Читать книгу Mami 1979 – Familienroman - Anna Sonngarten - Страница 3

Оглавление

Ein grauer Morgen hing über den Dächern der Großstadt. Hanna saß in eine Decke eingehüllt auf ihrer kleinen Dachterrasse und schaute mit brennenden Augen über das Häusermeer in eine endlos scheinende Ferne. Vor weniger als zwei Stunden war die Mutter von Kira und Nils Witwe geworden. Bis zuletzt hatte Hanna seine Hand gehalten. Doch Bernd Müller hatte den Druck ihrer Hand nicht mehr erwidern können.

Das Telefon klingelte. Hanna verließ ihren Platz und ging die wenigen Schritte bis zum Apparat. Eine Strecke, die ihr auf einmal unwirklich lang erschien.

»Müller!«

»Ich bin es, Hanna. Simone. Ich habe soeben erfahren, daß Bernd in der Nacht verstorben ist.«

Simone Kretschmer war Ärztin im St.-Josefs-Krankenhaus und Hannas beste Freundin. »Ja, Simone. Er ist gegen vier Uhr morgens eingeschlafen«, antwortete Hanna tonlos.

»Wie geht es dir, Hanna? Kann ich im Augenblick etwas für dich tun?« fragte Simone besorgt.

»Nein. Was willst du tun? Ich brauch’ jetzt einfach ein bißchen Zeit für mich. Zum Glück sind die Kinder bei meiner Mutter.«

Hanna machte eine Pause.

»Es ist schon hart, wenn es dann passiert. Ich wußte ja seit langem, daß Bernd sterben würde, und du weißt ja auch, wie es um unsere Ehe stand«, sagte Hanna langsam. Simone wußte es. Bernd hatte Hanna wenige Wochen vor Ausbruch der Krankheit verlassen, um mit einer anderen Frau zusammenzuleben. Doch als er Hilfe und Beistand brauchte, war es nicht die neue Frau gewesen, die zu dem kranken Mann gehalten hatte, sondern Hanna. Als die ersten sichtbaren Symptome der Krebserkrankung Bernd zeichneten, hatte seine Freundin das Weite gesucht und war seitdem nicht mehr aufgetaucht.

»Ich habe überlegt von hier fortzugehen«, sagte Hanna plötzlich, und es klang so, als hätte sie erst soeben diesen Gedanken ins Auge gefaßt.

»Wieso?« fragte Simone nur.

»Nun, ich würde gern aufs Land ziehen…«

»Um Himmels willen! Du willst doch wohl kein Landei werden, Hanna«, sagte Simone in ihrer gewohnt direkten Art. Hanna lächelte leise. »Sicher denkst du jetzt, daß dies bloß eine momentane Laune von mir ist. Aber ich möchte schon seit langem lieber auf dem Land leben. Das Leben in der Großstadt war immer mehr Bernds Sache gewesen. Ich bin, wie du weißt, sehr naturverbunden.«

»Aber wohin denn? Und wo willst du wohnen?«

»Ach, davon habe ich dir noch gar nichts erzählt. Bernd hat mir ein Haus vererbt. Es hat seiner Tante gehört, die letzten Winter verstorben ist.«

»Was ist das für ein Haus?«

»Keine Ahnung. Ich habe es noch nie gesehen.«

Simone seufzte. »Also, ich weiß nicht, Hanna. Das hört sich für meine Ohren nicht sehr durchdacht an.« Simone versuchte sich ihre lebhafte Freundin mit den naturblonden Haaren und den strahlend blauen Augen in irgendeinem kleinen Kaff vorzustellen. Es wollte ihr nicht gelingen. Aber vielleicht war es auch gut, daß Hanna jetzt neue Pläne ins Auge faßte, dachte Simone. Sicher war es besser, als in Depressionen zu fallen. Simone seufzte.

»Wann willst du es eigentlich den Kindern sagen?« fragte Simone, der plötzlich eingefallen war, daß die Kinder noch nichts von dem Tod ihres Vaters wußten.

»Am liebsten würde ich meine Mutter bitten, es ihnen zu erklären. Ich weiß nicht, ob ich das schaffe.«

»Hm. Die Kleine wird es noch nicht verstehen. Und Nils… Bernd war fast ein Jahr lang krank… Vielleicht hat Nils schon Abschied genommen, ohne daß du es bemerkt hast, Hanna.«

»Ich hoffe es… Weißt du, ich muß immer daran denken, daß Nils auch dann keinen Vater mehr hätte, wenn Bernd gesund geblieben wäre…«

»Ja, damals sah es so aus… Habt ihr eigentlich jemals wieder davon gesprochen, Bernd und du?«

»Über diese Frau? Nein.«

»Bedauerst du das?«

»Nein, jetzt ist es zu spät. Was jetzt nicht gesagt wurde, kann nie wieder gesagt werden. Ich weiß nicht, ob ich das bedauern soll. Es ist, wie es ist.«

Hanna hatte recht, dachte Simone. Bernd war tot. Daran ließ sich nichts ändern und auch nicht an den Dingen, die hinter ihnen lagen. Hanna mußte nach vorn blicken. Sie hatte kleine Kinder, deren Leben noch vor ihnen lag. Und das Glück ihrer Kinder bedeutete Hanna alles. Als Simone den Hörer aufgelegt hatte, merkte sie plötzlich, wie sich ihre Kehle zusammenschnürte und ihre Augen sich mit Tränen füllten. Eine Welle des Mitleids, das sie bisher zurückgehalten hatte, durchströmte sie jetzt mit aller Macht. Das Schicksal war ungerecht. Eine Frau wie Hanna hatte nicht verdient, vom Leben so herausgefordert zu werden. Wo blieb da die Gerechtigkeit? Eine Frage, auf die Simone lange keine Antwort bekommen würde.

