Читать книгу Ludwig Fugeler - Anna Schieber - Страница 4
Оглавление„So werde ich dir eben nach und nach das ganze Vaterländchen zeigen müssen,“ sagte Friedrich Meister behaglich lächelnd. „Ich habe eine gescheite Frau, die will die Welt selber sehen, vom Hörensagen glaubt sie nichts.“
Damals stieg Lotte gewaltig im Respekt bei mir.
Dumm war sie freilich nicht, wenn sie alles selber sehen wollte. „So könnte jeder kommen,“ dachte ich. Aber es gefiel mir, daß sie so anspruchsvoll war und schien mir Beweis einer Besonderheit zu sein, die Lotte ja auch in anderen Dingen an sich hatte. Die Reisen durch das Vaterländchen hin und her wurden aber nicht getan. Sondern das Leben zeigte ihr seine Reichtümer und Weisheiten auf andere Weise, und es gab vieles dabei in den Kopf und ins Herz zu fassen, das man gleichfalls nicht aus Büchern und vom Hörensagen kennen lernt.
Als ihr Bübchen seine ersten Schritte machte, lag wieder eins in der Wiege, und als das heraus war, folgte ihm ein Schwesterlein. Und die Mutter wurde immer schöner, stattlicher, fleißiger und fröhlicher dabei.
Aber als sie das Kleeblatt beisammen hatte, da kam eines Tages Friedrich Meister mitten im Vormittag nach Hause und legte sich ins Bett mit einer schweren Fieberkrankheit, und als er es verließ, da war es nur, um es mit einem andern draußen auf dem Friedhof zu vertauschen. Da war sie eine Witwe geworden und stand in einem schwarzen Kleid am Bügelbrett. Denn das Bügeln durfte sie nicht versäumen, jetzt noch viel weniger als je. Wenn ihr hie und da Tränen auf das weiße Zeug tropften, so fuhr der heiße Stahl darüber und löschte sie aus, und das war noch gut. Denn die alte Mutter saß immer noch in ihrem Lehnstuhl am Ofen und zitterte heftiger als früher und hatte über dem Unglück, das in das Haus eintrat, alle ihre schöne Gelassenheit und Seelenruhe verloren. Nun seufzte sie ohne Ende, daß es eine verkehrte Einrichtung sei: sie, die alte, unnütze Frau, sei noch da als Last für die andern, und der junge Mann, der fast nicht zu entbehren sei, der sei nun weggenommen, es sei eine Jammererde, und es können einen nur die Kinder dauern, die dahinein geboren werden. Da hatte nun Lotte statt eines mütterlichen Trostes eine ewig fließende Jammerquelle um sich herum. Aber das war vielleicht noch besser für sie als alle Teilnahme und alles Mitleid hätte sein können. Denn nun mußte sie sich zusammenraffen, daß das Licht im Hause nicht auslösche. Sie mußte für Brot sorgen und für ein wenig Fröhlichkeit für die Kinder und mußte noch die alte Mutter aufzuhellen suchen, wenn diese gar zu tief ins Jammern geriet.
Weil sie aber eine so durchaus gesunde, wahre und unverstellte Natur war, so geriet ihr dieses alles auch selber zum Heil, und sie erlebte trotz ihrer aufrichtigen Liebe zu dem Toten eine neue Auffrischung und war als Witwe wie als glückliche Frau ein Menschenbild, das einem verbissenen Schwarzseher hätte zeigen können, es sei noch nicht alles verloren bei unserem Geschlecht. Denn die Kinder von solchen Müttern müssen ja doch etwas mitbekommen ins Leben hinein, das sie nicht so leicht unter die Räder des Wagens kommen läßt.
*
In den Jahren, in denen dies alles geschah, wuchs ich zu einem großen, kräftigen Buben heran. Es ging mir überall gut, ich kann nichts von einer schweren Kindheit erzählen. Ich nahm es mit Seelenruhe und ohne viel Gedanken hin, daß die Meinigen für mich sparten und schafften; es war mir nichts Besonderes, daß meine Mutter und Heinrich Kilian allmählich ein paar alte abgerackerte Leute wurden, die auch am Sonntag nichts anderes mehr wollten, als nach der Kirche, die sie nie versäumten, auf dem Bänklein vor der Haustür zu sitzen und sich von der Sonne anscheinen zu lassen. Die Mutter war ja viel jünger, als Heinrich Kilian, der schon unermeßlich alt war in meinen Augen. Aber dafür hatte sie mehr mit Sorgen und Lebensnöten gekämpft und schwerere Lasten getragen als er, der nur die Bücherpakete auf der Achsel, aber nichts Schweres auf dem Herzen hatte. Sie ging immer noch zum Waschen und Putzen fort, aber ich besuchte sie nicht mehr in der Kirche, um dort hinter der Orgel und auf den Emporen herumzustreichen und mit meinem alten Freund August Volland seltsame Geschichten über die Bilder der früheren Prälaten und Kirchenerbauer zu erfinden. Ich war ein Schüler, bei dem es ohne allzugroße Mühe voranging, und der auch in den Freistunden ein Wort reden durfte und seinen Mann stellte. Die grüne Mütze saß mir kecklich auf dem vollen Haarbusch, und ich fühlte mich darunter als einer, dem das Leben eine schöne Sache ist.
Viel darüber nachzudenken, war nicht meine Art damals; ich lebte meine Tage dahin, wie sie kamen, und fand es ganz in der Ordnung, daß ich immer saubere Kleider und gute Stiefel hatte und daß auf dem täglichen Brot auch die Butter nicht fehlte. Meine Schwester Helene war nun auch konfirmiert. Sie trat sogleich nach dem Verlassen der Volksschule bei einer Kleidermacherin in die Lehre. Diese gab ihr die Kost und ein weniges an Geld, und sie mußte dafür im ersten Jahre alle untergeordnete Arbeit tun, die Rocksäume mit Litzen einfassen und dergleichen, und außerdem die fertige Arbeit zu den Kunden tragen. Dabei begegnete sie mir manchmal mit einem großen, in ein grünes Tuch geschlagenen Bündel auf dem Arm, in ihrem kurzen und unscheinbaren Kleidchen, und ich schlüffelte mit meinen Kameraden an ihr vorbei, ohne sie mit mehr als einem halbverlegenen Zunicken zu begrüßen. Sie nahm mir das weiter nicht übel, „weil Buben halt so sind,“ und stellte ihre Jugend ebenso fraglos in den Dienst der strengen Pflicht, wie Luise es vor ihr getan hatte und immer noch tat.
Sie war zufrieden, etwa am Sonntag ein paar Stunden in einem billigen Fähnchen, mit einem hellen Band oder Spitzenkrägelchen geschmückt, mit der Schwester oder einer Freundin in die Au hinunter zu wandern, der Musik zuzuhören und die heiteren Bilder des Lebens an sich vorbeiziehen zu lassen und vielleicht dabei den einen oder anderen Gedanken daran auszuspinnen, daß auch ihr einmal irgendeine bescheidene Frucht und ein paar farbige Blumen in dem reichen Garten des Daseins zuwachsen würden. Sie entwickelte sich aber in den dürftigen Sonnenstrählchen, die ihre Jugend trafen, wie ihre Schwester zu einem schlanken, hübschen, blühenden Geschöpf, dem auch eine natürliche Fröhlichkeit nicht fehlte, und es tönten in diesen Jahren oft aus der Giebelkammer, in der die beiden Schwestern schliefen, am frühen Morgen oder am Abend, wenn sie ihre Ruhestätten aufsuchten oder verließen, die schwermütigen Lieder, die das Volk singt, wenn es fröhlich ist, oder es ging ein Geplauder und Lachen die steile Treppe hinunter, wenn ich an dunklen Wintermorgen noch im Bett lag. Dann drehte sich der Schlüssel in der Haustür, und die Schritte und das Lachen ertönten auf der Straße, der Stadt und der Arbeit zu.
Es war alles gut und schön. Aber eines Tages, als ich beim Dunkelwerden von einer Streife durch den Frühlingswald nach Hause kam, einen großen Busch hellblauer Scillablüten in den Händen, da fand ich die beiden Schwestern und die Mutter miteinander um meinen guten alten Freund Heinrich Kilian herumstehen, der auf dem harten Sofa mit dem blumigen Zitzüberzug lag mit geschlossenen Augen und schwer atmete.
Sie flüsterten miteinander, und als ich fragend von einem zum andern sah, da legten sie die Finger an die Lippen: „Still, Ludwig, stör' ihn nicht,“ und sagten, daß der Doktor bald kommen werde.
Ich legte meine Scillablüten auf den Tisch und fühlte eine dumpfe Beklommenheit in mir. Wie konnte das sein, daß auf einmal etwas anderes war, als sonst? Es war so fremd und merkwürdig, daß Heinrich Kilian da auf dem Sofa lag und die Augen geschlossen hielt. Er war sonst immer irgendwo herumgegangen oder auf der Bank am Fenster gesessen und hatte ein Späßchen für mich gehabt oder eine Geschichte, die ihm in der Stadt über den Weg gelaufen war.
Die andern machten so ernste und bestürzte Gesichter; es roch in der Stube nach Hoffmannstropfen und Kräuteressig, und Lotte Meister kam herüber und wurde ganz still, als sie in die Stube trat, Sie hatte ihr Mariele auf dem Arm und hielt ihm das Mäulchen zu, als es anfing, Heinrich zu rufen, und sie schüttelte den Kopf, als ob sie nichts Gutes von der Sache denke.
