Читать книгу Sophienlust Bestseller 7 – Familienroman - Anne Alexander - Страница 3

Оглавление

»Ich will Eis, Frau Stein«, quengelte die kleine Danielle Lemmon.

»Das heißt nicht, ich will, sondern ich möchte, bitte«, verbesserte sie die Haushälterin Edith Stein automatisch. Sie blieb mit den beiden Kindern vor einem Schaufenster stehen, um etwas zu verschnaufen. Schon am Morgen hatte sie sich nicht wohl gefühlt, obwohl sie die ihr vom Arzt verordneten Tabletten gleich nach dem Frühstück eingenommen hatte.

»Ich will auch Eis«, meldete sich Danielles dreijähriges Schwesterchen Isabelle. Beide Mädchen hatten weiß­blonde Pagenköpfe und blaue Augen.

»Du hast doch gehört, es heißt, ich möchte, bitte«, erklärte Danielle. Mahnend blickte sie ihre Schwester an, dann wanderte ihr Blick an der Frau hoch. »Wann gehen wir denn nun Eis kaufen?«

»Nachher, Kinder, nachher«, seufzte Edith Stein auf. Es war dumm gewesen, ausgerechnet an diesem Tag einen Ausflug nach Wildmoos zu machen, aber sie mußte die Kinder ja irgendwie beschäftigen. Seit Frau Lemmon in Berlin war, hatte sie es ziemlich schwer mit ihnen gehabt. Instinktiv fürchteten die Kinder, nun auch noch ihre Mutter zu verlieren. Zwar hatte sie in den letzten Tagen ab und zu angerufen, doch was bedeutete das schon?

»Wann nachher?« Danielle reckte ihr Stubsnäschen jetzt noch etwas höher.

»Ich muß mich erst etwas hinsetzen, Kinder«, erwiderte Edith Stein erschöpft. Sie spürte einen unbestimmten Schmerz in ihrer Brust. »Dort drüben steht eine Bank. Wir gehen jetzt über die Straße.« Sie griff nach Isabelles Händchen.

»Da gibt’s Eis!« Danielle wies zu einem etwa fünfzig Meter entfernten Laden. Eine weiße Fahne mit blauen Buchstaben hing vor dem Schaufenster.

»Danielle, jetzt sei brav.« Edith Stein griff nun auch nach dem Händchen der Fünfjährigen.

»Frau Stein, bitte.«

»Nein, Danielle, jetzt komm!« Die Haushälterin merkte, wie alles vor ihren Augen zu verschwimmen begann. Mit letzter Kraft zog sie die Kinder auf die Straße.

»Wir können das Eis doch auch jetzt kaufen und nachher zu der Bank gehen«, maulte Danielle. »Wir…«

Sie kam nicht mehr dazu, ihren Satz zu beenden. Frau Stein ließ die Kinder los und sank lautlos in sich zusammen. Hart schlug sie auf der Fahrbahn auf. Ein Wagen, der von der rechten Seite kam, bremste mit blockierenden Reifen.

»Frau Stein!« schrie Danielle entsetzt auf. Sie sah, wie der Fahrer des Wagens ausstieg. Auf der anderen Straßenseite tauchten Leute auf. »Ich wollte nicht ungezogen sein, Frau Stein. Ich bin’s auch nie wieder.«

»Frau Stein, was ist denn?« Isabelle wollte sich neben die Haushälterin knien, doch Danielle griff nach der Hand ihrer jüngeren Schwester und zerrte sie dann weg. »Au!« schrie das kleine Mädchen ganz empört. »Ich sag’s Maman, daß du mir immer weh tust.«

»Wir müssen weglaufen, schnell, Isabelle!« Danielle zog die Kleinere auf den Bürgersteig zurück. Bevor noch jemand die Kinder halten konnte, waren sie schon hinter dem nächsten Haus verschwunden.

»Was ist den passiert?« Der Besitzer des Lebensmittelgeschäftes bahnte sich einen Weg durch die Passanten, die Frau Stein umstanden. »Hat jemand schon einen Arzt gerufen?«

»Ich rufe sofort an.« Eine Frau, die sich neben Edith Stein gekauert hatte, erhob sich. »Sie ist bewußtlos«, sagte sie.

Polizeimeister Kirsch bog gerade um die Ecke. Er stutzte, als er den Menschenauflauf auf der Wildmooser Hauptstraße sah. Schweigend machten ihm die Umstehenden Platz.

»Sie ist ganz plötzlich zusammengebrochen«, erklärte der Fahrer des Wagens, der Zeuge des Vorfalls gewesen war. »Zwei kleine Mädchen waren noch bei ihr. Sie sind weggelaufen. Vielleicht haben sie einen Schock.«

»Kennt jemand die Frau?« fragte Herr Kirsch. Allgemeines Kopfschütteln war die Antwort. »Wie sahen die Kinder aus?«

Während der Fahrer seine Angaben machte, traf Frau Dr. Anja Frey mit ihrem Wagen ein. Sie betrieb zusammen mit ihrem Mann eine Arztpraxis in Wildmoos. Ohne sich um die Passanten zu kümmern, kniete sie sich neben Edith Stein auf die Fahrbahn. Schon nach kurzer Untersuchung hob sie den Kopf.

