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Kapitel 1

Strahlende Herbstsonne fiel durch die großen Glasfenster und tauchte das kleine Café in warmes Gold. Obwohl der Oktober dieses Jahr für kanadische Verhältnisse warm ausfiel, sah ich zahlreiche Menschen mit dicken Winterjacken und großen Schals draußen vorbeieilen. Schnell hierhin, schnell dorthin. In einer Stadt wie Calgary musste alles schnell gehen. LKWs und gelbe Taxis drängten sich auf den Straßen. An manchen Tagen war der Verkehr hier so dickflüssig wie Sirup, der die schnurgeraden Straßen zwischen den Hochhäusern verklebte. Ich schüttelte den Kopf. Was für eine absurde Vorstellung. Meine kleine Tagträumerin, nannte Mom mich immer, wenn ich mal wieder der Welt um mich herum mehr Beachtung schenkte, als dem Gespräch, das wir gerade führten.

„Ein Latte Macchiato mit extra viel Schaum für das geheimnisvolle Mädchen am Fenster.“ Die Bedienung grinste breit, während sie das Glas abstellte. Sie war in ihren Zwanzigern, eine kurvige Frau mit rosa Wangen und kleinen Grübchen – der Typ Mensch, den man einfach mögen musste.

„Du bist neu hier, nicht wahr?“, fragte sie, „Ich habe dich schon einige Male im Café gesehen. Ich bin Carly.“

„Evangeline“, stellte ich mich vor, „Und ja, wir sind erst vor einigen Wochen hergezogen.“

Carly lächelte zufrieden. „Das habe ich mir schon gedacht“, erklärte sie, „Du klingst nicht wie eine Kanadierin. Eher … irgendwie britisch?“

Sie sah mich fragend an.

„Schottland“, bestätigte ich, „Eine Kleinstadt an der Ostküste, nahe Edinburgh.“

Carly war gerade in Begriff, zu antworten, als nach ihr gerufen wurde. Entschuldigend hob sie die Hände. „Tut mir leid, ich muss wieder an die Arbeit.“ Ihr Blick fiel auf meinen Kalender, der vor Hausaufgaben, Referaten und Terminen fast überquoll. Ich hatte nicht geahnt, dass der Umzug so viel nachzuholendes Unterrichtsmaterial bedeuten würde. „Wie es aussieht, hast du ja auch noch einiges vor dir.“

Ich nickte. „Leider, ja.“

„Das wird schon“, meinte Carly lächelnd, „War jedenfalls schön, dich kennenzulernen. Ich bin sicher, man sieht sich mal wieder, nicht wahr?“

„Auf jeden Fall.“

„Bis dahin.“ Sie winkte leicht, bevor sie sich umdrehte und zurück an die Arbeit ging.

Ich löffelte einen kleinen Berg Milchschaum von meinem Kaffee und warf einen Blick aus dem Fenster.

Da sah ich ihn.

Die Hände in den Taschen seiner Jeans lehnte er an der Wand des gegenüberliegenden Gebäudes und starrte mich so offen an, dass ich erschauerte. Sogar aus dieser Entfernung konnte ich die Farbe seiner Augen erkennen – ein strahlendes Blau, das perfekt zu seinem hellen Haar passte. Etwas wild und sehr blond, wirkte es in der klaren Oktobersonne fast wie ein Heiligenschein, der seine feinen Gesichtszüge umrahmte. Er konnte höchstens ein paar Jahre älter sein als ich. Und noch immer sah er zu mir herüber. Zweifellos zu mir.

Ein Geräusch ließ mich aufschrecken. Auf dem Display meines Smartphones erschien eine neue Nachricht. Maggie.

„Bin in einer Stunde daheim, dann können wir skypen.“

Eilig entsperrte ich das Display und antwortete.

„Okay. Bis dann.“

Es konnte nur Sekunden gedauert haben. Doch als ich wieder aufsah, war der Typ verschwunden. Die Wand gegenüber war leer, der blonde Haarschopf wie vom Erdboden verschluckt. Bei dem Versuch, die Straße weiter hinunterzusehen, hätte ich fast noch meinen Kaffee umgestoßen. Er war einfach weg.

Ich schüttelte den Kopf über mich selbst. Jetzt fing ich schon an, paranoid zu werden. Geistesabwesend trank ich einige Schlucke, während ich erneut versuchte, mich in die Bio-Aufgaben zu vertiefen. Ich machte mir einige Notizen, Skizzen, blätterte durch das zerlesene Buch, das ich vor ein paar Wochen bekommen hatte – doch die blauen Augen wollten einfach nicht aus meinen Gedanken verschwinden. Lächerlich, wie tief man sich doch in Tagträume stürzen konnte, nur um lästigen Hausaufgaben zu entkommen.

