister überzeugte, sie mit acht Jahren als jüngstes Mitglied in den Zirkel aufzunehmen."
Gladys unterbrach sich und ich sah, wie ihre Augen glänzten. Wie lange hatte sie diese Geschichte für sich behalten? Und wie tief musste ihre Verbindung zu Morrigan damals gegangen sein?
"Sie war wie eine Tochter für mich. Ich war so stolz, als sie ihre Grundausbildung beendete. Sie war eine der begabtesten Novizinnen des Zirkels. Ihre Talente beschränkten sich nicht nur auf einen Bereich der Magie, wie es üblich ist. Morrigan war unglaublich geschickt in der Herstellung von Tränken, kannte fast jedes Gift und das Heilmittel dagegen und wer einmal zugesehen hatte, wie sie Elementarmagie einsetzte ..."
Gladys schüttelte den Kopf. "Jedenfalls haben die Meister nach langen Verhandlungen beschlossen, sie in sieben der neun Gebiete weiterstudieren zu lassen. Die Magie des Schattens und des Lichts hatte man aus dieser Erlaubnis ausgeschlossen, um die Stellung Morrigans im Zirkel nicht zu gefährden. Denn obwohl alle Meister darin übereinstimmten, dass ein Talent wie ihres gefördert werden musste, spürten sie auch die Furcht der anderen Hexen."
"Furcht." Ich zog die Brauen zusammen. Dies war eine Seite Morrigans, die ich bereits kannte. Doch ich hatte nicht erwartet, sie in Gladys' Erzählung wiederzufinden.
"Morrigan war ehrgeizig", eröffnete sie. "Lange dachte ich, es ging ihr nur darum, dazuzugehören. Endlich Akzeptanz und sogar Respekt für die Fähigkeiten zu erhalten, für die sie so lang verachtet wurde."
Gladys seufzte. "Ich war blauäugig. Ich sah nur, was ich sehen wollte – ein Mädchen, das nach Liebe und Anerkennung strebte. Deren einzigartige Gabe Wunder vollbringen konnte. Ich wollte nicht glauben, dass Morrigan diese Gabe jemals missbrauchen würde, um eigennützige Ziele zu verfolgen. Ich habe mich regelrecht gegen die Vorstellung gestemmt. Und jetzt sieh uns an."
Sie hob die Hände in einer Geste, die ihre Hilflosigkeit ausdrückte. "Ich hätte früher bemerken sollen, dass ihr Ehrgeiz sie davon abhielt, Freundschaften zu schließen. Aber ich sah über die misstrauischen Blicke der anderen Novizen hinweg und tat die Streiche als Spaß ab. Ich glaube, mit der Zeit gefiel es Morrigan sogar, von allen gefürchtet zu werden. Wann immer sie einen Raum betrat, kehrte Schweigen ein und die Blicke wichen ihr aus. Die Atmosphäre im Dorf wurde immer angespannter und als sie kurz nach ihrem achtzehnten Geburtstag zur Hexe ernannt wurde, war es für die meisten im Dorf eine riesige Erleichterung. Ihre Fähigkeiten würden es ihr erlauben, einen eigenen Zirkel zu gründen. Es stand fest, dass sie nicht bei uns bleiben würde."
Gladys' Blick verlor sich irgendwo in der Vergangenheit und ich wünschte, ich könnte die Bilder sehen, die ihr in diesem Moment vor Augen standen.
"Dann ist sie einfach gegangen?", hakte ich nach, als sie auch nach Minuten noch schwieg. "Du hast nie wieder von ihr gehört?"
Gladys antwortete nicht sofort und ich ahnte, dass hinter dieser Geschichte mehr steckte, als es zunächst den Anschein gehabt hatte.
"Es gab einen Brand", eröffnete sie schließlich. "Die Hütte, in der wir beide gelebt haben, ist dabei bis aufs Fundament heruntergebrannt. Morrigan ist in dieser Nacht verschwunden und ich habe nichts mehr von ihr gehört bis ..."