»Herr Kirsch, rufen Sie bitte sofort einen Notarztwagen. Sagen Sie, daß Verdacht auf Herzinfarkt besteht. Es eilt.«

Der Polizeimeister klappte sein Notizbuch zu und spurtete davon. In diesem Moment dachte natürlich niemand an die Kinder. Die Stimme der Ärztin hatte so ernst und dringend geklungen, daß jede Minute kostbar war.

Frau Stein wurde in das nächste Haus transportiert und vorsichtig auf ein Bett gelegt. Während sich Anja Frey um sie kümmerte, blickte sie alle paar Minuten auf die Uhr. Sie fühlte, daß das Leben ihrer Patientin nur noch an einem seidenen Faden hing.

*

»Ich kann nicht mehr, Danielle«, jammerte Isabelle. Sie blieb stehen. »Ich geh nicht mehr weiter.« Demonstrativ ließ sie sich auf ihren Hosenboden fallen.

»Nur noch ein kleines Stückchen, Isabelle.«

»Warum laufen wir weg?«

»Das hab’ ich dir doch schon gesagt«, erwiderte Danielle ungehalten. »Wir waren ungezogen, und deshalb ist Frau Stein hingefallen und hat sich nicht mehr gerührt. Wir werden bestimmt bestraft.« Danielle starrte auf die Spitzen ihrer braunen Lederschuhe. »Ich wollte nicht ungezogen sein. Ich mag doch Frau Stein. Ich hab’ sie fast genauso lieb wie Papa und Maman.«

»Ich hab’ Frau Stein auch lieb«, erklärte Isabelle.

»Vielleicht ist sie tot«, flüsterte Danielle atemlos vor Angst. »Wenn sie tot ist, sind wir schuld.«

»Wie das Vögelchen?« fragte Isabelle entsetzt. Als Danielle nickte, füllten sich ihre Augen mit Tränen. Sie hatten vor einigen Tagen ihren Wellensittich begraben müssen.

»Komm, wir rennen weiter; ganz weit fort.« Danielle nahm wieder Isabelles Hand. »Wir verstecken uns, dann finden uns die Leute nicht.«

Die beiden Mädchen verließen Wildmoos in Richtung Schoeneich. Schon bald hatten sie das letzte Haus hinter sich gelassen. Sie rannten jetzt nicht mehr, sondern ließen sich Zeit. Isabelle ging immer langsamer. Sie stolperte bald nur noch an der Hand ihrer Schwester dahin. Jeder Stein schien ihr ein Bein stellen zu wollen.

»Wo verstecken wir uns denn?« fragte sie weinerlich. »Ich bin so müde, und ich habe Hunger und Durst.«

»Ich auch«, gab Danielle zu. Sie blickte geradeaus. Einige Meter vor ihnen begann der Wald. »Da verstecken wir uns!« Sie deutete mit ausgestrecktem Arm in Richtung der Bäume.

»Da ist’s aber so dunkel.« Isabelle blieb stehen.

»Du brauchst keine Angst zu haben, ich bin doch bei dir«, versicherte Danielle, aber ihre Stimme zitterte merkwürdig.

»Holt uns dann Maman?«

»Ja«, bestätigte Danielle, war sich dessen aber nicht sicher. Woher sollte ihre Maman wissen, wo sie waren? Sie nagte an ihrer Unterlippe. »Wir müssen nur auf sie warten«, fügte sie hoffnungsvoll hinzu.

Isabelle gab sich damit zufrieden. Sie umfaßte Danielles Hand etwas fester. Erschöpft marschierte sie neben ihr her auf den Wald zu.

Knapp eine Viertelstunde später waren sie im Wald verschwunden. Ängstlich drängten sich die beiden kleinen Mädchen aneinander. Danielle begann laut ein französisches Kinderlied zu singen, daß ihnen ihre Mutter beigebracht hatte. Als Isabelle nicht mit einstimmte, hörte sie wieder auf.

»Du mußt auch singen, Isabelle, dann kann uns niemand was tun«, sagte sie. »Wenn man Angst hat, muß man immer singen.«

Zögernd bewegten sich daraufhin Isabelles Lippen. »Sur le pont d’Avignon«, klang es durch den Wald.

Das Gebiet, in dem sich die beiden Kinder befanden, gehörte zum Gut Schoeneich. Einige Gutsarbeiter waren gerade dabei, Bäume zu markieren.

»Was ist denn das?« fragte Klaus Henrich. Er horchte in die Richtung, aus der der Gesang kam. »Hört sich nach Kindern an. Ob Henrik und seine Freunde sich mal wieder herumtreiben?«

»Glaube ich nicht, Henrik weiß, daß er hier momentan wirklich nichts zu suchen hat«, erwiderte sein Kollege.

