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DER ERSTE FREIER

„Wisst ihr nicht, dass ihr Gottes Tempel seid und der Geist Gottes in euch wohnt? – Denn der Tempel Gottes ist heilig, und der seid ihr.“

(1 Kor 3, 16)

Zeitsprung

Es fällt mir auch jetzt noch, im sechsten Lebensjahrzehnt, nicht leicht, mich bei einem Arzt auszuziehen. Ich bin in letzter Zeit, dem zunehmenden Alter geschuldet, häufig bei verschiedenen Ärztinnen und Ärzten. Ich suche sie aus nach der Kompetenz, die ich ihnen zuspreche, oder weil sie mir aus erlauchtem Munde empfohlen werden, nicht nach Geschlecht. Wenn es dann ein Mann ist, fällt mir das Ausziehen schwer. Ich muss es bewusst tun und muss mich daran erinnern, warum ich mich dazu entscheide. Obwohl ich schon so alt geworden bin, obwohl ich deutlich spüren kann, dass der Arzt meinen Körper als den Körper einer Patientin ansieht und untersucht, nicht als jenen einer Frau. Diese Scham erlebe ich wie einen Schutz um mich herum. Meine Scham hilft mir, mich zu schützen. Es mag irrational sein. Es mag unverständlich sein. Wieso kann ich denn da nicht einfach „drüber“ stehen? Weil ich mich schäme! Und weil ich froh bin, dass ich mich schämen kann. Wieder schämen kann. Denn meine Scham war in früheren Zeiten wie zerstört. Es hat lange gedauert, bis sie wieder gewachsen ist, bis sie ihren Weg zurück zu mir gefunden hat. Und nun passe ich gut auf sie auf.

Ich mag keine FKK-Strände, und in die Sauna gehe ich entweder am Damentag oder ich lege mein Handtuch erst in der dunklen Sauna ab. Ich wähle aus, wen ich meinen Körper sehen lasse. Es ist mir eine intime und private Angelegenheit. Ich bin scheu. Nackt kann ich gut sein bei dem Mann, den ich liebe, bei meinen Kindern, bei meinen besten Freundinnen, bei einer Ärztin. Alles andere ist für mich schwierig, und im Grunde mag ich es nicht.

Neulich sitze ich mit einem guten Freund im Café zum mittäglichen Brunch. Wir haben viel Zeit, genießen das Beisammensein und das köstliche Mahl. Wir reden über Gott und die Welt im Wortsinne, und plötzlich kommen wir auf eine spinnerte Idee: Wofür würden wir uns jetzt hier im vollbesetzten Café vor aller Augen ausziehen und nackt auf den Tisch setzen? Geld als Anreiz ausgeschlossen, zu langweilig. Was müsste geschehen, dass wir das jetzt und hier täten? Welche Umstände würden uns zu diesem abstrusen Verhalten bringen? Was haben wir für einen Spaß, so frei vor uns hin zu spinnen! Und welch witzige Ideen da antanzen! Der Hauptwitz besteht darin, dass fast alle Ideen, die uns einfallen, eben keinen hinreichenden Anreiz bieten. Das Gespräch wird ernst. Was am Ende bleibt, ist: Wenn wir mit dieser Aktion eines Menschen Leben retten müssten und könnten, dann zögen wir uns hier und jetzt auf dem Tisch vor aller Augen nackt aus. Oder: Wenn wir damit verhindern könnten, dass ein von uns geliebter Mensch weggehen muss, weit weg, ohne von uns weg zu wollen. Oder wenn wir einen geliebten Menschen befreien könnten damit. Alles andere ist zu schwach. Alles andere wäre schwächer als die starke Scham, sich in der Öffentlichkeit den Augen aller nackt auszusetzen.

Wie uns zum Nachtisch Death-by-Chocolate serviert wird – ein Schokoladenkuchen, der nur so und keinesfalls anders heißen kann –, fühle ich mich fast ein wenig heroisch. Um eines Menschen Leben zu retten oder um mich für einen geliebten Menschen einzusetzen, sonst nicht! Wie kostbar, diese Scham zu haben, dass ich es für nichts weniger täte. Und wie kostbar, diese Freiheit zu haben, dass ich es für dieses Eine, ohne mit einer Wimper zu zucken, täte! Sofort und gleich jetzt.