Unvermittelt hob sie den Kopf. In ihrem Blick spiegelten sich die Scherben all dessen, was in jener Nacht zerbrochen war. "Ich weiß bis heute nicht, was geschehen ist. Doch ich kann den Gedanken nicht abschütteln, dass ich für all das verantwortlich bin. Ich habe ihr blauäugig diese Macht in die Hände gelegt und kann nichts tun, als zusehen, wie sich selbst und dieses Land zerstört."
In Gladys' Miene spiegelten sich unzählige Gefühle – Trauer und Wut im gleichen Maß wie Schmerz und Hilflosigkeit.
"Du kannst nichts dafür, dass ...", setzte ich an, doch sie schüttelte den Kopf.
"Wir wissen beide, dass das nicht stimmt, Liebes", entgegnete sie und nahm meine Hand. "Aber wie es aussieht, habe ich eine zweite Chance bekommen. Du, Evangeline, bist alles, worum ich die Götter in den letzten siebzehn Jahren gebeten habe. In deiner Magie spüre ich dieselbe Stärke und dasselbe Talent, das ich damals bei ihr gespürt habe."
Ihre Finger schlossen sich ein wenig fester um meine, bevor sie ihre Hand löste.
Ich war sprachlos. Gladys' Worte erschütterten den fragilen Frieden, den ich mit meiner Situation geschlossen hatte, bis in die Grundfesten. Nicht nur hatte sie bestätigt, was ich seit zwei Wochen fürchtete – der Fakt, dass Morrigan eine der mächtigsten Hexen überhaupt war, ließ meine Hoffnungen auf die Größe eines Staubkorns schrumpfen. Talent hin oder her – wie sollte ich mit meinen zwei Wochen Novizenunterricht einer auf sieben Spezialgebieten ausgebildeten Hexe die Stirn bieten?
"Es klingt absurd, ich weiß", sagte Gladys in diesem Moment. "Aber es ist dir bereits gelungen, Hoffnung in die Herzen Tausender zu hauchen. Ciaora verändert sich – es erwacht aus einer Starre, die viel zu lange angehalten hat – und das allein wegen dir. Jetzt gib dir nur einen Moment und versuche, dir vorzustellen, was alles möglich werden kann, wenn du nur ein wenig Hoffnung in dein eigenes Herz hauchst."
Hoffnung. Immer wieder schien es auf dieses eine Wort hinauszulaufen. Hoffnung für andere, Hoffnung für mich, Hoffnung für Ciaora. Doch um Morrigan zu besiegen, erforderte es weit mehr als nur Hoffnung.
Das Gefühl, dieser Aufgabe nicht gewachsen zu sein, traf mich wie ein Schlag. Ich wusste zu wenig und hatte zu wenig Zeit – ich trug all diese Magie in mir und am Ende würde es doch nicht genug sein. Ich würde nicht genug sein.
"Ich glaube, es ist am besten, wenn du das alles erstmal sacken lässt." Gladys legte ihre Hand über meine. "Wir sind alle für dich da."
Ich nickte, bevor ich den Kopf hob und sie ansah.
"Was werden wir unternehmen?", fragte ich leise.
Sie erwiderte meinen Blick und ihre haselnussfarbenen Augen funkelten im goldenen Schein der magischen Laternen.
"Weitermachen", sagte sie und richtete sich auf. "Ich habe mich bereits kurz nach deiner Ankunft um spezielle Verhüllungszauber für das Dorf gekümmert, sodass wir uns nicht darum sorgen müssen, dass Morrigan dich mittels Magie aufspürt. Unsere einzige Mission ist es jetzt, dich vorzubereiten."
Während sie sprach, trat sie an eines der Regale und fischte ein kleines, unscheinbares Buch heraus.
"Gegen deine Alpträume", sagte sie und legte es in meine Hand. "Manchmal hilft es zu wissen, wie Monster im Tageslicht aussehen."
"Danke." Der Schatten eines Lächelns huschte über meine Lippen, während ich aufstand. Gladys nahm mir den leeren Becher ab, bevor sie mich zur Tür begleitete. Auf der Schwelle legte sie mir eine Hand auf die Schulter. Die Wärme ihrer Magie umhüllte mich wie eine sanfte Umarmung.