Ich schüttelte den Kopf. Das hier wurde so nichts mehr.

In einem Schluck kippte ich den restlichen Kaffee hinunter und packte das Notizbuch und meinen Kalender ein.

Noch immer in Gedanken verließ ich das Café und machte mich auf den Heimweg.

*****

Wir hatten ein Haus am Stadtrand gekauft, nahe dem Elbow River, in einem der reicheren Viertel. Sienna Hills war eines dieser kleinen Wohngebiete mit Vorgärten, typisch-amerikanischen Holzhäusern in glänzendem Weiß und riesigen Pick-ups in den Einfahrten, wo die Gebäude ordentlich nebeneinander aufgereiht standen und alles irgendwie gleich aussah.

Unser Haus machte dabei keine Ausnahme – abgesehen davon, dass es schon ein bisschen heruntergekommen war.

„Es hat Charme“, sagte Dad immer, wenn das Thema aufkam, „Und sobald wir uns etwas eingelebt haben, werde ich das Dach ausbessern und die Fassade neu streichen. Eine andere Farbe kann Wunder wirken, wisst ihr?“

Die Haustür war abgeschlossen und ich brauchte einige Minuten, um den Schlüssel aus meiner hoffnungslos überfüllten Tasche zu fischen. Mit einem ohrenbetäubenden Quietschen schwang die Tür schließlich doch noch auf.

Der Flur dahinter war ein einziger Hindernisparcours aus vollen Umzugskartons, halb aufgebauten Möbeln und jeder Menge Krimskrams, der seinen Platz in unserem neuen Haus noch nicht gefunden hatte. Ich kämpfte mich bis zur Treppe durch, auf der Ced bereits sein Spielzeug ausgebreitet hatte. Man musste höllisch aufpassen, um nicht auf eine Ansammlung spitzer Lego-Steine zu treten oder auf einem Kuscheltier auszurutschen. Entgegen aller Erwartungen schaffte ich es dennoch heil bis in mein Zimmer, wo ich meine Sachen abstellte und einen Blick auf die Uhr warf. Zehn vor fünf. In einigen Minuten würde Maggie anrufen.

Sie war meine beste Freundin seit ich denken konnte.

Eigentlich hieß sie Marjorie, doch sie fand, der Name passte nicht zu ihr. Solange ich sie kannte, stellte sie sich deshalb überall nur als Maggie vor. Maggie, die Plaudertasche mit der Neugier eines Kleinkindes und dem ansteckendsten Lachen, das ich kannte.

Mit dem Notebook auf den Knien machte ich es mir schon einmal in meinem Bett bequem.

Seit ich weggezogen war, skypten wir mindestens einmal pro Woche, meist stundenlang. Ihr schienen nie die Themen auszugehen – sei es nun der neuste Klatsch aus unserer Schule, die Errungenschaften ihres letzten Shopping-Trips oder ihre Träume von der Zukunft. Ihre Erzählungen gaben mir das Gefühl, immer noch dort zu sein, daheim in Schottland, und mit ihr gemeinsam am Pier zu sitzen und über das Leben zu reden, wie wir es früher oft gemacht hatten.

Maggie hatte diese Art an sich, die Dinge leicht zu nehmen. Sie sagte, was sie dachte und machte sich nie Gedanken darüber, was andere davon hielten.

Auch heute sprachen wir wieder fast zwei Stunden miteinander.

Maggies Katze hatte vorgestern Junge bekommen, drei kleine Kätzchen, jedes nur so groß wie Maggies Hand.

„Sie sind noch blind und taub und sehen aus wie Mini-Kobolde, mit diesem feuerroten Fell“, meinte Maggie lachend, „Und in zwei, drei Wochen werden sie unser Haus in Schutt und Asche legen.“

Ich grinste. „Tja, dann musst du wohl Schadensersatz und Unterhalt von dem Kater fordern, der für dieses Chaos verantwortlich ist.“

Maggie lachte auf. „Apropos Chaos“, meinte sie dann, „Weißt du, wer seit gestern ganz offiziell vergeben ist?“

„Sag bloß!“ Ich schlug die Hände vors Gesicht. „Ridley ist unter der Haube?“

Maggie nickte vielsagend. Stephan Ridley war an unserer Schule ein Jahr über uns gewesen. Ein Rugbyspieler mit Adoniskörper, dazu gar nicht mal wenig Köpfchen – der Traum eines jeden Mädchens.