Der Doktor kam, und ich wurde hinausgeschickt und bekam das Nachbarskind mit. Da standen wir im Vorgärtchen, das der Heinrich erst gestern umgegraben hatte. Es roch nach frischer Erde, in der Rabatte guckten schon da und dort grüne Spitzen heraus, und in der Ecke am Zaun war ein runder Fleck ganz blau von Veilchen. Es strich ein frischer Wind an den Häusern hin, und alles war so lebendig da draußen, aber drinnen im Haus war es anders. Ich hatte vor zwei Jahren Friedrich Meister tot daliegen sehen, still und bleich und mit wächsernen Händen; alles war mir noch gegenwärtig: Glockengeläute, Gesang und Schluchzen bei seiner Beerdigung. Nun war es mir, als trete der Tod durch unsere eigene Tür, und das war schauerlich genug. Aber daß der Heinrich Kilian dann nicht mehr da sein könnte, das konnte ich mir noch nicht denken, denn er war immer dagewesen, schon lang vor mir.
Der Doktor kam wieder aus dem Haus und ging rasch weiter, und ich dachte hinter ihm drein, daß ich kein Doktor sein möchte, denn überall, wo er hinkomme, sei etwas Arges im Haus, und helfen könne er doch nicht. Das machte, daß bei uns armen Leuten da herum der Doktor meistens nur in ganz schweren Fällen geholt wurde, wo dann freilich gegen den Tod kein Kraut gewachsen war. Ich stand noch trübsinnig herum und sah ins Wetter, da kam meine Mutter zu mir heraus und sagte: „Du sollst zum Kilian kommen, er will dich.“
„Stirbt er?“ fragte ich, und sie nickte kummervoll mit dem Kopf: „Wird wohl so sein,“ sagte sie. Und dann erfuhr ich, daß er in der Stadt von einem Lastwagen überfahren worden sei, grad über den Leib seien ihm die Räder gegangen. Man sehe gar keine Verletzung, es sei alles innen, aber da sei es auch bös. Sie wußte nicht, wie es hatte zugehen können, aber das wußte sie, daß er noch heim verlangt hatte, nicht ins Spital. Das erzählte sie in den nächsten Tagen mit traurigem Stolz noch oft, wenn die Nachbarn kamen, denn das durfte man wohl wissen, daß der Kilian hier eine Heimat gehabt hatte.
Ich schlich auf den Zehen in die Kammer, in der mein Freund jetzt im Bett lag. Er sah zum Erschrecken elend aus. Der schwarze Bart, der ihm sonst ganz fröhlich um sein heiteres Gesicht herumstand, sah düster und wild aus, weil das Gesicht selber so fahl und eingesunken dazwischen lag. Er ließ seine Augen mühsam nach mir hingehen, als ich zu ihm trat und regte die Lippen, um etwas zu sagen, aber es kam nichts Deutliches heraus, und das leise Flüstern, das er hervorbrachte, verlor sich in seinem Bart. Noch ein- oder zweimal probierte er es, dann ließ er's sein und schickte noch einen Blick zu mir herüber, der deutlich sagte: „Da ist nun eben nichts mehr zu machen; ich habe dir noch etwas mitteilen wollen, aber das muß ich nun für mich behalten.“
Mich packte ein ängstliches Grauen, das war noch größer als das Leid, das ich empfand über sein Hingehen, und kam davon, daß ein Mensch daliegen mußte mit einem Gedanken in sich, den er gern aussprechen wollte, und für den es keine Brücke mehr gab heraus zu den andern. Ich wollte der Mutter rufen, aber ich brachte keinen Ton heraus, es war mir, als ob ich nun auch stumm sein müsse, weil es das gab. Da sah ich auf einmal, wie sich die Hände meines Freundes, die fest verschlungen ineinander auf der Bettdecke lagen, auseinander taten. Das geschah nicht wie von einem Willen diktiert, sondern es sah aus, als ob sich mit den Händen auf einmal alles Leben löse und nun still und müde daliege, weil es nicht mehr weiter könne, und als ob von jetzt an ein anderer zu dirigieren habe in allem, was den alten Heinrich Kilian betreffe. Währenddiesem kam meine Mutter herein mit einem geöffneten Champagnerfläschchen, mit dessen Inhalt sie den Sterbenden erquicken wollte. Als sie aber einen Blick auf sein Gesicht geworfen hatte, stellte sie es still zur Seite, denn sie sah, daß hier nichts mehr zu stärken sei.
Das Glas floß über von dem schäumenden Wein, und die Mutter, die das doch nicht mitansehen konnte, tauchte ihre Hand in die kleine Lache, die sich auf dem Tisch bildete, und bestrich Stirn und Hände ihres alten Pfleglings mit dem Naß, vor dem sie um seiner Kostbarkeit und Seltenheit willen eine große Ehrfurcht hatte, und unter ihren netzenden Händen verging er vollends und atmete tief und leise aus.
Ich aber durfte mich nicht dem reinen Gefühl des schmerzlichen Abschieds hingeben, wie die Mutter und die beiden Schwestern, die in ein herzliches Weinen aus der Tiefe ihrer guten Gemüter ausbrachen. Ich mußte mich damit quälen, was es wohl gewesen sei, das er zu mir hatte sagen wollen, und ich wußte nicht, sollte ich froh oder traurig sein, daß er es nicht mehr hatte aussprechen können, denn ich hatte ein schlechtes Gewissen von seinetwegen, das wachte nun mächtig auf.
Der Tag, an den ich denken mußte, lag um vier Wochen zurück. Ich hatte dem Kilian am Abend vorher abgebettelt, daß ich seine große silberne Uhr in der Schule tragen dürfe, weil alle andern Buben auch Uhren hatten. „Am Sonntag allemal, da kriegst du sie wieder, da gehört sie dir,“ hatte ich gesagt; denn am Sonntag trug er sie selber an einer dicken Nickelkette. Er war nicht recht damit einig gewesen. „Du wirst mir doch nicht großartig werden, Ludwig,“ hatte er gesagt, „silberne Uhren am Werktag, behüte Gott, das ist für Herrenleut', aber nicht für unkonfirmierte Buben von unserlei Leuten.“
Aber ich hatte es dann doch durchgesetzt, er konnte mir nichts abschlagen.
Und nun trug ich die Uhr recht sichtbar an der Kette und hatte den Kittel offen, daß man sie deutlich sehen mußte und ging mit meinen Kameraden nach der Schule in einen Laden, wo man Bleistifte und dergleichen kaufen konnte. Zwei oder drei waren drin, ein paar andere, zu denen ich auch gehörte, standen unter der Ladentür und warteten auf ihr Herauskommen. Es war einer dabei, den ich schon lang gern zum Freund gehabt hätte, ein kleiner, gewandter Kerl, blond und witzig und aus einem Künstlerhause stammend, der tat allerlei Sprüche über die Vorübergehenden und brachte uns so zum Lachen, daß unsere Kameraden im Laden drin neugierig die Hälse streckten, um zu sehen, was da Lustiges vor sich gehe.
Währenddem kam auf der andern Seite der Straße mein Heinrich Kilian daher, schwer mit Bücherpaketen beladen, deren eines ihm unbequem auf der Achsel saß, so daß er den Kopf stark auf die Seite legen und immer wieder drehen mußte, um eine erträgliche Stellung zu gewinnen. Das fiel dem Spaßmacher sogleich auf, er fing in seiner sprühenden Laune an, den Gang und die Haltung des alten Mannes nachzumachen, und der Zufall kam ihm noch mit weiterem Material zu dieser Vorstellung entgegen, indem dem Schwerbeladenen ein anderes Paket, das er unter dem Arm getragen hatte, entglitt, und er sich unter starken Verrenkungen bücken mußte, dasselbe aufzuheben. Bei dieser mühsamen Bewegung nun geschah es, daß die alte, geflickte Hose, die ihm meine Mutter längst hatte wegsprechen wollen, hinten nachgab und einen großen, klaffenden Riß bekam. Er befühlte den Schaden verdutzt und kopfschüttelnd und ging dann, überschüttet von dem Bubengelächter, das von der anderen Straßenseite herüberscholl, weiter bis zu einem schmalen Nebengäßchen, in dem er verschwand, wahrscheinlich um sich dort in irgendeinem Hause notdürftig ausbessern zu lassen. Das war nun ein großes Gaudium für den Witzbold und die ins Lachen geratene Bubenschaft. Mir aber war übel zumute. Da stand ich, hatte Kilians Kette über meine Schülerbrust gespannt und trug seine Uhr in der Tasche und lachte mit den andern über ihn, denn ich konnte es nicht lassen, ich mußte lachen, so schändlich ich mich auch empfand, und tat, als ob er mich nichts anginge. Als er verschwunden war, machte ich mich unter irgendeinem Vorwand von den andern los und schlich mich nach Hause, wo ich kaum den Kopf aus den Büchern erhob, als Heinrich Kilian am Feierabend kam und gut und freundlich wie immer war. Er hatte mich nicht gesehen, das merkte ich gleich, und ich schüttelte, so gut es ging, mein übles Empfinden ab durch allerlei Entschuldigungen, die ich in mir selbst vorbrachte.
Aber nun lag er da und hatte die Augen für immer geschlossen, und vorher hatte er sich noch gemüht, mir etwas zu sagen; wer konnte wissen, ob es nicht doch das gewesen war?
Und es gab keine Gelegenheit mehr, miteinander ins Glatte zu kommen, keine; ich mußte nun mein Leben lang so an ihn denken, und wer weiß, wie er an mich dachte? Denn es war doch eine recht unsichere Sache mit dem Totsein, es gab da so allerlei Möglichkeiten, und vielleicht war er nun auf einmal irgendwo fein heraus, sah alles und verachtete mich. Das war eine schwere Sache.
Zwei Tage lang ging ich mit bösem Gewissen herum, stumm und bedrückt. Ich muß bleich ausgesehen haben, denn meine Mutter fragte mich, ob ich krank sei, und ich hörte sie zu Lotte Meister sagen: „Es geht ihm näher als er zeigen mag; er hat auch viel verloren, es ist kein Wunder.“ Und dann fügte sie mit einiger Befriedigung bei, daß ich doch ein gutes Gemüt zu haben scheine, und daß sie froh sei, es zu sehen, denn sie sei manchmal in Sorgen meinetwegen, ob auch alles gut ablaufe mit mir und ich nicht an meiner Seele Schaden leide durch die Standeserhöhung, in die sie mich selber hineingestellt habe durch die höhere Schule.