*

Auf dem Pferdegut Steineck herrschte bereits seit den frühen Morgenstunden rege Betriebsamkeit. In der Nacht hatte sein Besitzer Kai Laubach den Tierarzt gerufen, weil eine trächtige Stute Probleme bekommen hatte. Michael Hollstein war auch sofort ohne zu zögern gekommen und das nicht nur, weil Kai ein guter Freund von ihm war, sondern weil er seinen Job sehr ernst nahm. Gemeinsam hatten die beiden Männer bei der Stute Jolanda gewacht, und im Morgengrauen hatte sie es dann geschafft. Auf wackeligen Beinen stand das kleine Fohlen neben seiner Mutter in der Box und wurde von ihr ausgiebig beschnuppert. Als es zum ersten Mal getrunken hatte, waren die Männer hoch zufrieden und erleichtert ins Gutshaus gegangen, um bei einer Tasse Kaffee ihrer Müdigkeit zu trotzen. Kais Haushälterin Ruth, eine korpulente ältere Dame mit schneeweißen Haaren und rosigen Wangen, hatte den Freunden zu dem Kaffee frischen Hefekuchen gereicht.

»Seit wann sind Sie denn auf den Beinen, Herr Laubach?« fragte Ruth besorgt. Der Gutsherr, ein gut aussehender Vierziger mit bereits grauen Schläfen, sah müde und abgespannt aus. Kai winkte ab, als lohne es sich nicht, darüber nachzudenken.

»Das Beste wird sein, wenn du jetzt gleich ins Bett gehst. Ich schaue heute abend noch einmal rein, wenn’s recht ist«, schlug Michael vor.

»Was ist denn mit dir? Du warst doch auch die ganze Nacht auf den Beinen?«

»Ja«, lachte der Tierarzt. »Aber ich habe heute morgen noch einen Termin bei Bauer Kleinschmitt. Den kann ich nicht absagen.« Er nahm einen Schluck Kaffee und reckte seine Arme weit nach oben, als könne ihm ein bißchen Gymnastik die Müdigkeit aus den Gliedern treiben.

»Danke für den Kaffee, Ruth, und den Kuchen!« rief er in die große Küche, wo Ruth schon wieder vor sich hin werkelte.

»Oh, nichts zu danken, Herr Doktor. Wollen Sie denn schon wieder gehen? Ich wollte den Herren noch etwas erzählen.« Ruth trocknete ihre Hände an der Schürze und baute sich mit wichtiger Miene vor den Männern auf.

»Sie kennen doch das kleine Häuschen von der alten Müllerin, nicht wahr?« Die beiden Männer hörten ohne großes Interesse zu, nickten aber höflich.

»Raten Sie mal, was ich gehört habe«, versuchte Ruth die Männer auf die Folter zu spannen.

»Das erraten wir nie«, behauptete Kai und verdrehte die Augen. Natürlich so, daß Ruth es nicht sah.

»Eine Frau mit zwei Kindern ist dort eingezogen. Sie kommt aus der Stadt«, verkündete Ruth und genoß ihren Wissensvorsprung.

»Tatsächlich? Jemand aus der Stadt? Das hätte ich nun wirklich nicht vermutet«, sagte Michael erstaunt.

»Wieso? Unser Thalbach ist doch ein wunderschöner Ort«, entgegnete Ruth.

»Schon, aber wer sich hier niederläßt, muß das Landleben schon mögen«, unterstützte Kai den Tierarzt.

»Vielleicht spielen noch andere Gründe eine Rolle«, überlegte Michael.

»Wie meinen Sie das? Meinen Sie, es ist jemand mit einem Schicksal?« fragte Ruth plötzlich ganz aufgeregt, und Michael Hollstein bedauerte sogleich, diesen Gedanken überhaupt geäußert zu haben. Die gute Ruth machte aus allem eine Geschichte.

»Nein, Ruth. Ich habe neulich erst gelesen, daß sich wieder mehr Menschen für ein Leben auf dem Land interessieren.« Ruth war enttäuscht.

»Jedenfalls habe ich gehört, daß die Frau nur mit ihren Kindern eingezogen ist. Ohne Mann!« sagte sie trotzig, als wäre die Tatsache allein schon ein Skandal.

Die beiden Männer grinsten. Kai zwinkerte Michael zu, und Ruth dampfte ab in die Küche.