„Ein Jammer“, bemerkte Maggie, „Wenigstens eine wilde Knutscherei auf dem Schulhof hätte doch drin sein dürfen.“

Ich schmunzelte. Typisch Maggie. Sie würde ihre Unabhängigkeit noch jeder festen Beziehung vorziehen.

„Und, wer ist die Glückliche?“

Maggie verzog die Lippen. „Ashley Cummings“, verkündete sie dann, „Aber wenn du mich fragst, hält das sowieso nicht lange. Immerhin sind die zwei einfach …“

Innerhalb weniger Minuten befanden wir uns mitten in einer Diskussion über Beziehungen und unsere Vorstellung des perfekten Partners. Wie jedes Mal, wenn wir auf dieses Thema kamen, folgte auch heute wieder Maggies Frage danach, ob ich irgendwelche süßen Typen kennengelernt hätte.

„Komm schon, irgendeinen muss es doch geben“, bohrte sie, „Ich habe kanadische Models gegoogelt und ganz ehrlich – die würdest du nicht von der Bettkante stoßen.“

Ich gab bloß ein Brummen von mir, während meine Gedanken erneut zu dem seltsamen Typen vorm Café schweiften. Die blauesten Augen, die ich je gesehen hatte. Unten klirrte ein Schlüsselbund an der Tür.

„Eline?“ Das war Mom. „Eline, Schatz, bist du daheim?“

„Ich bin oben.“ An Maggie gewandt, zuckte ich die Schultern. „Ich muss Schluss machen. Wir hören uns morgen, okay?“

„Okay.“ Maggie grinste. „Bis dann.“

Schritte trampelten die Treppe hinauf und kamen den Flur entlanggeflitzt. Ich konnte gerade noch das Notebook in Sicherheit bringen, dann flog Ceds dunkler Schopf direkt auf mich zu und warf sich in meine Arme.

„Eline, Eline!“, rief er dabei, „Du errätst nie, wo wir heute waren.“ Sanft strich ich ihm die Strähnen aus den schokoladenbraunen, großen Kinderaugen und beugte mich zu ihm herunter. „So?“, fragte ich schmunzelnd, „Wo wart ihr denn?“

„Bei der Feuerwehr“, verkündete er stolz, „Wir haben einen echten Feuerwehrmann getroffen und sind mit dem großen Feuerwehrauto gefahren. Das mit der langen Leiter und dem Blaulicht. Ich durfte sogar beim Feuerlöschen helfen. Die anderen hatten alle Angst, aber ich habe das Feuer gelöscht. Ich bin ein mutiger Junge, hat der Feuerwehrmann zu mir gesagt, ich lasse nichts anbrennen.“ Jetzt konnte ich nicht anders. Lauthals brach ich in Lachen aus.

„Was ist?“, fragte Ced und sah mich verwirrt an, „Warum lachst du?“

Ich schüttelte bloß den Kopf. „Nicht so wichtig“, sagte ich und strich ihm über den Kopf, „Klingt, als hättest du heute eine Menge Spaß gehabt.“

Er nickte und seine dunkle Mähne wippte im Takt. „Und wir haben dir auch was mitgebracht“, meinte er, ganz hibbelig vor Freude, „Mom hat gesagt, du freust dich ganz bestimmt, wenn wir was von Mario’s Maccaroni holen.“

Ich sprang auf. „Ihr wart bei Mario’s? Ehrlich?“

Er nickte erneut und seine kleine Hand zupfte an meinem Pullover. „Komm schon, Eline. Ich habe Hunger. Und Mac’n’Cheese schmecken nur …“

„… wenn sie schön warm und käsig sind.“ Eine von Dads Alltagsweisheiten, die sogar Ced mit seinen sieben Jahren auswendig kannte. Er liebte diese Nudeln genauso wie ich.

Lachend folgte ich ihm die Treppe hinunter bis in die Küche. Mom war bereits dabei, den Tisch zu decken. „Hey, Große“, begrüßte sie mich, während Ced ungeduldig um den Tisch herumsprang, „Wie war dein Tag?“

Ich zuckte nur die Schultern und holte Besteck aus einer der Schubladen. „Nichts Besonderes. Schule eben. Aber ich habe vorhin mit Maggie geskypt. Sie lässt euch Grüße ausrichten.“

Mom lächelte. Sie kannte Maggie schon seit wir beide noch in Windeln durch die Gegend gekrabbelt waren. Beste Freundinnen für immer und ewig.