„Ich weiß nicht, wie lang ich noch da bin,“ sagte sie, „und weiß oft nicht, ob ich nicht etwas Dummes angerührt habe mit dem Buben; ich habe gemeint, es müsse so sein, weil ich's dem Mann versprochen habe, daß ich alles tun will für ihn. Jetzt geb's der liebe Gott, daß er recht wird, denn ich muß ihn grad laufen lassen, er ist einen halben Kopf größer als ich, und ich bin ein einfältiges Weib.“
Was Lotte darauf sagte, hörte ich nicht mehr, denn beide Frauen gingen miteinander zur Türe hinaus, und ich saß in dem Alkoven hinter dem alten Vorhang auf einem Stuhl und wußte nicht recht, was mit mir anfangen.
Die Mutter kam wieder herein und setzte sich auf die Bank, die am Fenster hinlief; sie hatte die Hände im Schoß gefaltet und sah still vor sich hin mit einem Ausdruck von Müdigkeit und Ergebung, wie ihn Menschen bekommen, die sich ein ganzes, langes Leben hindurch immer in das, was ihnen auflag, schicken mußten und denen dieses Sichschicken die einzige Waffe war im Lebenskrieg. Mich aber überkam es, ihr zu sagen, daß ich recht werden wolle und gut und daß sie meinetwegen ohne Sorge sein solle. Ja, es trieb mich ein starkes Verlangen dazu, auf ihren Schoß zu sitzen, wie als kleines Kind und ihre Hände um mich herum zu spüren, warm und gut. Dann hätte ich vielleicht auch von mir getan, was mich Heinrich Kilians wegen beklemmte, denn ich fand nicht recht den Weg daraus heraus.
Aber ich war nicht gewöhnt, zärtlich zu sein und fand auch das Wort nicht, das ich gern gesagt hätte. Ich schob mich langsam aus dem Alkoven heraus in die Stube, und als mich die Mutter sah, sagte sie: „Bist du da drin gewesen und hast alles gehört?“
Das bejahte ich mit einem Kopfnicken, und als ich in ihr Gesicht sah, da war es so voll von einer großen Liebe und Sorge und so himmelgut, wie ich glaubte, es noch nie gesehen zu haben, und ich legte meinen Kopf auf den Tisch und ließ meine Tränen, die ich bisher immer noch verschlossen gehabt hatte, laufen, wie sie wollten. Aber es wurde mir so wohl dabei, wie schon lange nicht mehr. Es war, als ob ein Bach aus meinem Innern breche und alles mit sich fortnehme, was übel und schwer darin gelegen war, und als ob meine Mutter alles wisse, was mich angehe, ohne daß ich ein Wort sage, bloß weil sie meine Mutter sei. Und das wird ja wohl auch so gewesen sein.
*
Ich wollte, ich hätte sie länger gehabt, es hätte meiner Jugend gut getan.
Ich weiß nicht. Vielleicht hätte ich alle meine Torheiten dennoch begangen, auch wenn sie dagewesen wäre, denn sie hätte mich nicht davor behüten können, wenn ich in der Welt draußen war. Und vielleicht hätte ich ihr weh getan, wie den andern. Ich möchte so gerne denken, daß ich den Weg zu ihr gefunden hätte, wenn ich mir verweht und verlaufen vorgekommen wäre, und daß ich ihr zuliebe manches besser gemacht hätte, als ich es tat. Es ist umsonst, daß ich mich darüber besinne.
Es muß ja alles so recht sein, wie es ist.
Als ich konfirmiert war und am Sonntag in einem neuen dunklen Anzug und mit einer gestärkten Hemdbrust auftrat, machte ich zum ersten- und einzigenmal in meinem Leben einen Ausflug mit ihr. Er geschah zu einem entfernten Vetter auf der Alb, der mein Pate war, und der uns eingeladen hatte. Wir zogen am frühen Maimorgen aus und sahen die Stadt und die Türme und den Fluß im Nebel liegen und schritten selber durch den Nebel, der bald rosig durchleuchtet wurde von der durchbrechenden Sonne. Da wurde uns ganz reiselustig zumute, und meine Mutter machte Schritte neben mir her wie ein junges Mädchen vor lauter Freude am Dasein und an der Reise mit mir.
Dann saßen wir in der Bahn und fuhren nach Blaubeuren, und sie hatte tausend Dinge zu bestaunen und wurde ganz redselig mit den Fahrtgenossen, deren Reiseziel und Heimat sie unverzagt erfragte, und mit denen sie sich ohne weiteres einig fühlte, als mit solchen, die einen seltenen, schönen Sonntag in der Freiheit genießen.
Es war auch ein altes Bauernweiblein im Wagen, das saß mit einer scheuen Glückseligkeit im Schatten eines mächtigen, breitschultrigen Mannes von exotischem Äußern, der an allen erdenklichen Stellen von goldenen Knöpfen, Ketten und Ringen erglänzte. Er hatte ein gutes Gesicht und fing bereits an, sein anglo-amerikanisches Deutsch, das er „drüben“ angenommen hatte, wieder mit schwäbischen Brocken zu vermischen. Sie war seine Mutter und war ihm auf seinen Wunsch entgegengefahren, weil er jetzt auf Besuch heimkam, und sie fühlte sich wie auf einer Himmelfahrt, da sie nun mit dem stattlichen Sohn ihrem Dorf entgegenfuhr. Mit ihr kam meine Mutter bald ins Gespräch und sagte mit hoffnungsvollem Stolz, daß sie ihren Ludwig auch etwas Rechtes werden lasse, er müsse nur sagen, was er im Sinn habe, und daß es freilich, wenn es auf sie ankomme, nicht grad Amerika sein müsse, indessen, wie es Gottes Will' sei, wenn er nur brav werde und recht. Da sah mich das alte Weiblein, das sein Schaf im Trocknen hatte, kopfnickend an und dachte wohl, freilich, so einer, wie ihr Johann, wachse nicht an jedem Hag, aber recht werden könne ich immerhin, schon der Mutter zulieb, und der mächtige Amerikaner sagte: „Well“ und strich sich den Bart, daß die Ringe an seinen Fingern erglänzten. Ich war froh, als wir ausstiegen und wieder für uns waren.
Die Mutter freilich konnte noch nicht so schnell von den beiden abkommen. Sie waren am Bahnhof von einem stattlichen Fuhrwerk mit zwei schweren Gäulen abgeholt worden und verschwanden vor uns in einer weißen Staubwolke, als wir sachte, Schritt vor Schritt die Steige hinanstiegen, die hinter dem Blautopf auf die Höhe der Alb hinaufführt.
„Das Gefährt ist nicht ihr eigen,“ sagte meine Mutter. „Es gehört ihrem Nachbar. Der hat es entgegengeschickt, weil er einen Respekt hat vor dem Amerikaner. Sie hat es auch mühsam gehabt vorher, aber seit fünf Jahren hat ihr der Sohn immer Geld geschickt, da hat sie sich eine Güte antun können.“
Sie schwieg und sah an mir hinauf und hinunter und hätte gern noch mehr gesagt. Aber sie wollte vielleicht meine Jugend nicht beladen, oder sie traute sich selber nicht, so weit hinauszufahren mit ihren Gedanken, so ging sie neben mir her, ohne es auszusprechen, wie sie es von mir auch erhoffe, daß ich einst ihr Alter schmücke und erleichtere.
Mich trieb es an, ihr große Dinge zu versprechen, denn ich konnte es nicht leiden, daß mich der Amerikaner etwa ausstechen sollte. Aber ich wußte noch nicht, wo bei mir der Glücksbaum wachsen würde, von dessen Zweigen ich meiner Mutter die Taler herunterschütteln konnte, und um das Gespräch auf etwas zu bringen, bei dem ich auch etwas galt, fing ich an, meiner Mutter die Geschichte von der schönen Lau zu erzählen, die ich kürzlich gelesen hatte.
Sie horchte hoch auf und nahm es alles wahr und wichtig, so daß mir die Sache selber im Erzählen noch viel lebendiger wurde als zuvor.
Tief unter uns lag das Städtlein mit Kloster und Kirche friedlich hingelegt bei dem tiefen, dunklen Wasserbecken, an dessen Ufer wir vorhin gestanden waren mit einem leisen Grauen, weil es gar so unergründlich tief hinabging.
Nun sahen wir nur noch die Bäume, deren grüne Wipfel sich über ihm zusammen zu neigen schienen, und sahen die junge Blau, die hell und fröhlich durch grüne Wiesen ging, als ob sie nicht erst vorhin aus ihrer wundersamen Quellenheimat ausgeflossen wäre. Die nackten Felsen standen trutzig um das Tal herum, aber die Sonne legte einen Glanz auf sie, daß sie zu scheinen anfingen, und der Himmel stand hoch und heiter über dem Ganzen.
Und die schöne Lau stieg aus ihrer blauen Tiefe herauf und trug ihr schweres Herz zu den Menschen und lernte bei ihnen das Lachen, das ihr so nötig war. Als alles gut ausgegangen war, atmete die Mutter tief auf. „Gott Lob und Dank,“ sagte sie, „wenn's auch bloß ein Märlein ist, mich hat die arme Frau doch gedauert; ich weiß gut, wie es ist, wenn's einem nicht ums Lachen ist. Als ich mit dir gegangen bin, Ludwig, ein paar Monate vor deiner Geburt, da ist mir's immer so schwer gewesen, das ist nicht zum Aussagen. Da hab' ich immer gedacht: Lieber Gott, laß nur mein Kind kein schweres Gemüt kriegen. Gelt, du hast keins, Ludwig, ich meine einmal nicht. Wenn ich dich habe lachen hören und gesehen, daß du lustig bist, dann ist mir ein Stein vom Herzen gefallen.“
Als die Mutter so redete, wurde es mir sonderbar ums Herz. Es war mir auch, als ob ich in eine unterirdische Quellenstube hineinsehe, aus der mein Leben herausgeflossen sei, und ich spürte eine dunkle Zärtlichkeit für diese Frau, anders als je zuvor. Aber ich ließ nichts davon merken.