Als Michael in seinen Jeep gestiegen war, überlegte er kurz, daß es keinen großen Umweg bedeutete, wenn er auf seinem Weg zu Bauer Kleinschmitt an dem Haus der alten Müllerin vorbeiführte. Kaum hatte er den Gedanken gefaßt, mußte er auch schon über sich lächeln. Hatte ihn die gute Ruth doch mit ihrer Neugierde angesteckt! Das Haus der Müllerin lag nicht weit vom Gut Steineck entfernt. Und schon aus einiger Entfernung erkannte Michael, daß sich tatsächlich dort etwas abspielte. Vor dem Eingang des kleinen, etwas heruntergekommenen Landhauses, stand ein Möbeltransporter. Michael stellte seinen Wagen ab und ging auf das Haus zu. In dem eingezäunten verwilderten Vorgarten spielten zwei Kinder mit Kieselsteinen. Ein strohblonder Junge von etwa sechs und ein Mädchen von circa vier Jahren, dessen Haar etwas dunkler und lockig war. Zögernd kam Michael näher und blieb am Zaun stehen. Der Junge blickte auf und schaute ihn an. Ein Gefühl, auf das Michael nicht vorbereitet war, nahm plötzlich Besitz von ihm. Er konnte den Blick nicht von dem Jungen nehmen. Bewegungslos stand er da und starrte den kleinen Jungen an. Nils war die Situation plötzlich unheimlich, und ohne sich von der Stelle zu rühren, rief er laut nach seiner Mutter. »Mama! Komm mal!«

Wenige Sekunden darauf erschien Hanna in der Tür, bekleidet mit Jeans und Karohemd, die blonden Haare mit einem bunten Tuch hochgebunden. Ganz offensichtlich hatte sie viel zu tun.

»Was gibt’s, Nils?«

»Da«, sagte Nils nur und zeigte in Richtung Michael, der immer noch am Zaun stand. Hanna sah einen großen Mann mit dunkelblonden zerzausten Haaren. Er trug eine runde Brille und sah irgendwie übernächtigt aus. Mit müden Augen blickte er unverwandt in Hannas Richtung.

»Guten Tag«, grüßte Hanna.

»Guten Tag«, erwiderte Michael hastig und wandte sich sofort zum Gehen. Hanna wollte ihm noch etwas hinterher rufen. Doch ehe sie wußte was war, war er schon in seinen Jeep gesprungen und davon gebraust.

»Wer war das?« fragte Nils.

»Keine Ahnung«, antwortete Hanna irritiert. Sie hatte schon häufiger gehört, daß es schwer sei, sich als Städter in eine Dorfgemeinschaft zu integrieren. Vielleicht war das der erste Beweis für diese Behauptung. Sie schüttelte den hübschen Kopf und beschloß, die Sache erst einmal nicht zu ernst zu nehmen.

»Spielt schön weiter, Kinder. Mama hat noch viel zu tun«, sagte sie und ging wieder zurück ins Haus. In der geräumigen schwarzweiß gefliesten Küche schaute Simone dem Elektriker bei der Arbeit zu und fragte, als Hanna wieder neben ihr stand:

»Was war?«

»Ich weiß auch nicht genau«, antwortete Hanna. »Da stand ein junger Mann am Zaun. Nils dachte vielleicht, daß er zu mir wollte. Dann war er aber sehr kurz angebunden und ist nach einem knappen Gruß gleich auf und davon mit seinem Jeep.«

»Das war der Tierarzt«, brummte der Elektriker hinter dem Herd.

»Der Tierarzt? Woher wissen Sie das?« wollte Simone wissen.

»Weil er der einzige ist, der hier einen Jeep fährt«, erklärte der Elektriker knapp.

»Und ist er immer so wortkarg?« fragte Hanna.

»Eigentlich nicht… Vielleicht hat’s ihm die Sprache verschlagen, als er Sie gesehen hat«, mutmaßte der Elektromann und lachte, als hätte er einen wirklich originellen Witz gemacht.

Hanna zog die Augenbrauen hoch. Simone grinste nur. Wer weiß, auf was sich Hanna mit ihrem Umzug aufs Land da eingelassen hatte. Das niedliche Häuschen hatte sie ihr nicht ausreden können, obwohl es einige Mängel hatte. Es war nicht sehr groß. Im Erdgeschoß gab es eine große Küche, einen Wohnraum und einen Wintergarten, von dem man einen herrlichen Ausblick in den weitläufigen verwilderten Garten hatte. Im ersten Stock, der eine ausgeprägte Schräge hatte, gab es vier weitere Zimmer. Es war also gerade einmal ausreichend Platz für Hanna, die Kinder und einen Gast. Wenn die Renovierungsarbeiten abgeschlossen sein würden, hätte Hanna wahrscheinlich genau das kleine Landhaus, von dem sie schon als Kind geträumt hatte. Also wozu den Versuch machen, die Freundin davon abzubringen? Aber Simone hatte sie vor dem Landleben gewarnt. Wenn du dich mit den Menschen, die hier leben, nicht verstehst, bist du verloren, hatte sie gesagt. Der Tierarzt

schien jedenfalls schon so ein Sonderling zu sein. Da konnte man wirklich gespannt sein, wer noch so in diesem Nest lebte.

*

Während der Fahrt zu Bauer Kleinschmitt dachte Michael über die merkwürdige Begegnung mit der neuen Besitzerin nach. Ich bin übermüdet, sagte er sich. Ansonsten hätte mich der Anblick des Kindes nicht so aus dem Gleichgewicht gebracht. Die Mutter des Jungen hält mich bestimmt für verrückt, dachte er weiter. Michael war sich bis zu der Begegnung mit Nils nicht darüber klargewesen, wie sehr er immer noch unter dem Schicksalsschlag litt, der ihn vor vielen Jahren heimgesucht hatte. Irgendwie hatte er geglaubt, die Dinge verarbeitet zu haben und war erschrocken darüber, daß es offenbar nicht so war. Die Zeit heilt alle Wunden, sagt man. Doch manche Wunden heilen eben nie, dachte der Tierarzt. Bevor er in den Hof von Bauer Kleinschmitt einfuhr, beschloß er, in Zukunft einen weiten Bogen um das Haus der Müllerin zu machen.