Außensicht

In roten Stiefeln in die Hände fremder Männer

Ich ging in die Stadt. Meine Idee war, dass rote Stiefel angemessen seien. Ich kaufte mir rote Stiefel, halbhoch, Investition mit Absatz. Irgendwie sahen sie schon „nuttig“ aus. Ich trug dazu ein eng anliegendes rotes Kleid. Ich war zufrieden mit mir, setzte mich in ein Café, um meine neuen Stiefel einzuweihen. Ich saß und sinnierte, was diese Stiefel mit mir machen. Mir fiel ein Mann auf, Mitte vierzig, der etwas zu oft an mir vorbeiging, mich ansah, als suchte er etwas an mir. Als hätte er eine Frage. Ich lächelte ein wenig, als wüsste ich, was ich nicht tat in diesem Moment. „Ich bin ab jetzt unterwegs in Sachen Sex gegen Geld“, dachte ich mir. Ich hatte die Anzeige ja schon aufgegeben. Da konnte ich doch gefahrlos mit meinem roten Schuhwerk fremde Männer anlächeln. Mein wissendes Lächeln war für ihn offensichtlich eine Antwort auf die mir unbekannte Frage. Er setzte sich an meinen Tisch. Ich hielt den Blickkontakt. Alles, was gerade geschah, war mir unbekannt. Was weiß er, was ich nicht weiß? Welche Selbstverständlichkeit geschieht gerade? Mein Raum- und Zeiterleben setzte wieder ein, als ich hörte, wie er mich ansprach. Was es kostet bei mir? Einfach so fragte er. Ohne Einleitung, ohne Überleitung. Darauf war ich nicht gefasst. Er fragte interessiert. Seine Frage hatte nichts Unsicheres, auch nichts Beleidigendes. Er rechnete offensichtlich nicht damit, dass ich entrüstet oder empört reagierte. Er erwartete ganz einfach eine Antwort. Was geschah hier, und wieso ging alles plötzlich so schnell? Etwas in mir navigierte wie auf Autopilot. Etwas außerhalb von mir sehe ich mir staunend zu. Ich sehe eine junge, aufreizend gekleidete Frau mit roten Stiefeln an einem Tisch in einem Café sitzen. Umgeben von anderen Tischen, Torten, Menschen. Sie blickt einen Mann, der an ihrem Tisch sitzt, direkt an. Er ist mindestens zwanzig Jahre älter als sie, trägt einen Anzug, Krawatte. Sie blickt souverän, ruhig, sicher. Sie nimmt ihre Tasse in die Hand, führt sie zum Mund, trinkt, über den Tassenrand hinweg hebt sie ihre Augen: „Das kommt darauf an, was du haben möchtest.“ Warum duze ich diesen fremden Mann plötzlich? Er antwortet so selbstverständlich, als kennten wir uns und hätten dieses Gespräch schon viele Male geführt. Hat er wahrscheinlich auch, nur nicht mit mir. Und da er nicht mich meint, da ich in diesem Szenario austauschbar bin, ist ihm die Konversationsfolge vertraut. Wir könnten mit seinem Auto auf einen Parkplatz fahren, und ich könnte ihn „verwöhnen“, meint er süffisant. Was das kostet? Fünfzig Mark, sagt die Frau mit den roten Stiefeln – so ins Blaue hinein. Er ist sofort einverstanden. Sie zahlt ihren Kaffee, beide stehen auf, gehen hinaus und die Straße entlang, bar jeder Angst steigt sie in seinen Wagen. Sie fahren auf einen ihm offensichtlich bekannten, abgelegenen Parkplatz, er gibt ihr fünfzig Mark, sie „verrichtet“ die Dinge, er fährt sie zurück in die Stadt. – Es gab nun diese souveräne Frau mit den roten Stiefeln. Sie wusste, was zu tun, was zu sprechen, wie sich zu bewegen. Und mich gab es auch noch. Nur verstand ich nichts. Ich fühlte auch nicht. Ich befand mich in einem unwirklichen Nebel. In diesem Nebel gab es mich und gab es diese Frau mit den roten Stiefeln, und wir gehörten irgendwie und nebelartig zusammen.

Ich fahre nach Hause, betrunken vom Nebel. Die fünfzig Mark wie eine Trophäe vor mir herschwenkend gehe ich auf unsere Eingangstür zu, stolz mit meinen roten Stiefeln. Ein Strahlen. Ich erzähle ihm alles, von Anfang bis Ende. Frage mich, warum ich dem Drängen nachgebe – Anerkennung, Lob. Gerne gebe ich die fünfzig Mark her. Merkwürdigerweise fühlt es sich an, als wäre es richtig, dass ich das Geld, das ich verdient habe, aushändige. Die Frau mit den roten Stiefeln ist sehr zufrieden mit sich. Ich bin in diesem Moment nicht dabei. Ein Verrat. Ein Verrat an der Liebe.

In den nächsten Tagen treffen die ersten Briefe auf meine Anzeige ein. Ich finde sie in meinem Postfach, das ich eigens dafür bei der Dorfpost eingerichtet habe. Nette und freundliche Briefe, ausführlich, zum Teil persönlich, zum Teil kurz und pragmatisch. Obszöne Briefe, oft mit beigelegtem Foto eines männlichen Gemächts und ausufernden Beschreibungen der eigenen Potenz, einer Hengstschau ähnlich. Aus den Briefen wird sofort deutlich, ob das Hauptaugenmerk des solventen Herren auf Sex „ohne viel drum herum“ liegt oder eher auf einem Treffen „mit viel drum herum“. Auf welche Briefe ich antworte, sortiere ich nach den Kriterien Schreibstil und Anstand. Dies scheinen mir valide Kriterien zu sein. Das Zeitalter der Mobiltelefone war damals noch nicht angebrochen. So wurde meist eine Telefonnummer angegeben zusammen mit einer Zeitspanne, innerhalb derer ich anrufen könne. Manche Männer baten um Kontakt über eine Postfachadresse. Das waren die, die „viel drum herum“ wollten.