Als wir höher stiegen, atmete sie mühsam und schwer und blieb immer wieder stehen, um sich den Schweiß abzuwischen, dabei sah sie blässer aus, als ich sonst an ihr gesehen hatte.
„Ich weiß nicht, es ist mir nicht ganz recht,“ sagte sie. „Mich deucht, ich höre ein Fuhrwerk; wenn ich das erwarten könnte und ein Stück weit aufsitzen, das wäre gut. Du könntest derweil weitergehen, dir tut das Laufen gut, du hast junge Füße und ein junges Herz.“
Das wollte ich meinen, daß ich das hatte. Ich ließ die Mutter auf einem Steinhaufen am Wegrand sitzen und ging voran, singend und pfeifend. Unter mir tat sich das Tal immer weiter auf, Dörfer lagen in der Sonne, und Höhenzüge traten hervor und grüßten herüber. Im reinen Blau des Maihimmels schwammen kleine, weiße Wölkchen dahin, und in den Ebereschen zu beiden Seiten der Straße pfiffen Ammern und Meisen in ausgelassener Daseinslust. Ich empfand mich jung, stark und froh, und es schien mir alles gut zu sein. Nach der Mutter sah ich mich nicht um. Ich wollte, wenn die Höhe vollends erstiegen wäre, auf das Fuhrwerk warten, aber meine Gedanken flogen ein paarmal zu ihr, weil sie mir das Herz so sonderbar bewegt hatte.
Doch sagte mir keine Ahnung, auch nicht die leiseste, daß meine Mutter jetzt eben den Tod erlitt. Er war ihr lind und gut; er trat nur an sie heran, als sie erschöpft auf dem Steinhaufen saß und legte ihr die Hand auf das Herz, da hörte es auf, zu schlagen. Vielleicht sah sie ihn herankommen, ich weiß es nicht. Wenn sie ihn gesehen hat, das glaube ich, dann hat sie ihre hartgeschaffte Hand mit einem geduldigen Seufzer in seine knöcherne gelegt und sich von ihm führen lassen. Denn es war nichts von Widerstreben und darum auch nichts von Angst in ihr.
Als der leere Müllerwagen kam, den sie gehört hatte, saß sie in sich zusammengesunken da, die Hände müd im Schoß und den Kopf auf der Brust. Die Sonne lag auf ihrem grauen Scheitel und der Müllerknecht meinte, sie schlafe.
Als er merkte, daß sie tot sei, packte ihn ein Grauen, und er hieb auf seine Schimmel ein, daß sie die Steige hinaufrasselten, wie auf der Flucht. „Da unten sitzt ein totes Weib,“ rief er, als er mich sah, „weißt du, wer sie ist?“
Da löschte mir mit einem Male die fröhliche Fackel aus, die mir den ganzen Morgen ins Leben hinein geleuchtet hatte, und es kam eine dunkle Wolke, die überzog Land und Himmel und meine Jugend und mich. Ich lief in verzweifelten Sprüngen die Steige wieder hinab, bis ich bei ihr war, und blieb in Herzensnot und Grauen bei ihr sitzen, bis Leute von oben herunterkamen, von dem Müllerknecht geschickt und sich unser annahmen.
Sie wurde dort droben in dem Albdörflein begraben. Da war ein Platz frei in dem ganz zusammengesunkenen Grab der Großmutter meiner Mutter, das einst von der Familie gekauft worden war.
„Da liegt sie gut,“ sagte der Vetter, den wir hatten besuchen wollen.
„Die Großmutter ist ein braves Weib gewesen, bei der hat sie ihren Frieden. Und sie liegt im eigenen Grund und Boden, das hättet ihr in der Stadt drunten nicht zahlen können.“
Da kam in aller Trauer noch ein kleines, bescheidenes Stölzlein in uns auf, auch in den Schwestern, die gekommen waren, daß wir hier an diesem Platz sozusagen ansässig seien, und wir waren einig damit, die Mutter hier zu lassen.
Das liegt tiefer als es viele wissen, im Menschenherzen, daß es irgendwo unvertrieben sein will, daß es ein Stücklein Land besitzen will und wäre es noch so klein, teilhaben an der Erde, die unser aller Mutter ist.
Im Leben hatte die Mutter immer im Hauszins wohnen müssen, nun ererbte sie im Tode ein eigenes, enges Häuslein und war nur gehalten, die bleichen, weißen Knöchelein der Urahne bei sich ruhen zu lassen, denn diese war immerhin vorher dagewesen.
*
Ein halbes Jahr nach der Mutter Tod wurde uns das Häuschen gekündigt, weil die Stadtverwaltung irgendeine Änderung in dieser Gegend vornehmen wollte. Da gab es einen schweren Abschied zwischen Meisters und uns. Denn wir zogen nun in zwei verschiedene Stadtteile. Auch Lotte hatte die Kündigung getroffen, und es war nun zwischen ihr und meiner Schwester Luise ein Abkommen wie zwischen Abraham und Lot: „Willst du zur Rechten, so geh' ich zur Linken, willst du aber zur Linken, so geh' ich zur Rechten.“ Luise wollte nun ein eigenes Bügelgeschäft aufmachen mit Lehrmädchen und Pariser Neubügelmethode, und dazu brauchte sie ein Feld für sich. Lotte aber zog ihre bisherige Kundschaft nach sich in ein Haus, das in der Nähe des alten lag. Sie waren beide wie Schwestern miteinander, es war nichts von Neid und Streit in ihrem Auseinandergehen, sondern, weil das Leben mit seinen Bedürfnissen es so verlangte, darum trennten sie ihre Wege und blieben sich um so mehr in Freundschaft zugetan.
Wir zogen an einem Tag nach verschiedenen Seiten hin. Unsere Möbel waren aufgeladen und zeigten sich im Tageslicht und unter freiem Himmel als eine ärmliche Habe. Einmal waren sie auch neu gewesen und aus vielen Spargroschen mit Lust und Liebe nach und nach erworben worden, nun sah die neue Generation darüber hin als über etwas Abgängiges, es war aber so der Lauf der Welt. Wir gingen noch einmal durch die leeren Räume und sahen an den dunklen Stellen auf den verschossenen Tapeten, wo die Bilder gehangen waren: Hier des Vaters Bild und hier die Schlacht bei Leipzig, und dort der Haussegen, der die heilige Dreieinigkeit zeigte, je nachdem man links oder rechts oder in der Mitte stand, den Vater oder den Sohn, oder den heiligen Geist als Taube. Über der Bank war eine fettige Fläche, da hatte der alte Heinrich Kilian immer seinen Kopf angelehnt. Die Schwestern waren in gerührter Stimmung, als sie sich noch einmal hier umsahen und lehnten sich aneinander, wie um sich zu vergewissern, daß keine von ihnen allein in die Fremde geht. Mir aber war es unbehaglich zumute. Es ging so allerlei durch einen durch, wenn man hier seinen Gefühlen nachhing, es war wohl am besten, vorwärts zu gehen und sich nicht mehr viel umzusehen, sonst tat es in der Brust weh, und das Herz klopfte einem; das war aber eines bloßen Umzuges wegen nicht nötig, meinte ich.
Da kam soeben Lotte Meister zur Tür herein, um Luise noch etwas zu sagen. Sie stand so groß und hoch und stattlich in der niederen Stube, aber sie hatte ein Glänzen in den Augen, aus dem man schließen mußte, daß sie geweint habe. Denn sie nahm ja freilich hundertfache Erinnerungen mit sich fort. Es war bei ihr nicht wie bei uns das Geschehen zu tragen, das im Gang des Menschenlebens von vornherein liegt, daß die Alten davongehen und zu den Vätern versammelt werden, sondern sie hatte die Unnatur des Zerreißens erlebt, der Trennung mitten auf der gemeinsamen Bahn. Die alte, leidende Mutter aber ging mit ihr und freilich auch die Kinder, das kommende Geschlecht, das hier seinen Ursprung genommen hatte.