»Du weißt doch, wie er ist.« Klaus Henrich grinste. »So ein richtiger Lausbub. Wenn ich mal einen Sohn hab’, dann soll er wie Henrik sein.«

»Dazu müßtest du erst die Trudi heiraten«, bemerkte Gerd Rösler. »Und wie ich dich kenne, wartest du damit, bis ihr beide alt und grau seid.«

»Ich geh und schau mal nach, was das für Kinder sind«, sagte Klaus Henrich. »Ich möcht nicht, daß sie sich hier herumtreiben, wenn es ans Fällen geht.« Er wartete die Antwort seines Kollegen erst gar nicht ab, sondern marschierte los.

»Und wenn die Maman nun nicht kommt?« fragte Isabelle, nachdem sie mit Singen aufgehört hatte.

»… petits bébés font comme ca«, sang Danielle unbeirrt weiter. Sie wollte gar nicht daran denken, daß die Maman sie nicht finden konnte.

»Danielle!« Isabelle zog energisch an der Hand ihrer Schwester. »Ich hab’ wieder Angst, Danielle.«

Die Fünfjährige wollte antworten, als sie den Mann zwischen den Bäumen hervortreten sah. »Komm, wir müssen weglaufen.« Sie zog Isabelle vom Weg.

»Bleibt stehen, warum lauft ihr denn fort?«

Die Kinder hörten nicht. Danielle zerrte ihre Schwester durch das Gestrüpp.

Klaus Henrich rannte den Kindern nach. Er konnte sie doch nicht einfach so laufen lassen. Sie brauchten bestimmt Hilfe. Schon bald hatte er sie eingeholt. Er hielt Danielle an den Schultern fest.

»Loslassen!« Isabelle versetzte den Mann einen heftigen Fußtritt.

»Ich sag’s der Polizei«, drohte Danielle. Sie versuchte, sich zu befreien.

»Ruhig, ganz ruhig.« Klaus Henrich nahm eine Hand von Danielles Schulter, griff nach Isabelle und hielt sie so weit von sich ab, daß sie ihn nicht mehr treten konnte. »Ich tu euch doch nichts! Habt ihr Angst?«

Isabelle zog die Nase hoch. »Bist du ein böser Mann?« Sie vergaß dabei völlig, daß man ihr beigebracht hatte, alle Fremden mit Sie anzusprechen.

Klaus Henrich lachte. »Nein, ich bin kein böser Mann, ich will euch doch nur helfen.« Er ließ Isabelle los. »Schaut mal zum Himmel. Es wird bald dunkel werden. Und bei Dunkelheit sollten kleine Mädchen nicht mehr allein im Wald herumspazieren.«

»Unsere Maman holt uns«, schwindelte Danielle.

»Maman?« Klaus runzelte die Stirn.

»So spricht man das nicht aus«, erklärte Danielle altklug.

»Ihr seid nicht von hier.« Der Waldarbeiter schaute sich die Kinder genauer an. »Wenn ihr aus Wildmoos oder Bachenau wäret, würde ich euch sicher kennen. Wohnt ihr in Sophienlust?«

»Was ist denn das?« fragte Danielle.

»Ein sehr schönes Kinderheim«, sagte Klaus. Er ließ Danielle los. »Versuch nicht wieder auszureißen, du weißt, ich hole dich doch ein. Wenn ich nur wüßte, wo ihr hingehört.« Er seufzte auf. »Willst du es mir nicht sagen, kleines Fräulein?«

Danielle schüttelte den Kopf. »Wir möchten jetzt gehn«, erklärte sie.

»Ich bring euch nach Schoeneich«, entschied der Gutsarbeiter. »Frau von Schoenecker wird wissen, was zu

tun ist.« Er nahm einfach die Hände der Kinder. »Habt ihr Hunger und Durst?«

»Ganz großen«, versicherte Isabelle. Hoffnungsvoll sah sie zu ihm auf. »Wir wollten Eis, aber dann ist Frau Stein… Au!« Danielle hatte ihr blitzschnell einen Stoß verpaßt.

»Das war aber gar nicht nett von dir.« Strafend blickte Klaus die Fünfjährige an. »Bist du immer so grob zu deiner Schwester? Sie ist doch deine Schwester?«

Danielle gab keine Antwort.

»Wie heißt ihr überhaupt?«

»Sag ja nichts, Isabelle!« befahl Danielle. Sofort legte sie ihre freie Hand auf den Mund. »Oh, jetzt hab’ ich verraten, wie du heißt.«

»Ist das so schlimm?« Klaus Henrich mußte ein Schmunzeln unterdrücken. Er ging mit den beiden Mädchen zur Straße zurück. »Wie wäre es, wenn du mir jetzt auch noch deinen Namen sagst.«

Danielle schüttelte heftig den Kopf.

»Da steckst du!« Gerd Rösler kam ihnen auf der Straße entgegen. »Ich habe mich schon gefragt, wo du bleibst.« Er schaute die Kinder an. »Steht dir gut, deine Rolle als Ersatzvater«, spöttelte er. »Was sind denn das für Kinder?«

Klaus hob die Schultern und ließ sie wieder fallen. »Ich bringe sie nach Schoeneich. Frau von Schoenecker wird sich bestimmt um sie kümmern.« Er wies auf Isabelle. »Wie das Küken heißt, weiß ich inzwischen. Isabelle ist ihr Name.«

Gerd zwinkerte ihm zu. »Na, so einen schönen Namen hat dein anderer Schützling sicher nicht.«

»Meiner ist auch schön. Ich heiß Danielle«, protestierte die Fünfjährige.