»Guten Morgen, Herr Tierarzt«, begrüßte ihn der Bauer mit einer brummigen aber gutgelaunten Stimme. Er hatte auch allen Grund zufrieden zu sein, denn es standen vier gesunde kräftige Kälber in seinem Stall, die jetzt von Michael Hollstein geimpft werden sollten. Der Bauer war heute zum Plaudern aufgelegt.

Während Michael die nötigen Utensilien bereithielt, erzählte der Bauer ihm von den Neuigkeiten im Dorf.

»Haben Sie schon gehört, daß wir Zuwachs in unserer Gemeinde bekommen, Herr Tierarzt?«

»Ja, habe ich«, antwortete Michael knapp. Nicht schon wieder, dachte er. Gibt es denn in Thalbach kein anderes Thema mehr?

»Eine Frau mit zwei Kindern ist in das Haus…«

»Ich weiß. Ich habe sie sogar schon gesehen«, unterbrach ihn Michael.

»Ach was. Und?« fragte der Bauer neugierig.

»Du wirst auf deine alten Tage noch ein richtiges Klatschweib, Herbert«, rief die Bäuerin quer durch den Stall.

»Die Frau scheint alleinstehend zu sein, Herr Doktor«, fuhr der Bauer fort.

Seine Frau verdrehte die Augen. »Sie ist viel zu jung für dich, Herbert. Schlag dir das aus dem Kopf.«

Jetzt konnte Michael ein Grinsen nicht verkneifen. Der alte Kleinschmitt war tatsächlich bekannt dafür, jungen Mädchen hinterher zu gucken, was seine Frau regelmäßig auf die Palme brachte.

»So, das hätten wir«, sagte Michael und streichelte dem letzten Kalb über den Kopf. »Gibt’s sonst noch was?«

»Nein, alles in Ordnung, Herr Tierarzt. Wollen Sie noch Milch oder Eier mitnehmen?«

»Nein, heute nicht«, antwortete Michael und packte seinen Koffer. Der Bauer begleitete ihn noch bis zu seinem Jeep, kam aber nicht mehr auf die neue Nachbarin zu sprechen.

Michael war froh, endlich nach Hause fahren zu können, denn mittlerweile verspürt er eine bleierne Müdigkeit.

*

Mechthild Schneider saß gerade beim Frühstück, als der Postbote sein typisch kurzes Klingeln verlauten ließ. Sie stand lustlos auf, um die Post hereinzuholen.

Wahrscheinlich doch wieder nur Werbung, dachte sie, fand aber dann eine Karte ihrer Tochter Hanna vor.

»Hm, wird ja auch Zeit, daß sie mal wieder etwas von sich hören läßt«, sagte Mechthild laut zu sich selbst, beziehungsweise zu Jakob, ihrem Papagei, der gelangweilt in seinem Vogelbauer saß, aber aufblickte, als er Mechthilds Stimme vernahm. Mechthild Schneider war nicht gerade angetan von Hannas Plänen, aufs Land zu ziehen. Diese Flausen konnte sie eigentlich nur von Günter, ihrem Vater, geerbt haben. Der Verwaltungsbeamte Günter Schneider hatte auch hin und wieder von einem Leben als Förster geträumt. Eine Spinnerei, die Mechthild stets mit den Worten abgeschmettert hatte: »Ohne mich! Soll ich etwa in irgendeinem Nest den ganzen Tag auf dich warten und in der Zwischenzeit die Hirschgeweihe an der Wand abstauben?« Diese entrüstete Entgegnung war zur Familienanekdote geworden, und bei jeder passenden Gelegenheit kamen die Hirschgeweihe wieder zur Sprache. Nein, Mechthild konnte dem Landleben nichts abgewinnen. Sie brauchte Stadtluft, um sich wohl zu fühlen. Mechthild betrachtete die Ansichtskarte. Es waren mehrere kleine Ortschaften darauf abgebildet. Allesamt sehr idyllisch gelegen in einer hügeligen, bewaldeten Landschaft. Den Ort Thalberg hatte Hanna mit einem Kreuz versehen. Mechthild las, was ihre Tochter geschrieben hatte:

Liebe Mutti! Hier ist es wunderschön. Ich habe das Haus meiner Träume gefunden. Wenn Du es erst siehst, wirst Du mich verstehen. Bitte komm uns so bald Du kannst besuchen! Wir freuen uns auf Dich. Deine Hanna und die Kinder.

Die Karte war auch mit den krakeligen Namen der Kinder unterschrieben, und die kleine Kira hatte noch ein paar Blümchen gemalt.

Mechthilds Stimmung besserte sich plötzlich zusehends. Sie schaute sich noch mal die Ansichtskarte an und sagte zu Jakob:

»Was hältst du von einer kleinen Reise mit dem Zug, Jakob?« Jakob legte den Kopf schief und gab ein zufriedenes Krächzen von sich.

*

Am Abend vor Simones Abreise sagte die Freundin plötzlich: »Weißt du, was ich mir überlegt, habe, Hanna?«

»Nein, schieß los!«

»Ich habe im August noch zwei Wochen Urlaub. Eigentlich wollte ich nach Kreta, aber jetzt könnte ich mir auch gut vorstellen, meinen Urlaub hier zu verbringen. Falls du einverstanden wärst.«

»Das ist eine großartige Idee, Simone«, rief Hanna erfreut. »Natürlich bin ich einverstanden. Ich wußte doch, daß es dir hier gefällt. Ich glaube manchmal, daß du mich in Wahrheit beneidest«, vermutete Hanna.