Man konnte aber mit keinem mitleidigen Gedanken an Lotte herankommen, obgleich man ihre Tränenspuren noch sah. Denn sie beherrschte ihr Gesicht und ihre Haltung vollständig und war dem Leben gewachsen, wie es auch verfahren mochte, man konnte in allem nur Respekt vor ihr haben. Als sie ihre Sache an Luise ausgerichtet hatte, sah sie mich lächelnd an, wie früher, da ich noch als lockiges Bürschlein neben ihr am Bügelbrett gestanden war und sagte: „Wie ist's, Ludwig, wird man dich auch noch hie und da zu sehen bekommen, wenn man eine Viertelstunde Wegs zueinander hat, oder müssen wir gleich ganz Abschied nehmen?“ Sie streckte mir aber dabei ihre schöne, kräftige Hand hin, und ihr Gesicht war so voll von einer unwandelbaren Güte und Zuversicht, daß es mich heiß durchfuhr, und ich in einem Augenblick die ganze Zukunft durchreiste, in der es immer eine Lotte Meister geben mußte, sie war nicht wegzudenken. Ich spürte, daß ich feuerrot wurde und daß mich ein ungestümes Verlangen packte, sie wieder für mich zu haben, wie einst, aber ich tat nicht dergleichen, sondern sagte nur, ich werde schon kommen, wenn ich Zeit habe und ich müsse jetzt so viel lernen, weil der Professor so streng sei. Darauf sah sie mich einen Augenblick prüfend an und erklärte dann, eigentlich habe sie fragen wollen, ob eins von uns den Rollstuhl mit der Großmutter in die neue Wohnung führen wolle. Die Kinder könnten es ja, aber die Großmutter vertraue sich ihnen nicht an, weil sie ohnehin vor dem fremden, entlehnten Rollstuhl und vor dem Fahren durch die Straßen eine entsetzliche Angst habe. Ich spürte, daß ich dazu vermeint sei, aber ich konnte mich nicht schnell entschließen, denn es konnte mir jemand begegnen, etwa der Stadtpfarrer, der dann sagen würde, so sei es recht, oder meine Kameraden, die lachen würden, wenn die alte Frau immer mit dem Kopf wackelte, und da war eines so schlimm, wie das andere. Es gab eine Verlegenheitspause, und in die Stille hinein sagte meine Schwester Helene ganz freundlich und bereitwillig, ja natürlich, das tue sie gern, und Lotte empfahl sich, ohne noch einmal etwas zu mir zu sagen. Sie mußte schleunigst hinter ihrem Möbelwagen, auf dem hoch oben die drei Kinder saßen, eng in dem geblumten Sofa aneinandergeschmiegt, lustig und lachend, weil ihnen das Fahren ein Fest war. Wir sahen ihnen nach, und dann gingen wir gleichfalls davon und ließen die Türen hinter uns offen, weil nichts mehr im Haus war, das man verschließen mußte. Aber nun hatte ich auch mein Teil an Abschiedsschmerzen, und es war mir vielleicht übler zumut als den andern allen, sie brauchten es aber nicht zu wissen.
Die neue Wohnung, die wir bezogen, lag mitten in der Altstadt, in einer engen Gasse, in der die Häuser nah beisammen standen, und in der es mit Sonne, Mond und Sternen nicht besonders leuchtend zuging. Ich allein hatte in meiner Kammer hoch oben unter dem Dach Licht genug, und die Nelken des alten Heinrich Kilian, die meine Schwestern sorglich ausgegraben und in Töpfe gepflanzt hatten, führten vor meinem Fenster ein blühendes Leben, so lang die gute Jahreszeit währte. Unten im Haus, im Kellergeschoß, da war es fast den ganzen Tag dämmerig; es mußte gut gehen, wenn einmal ein wenig Sonne hereinkam. Aber es ging hell und heiter zu trotzdem. Da ging es mit glühenden Bügelstählen um und mit Lachen und Schwatzen und oft mit Singen daneben her. Sie schafften selbdritt oder viert, Luise und ihre Lehrmädchen. Sie hatten Kundschaft genug, denn schön gebügelte Kragen und Manschetten, das war etwas, das jedermann brauchte; auch der einfachste Mann wollte wenigstens am Sonntag glänzen und gleißen mit sauberer Wäsche.
Luise spielte so wenig wie Lotte Meister die hohe Vorgesetzte. Sondern sie zeigte, wie die Sache gemacht werden mußte, und da hieß es parieren, denn was aus dem Haus kam, das mußte tadellos sein; aber im übrigen war eine schöne und freudige Arbeitsgemeinschaft, und es war hier nichts von „Arbeitgeber und Arbeitnehmer“ und von bitteren Standesunterschieden. Um die Vesperzeit ging das jüngste Lehrmädchen, wie es ging und stand, mit aufgekrempelten Ärmeln und in weißer Schürze, über die Gasse zum Dreikönigswirt und holte so viel Gläser Bier, als Personen da waren, und dann gab es eine vergnügliche Pause, in der man sich von den Stadtneuigkeiten unterhielt und von den privaten Erlebnissen, etwa einem neuen Kleid oder einem Sonntagsausflug, oder auch, wenn man gerade recht in Stimmung war, von dem jeweiligen Schatz und den Zukunftsaussichten mit ihm.
Das taten sie nicht gern vor mir, der ich mich oft um diese Stunde auch da unten herumdrückte. „Was braucht so ein Bub davon zu wissen?“, sagten sie und steckten wispernd die Köpfe zusammen. Aber gerade davon hätte ich gern gewußt. Es schienen mir lauter hübsche Mädchen zu sein, fast eine wie die andere. Sie hatten bloße Hälse und Arme und junge, frische Gesichter und meistens ein hübsches Band im Haar oder so etwas, und es mußte eine schöne Sache sein, mit solch einem Geschöpf einmal spazieren zu gehen oder gar zu tanzen. Daß sie Du zu mir sagten, störte mich hier im Hause, wo es niemand sonst sah und hörte, nicht, ich gab es ihnen heim und es war mir behaglich dabei. Ich saß auf einem umgestülpten Waschkorb oder einer Stärkekiste, trank gleichfalls mein Bier und machte billige Witze, bis Luise ihr leeres Glas wegstellte und sich die Hände wusch, was ihr die andern nachtaten, und was das Zeichen zum Wiederanfangen war. Dann ging ich mit meinem Bücherpack, den ich unter dem Arm getragen hatte, in meine Kammer hinauf und ließ den Eindruck zurück, als ob ich mich in meine Arbeit vergrabe. Das tat mir wohl, daß die Mädchen das von mir dachten; aber ich stand oft genug am Fenster und sah ins Wetter, denn es ging noch manches mit mir um, was ich unten gesehen und gehört hatte. Da war ein hübsches, weißblondes Mädchen namens Hermine, das ein so lustiges Gesicht und ein ganz schlankes, feines Hälschen hatte, und das schon einen Bräutigam besaß. Er war Feldwebel bei den Pionieren, und sie wollte um Geld bügeln, wenn sie verheiratet war, darauf freute sie sich, als ob es in ein lustiges Leben hinein ginge. „Den Tag über schaffen wir, und abends geht's zur Musik oder sonstwohin,“ sagte sie und zeigte alle ihre weißen Zähne. Da wäre ich auf einmal gern Feldwebel gewesen, denn man konnte nicht wissen, ob es nicht auf dem wissenschaftlichen Weg, den ich eingeschlagen hatte, viel langweiliger zuging, und ich wußte manchmal nicht recht, warum ich gerade studieren sollte. Da horchte ich hinunter in die enge Gasse, ob ich nicht einen Zipfel von dem vergnügten Leben da unten wahrnehmen könne. Aber nach einer Weile war die Anwandlung vorüber, und ich saß wieder an meinen Büchern und hielt mich ordentlich zur Arbeit, ohne besondere Begeisterung dafür, nur weil so eines aus dem andern folgte und ich nichts anderes vorhatte. So kam ich voran, wie andere auch und bestand, als ich etwas über das achtzehnte Jahr hinaus war, die Reifeprüfung für die Universität. Jetzt galt es aber, sich endgültig für ein Fach zu entschließen, denn das hatte ich bis jetzt immer noch hinausgeschoben, weil ich für keines eine besondere Liebe hatte und an jedem etwas auszusetzen war. Da fragte mich der Rektor, als ich mein Abgangszeugnis von ihm holte, ob ich nicht Lust hätte, in eine vornehme Universitätsbuchhandlung einzutreten und das Studium überhaupt zu unterlassen. Er sei von einem Freund, der der Inhaber sei, gefragt worden, ob er nicht einen tüchtigen jungen Menschen wisse, der eine gute Vorbildung habe und Lust zu den Büchern, aber auch zu einem soliden und praktischen Geschäftswissen, und der es bei ihm zu etwas Rechtem bringen könne. Er habe mich vorgeschlagen, weil er gemerkt zu haben glaube, daß ich Freude an der Literatur habe und auch nicht unpraktisch sei, und weil, – setzte er väterlich hinzu, – es vielleicht doch auch ratsam sei für mich, daß ich es in absehbarer Zeit zu einer Selbständigkeit bringe.
Er kannte meine Schwestern und besonders Helene, die bei ihm im Hause nähte und seiner Frau die Kleider machte, und hatte einen hohen Respekt vor ihrer arbeitsamen Tüchtigkeit. Vielleicht ärgerte er sich auch im stillen, daß ich den braven Mädchen so ganz auf der Tasche lag, aber davon sagte er nichts, sondern fragte nur, ob ich vielleicht schon eine starke Vorliebe für ein besonderes Fach habe, was dann freilich die Sache verändern würde.
Aber das hatte ich nicht, sondern es war gut für mich, daß mir jemand einen Schub gab von außen her, und ich sagte nach kurzem Zögern, daß ich morgen kommen und mit dem Herrn reden wolle, der gerade in der Stadt zum Besuch war, und daß es vielleicht ganz gut für mich passe, ein Buchhändler zu werden, weil es mich immer nach Büchern gelüstet habe, schon seit ich mir denken könne.
*
Daheim war ein großes Erstaunen, als ich mit meinem Plan daherkam, der schon auf dem kurzen Weg nach Hause deutliche Gestalt in mir gewonnen hatte. Die Buchhandlung, um die es sich handelte, war in einer Stadt, von deren Schönheit ich schon viel gehört hatte, unfern des Rheins und des Schwarzwaldes, also immerhin weit genug von meiner Heimat entfernt, um den Zauber der Ferne und Fremde für mich zu haben. Die Schwestern waren ein wenig enttäuscht, daß nun kein Student zu ihnen in die Ferien kommen würde und kein studierter Herr einmal mit einem guten Titel etwa in der Zeitung stehe, von dem sie dann sagen konnten, das sei ihr Bruder. Auch ging es vielleicht tiefer bei ihnen, daß sie mir in Wahrheit alle Pforten des Lebens wollten aufgetan wissen. Aber ich sagte mit schnell angenommener Überlegenheit, daß ich es auf diesem Wege mindestens gerade so weit bringen werde, als auf dem andern, und daß ich überhaupt trachten werde, so bald als möglich selbständig zu werden. Das rührte die Schwestern tief, denn ich hatte ihnen noch nicht oft gezeigt, daß ich an ihre Arbeit und Mühe für mich denke, und so gern sie alles für mich taten, so tat es ihnen doch wohl, daß ich nicht nur so ins Blaue hinein alles anzunehmen schien. Aber sie wußten nicht, daß ich vor dem Besuch bei dem Rektor noch keinen Augenblick daran gedacht hatte, und von mir aus brauchten sie es auch nicht zu wissen.