»Jetzt hast du alles verpetzt.« Isabelle lachte.

Danielles Augen füllten sich mit Tränen. Sie wischte sich mit ihrer freien Hand über die Augen.

»Mach dir nichts draus«, meinte Gerd Rösler. Er strich dem Mädchen durch die Haare. »Es wird alles wieder gut, glaub mir. Nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird.«

*

»Die beiden können sich doch nicht in Luft aufgelöst haben«, meinte Denise von Schoenecker. Sie hatte durch einen Anruf der Polizei von den vermißten Kindern erfahren und sofort mit den ältesten Zöglingen Sophienlusts eine Suchmannschaft zusammengestellt. Inzwischen waren schon zwei Stunden vergangen, ohne daß jemand die Kinder gesehen hatte.

»Sollte man wenigstens meinen«, erwiderte Frau Rennert. Sie stand auf und blickte durch das Fenster nach draußen. »Bald wird es dunkel. Nicht auszudenken, was alles geschehen kann, wenn die Kinder in den Wald gelaufen sind und nicht gefunden werden.«

»Mein Mann wollte ein paar Arbeiter zusammentrommeln. Er ist seit mindestens einer Stunde unterwegs. Die Kinder können doch eigentlich nicht so weit gekommen sein. Der Beschreibung nach handelt es sich um kleine Mädchen.«

»Und die roten Jacken müßten zudem jedermann auffallen.«

»Scheinbar doch nicht.« Denise seufzte auf. »Ich nehme an, sie haben einen Schock bekommen und sind deshalb fortgelaufen. Sie könnten sich auch in einem Keller versteckt haben.«

»Ich habe…« Frau Rennert wandte sich dem Schreibtisch zu, weil das Telefon klingelte. Sie meldete sich und reichte gleich darauf den Hörer an Denise weiter. »Ihre Köchin«, sagte sie.

»Ja, Martha?« sprach Denise in die Muschel.

»Herr Henrich war eben hier, Frau von Schoenecker«, sprudelte die Köchin aufgeregt hervor. »Und was meinen Sie, wen er gebracht hat? Die Kinder, ich meine die vermißten Mädchen. Er hat sie im Wald entdeckt. Ich hab’ ihn mit den beiden nach Sophienlust geschickt.«

»Das ist eine wundervolle Nachricht, Martha. Danke, daß Sie gleich angerufen haben.« Denise legte auf und wandte sich an Frau Rennert. »Unsere beiden Ausreißer werden gleich hier eintreffen.«

»Dann werde ich dafür sorgen, daß warmer Kakao und Plätzchen bereitstehen. Die Kinder werden Durst und Hunger haben.« Die Heimleiterin ging hinaus, um mit der Köchin Magda, einer Schwester Marthas, zu sprechen.

Denise rief die Polizei in Wildmoos an und bat Polizeimeister Kirsch, die Nachricht weiterzugeben. Anschließend wählte sie die Nummer des Maibacher Krankenhauses. Vom zuständigen Arzt erfuhr sie, daß die Patientin noch immer bewußtlos war. Sie unterrichtete ihn davon, daß man die Kinder gefunden hatte.

Noch während die Verwalterin mit dem Krankenhaus telefonierte, traf Klaus Henrich mit Isabelle und Danielle in Sophienlust ein. Er parkte seinen Wagen vor der weißen Freitreppe und stieg aus.

»Endstation«, rief er den Kinder zu, die auf dem Rücksitz saßen.

»Ist das auch ein Schloß?« fragte Danielle. Kurz zuvor hatte sie bereits das Gutshaus von Schoeneich für ein Schloß gehalten. »Wohnt da eine Prinzessin?«

»Nein, hier wohnt keine Prinzessin«, versicherte Klaus. Er nahm die beiden kleinen Mädchen bei den Händen und stieg mit ihnen die Stufen hinauf.

Schwester Regine hatte den Wagen vorfahren hören. Sie kam den Ankömmlingen in der Halle entgegen.

»So, da wären die Ausreißer, Schwester Regine.« Strahlend übergab Klaus Henrich der Kinder- und Krankenschwester die Mädchen.

»Wer seid ihr denn?« Hinter Regine Nielsen tauchte die kleine Heidi Holsten auf, das jüngste der Dauerkinder von Sophienlust. »Mir hat gar niemand gesagt, daß Neue kommen. Schwester Regine, warum hast du mir denn nichts verraten?«

»Ich habe es selbst erst vor wenigen Minuten erfahren«, erwiderte die Kinderschwester. Sie wandte sich an Isabelle und Danielle. »Was würdet ihr von Kakao und Plätzchen halten? So etwas mögt ihr doch sicherlich.«

»Ja«, bestätigte Isabelle.

»Ich auch«, stimmte Danielle zu.

»Ich mag auch Kakao und Plätzchen«, erklärte Heidi.