»Na ja, um das Haus beneide ich dich schon, auch um deine Kinder und um deinen Mut, deine Träume zu verwirklichen…«, sagte Simone mit plötzlichem Ernst.

»Gut, gut… ich wollte nicht nach Komplimenten fischen«, antwortete Hanna schnell. »Wir wissen beide, wo uns das Glück im Stich gelassen hat, mich genauso wie dich.« Hanna zog die Beine hoch und schlang die Arme um ihre Knie. Sie schaute Simone nachdenklich an. Die letzten Tage waren so ausgefüllt gewesen, daß die Dinge, die hinter ihr lagen, schon fast vergessen schienen. Doch natürlich war in Wirklichkeit nichts vergessen, und die Bilder der letzten Wochen mit Bernd tauchten so plötzlich vor ihrem geistigen Auge wieder auf, wie sie vorübergehend verschwunden waren. Aber auch Simone hatte ihren Kummer. Sie war beruflich zwar erfolgreich, aber privat fand sie nicht das erhoffte Glück. Der Mann fürs Leben war ihr noch nicht begegnet. Es wird daran liegen, daß ich nicht gerade eine Schönheit bin, dachte sie. Doch Hanna hatte sie stets ausgelacht, wenn sie davon anfing. »Du hast ein Charaktergesicht, Simone. Und wenn du lachst, muß man einfach mit einstimmen, so ansteckend ist es.« Simone lächelte. Sie freute sich immer, wenn Hanna so etwas sagte, aber insgeheim dachte sie, daß Hanna halt ein guter Mensch war, der einer Freundin etwas Nettes zu sagen wußte, auch wenn es nicht ganz der Wahrheit entsprach. Sie gingen zeitig ins Bett, denn Simone wollte am nächsten Morgen früh los.

*

»Ich will mit meinem eigenen Fahrrad fahren, Mama«, sagte Kira, verschränkte die Ärmchen vor der Brust und sah ihre Mutter mit Schmollmund an. Nils kurvte auf dem schmalen kurzen Feldweg von ihrem Haus bis zur Straße hin und her. »Wann geht’s endlich los?« fragte er zum wiederholten Mal. »Nils darf ja auch mit seinem eigenen Fahrrad fahren«, maulte Kira weiter.

»Schätzchen, das ist nicht dasselbe. Nils fährt schon viel länger allein. Er ist doch auch älter. Er kommt schon bald in die Schule. Wenn du in die Schule kommst, kannst du auch allein Fahrrad fahren«, versuchte Hanna ihre kleine Tochter zu überzeugen.

»Da steig’ ich nicht drauf«, sagte sie mit entschlossener Miene auf den Fahrradsitz deutend.

»Weißt du eigentlich, daß ganz in unserer Nähe ein Reiterhof ist? Da wollte ich mal mit euch hin. Vielleicht haben die auch Ponys, auf denen du mal reiten kannst. Was meinst du?«

Kiras Miene hellte sich auf.

»Wirklich?« fragte sie und kam einen Schritt näher.

»Wann kommt ihr denn endlich?« fragte Nils, der wieder eine Runde gedreht hatte.

»Wir kommen«, rief Kira und ließ sich von Hanna ohne Widerstand in den Sitz heben.

Endlich konnte es losgehen. Hanna wollte erst einmal ins Dorf fahren. Der Weg dorthin führte über eine schmale gewundene Straße. In weniger als fünf Minuten erreichten sie den Marktplatz, das Zentrum von Thalberg. Die gepflegten Häuser, die sich im Rund um den Marktplatz gruppierten, standen allesamt unter Denkmalschutz. Im Erdgeschoß einiger Häuser befanden sich die wenigen Geschäfte. Hanna ging mit den Kindern zum Bäcker und zum Obsthändler, um für ihren kleinen Ausflug etwas Proviant einzukaufen.

Sie wurden überall freundlich empfangen. Sybille Meyer, die Bäckerin gab den Kindern je ein Brötchen umsonst, und Herr Biermann steckte ihnen zwei Äpfel mehr zu. Auf dem Weg Richtung Gut Steinbeck, von dem Hanna schon gehört hatte, kamen sie an der Tierarztpraxis vorbei. Da der Jeep nicht vor der Tür des großen alten Hauses stand, vermutete Hanna, daß der Tierarzt unterwegs sei. Deshalb hielt sie und schaute sich das Anwesen ein bißchen genauer an. Im hinteren Teil des Gartens sah sie im kniehohen Gras eine Schaukel und eine Rutsche stehen, die aber offensichtlich schon lange nicht mehr benutzt wurden. Auf dem Praxisschild las sie.

Dr. Michael Hollstein

Tierarzt

Kleintiersprechstunde nur nach Vereinbarung

»Was steht da, Mama?« fragte Nils, der das Interesse seiner Mutter nicht recht verstand. Sie hatten schließlich kein Tier, obwohl sich Nils schon lange einen Hund wünschte.

»Nichts weiter. Aber offenbar behandelt der Tierarzt nicht nur Nutztiere wie Schweine und Rinder. Wenn man einen kranken Hamster hat, kann man auch zu ihm kommen.«

»Können wir nicht einen Hund haben, Mama?« fragte Nils und hörte seine Mutter zu seiner unglaublichen Überraschung »Ja« sagen.