„Geschäftstreffen“ zum Sex gegen Geld

Mein erstes Treffen mit einem Mann, zu dem der Kontakt über die Zeitungsanzeige hergestellt wurde, findet in seinem Büro statt. Er hat mir einen höflichen und klaren Brief geschrieben, mit Namen, seinem Alter und seiner Büroadresse. Er sei an einem Treffen mit mir sehr interessiert, er wisse mein „Entgegenkommen“ wohl zu honorieren, Terminvorschlag. Ich ziehe meine roten Stiefel an. Zum Abschied daheim bekomme ich aufmunternde Worte und sehe in leuchtende Augen. Das Büro des Mannes ist im Tiefparterre gelegen, ein großer, nüchtern eingerichteter Raum, Grau die vorherrschende Farbe, kühl, dunkel in meiner Erinnerung. So aufgeregt wie ich bin, so ruhig ist er. Es ist ein Geschäftstreffen, für das er, im Gegensatz zu mir, eine Agenda hat. Er unterbreitet mir seinen Plan, den ich zunächst nicht verstehe. Da ich zu diesem Zeitpunkt in den Gepflogenheiten dieses Gewerbes unbedarft bin, braucht mein Gehirn erstaunlich lange, bis es versteht, welchen Deal er mir unterbreitet. In meiner Vorstellung geht es jetzt darum, dass wir Sex haben und er mir dafür Geld gibt. Sein Plan ist jedoch etwas komplexer: Es soll schon um Sex gegen Geld gehen, doch darüber hinaus auch um eine Weitervermittlung. Er will Sex mit mir, und er will mich vermitteln. Es gebe eine Frau in örtlicher Nähe, die nette Damen wie mich vermittle an nette Herren wie ihn. Da er dieser Dame sehr zugetan sei – sie sei nämlich eine besonders nette Dame –, vermittle er ihr gerne neue nette Damen – wie mich jetzt –, wenn ich zustimme. Darüber freue sich die nette Dame und stelle ihm als Gegenleistung hin und wieder eine nette Dame – kostenfrei – zur Verfügung. Für mich sei es sehr praktisch, diese nette Dame kennenzulernen, denn diese könne im Gegenzug mir den Kontakt zu netten Herrn – wie ihm – vermitteln. Wie sollte ich als nette Anfänger-Dame – woher weiß er das? – denn sonst so leicht an nette Herren – wie ihn – herankommen? Damit er (als netter Herr) mir (als netter Dame) den Kontakt zu der besonders netten Dame herstellen könnte, müsste ich (als nette Dame) mit ihm (als nettem Herrn) jetzt und hier Sex haben. Ich bekäme dafür jedoch kein Geld. Was er mir statt des Geldes gäbe, sei der Kontakt zur netten Dame, und zwar sofort danach. Diese habe sofort nachher schon einen anderen netten Herrn für mich, von dem ich Geld für Sex bekäme, wovon ich der netten Dame sicher gerne ein Drittel für die Vermittlung abträte. – So weit der Plan. Mein Gehirn arbeitet. Mein Gehirn rechnet. Meinem Gehirn scheint das ein guter Deal. Ich stimme zu.

Der Sex ist kurz und wie abgezirkelt, jede Bewegung bemessen. Er weiß genau, was er wie will. Ich bin verwundert, wie selbstverständlich er mit meinem Körper umgeht. Er kennt mich doch gar nicht. Was er kennt, was sein selbstverständliches Gebaren und seinen ungehemmten Umgang mit meinem Körper erklärt, ist, dass er im Gegensatz zu mir mit dem Setting vertraut ist. Er ist es gewohnt, mit einer Prostituierten Sex zu haben. Da er nicht mich meint, hat er auch keine Hemmungen. Er meint die Prostituierte. Mit der, in Stellvertretung für alle, ist er vertraut. Es wird eine emotionslose Abwicklung, als arbeite er einen Stapel Akten ab, Schreibtischarbeit – im Wortsinne. Ich spiele eine Rolle in einem Zweiakter ohne Drehbuch. „Gut warst du“, sagt er danach. Eine Mischung aus Verwirrung, Staunen, Stolz in mir. Was ist denn daran „gut“ gewesen? Was meint er mit „gut“? Ist es „gut“, wenn ich gut „spiele“? Ist es mein So-Tun-als-ob, was gut ist? Ist gut, wenn ich gar nicht dabei bin? Je weniger ich, desto besser? Irgendwie ist er auch nicht dabei gewesen. Er nicht dabei. Ich nicht dabei. Wir waren zusammen nicht bei dem, was wir taten. Das scheint er „gut“ gefunden zu haben.

Wir fahren zu der besonders netten Dame. Ein kleines Örtchen an der Weinstraße. Dorfidylle. Metzger, Bäcker, Kindergarten. Ein neu gebautes Mehrfamilienhaus am Dorfeingang, Durchgangsstraße. Klingelschilder ohne Namen. Ein neutrales, eher dunkles Treppenhaus, in den unteren Etagen je vier Einzimmerwohnungen pro Etage, wie ich später weiß. Wir gehen das Treppenhaus hinauf, bis ganz nach oben, mir ist es sehr unangenehm, vor ihm zu gehen. Er will, dass ich vor ihm gehe. Angst spüre ich nicht, es ist Unbehagen. Es ist mir unbehaglich, so gar nicht dabei zu sein. Im Dachgeschoss öffnet sich eine Tür zu einer großen Maisonette-Wohnung mit Dachterrasse, die ich durch die Tür hindurch sehe. Porzellanleoparden links und rechts. Sie sitzen so unbeweglich und stoisch, als wachten sie über die Einhaltung der Abwesenheit der Anwesenden. So kalt und glatt ihr Leib, so kalt und glatt soll sich hier das Leben vollziehen. Vollzug? Ja. Leben? Irgendwie schon. Lebendig? Eher nicht. Kalt? Ja. Glatt? Ich weiß es nicht.

Die Wohnung ist eingerichtet wie eine aufgeplüschte Puderdose mit Luxusquasten. Die nette Dame spricht sachlich mit mir, sie taxiert mich mit wenigen zielsicheren Blicken, versiert im Geschäft schätzt sie mich ein, dann erst bittet sie mich in die Puderdose, bedankt sich bei dem mich begleitenden Herrn, indem sie ihm eine Zimmernummer und einen Namen nennt. Ohne ein Wort der Verabschiedung hastet er förmlich ein Stockwerk tiefer. Er kann hasten, er ist ja nicht dabei. Eine Türklingel höre ich noch. In der Puderdose findet ein Vorstellungsgespräch auf dem Plüschsofa im Plüschkissen vor dem Plüschteppich statt, ein pudriges. Ich werde eingewiesen in die Puder-Modalitäten des Hauses: Die Dame stellt eine der Wohnungen für jeweils eine Stunde zur Verfügung, Reinigung inklusive. Sie stellt den Kontakt zu den netten Herren her. Sie bekommt pro Stunde von mir hundert Mark. Ich bekomme für die normalen Regelleistungen dreihundert Mark von dem jeweiligen netten Herrn. Alles extra kostet extra. Für die Vermittlung eines Abends, einer Nacht oder sonstiger Veranstaltungen gibt es Sondertarife. Wenn die Herren einen Hausbesuch erbeten, bekommt sie für die Vermittlung ebenfalls hundert Mark. Ich möge ihr mein Zeitfenster nennen. Sie ruft mich an, sobald sie einen Kontakt für mich vereinbart hat. Falls sie in Erfahrung bringen sollte, dass ich mit durch sie vermittelten netten Herren Kontakt habe, ohne ihr ihren Anteil zu entrichten, wäre ich raus aus dem Geschäft. Sie habe Kontakte. Sie erführe alles. Ich bin eingeschüchtert. Die Frau mit den roten Stiefeln nimmt das Angebot an. In die Wohnung unten links käme in zehn Minuten der erste nette Herr. Nebelartige Unwirklichkeit. Die Wohnung riecht statt ein- äußerst ausladend. Rieche nur ich das? Ekelhafter Gestank.