Am andern Tag ging ich wieder zu dem Rektor hin, und da war dann auch der Buchhändler, der ein alter Junggeselle war und äußerlich nichts vorstellte. Er trug sich in einem lederfarbigen Braun und hatte selber eine etwas vergilbte, pergamentene Haut, und ich weiß nicht, wie mir so geschwind der Gedanke kam, er sehe aus, wie ein antiquarisches Exemplar etwa des Horaz oder sonst so eines alten Weisen, in Leder gebunden. Darüber ging mir, ehe ich es verhindern konnte, ein Lachen über das Gesicht, und der Rektor, der dabeistand, fragte mich: „Was haben Sie Heiteres, Fugeler?“ Aber ich faßte mich schnell und machte ein ernsthaftes Gesicht und sagte, es sei mir draußen auf der Gasse ein Kameltreiber begegnet mit drei Äffchen, die seien so possierlich gewesen. Das war schon wahr, aber gelacht hätte ich darum nicht.
„Sie sind noch sehr jung, mein Lieber,“ sagte der alte Herr, der Hagenau hieß, und meckerte ein wenig. Das war bei ihm gelacht. Ich sagte, daß ich achtzehn sei und das Maturum gemacht habe, und das hatte er ja auch schon gewußt und die Bemerkung nur meines unzeitigen Lachens halber gemacht.
Wir kamen aber darauf gut ins Gespräch und einigten uns auch darauf, daß ich am ersten Oktober bei ihm eintreten und drei Jahre lernen solle, ohne Gehalt, aber mit freier Kost und Wohnung in seinem Hause. Später sehe man wieder. Er habe es mit einem, der sich zur Sache anlasse, gut im Sinne, wolle aber vorher sehen, was an mir sei. Darum, daß er ein Junggeselle sei, brauche ich mich nicht um das leibliche Auskommen bei ihm abzukümmern. Er habe eine Schwester bei sich, die mich so wohl versorgen werde, als eine rechte Hausfrau, und sie sei auch sonst gut, ich komme bei ihr in gute Hände. Zu lernen gebe es genug für einen, der strebsam sei, es müsse nicht alles auf Universitäten erworben werden, es gebe auch sonst noch Möglichkeiten. Das kam mir alles ganz richtig und vernünftig vor, und auf dem Heimweg kaufte ich mir ein steifes Hütlein, weil ich das Gymnasiastenwesen abgelegt hatte und in eine Bahn einlenken wollte, auf der es frühzeitig dem Ernst des Lebens zuging.
Als ich aber nur noch ein paar Schritte von unserem Haus entfernt war, sah ich eine helle, schlanke Mädchengestalt in Luisens Bügelstube von der Straße her eintreten, und als ich gleich nach ihr auch dort hineinging, war es Maidi, mit er ich als kleiner Bube im Garten gespielt und Kirschen gegessen hatte, und die ich noch gut genug kannte. Sie war eine Berühmtheit unter den Gymnasiasten ihrer feinen Schönheit wegen, und es galt für eine Ehre, wenn man sie grüßen konnte; da neigte sie leicht den Kopf, wie ein Königskind, und war dabei doch keine stolze Jungfer, sondern eine freudige Augenweide.
Geredet hatte ich nie mehr mit ihr seit jenem Gartentag, nun stand sie hier in der halbdunkeln Bügelstube, in der man schon das Gas anzünden mußte und war wie eine Sonne darin. Da ärgerte mich auf einmal mein steifes Hütlein, und ich tat es schnell in ein Fach hinein, in dem Stärkwäsche lag, weil es gar nicht zu ihr paßte. Sie hatte ein hellblaues Kleid an und niedere braune Schuhe, und ihren langen, blonden Zopf hatte sie hinten im Nacken mit einer blauen Schleife hinaufgebunden, auf der kleine rote Punkte saßen, wie lauter Herrgottskäfer. Um ihr Gesicht her aber drängten sich lustige Löckchen unter dem breiten Hut hervor, und auf dem Hut lag ein Kranz von Margeriten. Sie sah aus, als ob sie zu einem Fest ginge, aber das war bei ihr immer so, und das Fest war ihr junges Leben, in das schritt sie hinein in ihren hübschen braunen Schuhen.
Ich konnte sie beobachten, ohne daß sie mich sah, denn ich war hinter den Vorhang getreten, der den Eingang in ein Nebenkämmerchen verdeckte und sah hinter demselben vor in ihr helles Gesicht. Sie hatte eine Bestellung zu machen. Es sollte regelmäßig zu bestimmten Zeiten Wäsche abgeholt und wieder hingebracht werden und sie nannte dazu das Haus ihres Großvaters, in dem sie mit ihrer Mutter und ihrem Bruder wohnte. Der Vater, der zum Ganzen gehörte, war nicht mehr vorhanden, und ich wußte, daß er irgendwie nebenhinaus gegangen war auf der Welt und wohl noch lebte, aber nicht mehr zu den Seinigen gehörte. Wie es zusammenhing, wußte ich nicht, aber es hatten also doch auch schon dunkle Schatten das junge Leben gestreift, das hier in aufblühender Pracht in unserer Stube stand und mit meiner Schwester sprach. Als mir das einfiel, gewann ich auf einmal die Macht, hinter meinem Vorhang hervorzutreten und sie anzureden, denn sonst wäre sie mir zu schön dazu gewesen und zu hoch, so freundlich sie auch aussah.
Ich überlegte mir auch, was ich zu ihr sagen wollte. Sie hatte einen Vetter, der war mein Schulkamerad gewesen und war nun seit einem Jahr bei der Marine, und er war es auch gewesen, der bei den Kameraden immer ihren Preis verkündigt hatte. Nach dem wollte ich sie fragen. Aber ich war es nicht gewohnt, junge Mädchen anzureden, so oft ich es auch in der Phantasie tat, und so stand ich etwas verlegen herum, als ich sie gegrüßt hatte.
Da sah ich an ihrem Gesicht, daß sie mich auch kannte, vielleicht noch von damals her, und daß lustige Lichter darüberflogen wie Sonnenvögel und sie ein Lachen unterdrücken wollte, das um jeden Preis gelacht sein mußte.
Es war sicher, sie kannte mich noch und auf einmal sagte sie: „Da wohnen Sie jetzt? Seit wann? Wissen Sie noch, damals? Sie erzählten mir von Ihrem Garten, und –“ da wurde sie doch ein bißchen rot und ich auch, denn es war ein heikler Punkt. Und in der Verlegenheit fingen wir beide an zu lachen und wurden dadurch ganz erlöst. Denn wenn man darüber lachen konnte, dann war es nicht mehr schlimm. „Ja, ja“ sagte ich, „ich habe damals, glaub' ich, ein bißchen dazu erfunden, und nachher hatte ich immer Angst, Sie könnten einmal kommen und ich stehe dann mit Schanden da.“
Aber als ich das sagte, war es mir inwendig heiß vor Glück, daß sie mich so gut kannte, und daß sie noch an damals dachte, und es kam mir auch sonderbar vor, daß wir nun Sie zueinander sagten, denn ich hatte immer in Gedanken Du zu ihr gesagt.
„Ich bin auch einmal gekommen,“ sagte sie, „das Verlangen war immer stärker geworden in mir, und der Garten immer größer und die Nelken immer röter. Wissen Sie noch, von der Katze, die da herumgehen und Funken sprühen sollte und von der Musik, die der alte Mann machte? Da brachte ich es einmal mit List heraus, wo Sie wohnten und suchte mir den Weg. Aber als ich die Häuschen sah und die kleinen Gärtchen davor, da wurde ich böse und traurig und hätte fast geweint vor Zorn und Enttäuschung. Und meine Mutter sagte nachher, als ich es ihr erzählte: „Siehst du, man muß auch nicht alles untersuchen wollen, das geht noch mit vielem so im Leben.“ Und sie sagte, daß das Bübchen damals nicht gelogen habe, es habe es alles so im Herzen gehabt, wie es gesagt habe.“
Als Maidi das alles erzählte, sah ich so unbegreiflich deutlich wieder das kleine Mädchen von damals vor mir und die schöne junge Frau mit dem Kinde, und es war mir, als gehöre ich irgendwie zu ihnen. Die Bügelmädchen sahen mit Staunen zu und Luise auch, daß wir so ins Reden miteinander kamen, aber ich machte mir gar nichts daraus, sondern als Maidi gehen wollte, fragte ich ganz kecklich, ob ich ein Stückchen mit ihr gehen dürfe, ich müsse sowieso noch einmal in die Stadt. Sie sagte auch freundlich: ja, das dürfe ich gerne, und wir wollen dann über den Marktplatz gehen, weil Messe sei.
Da ging ich denn nun neben dem allerschönsten Mädchen her, das ich kannte, aber ich hatte meine Schülermütze aufgesetzt und das Hütlein daheim gelassen, und nun pochte mir das Herz wie ein Schmiedehammer, weil solche Dinge geschahen, nicht in Träumen, sondern im hellen Wachen.
Maidi stieg so leicht und schlank und lieblich daher, und wir plauderten, als ob vieles nachzuholen sei, aber es war mir immer darunter hinein unbegreiflich, daß es ihr nicht zu wenig sei, mit mir zu gehen, und ich hielt mich so aufrecht wie möglich. Inzwischen kamen wir auf den Marktplatz, wo sich eine bunte Menge von Menschen hin und her schob, unter die wir uns fröhlich mischten. Maidi fragte mich, wo ich eigentlich hin wolle, weil ich von einer Besorgung gesagt hatte, die ich machen müsse, aber ich lachte nur und sagte, das habe noch lange Zeit, und wir waren wie rechte Kinder, die nicht viel an nachher denken, sondern sich an dem, was gerade vor Augen ist, ganz vergessen.