»Wirklich!« rief Nils ganz aufgeregt und konnte den Lenker seines Rades gar nicht stillhalten. So fuhr er gefährliche Schlangenlinien.

»Paß auf, Nils!« rief Hanna, die beinahe gestürzt wäre.

»Wann? Wann können wir einen Hund haben?« fragte Nils aufgeregt.

»Ich wollte mich in der nächsten Zeit mal nach einem Hund erkundigen. Vielleicht hat irgendein Bauer hier in der Nähe Welpen. Wir wohnen so abgelegen, daß mir ein Hund im Haus ganz sinnvoll erscheint«, teilte Hanna ihre Überlegungen mit.

»Dann will ich aber auch ein Tier«, sagte Kira.

»Der Hund soll uns allen gehören, Kira«, erklärte Hanna.

»Ich will aber ein eigenes Tier«, beharrte Kira. Zum Glück sahen sie in dem Moment auch schon das Pferdegut Steineck, und Hanna konnte die Diskussion über Haustiere vertagen. Sie stellten ihre Räder außerhalb des Hofes ab und gingen dann hinein. Hanna sah sofort den Jeep des Tierarztes. Er war also ebenfalls auf Gut Steineck zu Besuch, aber sicherlich dienstlich. Hanna hielt Ausschau nach ihm. Tatsächlich konnte sie ihn bei den Ställen im Gespräch mit einer schönen dunkelhaarigen Frau sehen. Hanna hörte das helle Lachen der Frau und fragte sich, wer sie wohl sei. Sie nahm Kira auf den Arm und Nils an die Hand. Sie wollte sich erst beim Gutsbesitzer oder dessen Verwalter vorstellen, um abzuklären, ob es recht wäre, wenn sie sich auf dem Hof ein wenig umsahen. Offenbar fiel Hanna durch ihre Unschlüssigkeit auf, und zu ihrer Überraschung pfiff die dunkelhaarige Schönheit

auf zwei Fingern und rief dann laut:

»Uwe! Komm mal!« Dann wandte sie sich Hanna zu und rief kurz: »Da kommt gleich jemand.«

Michael hatte Hanna und ihre Kinder sofort erkannt und schaute verstohlen zu ihnen herüber. Sollte er sich vorstellen und sein merkwürdiges Verhalten von vor einigen Tagen entschuldigen? Er entschied dagegen. Vielleicht hatten sie ihn ja gar nicht erkannt. Am besten, er beließ es einfach dabei. Inzwischen war ein junger kräftiger Bursche aufgetaucht, der geradewegs auf Hanna zusteuerte.

»Hallo«, grinste er. »Kann ich Ihnen behilflich sein?«

»Ja, gern. Ich bin Hanna Müller, und das sind Kira und Nils.«

»Ich weiß… Ääh, ich meine… dachte ich mir«, antwortete der junge Mann. Hanna zog die Augenbrauen hoch, sagte aber nichts weiter.

»Ich bin der Uwe. Ich bin Pferdewirt, aber noch in der Ausbildung.«

»Guten Tag, Uwe. Wir wollten uns mal ein bißchen umsehen, wenn das geht. Kira liebt Pferde. Vielleicht würden die Kinder Reitunterricht nehmen, wenn das möglich wäre.«

»Ja, natürlich. Allerdings nur für Kinder ab fünf«, Uwe schaute Kira prüfend an.

»Ich bin schon fast fünf«, behauptete Kira. Das entsprach nicht ganz der Wahrheit, was Uwe Hannas Lächeln entnahm.

»Na ja, ich gebe den Unterricht noch nicht selbst. Das macht der Chef persönlich. Den müßten Sie dann rumkriegen. Ich kann Ihnen ja mal die Pferde zeigen«, schlug Uwe vor.

»Ja, das wäre nett«, sagte Hanna und ließ Kira von ihrem Arm heruntergleiten.

»Da hinten stehen die Privatpferde«, erklärte Uwe und zeigte in die Richtung, in der Michael und die dunkelhaarige Frau immer noch ins Gespräch vertieft waren. Hanna und die Kinder folgten ihm. Als sie den Stall betraten und in die Boxen schauten, schlug Hannas Herz höher. Ein vertrauter Geruch aus Kindertagen stieg ihr in die Nase, und all die schönen Erinnerungen an unbeschwerte Ferien auf dem Reiterhof wurden wieder lebendig.

»Das ist die Nora«, sagte Uwe und streichelte einer braunen Stute über die Nüstern. »Sie ist eines unserer beliebtesten Schulpferde. Die Nora ist auch für Kinder ideal geeignet. Ebenso die Susi. Beide Pferde sind nicht sehr groß. Ponys haben wir nicht«, erklärte Uwe. Sie gingen weiter. Uwe zählte alle Namen der Pferde auf und sagte zu jedem Tier einige Worte.

»Das ist der Scherrif. Der ist nichts für Anfänger. Zu temperamentvoll. Sogar der Chef hat vor ihm Respekt«, erklärte Uwe wichtig, als sie die letzte Box erreicht hatten.