»Du bist natürlich mit von der Partie«, sagte Denise von Schoenecker, die aus dem Empfangszimmer kam. Sie ging auf die beiden Mädchen zu. »Ich bin Tante Isi«, stellte sie sich vor. »Und wie heißt ihr?«

Danielle zögerte mit der Antwort. Sie blickte zu Klaus Henrich hin. »Danielle«, sagte sie dann ergeben.

»Ein hübscher Name«, meinte Denise. »Und wie heißt du, mein Kleines?« fragte sie Danielles Schwesterchen.

»Isabelle.«

»Habt ihr auch einen Nachnamen?«

»Ich hab’ Hunger«, überging Danielle die Frage und legte ihr Köpfchen zur Seite. »Wann kriegen wir denn Kakao und Plätzchen?«

»Gleich«, versprach Denise. »Herr Henrich, Sie sind ebenfalls herzlich eingeladen.«

»Nett von Ihnen, Frau von Schoenecker, danke, aber ich muß wieder in den Wald. Gerd und ich wollen heute noch mit dem Markieren der Bäume fertig werden.« Er tippte mit dem rechten Zeigefinger an seine Mütze. »Auf Wiedersehen!«

»Auf Wiedersehen, Herr Henrich!« Denise begleitete ihn zum Portal.

Schwester Regine führte die Kinder währenddessen in den Speisesaal, wo die Köchin bereits einen der Tische gedeckt hatte. Heidi verschwand in der Küche, um noch einen Becher für sich zu holen.

Danielle und Isabelle setzten sich brav an den Tisch, griffen aber nicht sofort zu, sondern warteten, bis sie von Schwester Regine dazu aufgefordert wurden.

»Schmeckt es?« fragte Denise. Sie zog sich einen Stuhl herbei und nahm ebenfalls Platz.

Danielle nickte. »Daheim haben wir auch so gute Kekse«, meinte sie und griff zu.

»Dann bäckt deine Mama sicher genauso gern wie unsere Köchin«, entgegnete Denise.

»Unsere Maman bäckt doch nicht!« Danielle sah sie etwas empört an. »Backen tut die Frau Stein. Maman malt immer.«

»Was malt sie denn?«

»Kleider, ganz schöne Kleider.«

»Manchmal bringt sie uns Stoff mit und Frau Stein macht dann Kleider für unsere Puppen«, erzählte Isabelle in ihrer kindlichen Sprache. »Frau Stein ist richtig lieb. Wir wollten nicht, daß sie hinfällt.«

»Ist Frau Stein eure Haushälterin?«

Danielle war der Meinung, daß sie schon genug verraten hatten. »Wir wollen nicht darüber sprechen«, erklärte sie. »Maman sagt immer, daß wir nicht mit fremden Leuten reden sollen.« Sie griff wieder in die Gebäckschale.

»Warum redet ihr denn so komisch?« meldete sich Heidi zu Wort, die bis dahin äußerst beschäftigt damit gewesen war, einen Keks nach dem anderen zu verdrücken. »Das heißt doch Mama.«

»Ich glaube, Danielles und Isabelles Mama ist Französin, deshalb sagen sie Maman«, erklärte Denise von Schoenecker. »Stimmt das, Danielle? Ist eure Mama Französin?«

»Maman ist aus Paris.« Danielle stellte ihren Kakaobecher auf den Tisch zurück.

Schwester Regine nahm Heidi bei der Hand. »Komm, wir gehen noch etwas in den Park, bevor es ganz dunkel wird«, schlug sie vor.

»Ich möchte aber lieber dableiben.«

»Nichts da.« Regine zog sie liebevoll vom Stuhl.

»Na gut«, seufzte Heidi. »Ihr müßt aber so lange warten, bis ich wieder zurückkomme«, verlangte sie von den Schwestern.

»Sie werden noch da sein«, beruhigte sie Denise. »Geh nur.«

»Ist das Ihr Kind?« erkundigte sich Danielle, als Schwester Regine und Heidi den Speisesaal verlassen hatten.

»Nein. Heidi lebt in Sophienlust. Weißt du, das hier ist ein Haus, in dem sehr viele Kinder wohnen. Einige von ihnen haben keine Eltern mehr, so auch Heidi.«

»Wir haben Maman, Papa und Frau Stein«, erzählte Danielle. Sie starrte nachdenklich in ihren Kakaobecher. »Ist Frau Stein tot?«

Davor also hatten die Kinder Angst. »Nein, sie ist nicht tot«, beruhigte sie die Gutsbesitzerin. »Sie liegt im Krankenhaus. Ich…« Ihr Blick fiel auf Isabelle, die auf ihrem Stuhl eingeschlafen war. »Ich glaube, wir bringen erst einmal dein Schwesterchen ins Bett, dann können wir ja weiterreden. Einverstanden?«

Danielle nickte. »Isabelle ist noch so klein«, sagte sie. »Fast noch ein Baby.«

Denise stand auf und hob Isabelle hoch. Danielle folgte ihr die Treppe hinauf in das Zimmer, das Frau Rennert inzwischen für die Mädchen vorbereitet hatte. Interessiert sah sie zu, wie die Gutsbesitzerin Isabelle entkleidete.