"Deine Familie wäre unglaublich stolz auf dich."
Stunden später saß ich ausgelaugt und mit schmerzenden Muskeln am Fluss. Das Training war mir heute leichter gefallen als sonst – zu wissen, was auf dem Spiel stand, hatte mich dazu getrieben, alles zu geben. Jetzt kehrte zum ersten Mal Ruhe ein und ich griff nach dem Buch, das Gladys mir heute Morgen geschenkt hatte. Vorsichtig blätterte ich durch die ersten Seiten. Allesamt enthielten sie Zeichnungen von Schatten und den Objekten, die sie verursachten. Monster im Tageslicht ...
"Hey." Ich zuckte zusammen, als Conans Stimme die Stille teilte. Die Sonne war fast untergegangen und erst jetzt fiel mir auf, wie sehr ich mich anstrengen musste, um die Zeichnungen zu erkennen.
"Was hast du da?" Er deutete auf das Buch. Wortlos reichte ich es ihm. Conan musterte zuerst mich und dann das Buch, bevor er begann, darin zu blättern. Mit einem Mal war das sanfte Plätschern des Flusses das einzige Geräusch in der Stille des Abends. Erschöpft lehnte ich mich zurück, bis mein Kopf auf der Wiese lag und ich die schmalen Blätter der Weide über unseren Köpfen betrachtete.
"Das hier erinnert mich an unsere ersten Begegnungen", murmelte ich irgendwann. "Gott, es fühlt sich an, als wären diese Träume eine Ewigkeit her."
"Ich weiß." Conan hatte mir das Buch zurückgegeben und starrte seitdem aufs Wasser. "Es ist so viel passiert seitdem."
Wir verfielen in Schweigen, während ich an unsere Ankunft hier im Dorf zurückdachte. Wir waren kaum zwischen den letzten Stämmen hindurchgetreten, als die Hexen uns umstellt hatten.
"Wir müssen ausgesehen haben wie Wilde", bemerkte Conan, dessen Fähigkeiten im Gedankenhören meinen ganz offenbar um Weiten überlegen waren.
Ich schmunzelte. "Wenn Calideya nicht prophezeit hätte, dass wir kommen, hätten sie uns sicherlich eine gehörige Abreibung verpasst."
Conan entgegnete nichts und ich begann, die Blätter an dem Ast über mir zu zählen.
"Glaubst du, das alles wird irgendwann ein Ende haben?", murmelte ich leise. "Glaubst du, wir sind stark genug?"
Für einen Moment dachte ich bereits, Conan würde nicht reagieren, doch schließlich drehte er sich zu mir.
"Natürlich werden wir es schaffen", sagte er und sein Lächeln brach mir fast das Herz. "Welche Wahl haben wir sonst?"
Ich zögerte.
"Was, wenn wir nicht bereit sind?", setzte ich schließlich die Zweifel frei, die mich schon seit Wochen plagten. "Wenn wir zu langsam lernen, wenn sie stärker ist... Wir haben ja nicht einmal einen richtigen Plan."
"Dann werden wir uns einen zurechtlegen." Conans Glaube schien unerschütterlich. "Bisher hast du noch alles geschafft, was du für unmöglich gehalten hast, oder?"
Ich schnaubte. "Mich durch Zufall in eine Parallelwelt entführen lassen? Nicht unbedingt mein bester Tag, würde ich sagen."
Conan grinste.
"Nicht das", sagte er gedehnt. "Ich dachte eher an den Fluch."
Nun verzog ich die Lippen. "Die Chancen, dass das funktioniert, standen eins zu einer Million."
"Und dennoch hast du nicht aufgegeben." Conans grüne Augen musterten mich eindringlich. "Du hast getan, was du konntest und jetzt sieh, wo wir stehen."
"Auf der Flucht vor der bösen Königin, versteckt von einem vergessenen Hexenzirkel?" Ich konnte nicht anders, als die Brauen zu heben.