»Vor wem habe ich Respekt, Uwe?« erklang plötzlich eine tiefe Stimme hinter ihnen. Uwe drehte sich abrupt um und wurde rot. Die tiefe Stimme kam aus dem Dunkel des Stalls näher und blieb dann vor Hanna und den Kindern stehen. Hanna fühlte sich von braunen, freundlich funkelnden Augen gemustert. Kira wollte sofort auf Mamas Arm, und Nils rückte näher.

»Guten Tag zusammen. Ich bin Kai Laubach«, stellte sich der Gutsbesitzer mit angenehm warmer Stimme vor. Er war Mitte vierzig, groß und breitschultrig. Sein ehemals dunkles Haar war an den Schläfen angegraut, aber die gesunde Gesichtsfarbe und sein athletischer Körperbau ließen ihn jünger erscheinen. Seine Augen schienen stets zu lächeln, was ihn Hanna sofort sympathisch machte.

»Wie ich sehe, hat Uwe ihnen unsere Pferde gezeigt«, sagte Kai Laubach und tätschelte Scherrifs Hals. »Ja, der Scherrif ist wirklich nicht ganz ohne. Uwe hat völlig recht«, sagte der Chef und zwinkerte seinem Azubi vertraulich zu. Uwe atmete auf.

»Wollen Sie Reitunterricht nehmen, Frau Müller?« fragte er sachlich. Hanna wunderte sich bereits nicht mehr darüber, daß in Thalberg anscheinend jeder ihren Namen wußte.

»Eigentlich dachte ich mehr an die Kinder«, gab sie zur Antwort.

»Können Sie denn reiten?« fragte Kai weiter und sah Hanna in die Augen.

»Nein, das heißt doch. Also, als Kind und als Jugendliche habe ich viel Zeit auf dem Reiterhof verbracht, aber das liegt nun schon viele Jahre zurück«, erklärte Hanna mit plötzlicher Verlegenheit.

»Was man einmal gelernt hat, kommt meist schnell wieder. Sie brauchen vielleicht ein paar Reitstunden zur Auffrischung… « Für Kai Laubach schien es keine Frage zu sein, daß sich Hanna wieder auf den Rücken eines Pferdes setzen wollte.

»Also, eigentlich wollte ich erst einmal, daß die Kinder reiten lernen«, sagte Hanna und lächelte. Kai wandte sich direkt an Nils.

»Du willst also Reitstunden nehmen, Junger Mann?«

»Nein, eigentlich nicht. Eigentlich will Mama, daß ich Reitstunden nehme«, antwortete Nils.

Kai lachte amüsiert, und Hanna wurde zu ihrem Ärger rot.

»Überhaupt, eigentlich will ich nur einen Hund«, schickte Nils trotzig hinterher.

»Einen Hund willst du?« fragte Kai.

»Ja, Mama hat es erlaubt.«

»Na, da fragen wir doch am besten unseren Tierarzt. Der kennt sich da besser aus als ich.«

»Aber ich will reiten!« meldete sich plötzlich Kira energisch zu Wort.

»Das ist ja sehr erfreulich. Wenigstens einer aus der Familie, der zugibt, reiten zu wollen.« Kai betrachtete Kira aufmerksam.

»Wie alt bist du denn, Kira?«

»Fünf«, behauptete Kira. Sie hatte gut aufgepaßt.

»Stimmt nicht. Kira ist erst vier«, verpetzte Nils seine kleine Schwester.

»Du bist gemein, Nils.« brüllte Kira los, und dicke Tränen rollten ihr über die roten Wangen. Hanna wurde nervös. Was für ein dummer Auftritt auf Gut Steineck. Das eine Kind will gar nicht reiten, das andere darf nicht, und sie selbst war auch sehr unschlüssig. Der Gutsbesitzer mußte ja einen tollen Eindruck von ihnen haben.

»Na, meine Kleine. Mal sehen, was sich da machen läßt«, sagte Kai Laubach und streichelte Kira kurz übers Haar.

»Kai!« rief plötzlich Michael Hollstein. »Kannst du mal einen Augenblick kommen, ich muß dich sprechen wegen der Stute von Familie Deimel.« Michael war in den Stall getreten, blieb aber in gebührendem Abstand zu den anderen stehen.

»Ja, ich komme gleich. Ach, übrigens, der Nils, der möchte gern einen Hund. Weißt du jemanden, der zur Zeit Hunde zu verkaufen oder sogar zu verschenken hat?«

Michael warf einen langen Blick auf Nils.

»Der Ropenstaller Hof hat Welpen. Die Hulda hat vor nicht allzu langer Zeit geworfen. Soviel ich weiß, sind noch nicht alle Welpen vergeben. Ich werde mich erkundigen«, sagte er und verließ dann augenblicklich wieder den Stall, noch ehe Kai die Gelegenheit ergreifen konnte, ihm Hanna Müller persönlich vorzustellen. Kai sah ihm verdutzt hinterher. So kannte er seinen Freund überhaupt nicht. Wieso war der auf einmal so kurz angebunden? Kai wandte sich wieder zu Hanna und bemerkte sogleich, daß auch sie das Verhalten des Tierarztes merkwürdig fand. Sie schaute Michael mit ihren klaren blauen Augen, aber gerunzelter Stirn hinterher. So ein Idiot, dachte Kai. Da stand die bezauberndste Frau, die er seit langem gesehen hatte, hier bei ihm auf Gut Steineck und anstatt sich Michael bei ihr vorstellte, zog er einfach von dannen. Kai nahm Hanna am Arm und führte sie auf den

Hof.