»Daheim macht das immer Frau Stein«, erzählte sie. »Ich kann mich schon ganz allein an- und ausziehen. Aber ich bin ja auch schon groß.«

»Willst du mir nicht deinen ganzen Namen verraten, Danielle?« fragte Denise. »Und ein so großes Mädchen wie du weiß doch sicher auch, wo es mit Maman, Papa und Frau Stein wohnt.«

»Papa wohnt nicht bei uns. Er wohnt ganz weit weg am Wasser.«

»Wie heißt denn dein Papa?«

»Tobias Lemmon.«

Denise beschloß, die Kleine nicht weiter auszufragen, zumal sie sah, daß auch sie sehr müde war. »Möchtest du dich nicht auch bis zum Abendessen hinlegen?« fragte sie. »Weißt du, wenn dein Schwesterchen aufwacht, hat es vielleicht Angst, so allein im Zimmer.«

Danielle dachte nach. »Gut, dann gehe ich auch schlafen«, entschied sie und begann sich auszuziehen.

*

»Jeannette, ma chérie!« Raoul Garnier ging mit ausgebreiteten Armen auf eine junge, elegantgekleidete Frau zu, die gerade eine Treppe hinunterstieg. Anmutig schwang der weinrote Rock um ihre Beine. »Wie lange haben wir uns nicht mehr gesehen?«

Jeannette Lemmon blinzelte überrascht, dann huschte ein leuchtendes Lächeln über ihr apartes Gesicht.

»Raoul, was machst du denn in Berlin?« fragte sie und stieg die letzten Stufen hinunter. Ihre blauen Augen strahlten vor Wiedersehensfreude.

»Es wäre eine Lüge, würde ich behaupten, ich hätte nur dich gesucht«, sagte der junge Mann, während er

Jeannette in seine Arme zog. Er küßte sie auf beide Wangen. »Du hast dich kaum verändert«, meinte er und hielt sie etwas von sich ab. »Ein Jammer, daß…« Er winkte ab. »Lassen wir das, ma chérie. Hauptsache, du bist glücklich.«

Ein Schatten glitt über Jeannettes Gesicht. »Glück, was ist das schon?« fragte sie leise. »Ein kurzer Rausch, mehr nicht.«

»Was hast du?« Raoul blickte ihr in die Augen.

»Sprechen wir von etwas anderem.« Jeannette lächelte wieder. Sie hängte sich bei ihm ein. »Wie lange bleibst du in Berlin? Wohnst du auch in diesem Hotel?«

»Ja.« Er lachte. »Welch ein glücklicher Zufall. Es ist das erste Mal, daß ich mein Quartier in diesem Hotel habe, weil das andere Hotel leider ausgebucht war. Stell dir vor, wir wären beide in Berlin gewesen und hätten uns nicht getroffen! Allein schon der Gedanke ist schrecklich. Sag, was hast du jetzt vor? Hättest du etwas Zeit für mich?«

»Ich wollte zum Abendessen gehen.«

»Darf ich mich anschließen?«

»Was für eine Frage!«

»Gut, nachdem das geklärt ist, werde ich dich ganz groß ausführen.« Wieder sah Raoul sie an. »Weißt du noch, unsere Kahnfahrten auf der Seine? Damals lag uns die ganze Welt zu Füßen. Ich werde diesen Sommer niemals vergessen.«

»Ich auch nicht.« Jeannette sah sich wieder mit Raoul Arm in Arm den Montmartre hinuntergehen, auf der höchsten Plattform des Eiffelturms stehen und auf der Champs-Élysées Kaffee trinken. Wie jung und unbeschwert waren sie damals gewesen!

»Also, ich bin bereit«, sagte der Mann. »Stürzen wir uns in das Vergnügen.«

»Ich möchte nur vorher noch zu Hause anrufen«, erwiderte Jeannette. »Es macht dir doch nichts aus, etwas zu warten? Meine Kinder erwarten meinen Anruf. Bevor sie nicht mit mir gesprochen haben, gehen sie nicht schlafen.«

»Du hast Kinder?«

»Ja, zwei Mädchen. Danielle ist fünf, fast sechs, Isabelle dreieinhalb.« Sie berührte seinen Arm. »Ich bin in etwa zehn Minuten wieder da.«

»In Ordnung«, erwiderte Raoul, alles andere als begeistert.

Es dauerte nicht lange, bis Jeannette wieder zurückkam. Suchend blickte sie sich im Foyer um, dann entdeckte sie den jungen Mann in einem Sessel zwischen zwei Zimmerpalmen.

»Na, den Kinderchen eine gute Nacht gewünscht?« erkundigte er sich, als sie vor ihm stand, und stand auf.