Innensicht

Der männliche Blick auf „käufliche“ Frauen

Im Café, ich mit meinen roten Schuhen, der Blick des Mannes auf mir. Sein verbindend-verbündeter wissender Blick sagt: „Ich weiß, wer du bist. Ich sehe, was für eine Frau du bist. Du bist käuflich.“ – „Ehrbare“ Frau versus „entehrte“ Frau. Als gäbe es diese Dualität.

Ein männlicher Blick, der die Frau in ihrer Ehre sieht, achtet mit dem gebührenden Respekt auf den Abstand, den die Frau braucht und den die Situation und die Umstände gebieten. Sieht ein Mann eine Frau als nicht im Stande ihrer „Ehre“ an, kann er sich den Respekt vor ihr sparen, braucht er folglich nicht auf die Wahrung des angemessenen Abstands zu achten. So einfach! Distanzlos kann er der Frau begegnen, zu schnell, zu nah, zu direkt. Auf diese Weise kann schnell „zur Sache“ gekommen werden, ohne „viel drum herum“. Und nur so kann Geld gegeben werden für etwas, was in jedem anderen Zusammenhang geschenkt wird.

Dieser männliche Blick ist komplex. Er besitzt drei Ebenen: Die eine Ebene bezieht sich auf die Weiblichkeit: „Du bist attraktiv für mich, begehrenswert.“ Diese Ebene kann stolz machen, sie anerkennt die Weiblichkeit der Frau. Eine zweite Ebene bezieht sich auf das Brauchen: „Du hast etwas, was ich brauche.“ Diese Ebene kann in der Frau ihr Bedürfnis des Gebrauchtwerdens ansprechen. Diese beiden Ebenen sind und bleiben dem Bewusstsein meist zugänglich. Sie wirken stärkend auf die Prostituierte. Es kann sich gut anfühlen, begehrt und gebraucht zu werden. Da jede Prostituierte ein „Davor“ hat, ist ihr begehrt und gebraucht und damit gewollt zu sein häufig besonders wichtig. Balsam auf vorhandene Verwundungen? Nur vermeintlich! Denn nicht sie ist gemeint – ihr Körper! Die dritte und verdeckte Ebene bezieht sich auf die Ehre der Prostituierten beziehungsweise auf deren vermeintliche Abwesenheit: „Du bist eine entehrte Frau, ich kann dir Geld geben, um Sex zu bekommen. Du bist käuflich.“ Auf dieser Ebene und in dieser Weise angesehen zu werden, schwächt und verletzt eine Frau – wenn es denn wahrgenommen würde. Deshalb wird die Wahrnehmung dieser dritten Ebene, anders als die der ersten beiden Ebenen, meist dem Bewusstsein entzogen und ins Unbewusste „verstaut“, so schnell als möglich!

Ausgleich durch Geld

Ausgleich ist in menschlichen Beziehungen zentral, Beziehung wird hergestellt durch fortlaufende Ausgleichsprozesse. Dem Wesen von Paarbeziehungen liegt zugrunde, dass der und die Eine etwas hat, was die und der Andere braucht. In einer gelingenden Paarbeziehung geben und nehmen beide gerne. Dies ist ein Ausgleich im Guten, welcher wechselseitig geschieht, aus Liebe, in gegenseitiger Zugehörigkeit, Bindung und Verbindlichkeit. Zum Ausgleich, zum Geben und Nehmen, zählt in der Paarbeziehung zentral die Sexualität – neben vielem anderen auch. Darüber hinaus ist sie auch und zuvörderst Geschenk. In der Prostitution hingegen fehlen diese immateriellen Werte: keine Zugehörigkeit, keine Bindung, keine innere Verbindung. Dem tiefen Ausgleichsbedürfnis folgend, geschieht hier etwas anderes: In der Prostitution erfolgt der zwischenmenschliche Ausgleich für Sexualität durch Materielles, durch Geld. Es ist jedoch ein destruktiver Ausgleich. Denn Geld für etwas zu bekommen, was im sonst gängigen gesellschaftlichen Kontext ohne den Austausch von Geld erfolgt, beschämt und entehrt. Materielles, also Geld, soll die Abwesenheit von Immateriellem, also zum Beispiel Liebe und Bindung, ausgleichen. Gefährlich!

Nur den sogenannten „Entehrten“, den nicht „ehrbaren“ Frauen, kann Geld gegeben werden für etwas, was eigentlich nur geschenkt werden kann. Nur hier scheint es angebracht, ohne Skrupel.

Man stelle sich ein verliebtes Paar vor. Die erste lang ersehnte gemeinsame Liebesnacht. Beide sind im Taumel ihrer Gefühle, ihrer Körper, ihres Glückes. Wie wäre es: Der Mann würde danach seinen Geldbeutel nehmen, ein paar Scheine auf das Kopfkissen der Frau legen. Die Frau wäre zunächst sicher fassungslos, sicher auch empört und tief getroffen. Denn es würde sie beschämen, es würde ihre Ehre verletzen. Die Beziehung wäre vorbei.