»Ich würde mich sehr freuen, Sie hier häufiger als Gast zu sehen, Frau Müller. Ob Sie nun reiten wollen oder nicht. Mit Kira können wir es gern versuchen. Vielleicht ist es ein Naturtalent.«

Hanna lächelte dankbar. Wenigstens ein charmanter Mann hier in Thalberg, dachte sie. Dieser blöde Tierarzt konnte ihr gestohlen bleiben. Hanna verabschiedete sich von Kai Laubach, der ihr noch das Versprechen abnahm, in den nächsten Tagen bei ihm zu Abend zu essen.

»Ich möchte nicht die Gelegenheit versäumen, Sie mit unserem alten Thalberg und seinen Bewohnern vertraut zu machen, und außerdem interessiert es mich brennend zu erfahren, was Sie hier hin verschlagen hat«, sagte Kai und schaute Hanna wieder tief in die Augen.

Hanna lächelte nur und dachte, daß er wahrscheinlich nicht der einzige war, den das brennend interessierte.

*

Die Fahrradtour hatte sie alle angestrengt, und Hanna hatte heute ausnahmsweise einmal nicht die gewohnte Mühe, ihre lebhaften Kinder ins Bett zu bringen. Schon während der Gute-Nacht-Geschichte waren Kira die Augen zugefallen.

Auch Hanna fiel es schwer, beim Lesen ein Gähnen zu unterdrücken und war froh, als sie das Buch zuklappen und das Licht löschen konnte. Trotz ihrer Müdigkeit ging sie noch mal nach unten in den Wohnraum. Sie wollte sich noch ein paar selbst angefertigte Zeichnungen von ihrem Wintergarten ansehen. Hanna hatte den Wunsch im Wintergarten ein Atelier einzurichten. Das malen war ihre große Leidenschaft, doch seit zwei Jahren hatte sie aus verschiedenen Gründen keinen Pinsel mehr angefaßt. Als sie vor wenigen Wochen den sonnendurchfluteten Wintergarten das erste Mal gesehen hatte, war in ihr sofort der Wunsch entstanden, das Malen wieder aufzunehmen. Und ein Blick in den verwilderten Garten hatte Bilder in ihrem Herzen aufblühen lassen, die sie unbedingt auf die Leinwand bringen wollte.

Wahrscheinlich mußte der Wintergarten überholt und besser isoliert werden. Hanna war zwar Witwe, aber Bernd hatte sie nicht ganz unversorgt zurückgelassen. Trotzdem mußte sie wirtschaften, denn von ihren Bildern würde sie nicht leben können. Da machte sich Hanna keine Illusionen. Plötzlich klopfte es an ihre Haustür. Hanna erschrak, und das nicht nur, weil sie niemanden erwartete.

»Wer ist da?« fragte sie durch die geschlossene Tür und versuchte ihrer Stimme Festigkeit zu verleihen.

»Michael Hollstein, der Tierarzt«, erklang eine gedämpfte Stimme.

Hanna stutzte. Glücklicherweise war sie noch nicht im Pyjama. Schnell fuhr sie sich mit den Händen durchs Haar. Sie sperrte die Tür auf. Vor ihr stand Michael Hollstein mit einem Hundebaby auf dem Arm.

»Entschuldigen Sie die späte Störung, Frau Müller. Aber vorher ging’s leider nicht. Ich war den ganzen Nachmittag unterwegs«, erklärte Michael sein Kommen zur vorgerückter Stunde.

»Ich hatte nicht erwartet jetzt schon…«, stotterte Hanna, und starrte auf das Hundebaby in Michaels Arm.

»Habe ich Sie mißverstanden? Ich dachte, Sie wollten einen Hund…«, fragte Michael nun seinerseits und runzelte die Stirn.

»Nein, doch… Natürlich wollen wir einen Hund…, aber ich dachte nicht so bald… Ach, kommen Sie doch bitte herein.«

Hanna ging von der Türschwelle zurück ins Haus, und Michael trat zögernd näher. Er wirkte noch größer in seiner dunklen Regenjacke, die er offen über einem einfachen T-Shirt trug. Hanna ließ einen verstohlenen Blick über ihn schweifen. Er sah gut aus. Hanna fühlte sich auf eigenartige Weise zu ihm hingezogen. Doch gleichzeitig fand sie ihn so unnahbar, daß seine Gegenwart sie frösteln ließ.

»Was ist das für einer? Er sieht sehr niedlich aus. Gar nicht wie ein Wachhund.«

»Wollten Sie einen Wachhund?« fragte Michael und zog die Augenbrauen hoch.

»Na ja. Ich dachte… Das Haus ist ziemlich abgelegen… Nicht, daß ich mich fürchtete, aber…«

»Ben ist ein Hirtenhund. Er ist eher ein Familienhund als ein Wachhund. Sie haben kleine Kinder. Deshalb dachte ich, daß Ben genau der richtige Hund für Sie wäre. Aber wenn Sie ihn nicht wollen, kann ich ihn auch wieder mitnehmen.«

Michael sprach ruhig und sachlich. Trotzdem hatte Hanna den Eindruck, daß sie den Hund auf gar keinen Fall ablehnen dürfe. Sie streichelte Bens Kopf, und er leckte ihr kurz die Hand. Hanna lächelte.

»Er ist wirklich sehr niedlich«, sagte sie.

Michael legte ihr das Hundebaby einfach in die Arme und wollte gehen.

Mami 1979 – Familienroman

Подняться наверх