Conans Blick war strafend. "Du weißt, wovon ich spreche."
Ich nickte. Erst in diesem Moment wurde mir klar, wie wichtig mir diese Freundschaft in den letzten Wochen geworden war. Bei Conan hatte ich das Gefühl, Verständnis zu finden. Er wusste, welche Steine das Schicksal uns vor die Füße geworfen hatte und dennoch schien er keine Minute lang daran zu zweifeln, dass irgendwann ein Happy End auf uns wartete.
Seufzend richtete ich mich auf und rutschte neben ihn.
"Danke", murmelte ich leise.
Er lächelte bloß. Sanft spürte ich das Kribbeln der Magie in unseren Fingerspitzen, als er einen Hauch Wärme meinen Arm hinaufsandte. Ich entgegnete die kleine Bewegung mit einem Lächeln, bevor ich meinerseits etwas Wärme aus meinen Fingerspitzen zurückströmen ließ. Unter den Hexen war diese Geste als Zeichen des Vertrauens eingeführt worden – der Austausch von Magie, der in dieser Gesellschaft ähnlich wie eine Blutsbruderschaft wirkte.
Doch als die warmflüssige Magie knisternd wie Brausepulver aus meinen Fingerspitzen trat, zuckte Conan zurück. Seine Miene nahm einen schmerzvollen Ausdruck an und er schüttelte seine Hand, als hätte er sich verbrannt. Als ich seine Fingerkuppen sah, wusste ich auch, dass genau das der Fall sein musste. Jede einzelne war rot wie Krebsfleisch und an der Kuppe seines Zeigefingers entstanden bereits Blasen. Ich schnappte nach Luft.
"Conan, das tut mir leid", murmelte ich eilig. "Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist. Ich wollte nur –"
Langsam hob er den Kopf und sah mich an. "Nicht schlimm."
Seine Lippen verzogen sich zu einem ermutigenden Lächeln, doch ich wusste, dass er nur versuchte, freundlich zu sein.
"Vielleicht kannst du es im Fluss ein wenig kühlen?", schlug ich vor. "Oder warte ... Lass mich das machen."
Ich hatte seine Hand bereits in meine Linke genommen und die Rechte darübergelegt, um die Verbrennungen zu heilen, als er sie mir wieder entzog. Unsere Blicke begegneten sich und ich erkannte Mitleid in Conans Blick. Mitleid, aber auch eine Spur ... Angst?
"Es tut mir leid", wiederholte ich. "Wirklich."
Er nickte nur, bevor er sich aufrappelte. "Wir sollten zurück zur Hütte gehen. Es ist spät und wir müssen morgen wieder früh aufstehen."
Schweigend begann er, den kleinen Trampelpfad in Richtung Dorf zu gehen. Ich verharrte noch eine Weile, bevor ich ihm folgte. Mit zusammengezogenen Brauen musterte ich meine Finger. Ich konnte nicht fassen, was ich getan hatte. Wir hatten dieses Ritual schon mehrmals durchgeführt und nie hatte ich die Kontrolle verloren. Um ehrlich zu sein, hatte ich auch dieses Mal nicht das Gefühl gehabt, die Kontrolle zu verlieren. Es war vielmehr, als hätte sich meine Magie beim Aufeinandertreffen mit Conan von einem Funken in ein Inferno verwandelt. Als würde er plötzlich allergisch auf mich reagieren. Doch aus welchem Grund sollte er oder seine Magie sich mit einem Schlag gegen mich richten? Oder meine Magie sich gegen ihn?
Selbst, als ich die Hütte betrat, spukte seine Reaktion noch durch meine Gedanken. Wie er mich angesehen hatte, im ersten Moment, nachdem ich ihn verbrannt hatte. Sein Blick war so voller Unglaube gewesen, voll plötzlicher Angst, als hätte er hinter eine Maske geblickt und ein Monster entdeckt. Ein Monster in Gestalt des Mädchens, von dem er – und sie – geschworen hätte, sie würde ihn nie verletzen.