„Wie geht es ihr denn?“, fragte Mom, „Lynette erwähnte letztens, sie hätte sich für die Uni beworben?“

Ich nickte. „Journalismus in Aberdeen“, erklärte ich, während ich das Besteck verteilte, „Ihre Noten reichen dafür allemal. Aber das Ergebnis bekommt sie erst in ein paar Monaten.“

Es war unser gemeinsamer Traum gewesen. Ein Studium in Aberdeen, eine kleine Wohnung, gemütliche Filmabende im Winter und lange Sommertage am Strand.

Begleitet vom wohlbekannten Rascheln der Papiertüte packte Mom das Essen aus und verteilte es auf die einzelnen Teller.

„Ich will extra viel Käse, Mom, viel Käse bitte!“, bettelte Ced, der unruhig auf seinem Stuhl herumrutschte.

„Aber du musst auch aufessen, Schatz“, bestand Mom, den vollen Teller in der Hand, „Versprichst du das?“

Ced nickte so inbrünstig, wie nur Siebenjährige es konnten.

„Also gut.“ Schmunzelnd stellte Mom den Teller vor ihm auf den Tisch und holte dann auch ihren und meinen.

Wie so oft in letzter Zeit waren wir nur zu dritt zum Abendessen. Dad blieb nicht selten bis neun in seinem Büro an der Universität. Sein neuer Job in der Forschungsabteilung für Mikrosystemtechnik war auch der Grund unseres Umzuges hierher gewesen. Ich erinnerte mich noch genau, wie er vor zwei Monaten verkündet hatte, er hätte ein Angebot aus Calgary bekommen, einen gut bezahlten Job an einer der renommiertesten Universitäten von Kanada. Nächsten Monat ziehen wir um, hatte Mom daraufhin angekündigt. Und dabei war es geblieben. All meine Proteste, doch bleiben zu dürfen, waren vergeblich gewesen.

Und so saßen wir schließlich hier, Mom allein mit Ced und mir. Ced plapperte noch immer fröhlich von seinem Schulausflug und Mom gab sich alle Mühe, nach dem zehnten Durchlauf immer noch interessiert zu wirken. Meine Gedanken schweiften inzwischen vier Wochen in die Vergangenheit.

Ich hatte die ganze Nacht bei Maggie verbracht. Wir hatten keine Sekunde geschlafen. Aufgeregt hatten wir in ihrem Bett gelegen und in der Dunkelheit über meine Zukunft diskutiert.

„Was soll ich denn bloß machen, wenn du nicht mehr da bist?“, hatte Maggie gefragt, „Physik wird sterbenslangweilig sein ohne dich. Und mit wem soll ich in der kleinen Nische in der Cafeteria sitzen und Hot or not spielen?“ Ich hörte sie neben mir schniefen. In meinen Augen brannten Tränen. „Gott, ich werde dich so vermissen, Ell.“

Ich griff nach ihrer Hand. Fest verschlang ich meine Finger mit ihren. „Ich werde dich auch vermissen, Mags“, flüsterte ich mit zitternder Stimme.

Am nächsten Morgen hatte uns das Taxi zum Flughafen gebracht. „Versprich mir, dass du einmal die Woche anrufst“, hatte ich ihr zugeflüstert, während sie mich umarmte.

„Mindestens“, kam Mags‘ Antwort direkt an meinem Ohr, „Und außerdem sehen wir uns zu Weihnachten schon wieder. Es sind nur vier Monate bis dahin.“

Ich nickte und rang mir ein schiefes Lächeln ab.

„Irgendwie werden wir das schon schaffen“, meinte Maggie so optimistisch wie eh und je.

„Eline? Eline!“ Eine Hand fuchtelte vor meinem Gesicht herum und katapultierte mich zurück an den Tisch. „Hm?“

„Ich wollte bloß wissen, ob du Nachtisch willst?“, fragte Mom, während sie die Teller stapelte, „Wir haben noch etwas Schokoladeneis und Blaubeeren von gestern.“ Wie auf Kommando riss Ced seine Arme in die Luft. „Ich will, ich will, ich will.“

Mom lachte. „Ist ja gut, Ced, du bekommst gleich was. Eline?“

Ich schüttelte den Kopf. „Nein danke, ich bin satt.“ Mit einem entschuldigenden Lächeln stand ich auf.

„Ich muss noch lernen“, erklärte ich, „Aber Mario’s war eine fantastische Idee. Ihr seid echt die Besten.“

Ced grinste. „Klar sind wir das.“

Die Rebellenprinzessin

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