Es war ein selten schöner Tag, der dem Marktleben wohl bekam.
An den Ständen der Schuster, der Hut- und Kappenmacher, der Messerschmiede und Wollwarenhändler drängten sich die Albbauern und ihre Weiber, aber da hatten wir nichts verloren, sondern wir gingen den Ausrufern nach, die vor ihren Schaubuden standen und alle Seltenheiten der Welt anpriesen. Da war ein ärmliches Leinwandzeltchen, in dem ein lebendiges Kalb mit zwei Köpfen zu sehen war, und daneben wurde eine Riesendame gezeigt, deren Bildnis in grellen Farben auf der Eingangsseite der Bude prangte und einem schlanken Herrchen zulächelte, das ihr auf einem Brett Würste, Schinken und einen angeschnittenen Brotlaib hinhielt und wie ängstlich schien, es möchte etwa aus Versehen mitgeschluckt werden. Ein Wachsfigurenkabinett war da, und ein schwindsüchtig aussehender Mensch in einem fadenscheinigen Frack lud die Leute hustend ein, hereinzuspazieren. Es sei da zu sehen die Ermordung Wallensteins, die Hamburger Kindsmörderin soundso, der Ritter Blaubart aus dem Märchen und Schneewittchen mit der bösen Königin, alles beweglich und in voller Arbeit. Er sah selber einer vergilbten Wachsfigur nicht unähnlich und bewegte wie automatisch den Kopf hin und her, um nach rechts und links hin die Leute einzuladen. Am Eingang der Bude saß ein prächtig gekleideter und angemalter Türke, der aus einer langen Pfeife sehr natürlich zu rauchen schien, und an seinen Knien lehnte eine wunderschöne Frau, die todunglücklich aussah und deren rabenschwarzes Haar ihr am Rücken hinunter und bis auf den Boden hinabfloß. Sie zwinkerte beständig mit den Augenlidern und hob hie und da in abgemessenen Zwischenräumen die beringte Hand, was alles ein wenig gespenstig aussah. Auch schien sie die Lippen zu regen, wenn man länger hinsah, und der schwindsüchtige Ausrufer sagte, es sei die Scheherazade, die beständig unter dem Henkersbeil lebe und sich nur ihr Leben retten könne, indem sie dem Sultan tausend und eine Nacht lang Geschichten erzähle. Es gingen ziemlich viele Leute hinein, Soldaten und Mägde und Arbeiter, die gerade aus den Fabriken kamen, und auch Schulkinder. Wir sahen einander fragend an, ob wir es auch wollten. Aber Maidi schüttelte nach kurzem Besinnen den Kopf, denn innen waren sicher grausige Dinge zu sehen, und sie ging lieber den fröhlichen nach, deren es genug hatte auf dem Markt. Da war gleich in nächster Nähe das Kasperletheater, das kam uns so recht gelegen. Wir stellten uns hinter den Seilen, die den Zuschauerraum umgrenzten, auf, und sahen zu, wie der Kasperle mit einem Prügel auf den armen Bauern einhieb, der ihm eine Katze in einem Sack hatte verkaufen wollen. Das war nichts so Besonderes, aber wir hatten schon selber die nötige Fröhlichkeit in uns und brauchten nicht viel Anstoß dazu, um mitzulachen. Es stand ein kleines Kerlchen neben uns, das sich vergebens auf die Zehen stellte, um etwas zu sehen. Das setzte ich auf meine Achsel, und nun schrie und strampelte es vor Wonne und brachte die ganze Umgebung ins Feuer mit seiner Begeisterung. Maidi aber lachte uns beide gut und freundlich an, das Kind und mich, und mich dünkte, es sei bis jetzt kein Tag in meinem Leben gewesen, der diesem gleichzustellen sei. Ich kaufte ihr ein Rosensträußchen aus Zucker und sie mir einen roten Ballon, den ich mit seinem Schnürchen in meinem Knopfloch befestigte, und das geschah beides neben dem Kasperle her, denn es gingen hausierende Verkäufer über den ganzen Markt hin und an uns vorbei. Da kam die Frau des Besitzers mit einem Sammelteller in unsere Nähe, und ich wollte mich eben davon drücken, wie wir Buben das in solchen Fällen sonst getan hatten, aber das schöne und anständige Wesen neben mir legte mir in aller Stille eine moralische Verpflichtung auf, so daß ich männlich in die Tasche griff und ein paar Nickel in den Teller legte: „Für uns beide,“ sagte ich wie selbstverständlich, und die Frau dankte achtungsvoll. Da überkam es mich wie eine heimliche Besitzerfreude, daß ich für Maidi bezahlt hatte und sie in diesem Augenblick zu mir gehörte, und es flog mir durch den Sinn, daß ich ungeheuer arbeiten wolle die nächsten Jahre, weil ich es bald zu etwas Rechtem bringen müsse. Aber es war nur so ein Augenblicksgedanke, und der nächste mußte wieder hier auf dem Platze sein, sonst verging etwas von dieser Stunde, ohne daß ich es genoß. Sie war ohnehin vorbei, eh' man es dachte. Vom hohen Kirchturm herunter schlug es sieben Uhr, und Maidi sagte mir wie erwachend, daß sie nach Hause müsse, und gab mir die Hand, als ob wir täglich beisammen wären. Aber als ich ihr mit plötzlichem Ernst sagen wollte, daß ich sie nun wahrscheinlich nie mehr sehe, weil ich in die Fremde gehe, sah sie drüben zwischen den Buden ihren Großvater gehen, der den Hut in der Hand trug, und in der ganzen Pracht seiner silbernen Haare und seines heiteren Gesichts einherschritt, und sie ging rasch davon, um ihn noch einzufangen und winkte nur noch einmal mit Hand und Augen grüßend zurück. Ich sah die beiden miteinander gehen und sah wohl, daß sie eines Blutes und einer Art waren: königlich, heiter, vornehm und frei. Mich aber hatte nur ein Sonnenstrahl getroffen, der gerade vorüberflog. Doch hatte er mein junges Blut erfreut und erwärmt, und es malte mir nun zum Dank tausend Bilder, die eine schöne, freudige Zukunft gaben. Ich hatte aber freilich noch nie daran gezweifelt.
Wenn ich jetzt an meine Lehrjahre denke und sie an mir vorbeigehen lasse, so wundert es mich immer aufs neue, wie zufällig und ohne Einmischung von irgend einer väterlichen oder beratenden Stimme, ausgenommen meinen Rektor, meine Berufswahl vor sich gegangen war. Ich hatte wohl einen Vormund, den bäuerlichen Vetter, den ich damals mit der Mutter auf ihrem letzten Wege besucht hatte, aber er war froh, wenn wir Geschwister uns selber rieten, und sagte zu allem Ja und Amen. So sah ich mich auf einmal in der neuen Umgebung auf eine Bahn gestellt, von der ich gar nicht wußte, ob ich für sie und sie für mich tauge und von deren Möglichkeiten ich wenig genug kannte. Es hätte aber schlimmer ausfallen können, als es geschah, denn ich hatte tüchtige Lehrmeister, wenn auch meiner Meinung nach nicht die angenehmsten, nämlich lauter ältere Männer, die einer um den andern so vertrocknet waren, wie alte Wüstenheilige; wenigstens kamen sie mir so vor. Sie waren alle, ein Buchhalter und ein paar Gehilfen, schon lang im Hause Hagenau, dem sie mit großer Zähigkeit anhingen, und wußten, wie es mir schien, nichts Besseres, als auch vollends darin abzusterben, was mich mit Grauen und einem zornigen Widerstand erfüllte. Ich kam mir vor wie das Entlein auf dem gefrierenden Teich im Märchen, das rudert und rudert, um nicht mit einzufrieren, und das eines Morgens dennoch tot im Eise steckt, so frostig dünkte meiner warmen Jugend das umgebende Alter, dem ich dennoch nicht entfliehen konnte. Doch muß ich ja sagen, daß man in unreifen Jahren die Altersgrenze bei andern, die einem um ein Stück voraus sind, niedrig genug steckt, und sie erst sachte hinauszurücken anfängt, wenn man selber dabei in Betracht kommt. Es war vielleicht nicht gar so weit damit bei den Herren, von denen nur einer, der die Bücher führte, angegraute Haare hatte, während ein anderer, der sein intimer Freund war, mit einer tüchtigen Glatze herumlief, was mir alles für mich selbst in unendlichen Fernen zu liegen schien. Heute denke ich schon etwas anders darüber. Der Buchhalter war mir eigentlicher und nächster Vorgesetzter, da der lederbraune Herr Hagenau stets in seinem kleinen Privatkontor steckte und nur zu besonderen Gelegenheiten daraus hervorkam, wo er mich kaum beachtete; wenigstens kam es mir so vor. Das war mir einesteils angenehm, da ich mich törichterweise schämte, von ihm gesehen zu werden, wenn ich, der ich noch vor kurzem ein Primaner gewesen war und ein Student hatte werden wollen, nun Dinge zu tun hatte, die jeder frisch entlassene Volksschüler auch konnte, denn die geschäftserfahrenen Herren schenkten mir nichts von allem, was einem Lehrling gebührt. Ja, sie hielten mich wohl grundsätzlich ein wenig drunten, als sie meine junge Überheblichkeit bemerkten, der dies und jenes unnötig erschien, was durch Brauch und Herkommen geheiligt, sein und geschehen mußte, und das mir tödlich langweilig war. Ich hatte nicht von ferne gedacht, daß es solches auf der Welt gebe. Da waren Register zu führen von solcher Umständlichkeit, und die so vielfach verästelt waren, daß es mir vorkam, als ob ein findiger Kopf, dem es zugleich um eine tüchtige Bosheit zu tun gewesen sei, ein System ausgeheckt habe, das unzweifelhaft alle, die sich damit befaßten, in die Irre und im Kreis herum führen müsse.