Ein weiteres alltägliches Beispiel: Wer auf der Straße freundlich von einem suchenden Menschen nach dem Weg zum Bahnhof gefragt wird, gibt – unserer gesellschaftlichen Konvention folgend – gerne Auskunft. Der fragende Mensch bedankt sich höflich als Ausgleich, ich antworte „Gerne“, freue mich, dass ich habe helfen können. Gäbe mir der Mensch, nachdem er von mir eine Auskunft erhalten hat, ein Geldstück in die Hand, würde ich mich beschämt fühlen, ich nähme es nicht an.

Welche Wirkung Geld im Ausgleich zwischen Menschen hat, ob es als angemessen wahrgenommen wird oder beschämt, hängt in großen Teilen zum einen von der An- oder Abwesenheit von Bindung und Zugehörigkeit, zum anderen von der jeweiligen Konvention ab.

Die Tragweite des Ausgleichs lässt sich auch noch an folgendem Beispiel ermessen: Man lädt Freunde zum Essen ein, kocht für sie, bedient sie beim Essen und achtet darauf, dass sie alles haben, was sie brauchen. Wir alle fühlen uns wohl. Als Gastgeber bekommen wir kein Geld dafür, dass wir unseren Freunden die Teller aufdecken, ihnen die Schüsseln reichen und am Ende das Geschirr abräumen. Eine groteske Vorstellung, wenn die Freunde dann dafür ihr Portemonnaie zücken und Geld auf den Tisch legen würden. Denn zwischen uns besteht eine Bindung, eine Form der Verbindlichkeit und Zugehörigkeit. Wir sind nicht austauschbar. Im Restaurant hingegen bin ich mit der Bedienung nicht befreundet. Wir haben weder Bindung noch Zugehörigkeit, wir haben Achtung voreinander und teilen die gesellschaftliche Konvention, am Ende Trinkgeld zu geben. Hier beschämt das Geld nicht.

Das erste Mal – eine unheilvolle Initiation

Jede Prostituierte, mit der ich im Laufe meines Lebens gesprochen habe, kann sich sehr genau an ihr „erstes Mal“ erinnern. Das erste Mal wirkt wie ein unheilvoller Initiationsritus. Es gibt ein klares Davor, ein klares Danach. Die Qualität von Unwirklichkeit, von unwirklichem Nebel, die sich bei meinem ersten Mal einstellte, war ein starkes Dissoziationssymptom. Auch das Gefühl, wie ferngesteuert, wie auf „Autopilot“ geschaltet zu sein, ist ein Dissoziationssymptom. Ein Teil meines Erlebens musste sich ausschalten. Ein Teil von mir ging weg, war nicht mit dabei, wurde abgespalten. Das war zunächst eine Erleichterung. Vom Fühlen weggehen, vom Schauen weggehen, vom Ekel weggehen. Hingehen zu dem Teil, mit dem die Ich-Identifikation stattfindet: Ich bin selbstbestimmt. Ich bin mutig. Ich bin begehrenswert. Ich bin gewollt.

Schon beim ersten Mal merkte ich, wie schnell der Mann, nachdem alles zur Zufriedenheit „verrichtet“ war, weg wollte. Ich wollte das auch. Es war ein beidseitiges, schnelles „Rückabwickeln“. Mit dem Auto zurückfahren, aussteigen, fertig. So aufgeladen und sich steigernd die erste Phase war, so nüchtern und schnell die letzte. Diese Abfolge blieb. Wie eine unausgesprochene, doch allen Beteiligten bekannte Regieanweisung erlebte ich diese Abfolge in allen Prostitutionskontexten. Schnell raus und schnell ins „Normale“ zurück – dies habe ich bei den Freiern, bei mir selbst wie auch bei anderen Prostituierten erlebt. Dieses fast schon ritualisierte Verhalten ist mit dem Teil des Selbst verbunden, der weiß, dass das, was eben getan wurde, in gewisser Weise nicht stimmt, nicht guttut. Es nimmt etwas Schaden in einem selbst, in der Frau, im Mann. Die Psyche nimmt wahr, dass ein Teil Schaden nimmt. Also schnell raus, schnell zurück. Als ob es durch ein schnelles Rausgehen ein Ungeschehenmachen gäbe. Als wenn es ein Zurück gäbe. „Nunca atrás!“ Niemals zurück!

„Neue“ Frauen sind begehrt bei den Männern. „Frischfleisch“: eine abwertende Benennung, doch sie trifft den Kern. Das Unverbrauchte, das Unerfahrene und Unwissende ist attraktiv. Jungfräulich trifft es nicht in der Sache, doch in der Qualität. Die erfahrenen Frauen haben die Qualität der Wissenden, die bekannten Frauen haben die Qualität des Bekannten, doch sie alle werden übertrumpft durch die in der Prostitution neuen Frauen mit ihrer „jungfräulichen“ Qualität. Ein Privileg, der erste Mann einer Jungfrau zu sein? Es sind vermutlich archaische Muster, die hier greifen und den „Marktwert“ erhöhen: Die Jungfrau, unberührt, rein, vertraulich, sanft. Drachen und Engel sind ihre Begleiter.

Geld für „verrichtete“ Sexualität

Die Sexualität wird „verrichtet“. Nach „Verrichtung“ der Dinge. „Verrichtungs-Container“ werden in Städten aufgestellt, zur Verrichtung der Dienstleistung. Sein Geschäft verrichten. Merkwürdiges Wort in einem merkwürdigen Zusammenhang. Des Merkens würdig. Des Aufmerkens würdig. Nach der „Verrichtung“ bleibt eine des Merkens würdige Anmutung des Schnell-hinter-sich-Bringens zurück. Etwas Unangenehmes bleibt. Insofern ist das Wort Verrichtung, so abwertend und unpassend es im Kontext der Sexualität erscheint, doch in gewisser Weise zutreffend. Unangenehm, es muss eben getan werden, schnell hinter sich gebracht werden, damit es „rum“ ist. Wie traurig das doch wirkt. Wie traurig im Zusammenhang mit gelebter Sexualität zwischen Menschen. Die Sprache bringt es an den Tag.