»Es hat niemand den Hörer abgenommen«, sagte sie nachdenklich. »Frau Stein wollte mit ihnen lediglich nach Wildmoos fahren, das hat sie mir jedenfalls gestern abend erzählt, als ich mit ihr telefonierte. Ich begreife das nicht.«

»Sie werden noch nicht aus Wildmoos zurück sein«, meinte Raoul. »An deiner Stelle würde ich mir keine Sorgen machen. Wer ist diese Madame Stein?«

»Meine Haushälterin. Sie nimmt sich immer der Kinder an, wenn ich auf Reisen bin.«

»Und bist du das oft?«

»Ab und zu. Ich arbeite wieder in meinem alten Beruf als Modezeichnerin.«

»Oh, wunderbar!« Raoul schlug ihr leicht auf die Schulter. »Bravo, Jeannette. Ich fand es nämlich sehr schade, als du damals deinen Beruf aufgegeben hast. Hat dein Mann also endlich Vernunft angenommen.«

»Mein Mann?« Jeannette schüttelte den Kopf. »Sprechen wir besser nicht von Tobias.«

»Das klingt, als sei mit euch nicht alles in Ordnung.« Nachdenklich blickte ihr Raoul ins Gesicht. »Daß wir uns hier trafen, ist eine Schicksalsfügung, nicht wahr, ma chérie? Also sollten wir auch aufrichtig zueinander sein und keine Geheimnisse voreinander haben.«

»Wollten wir nicht essen gehen?«

»Gut, gehen wir, aber beim Dinner mußt du mir alles erzählen, Jeannette.«

»Was bleibt mir anderes übrig, sonst läßt du mich noch verhungern«, meinte die junge Frau. »Mit Danielle und Isabelle wird schon alles in Ordnung sein. Auf Frau Stein konnte ich mich bisher immer verlassen.«

»Ich werde dafür sorgen, daß du es nicht bereust, meine Einladung angenommen zu haben«, versprach Raoul. Er legte den Arm um Jeannettes schmale Taille und führte sie auf die schwach belebte Straße hinaus.

*

»Die beiden schlafen noch immer«, meldete Schwester Regine. »Nachdem sie jetzt das Abendessen versäumt haben, werden sie morgen früh entsetzlich hungrig sein. Ob ich ihnen noch ein paar Plätzchen auf den Nachttisch stellen soll, falls sie nachts aufwachen?«

»Eine gute Idee«, lobte Denise. Sie blickte auf ihre Armbanduhr. Ihr Mann hatte versprochen, sie gegen acht abzuholen, jetzt war es bereits halb neun.

»Trinken Sie noch eine Tasse Kaffee mit mir, Frau von Schoenecker?« fragte Else Rennert, die Heimleiterin.

»Ja, da es aussieht, als würde sich mein Mann verspäten.« Die Verwalterin wandte sich dem Empfangszimmer zu.

»Mutti, was sind denn das für Mädchen?« Henrik stürmte durch das offene Portal in die Halle. »Haben sie dir schon erzählt, woher sie kommen? Herr Henrich sagt, sie sprechen französisch. Kann ich mich überhaupt mit ihnen unterhalten?«

»Eines nach dem anderen, mein Sohn.« Denise fing Henrik mit beiden Armen auf und drückte ihn an sich. Mit einer hektischen Bewegung machte er sich frei. Auch wenn er ab und zu ganz gern mit seiner Mutter schmuste, vor anderen Leuten mochte er so etwas nicht.

»Tut mir leid, ich habe mich etwas verspätet.« Alexander von Schoenecker trat ebenfalls in die Halle. »Wie man sieht, ist kein Tag in Sophienlust wie jeder andere. Immer gibt es einige Überraschungen.«

»Wem sagen Sie das, Herr von Schoenecker«, meinte Frau Rennert. »Die beiden haben für allerlei Aufregungen gesorgt. Jetzt schlafen sie zum Glück.«

»Darf ich sie sehen?«

»Aber Henrik, Danielle und Isabelle sind doch keine jungen Hündchen, die man jederzeit vorführen kann.« Denise lachte. Sie fuhr ihrem neunjährigen Sohn durch den braunen, etwas wirren Haarschopf. »Wir werden jetzt nach Hause fahren. Für dich wird es höchste Zeit. Immerhin hast du morgen Schule.«

»Ach!« Henrik machte eine wegwerfende Handbewegung.

»Klingt, als wärst du Klassenprimus«, meinte sein Vater.

»Streber mag niemand«, kam es spontan von Henrik.

»Und da du viele Freunde hast, läßt das weit blicken«, sagte Frau Rennert schmunzelnd. »Morgen nach der Schule wirst du Danielle und Isabelle kennenlernen«, tröstete sie ihn.

»Sind sie dann ganz bestimmt noch da?« Henrik sah die mütterliche Frau skeptisch an. »Ehrenwort?«

»Das kann ich dir leider nicht darauf geben, aber wie es bis jetzt aussieht, sind sie auch noch morgen bei uns.«

Else Rennert begleitete die von Schoeneckers zu deren Wagen und verabschiedete sich dort von ihnen.

Henrik kletterte in den Fond und zog die Beine auf den Sitz. Verstohlen gähnte er hinter der vorgehaltenen Hand. Er wurde erst wieder munter, als sie das Tor des Sophienluster Parks passierten.

»Gibt es Neuigkeiten, Denise?« fragte Alexander, während er das Tempo etwas beschleunigte.