Einmal getraute ich mir, einem der Gehilfen, der es mir auseinandersetzte, einen Vorschlag zu machen, wie man irgend ein Ding meiner Ansicht nach etwas einfacher angreifen könnte. Aber der sah mich von seinem Schreibbock herunter an mit einer strafenden und doch milden Überlegenheit, daß mir das Blut in den Kopf stieg vor Scham und ich mich über meine Zettel beugte, ohne mehr ein Wort zu sagen. Ich sah wohl, ich mußte mich da durchbeißen, es war nichts anderes zu machen, und nach und nach kam auch ein Sinn in das Irrsal. Aber lieber war es mir doch, wenn die Bücher selbst durch meine Hand gingen und ich einen Blick hinein tun konnte, gerade lang genug, um zu sehen, daß es für mich noch unabsehbare Goldfelder umzupflügen, Meere zu befahren, Bergwerke auszugraben gab in der Welt der Dichter und der Weisen. Nach und nach fingen einzelne Namen an, aus den vielen anderen herauszuglänzen, wie an dem unübersehbaren Sternenhimmel dem Liebhaber und Beobachter, je fleißiger er hinaufschaut, einzelne herausleuchten in besonderer Klarheit, um die sich dann wieder andere zu sammeln scheinen in milderem Glanze. Wenn mein Prinzipal im Laden stand und etwa mit einem der bekannteren Kunden verhandelte, so konnten sie miteinander in ein Feuer geraten über dies oder jenes Buch, daß der trockene und etwas angestaubte Mann wie verjüngt und verwandelt schien. Dann horchte ich auf meiner Leiter oder wo ich gerade war, und beschloß, mir das Kleinod dem Inhalt nach auch anzueignen, denn es stand mir ja die ganze Schatzkammer offen. Ich fing an, in meinen Freistunden zu lesen, über Mittag und am Abend bis tief in die Nacht hinein und es schien mir, als ob ich nicht aufhören könne, ehe ich alle Schönheit und allen Reichtum in mich hineingetrunken hätte, und kam mir ja freilich dazwischen hinein vor wie das Knäblein des heiligen Augustin, das in seine kleine Schale das große Weltmeer fassen wollte.
Aber ich hätte mich vielleicht doch verirrt in den weiten Gärten der schönen Literatur, denn dahinein zog es mich zuerst und mit aller Macht, wenn sich mir nicht ein besonderes Schloßgärtlein aufgetan hätte, in dem das Schönste vom Schönen blühte. Es war ein kleiner, offener Mahagonischrank, mit Büchern angefüllt, der in dem Zimmer des Fräulein Brigitte Hagenau stand. Das war die Schwester des Prinzipals, und ich kann kaum erwarten, von ihr zu reden.
Ich habe bei ihr viel für meinen Beruf gewonnen, was mir sonst niemand geben konnte; aber noch mehr fürs Leben. Die Werke der Dichter hatten eine stille Heimat bei ihr; sie sprach von den besten unter ihnen als von ihren Freunden und lehrte mich, den Edlen aufgeschlossen und ehrfürchtig entgegen zu kommen, nur dadurch, daß sie selbst es tat. Was echt war und aus den Tiefen des Lebens stammte, das nahm sie freudig auf, und lehnte alles Halbe, Oberflächliche, oder was nach Gunst und Mode ging, ab; so war sie mir ein Wegweiser, als ich dessen sehr bedurfte, und glücklicherweise ohne einen solchen darstellen zu wollen.
Ich hatte noch nie gesehen, daß man so las wie sie, die ein Buch genoß, wie man edlen Wein aus kristallenen Kelchen langsam schlürft, zugleich den Duft genießend mit dem kühlen Labsal; ich selbst hatte, von dem großen Reichtum berauscht, angefangen, eins ums andere zu verschlingen, wie man wohl an heißem Tage ein Glas Apfelmost nach dem anderen mit langen, durstigen Zügen leert, ohne doch mehr davon zu haben, als den prickelnden Reiz, mit dem er durch die Kehle fließt.
Nun, ich war jung und fing erst an, in dieser Welt daheim zu werden; sie aber lebte schon lang darin und verlangte nichts von mir, was meinen Jahren nicht natürlich war, denn sie war keine vorsätzliche Einwirkerin, sondern lebte, wie sie ihrem Wesen nach mußte, ohne damit Schule zu machen.
Es war viel anderes, was ich von ihr hatte, und mehr, was ich hätte haben können, wenn ich den Sinn dafür gehabt hätte. Sie ist einer der wenigen Menschen aus meinen jungen Jahren, an die ich ohne Leid und Reue zurückdenken kann, und wenn ich auch zuzeiten manches vergaß oder in den Winkel stellte, was Lebendiges von ihr hätte mit mir gehen und mein Tun bestimmen sollen, so habe ich doch sie selber verehrt und sie hochgehalten, und sie ist mir gut gewesen wie eine Mutter oder eine Freundin.
Davon will ich nichts vergessen.
Als ich sie zum erstenmal sah, erschrak ich vor ihr, denn sie war klein und stark verwachsen und hatte den Kopf tief zwischen den Schultern sitzen. Sie saß mir am Tisch gegenüber, neben ihrem Bruder, und sprach unbefangen, frei und heiter, fragte mich nach der Reise, von der ich gerade erst herkam, und nach allerlei anderem und war in allem ein Mensch, der dem Schicksal gewachsen oder sogar überlegen ist, da sie doch mit einem mißratenen Körper hausen mußte und von Rechts wegen hätte bedrückt und kleinlaut sein sollen meiner Meinung nach. Denn ich begriff nicht, wie man leben und dazu noch heiter sein mochte, wenn man nicht aufrecht und gerade gewachsen war.
Es sahen auch lauter stattliche Leute auf sie hernieder von den Wänden, nämlich eine Anzahl von gemalten Vorfahren, die mit klugen und aufrecht getragenen Köpfen unter feinen Hauben oder Perücken hervor zu fragen schienen, wie eins aus der Familie so kümmerlich habe werden können, und deren Gesichter sie aber nicht im mindesten zu scheuen schien. Im Gegenteil blickte sie aus großen grauen Augen warm lebendig drein und hatte alle Augenblicke ein solches Lächeln um den Mund, als ob sie über alles hinüber inwendig etwas freue, und ich hielt mein Gesicht nicht im Zaum, das sie erstaunt betrachtete.
Es fiel mir auch auf einmal ein Spiel ein, das wir daheim gehabt hatten mit zerschnittenen menschlichen Figuren, die man wechselsweise zusammensetzen konnte nach Belieben; und es fuhr mir so durch den Sinn, daß hier aus Versehen oder im Spiel ein feiner, wohlgebildeter Kopf auf ein Körperlein gesetzt sei, das ihn nicht aufrecht zu tragen vermöge, während vielleicht anderwärts ein grotesker Schädel auf schönen, schlanken Schultern ruhe und man nun die Figuren wieder verwechseln müsse, daß sie in Richtigkeit seien.
Darüber kam mich ein kleines dummes Lachen an, das ich mit aller Mühe nicht schnell genug erwürgen konnte, und plötzlich sah ich die schönen Augen der Hauswirtin groß und ein wenig verwundert auf mir liegen, so als ob sie schon alles wüßten, und kam mir unter ihnen wie ein rechter Schulbub vor, da ich doch hatte in allem Ernst mit der Männlichkeit anfangen wollen.
Sie ließ es mich aber nicht entgelten, sondern lachte mich auch ein wenig an ohne alle Empfindlichkeit, aus einer ganz jugendlichen Seele heraus, die alles versteht, was junge Dummheiten sind, so daß ich mit einem Schlag für sie gewonnen war und ihr am liebsten alle meine Gedanken gesagt hätte.
So kann es zugehen, daß man einen achtzehnjährigen Jüngling gewinnt, habe ich später oft gedacht, denn es wissen es nicht alle Leute so gut anzugreifen. Aber es gibt freilich auch nicht viel Brigitten.
An jenem Abend, den ich noch ein wenig vor mir ausbreiten will, weil es der erste war, stand sie gleich nachher auf und ging ans Klavier, da spielte sie ohne Noten eine Musik, welcher der Bruder, in einer Ecke sitzend, mit in die Hände vergrabenem Kopf zuhörte und welche mich fremd und geheimnisvoll berührte. Ich hatte bis jetzt noch nicht viel Musik gekannt, und jedenfalls gar keine intime, wie diese hier, die eigentlich nur auf einen Zuhörer berechnet war, denn ich, das fühlte ich wohl, saß nur dabei und störte vielleicht sogar. Aber ich schaute doch aufmerksam nach dem Klavier hin und mußte mich wundern, wie sicher und kräftig das Fräulein mit schlanken, schönen Händen auf den Tasten herumregierte und das Instrument nach einem inneren Wissen zum Erklingen brachte, so, daß es inwendig in mir mitklang.
Ich mußte an daheim denken, an meine Mutter und an Heinrich Kilian, die beide schon lange vom Leben hinweggegangen waren, und die mir nur ganz selten einfielen, und auch an meine Schwestern, wie sie morgens an der Eisenbahn gestanden waren in ihren grauen Regenmänteln und mit ihren freudlosen Gesichtern, die meinem Fortgehen galten. Es rührte sich allerlei in mir, daß ich ihnen gern ein gutes Wort gesagt hätte, weil sie immer im Geschirr stehen mußten und nie hinauskamen, und weil ihnen nie etwas zu viel war für mich. Aber sie waren nun fern von mir, und am Ende hätte ich doch nichts gesagt, wenn ich sie dagehabt hätte, denn es war nicht der Brauch bei uns. Das machte alles nur die Musik, ich wußte nicht, wie es zuging.