Ein Mann sagt zu der Prostituierten, nachdem er entsprechend seinem ihr gezahlten Geld seine Verrichtung getätigt hat: „Gut warst du.“ Was passiert da? Was meint er? Was war gut? Wieso gut? Und was passiert mit der Frau? Zunächst meint die Aussage: „Ich bin fertig.“ Der Mann meint: „Ich bin befriedigt.“ Auch ein „Danke für das, was ich bekommen habe“ schwingt mit. „Gut“ bedeutet in diesem Zusammenhang: „Das, was ich wollte, wofür ich bezahlt habe, habe ich bekommen.“ Der vermeintlich simple Zusammenhang hat tiefgreifende und sehr verzweigte Facetten. Deshalb komme ich auch in anderem Zusammenhang später darauf wieder zurück. Hier hat die Frau es folglich verstanden, den Mann mit seinen Vorstellungen umfänglich zu sehen. Nicht nur das, was er sagt zu wollen, auch das, was er nicht sagt und doch will. Nicht nur seine ausgesprochenen Wünsche und Bedürfnisse sind von der Prostituierten zu erfassen, zu verstehen, zu erahnen, sondern auch seine nicht ausgesprochenen. Seine bewussten, „gewollten“ Szenarien, auch seine nicht bewussten, nicht seinem bewussten Wollen zugänglichen Szenarien. Wenn eine Prostituierte sich an dies alles anzupassen versteht, dies alles zu inszenieren weiß, das, was sie tut, darauf einstellt, dann ist sie „gut“. Dann sagt der Mann: Du warst gut. Das Konglomerat aus zugänglichem Wollen, sexueller Fantasie, physischen Begierden, darunterliegenden Bedürfnissen, nicht zugänglichen Impulsen und Gegenimpulsen, im Kontext der Sexualität auflebenden Geboten und Verboten ist riesig. Dies alles aufzunehmen, sich an das ausgesprochen Gewollte wie an das nicht ausgesprochen darüber hinaus auch Gewollte anzupassen, die Impulse wie die Gegenimpulse zu erfassen, aus allem ein konkretes Verhalten folgen zu lassen, das ist die Aufgabe der Prostituierten. Auch dafür, vielleicht sogar gerade dafür, wird sie bezahlt. Eine Dienstleistung im Wortsinne, bei der der Auftraggeber nur einen Teil seines Auftragswunsches expliziert. Der nicht ausgesprochene Wunsch muss ebenso, vielleicht sogar stärker noch als der ausgesprochene, Berücksichtigung finden, damit der Mann „gut“ sagen kann. Dieser Vorgang vollzieht sich meiner Erfahrung nach eher intuitiv als bewusst gesteuert. Es scheint eine unbewusste Absprache und Einschwingung zwischen dem Freier und der Prostituierten zu geben, was gewollt wird, was geschieht. In diesem Sinne könnte man eher von „Werkvertrag“ als von „Dienstvertrag“ bei der Prostitution sprechen. Die Frau wird vordergründig für ihren „Dienst“ entlohnt – im Grunde wird sie jedoch entlohnt für die Vollbringung eines konkreten „Werkes“, dessen Vollendung sich ausschließlich und einseitig aus der Befriedigung der bewussten und unbewussten, der expliziten und impliziten Wünsche des Mannes definiert. Diesem „Werkvertrag“ stimmt die Prostituierte zu. Sie stimmt dieser einseitigen Befriedigung des Mannes in aller Komplexität zu. Will die Frau nicht, stimmt sie nicht zu, sagt der Mann nach der Verrichtung nicht „gut“ oder es kommt zu Gewalt. Er holt sich, was er will, ohne Einstimmung und Zustimmung der Frau. Dann geschieht die Verrichtung einseitig. „Gut“ war es dann nicht.

Die Prostituierte hat eben nicht – wie sie sich selbst anpreisen muss oder angepriesen wird – besondere Vorlieben, die sie „gerne“ auslebt. Sie passt sich mit dem, was sie als eigene Vorliebe ausgibt, an. Entweder an den Markt, also: Was wird gerade gewünscht und gebraucht? Wovon gibt es zu wenig? Womit habe ich ein relatives Alleinstellungsmerkmal? Oder sie schließt an ihre Erfahrung an: Was kann ich besonders gut? Was fällt mir leicht? Eine eigene Vorliebe ist es nicht. Denn dann würde sie diese Vorliebe auch in ihrer eigenen Sexualität leben, fernab des pekuniären Kontextes. Das tut sie nicht. Eine Frau, die angibt, sie stehe auf Lacklederstiefel beim Sex, auf rote Unterwäsche oder Windeln, trägt diese Kleidung nicht bei dem Mann, den sie liebt.

Auch in der Qualität, wie sie dem Mann begegnet, muss die Prostituierte sich auf den Mann einstellen: eher weich, zurückhaltend, anschmiegsam, nachgiebig, willenlos oder eher führend, fordernd, Grenzen setzend, bestimmend. Wann eher in der einen Qualität? Wann eher in der anderen Qualität? Sie muss im Moment erfassen, wann welcher Wechsel ansteht, welche Zeichen was bedeuten mögen, welcher Gesichtsausdruck, welche Körperhaltung, welches Atmen, welcher Blick. Aus dem Repertoire, das ihr zur Verfügung steht, wählt sie das ihr passend und adäquat Erscheinende aus, beobachtet die erzielte Wirkung, adaptiert weiter und weiter, so lange, bis das „Werk“ verrichtet, vollbracht ist. Während ihrer gesamten „Leistungserbringung“, von der ersten Kontaktaufnahme bis zur Verabschiedung, stellt die Prostituierte sich im Gesamten ein auf das, was der Mann, der zahlt, sagt zu wollen und will, ohne zu sagen. Kein anspruchsloses Unterfangen. Auf dieses „Gesamtkunstwerk“, auf dieses Werk in der Gesamtheit der Kunstfertigkeit, auf die Fertigkeit in dieser Kunst, bezieht sich der Mann, wenn er „gut“ sagt. Dafür zahlt er. Dafür erhält die Prostituierte das Geld.

Heutige Sicht

Die unheilvolle Verbindung von Sex und Geld

Die Verbindung von Sexualität und Geld ist eine unheilige. Es ist eine nicht heile Verbindung. Ihre Existenz rechtfertigt nicht ihre Gutheißung. Wir müssen eine neue Perspektive wagen, einen anderen Blick einnehmen, eine Vision entwickeln. Wir müssen über das Ziel hinaus zielen, um es zu treffen.

In Kurzfassung lautet das aktuelle Credo: Jeder, wie er will. Jede, wie sie will. Wenn also sie im Tausch gegen Geld will und er im Tausch gegen Geld will, sollen sie doch. Ist doch ihre Sache. Wenn es ihnen Spaß macht und alle erwachsen sind … bitteschön. – Ja. So kann man denken. Soll die Alkoholikerin sich doch zu Tode saufen. Soll sich der Lebensmüde doch vom Dach stürzen. Bitteschön. – Möglich ist diese Sicht. Sie greift jedoch zu kurz. Sie erfasst die Tiefe nicht. Alkoholismus und Depression zum Beispiel sind keine Ausdrucksformen von Vitalität. Sie sind Ausdrucksformen von Leid. Prostitution ist keine Ausdrucksform von Lust. Auch sie ist eine Ausdrucksform von Leid.

Es ist möglich, sich lediglich mit der Oberfläche der Erscheinungen zu beschäftigen. Es ist möglich, sich ablenken zu lassen von Worten und Bildern, nicht tiefer zu verstehen. Die Oberfläche, das ist das glamouröse Bild des gutverdienenden Callgirls, des hedonistischen Freiers, der sich am Feierabend eine freudvolle Abwechslung gönnt. Dieses Bild beunruhigt unser Gewissen nicht. Es genügt jedoch ein Blick in die Augen einer jungen Frau am Straßenrand – Leere, nicht anwesend –, die auf Freier wartet, und die Fassade bröckelt. Ein Blick in die Augen einer Frau – so voller Scham –, die erzählt, sie habe vor über zwanzig Jahren zweimal von einem Mann Geld genommen für Sex, und die Fassade wird brüchig. Ein Blick in die Augen eines Mannes – nur nicht gesehen werden –, der aus einem Bordell kommt, sich unsicher auf der Straße umsieht. Ein Blick in die Augen eines Mannes – hoffnungslos traurig –, der berichtet, dass seine Frau seit vielen Jahren, seit der Geburt des letzten Kindes, kein Interesse mehr an Sex mit ihm habe. Ein Blick in die Augen einer Ehefrau – waidwund, verletzt –, die erfahren hat, dass auch ihr Mann regelmäßig in den Puff geht. Diese Augenblicke enttarnen die Fassade von „Sollen sie doch machen“. Sie entlassen uns mit der Ahnung „Da stimmt etwas nicht“. Und das ist richtig: Es stimmt etwas nicht. Sex gegen Geld ist nicht in Ordnung. Und die Tatsache, dass Prostitution heute im gesellschaftlichen Konsens in gefährliche Nähe von Beliebigkeit und Normalität verschoben wurde, macht das Nicht-Stimmige schlimmer, denn es ist verborgener. Die Nicht-Stimmigkeit ist nicht mehr sofort und für jeden wahrnehmbar. In früheren Zeiten und heute an anderen Orten, in denen die Prostitution allgemein geächtet war und ist, war und ist es auch schlimm. Doch das Schlimme ist für jeden offensichtlich. Die Prostituierten wissen um ihre Schmach, die Freier verheimlichen nach Möglichkeit ihr Tun, die Kinder wachsen in dieser gesellschaftlichen Tradierung auf. Das macht die Thematik in keiner Weise besser, doch leichter erkennbar. Heute leben wir in einer Gesellschaft, die – nicht nur, aber auch zum Thema Prostitution – den gesellschaftlichen Diskurs so sehr an der Oberfläche führt, dass ohne tieferen Einblick und umfassendere Kenntnis der Thematik ein den tatsächlichen Gegebenheiten konträres Bild entsteht. Es führt nicht nur zum Nicht-Verstehen, es führt zum Missverstehen. Die Dissonanz lässt sich nicht ohne Weiteres auflösen. Man muss schon sehr genau hinsehen, hinfühlen, hindenken, um wahrzunehmen, dass da etwas nicht stimmt. Das ist der gefährliche Unterschied.

Während ich dieses Buch schreibe, wird in unserer Tageszeitung eine demnächst in Kraft tretende Neuregelung als Errungenschaft propagiert, der Straßenstrich solle auf die Zeit von zehn Uhr abends bis sechs Uhr morgens eingegrenzt werden. Dies diene dem Schutz der Jugendlichen, die vom Sport heimradeln, und der Anwohner, die sich belästigt fühlten, wenn sie mit ihrem Hund Gassi gehen. Und ebenso vermeldet die Zeitung, dass die Sozialversicherungsmöglichkeit für Prostituierte ein wichtiger Schritt sei auf dem Weg in die Normalität. – Also was jetzt? Normal oder nicht? Muss der Frisör sein Dienstleistungsgewerbe auch verstecken, weil sich Anwohner belästigt fühlen, wenn sie ihren Hund am Frisörsalon vorbeiführen? Oder ist es zum Beispiel denkbar, dass eine Familienministerin, die sich in den öffentlich-rechtlichen Medien für die Prostitution als Dienstleistungsgewerbe einsetzt, nebenbei erwähnt, sie habe sich in ihrer Jugend auch prostituiert? Undenkbar, was würde aus ihrer Karriere? Also was jetzt? Normal oder nicht? Nicht normal!

Sexualität: Dienst am Leben versus Ort der Grausamkeit

Sexualität kann wunderschön sein. Sie ist eine vitale Funktion unseres Körpers, durch die wir Freude, Gesundheit, Kontakt, Bindung, Erfüllung und Heilung erfahren können. Sie steht im Dienst unseres Überlebens, im rein physischen Sinne im Dienst der Fortpflanzung. Sie steht im psychischen Sinne im Dienst von Bindung und Kontakt. Sie steht im Dienst der Herzensliebe und der Heilung auf seelischer Ebene. Sexualität kann auch Ort von schwerer Gewalt, Verletzung, Schmerz und unvorstellbarer Grausamkeit sein, offen oder verdeckt. Sie kann zu lebenslangem Leiden führen, zum Tode, physisch oder psychisch. Sie ist empfindlich und störungsanfällig. Steht sie nicht im Dienst des Lebens, führt sie zu Störungen vielfältigster Art, deren Ausprägung wir nicht auf den ersten Blick mit einer gestörten Sexualität in Verbindung bringen.

Mit der Sexualität verhält es sich ähnlich wie mit unserer Ernährung. Auch unsere Ernährung ist eine vitale Funktion unseres Körpers, durch die wir Freude, Genuss, Gesundheit und Gemeinschaft erleben können. Sie dient unserem Überleben, rein physisch und auch psychisch als gemeinschaftsstiftende Funktion. Sie dient im seelischen Sinne der Agape, dem Liebesmahl. Fehlende Nahrung führt zum Tode. Mangelhafte Ernährung führt zu Krankheit. Auch unsere Ernährung ist störungsanfällig und bedarf unserer Aufmerksamkeit. Die verschiedenen Ausprägungsformen von falscher oder mangelhafter Ernährung sind im Alltagswissen hinreichend bekannt. Es käme zum Beispiel kein Mensch mehr auf die Idee, der jahrelange ausschließliche Verzehr von Tütensuppen sei unbedenklich. Man stirbt daran nicht unmittelbar, auch nicht mittelfristig, doch die Mangelerscheinungen beim exzessiven Tütensuppenverzehr sind gewiss. Die Art und Weise, wie oberflächlich – meist auf die physiologische Lust, die Frequenz und Varianz bezogen – Sexualität heute thematisiert und wie darauf Bezug genommen wird, kann – um beim Bild zu bleiben – verglichen werden mit dem jahrelangen Verzehr von Tütensuppen verbunden mit der Aussage, es sei doch alles prima so.

Das Wissen um gute Ernährung wird schon ab dem Kindergarten vermittelt. Das Wissen um „gute“ Sexualität leider nicht. Es kommt eben nicht nur auf den „Geschmack“ an, die kurzfristige Befriedigung und „Sättigung“, sondern auch die „Zutaten“ sind wichtig, ebenso wie die „Herstellung“. Viele Menschen leiden massiv an ihrer unbefriedigten Sexualität. Das kann sich gravierend auf ihre physische und psychische Gesundheit auswirken. Von ihren Krankheiten erzählen sie ihrer Ärztin, von ihrem Sexualleben kaum. Wie heilend wäre es doch, wenn bei einer ganzheitlichen ärztlichen Anamnese und Diagnostik nicht nur die Ernährungslage eines Menschen berücksichtigt, sondern ebensolche Beachtung seinem sexuellen Erleben geschenkt würde? Würden wir unserer Sexualität ebensoviel Aufmerksamkeit widmen wie unserer Ernährung, es ginge uns allen deutlich besser. Würden wir nicht nur die Oberfläche der Sexualität beachten, also zum Beispiel Frequenz und Varianz, sondern immer auch versuchen, die Bedeutung der tiefen Dimensionen zu erfassen, also zum Beispiel Wirkung, Kontakt und Geschenk, wie anders gingen wir durch unsere Tage. Würde schon Kindern vermittelt, dass Sex gegen Geld ein Unding ist, gäbe es mehr Klarheit. So wie ihnen von klein auf vermittelt wird, dass keiner sie gegen ihren Willen anfassen darf. So wüssten schon die Kinder, dass das, was Frauen und Männer in der Prostitution machen, nicht in Ordnung ist. Sie wären in ihrem eigenen Empfinden bestätigt statt verwirrt. Auf einem anderen Blatt steht, dass sich dadurch Prostitution nicht unmittelbar verhindern ließe.

Wenn sich in der Gesellschaft ein Konsens darüber erreichen ließe, dass Prostitution ein Unding ist, dann würden Jugendliche vielleicht noch genauso viele Pornos auf dem Schulhof ansehen, doch wüssten sie genau, dass alles, was sie dort sehen, eine tragische Aufführung ist. Die Jugendlichen – würde ihnen das deutlich vermittelt – kämen nicht auf die Idee, sich und ihr sexuelles Erleben mit dem Gesehenen zu vergleichen, um dann in ihrem eigenen Erleben zutiefst verunsichert zu werden. Wird der gesellschaftliche Anschein erzeugt, Prostitution und Pornografie seien Varianten oder Spielarten der Sexualität, wird nicht nur der Anschein einer Wirklichkeit erzeugt, die es nicht gibt, sondern es wird damit die Realität bewusst verschleiert, die Realität der Not. Bilder und Gefühle werden bewusst evoziert, die eine Scheinwelt entstehen lassen, in der sich noch niemand zuhause und geborgen gefühlt hat. Das Erwachen ist sicher. Die Realitätskonfrontation ist gewiss. Die Verwirrung und Verunsicherung auch, solange kein fundiertes Wissen als Gegengewicht erlangt werden konnte, das zumindest Orientierung gibt. Dass Prostitution und Pornografie der rücksichtslosen Gewinnerzielungsabsicht einiger weniger dient, kommt erschwerend hinzu.

Es geht bei der Sexualität um eine zentrale und vitale Funktion. Irrtümer und Nichtwissen haben weitreichende und nicht unmittelbar absehbare Konsequenzen. Es geht um nicht weniger als unsere Lebendigkeit. Es geht um unser Leben!

Körper sucht Seele

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