»Frau Stein ist nach wie vor bewußtlos. Vor einer halben Stunde habe ich noch einmal im Krankenhaus angerufen. Ihr Zustand ist besorgniserregend.«

»Und die Eltern der Kinder?«

»In Danielles Jacke war das Etikett eines Maibacher Kindergeschäftes. Das gab mir den Hinweis auf Maibach. Eine Jeannette Lemmon lebt tatsächlich mit zwei Kindern und ihrer Haushälterin in Maibach, soviel habe ich inzwischen herausbekommen. Ich habe telefonisch mit einer ihrer Nachbarinnen gesprochen. Allem Anschein nach ist Frau Lemmon seit einigen Tagen verreist. Die Nachbarin wußte allerdings weder wohin, noch konnte sie mir ihren Arbeitgeber nennen.«

»Dürfte nicht schwer sein, das auch noch herauszufinden«, meinte Alexander.

»Und wo ist der Vater der Kinder?« wollte Henrik wissen. Er nahm seine Beine vom Sitz runter und beugte sich etwas vor. »Danielle und Isabelle haben doch ganz bestimmt auch einen Vati.«

»Anzunehmen«, bemerkte sein Vater.

»Vielleicht ist er tot«, überlegte der Neunjährige laut.

»Frau Lemmon könnte auch geschieden sein«, erwiderte seine Mutter. »Wir wollen nicht immer gleich das Schlimmste annehmen.«

»Es ist nicht gut, wenn Eltern sich scheiden lassen.« Durch die Arbeit seiner Mutter im Kinderheim, wurde Henrik oft mit dem Schicksal der Scheidungswaisen konfrontiert.

»In manchen Fällen ist es aber das Beste, was ein Ehepaar tun kann«, sagte sein Vater. »Für die Kinder ist es sicherlich viel schrecklicher, wenn sie ständig Mittelpunkt furchtbarer Streitereien sind. Und oft bleibt es ja nicht einmal dabei.«

»Dem Rolf seine Eltern haben sich immer geschlagen.« Henrik kicherte verhalten. »Einmal hat Rolfs Mutter seinem Vater einen vollen Teller nachgeworfen. Muß das komisch ausgesehen haben.«

»Für Rolf bestimmt nicht«, bemerkte Denise.

»Nein, mir würde das auch nicht ge­fallen«, gab Henrik zu.

Sie hatten die Einfahrt nach Schoeneich erreicht. Alexander von Schoenecker bog durch das offene Tor. Er hielt kurz an, um es zu schließen, dann fuhren sie weiter.

Nick, Denises Sohn aus erster Ehe, der im Wohnzimmer vor dem Fernseher gesessen hatte, steckte seinen Kopf gerade durch den Türspalt, als seine Eltern und Henrik ins Haus kamen.

»Gibt es Neuigkeiten?« fragte er.

»Nichts von Bedeutung, Nick, leider«, erwiderte seine Mutter. »Und bei dir? Wolltest du dich nicht auf die Mathematikarbeit vorbereiten?«

»Ich bin fertig, die Arbeit kann kommen.«

»Was gibt’s denn im Fernsehen?« Henrik wollte an seinem Bruder vorbeischlüpfen, doch Alexander hielt ihn am Kragen fest. »Das Programm für dich steht bereits fest, Sohnemann. Ausziehen, waschen, ins Bett gehen.«

»Och, Vati.«

»Ab mit dir!« Alexander drehte Henrik in Richtung Treppe und gab ihm einen liebevollen Stoß. »Wir kommen nachher noch zum Gutenachtsagen.«

»Erwachsen müßte man sein«, seufzte Henrik, stieg aber gehorsam die Treppe hinauf. Ihm war eingefallen, daß er sich in der Schule ein neues Comic-Heft von seinem Banknachbarn ausgeliehen hatte. Er wollte es sich mit Hilfe einer Taschenlampe unter der Bettdecke zu Gemüte führen.

Nick folgte seiner Mutter und seinem Stiefvater in die Bibliothek, um sich das Neueste berichten zu lassen.

Später am Abend, es war längst Ruhe im Haus eingekehrt und Nick lag bereits im Bett, beschloß das Ehepaar von Schoenecker, noch einen kurzen Spaziergang im Park zu machen. Liebevoll legte Alexander seiner Frau eine Stola um die Schultern.

»Tut gut, die Stille ringsherum«, meinte Denise. In den Arm Alexanders geschmiegt, ging sie neben ihm her durch die Allee.

»War mal wieder ein bißchen viel heute«, sagte Alexander besorgt. »Ich mache mir ernsthaft Sorgen um deine Gesundheit, Liebes. Irgendwann solltest du einmal richtig ausspannen.« »In den Sommerferien werde ich es tun«, versprach Denise. »Ich fühle mich gut, Alexander, es besteht überhaupt kein Grund zur Besorgnis.«

»Das sagst du so leicht.« Er blieb stehen und nahm sie fest in die Arme. »Ich kann sehr gut verstehen, daß du so in deiner Arbeit aufgehst, Liebling, aber ab und zu solltest du auch an dich denken. Seit vierzehn Tagen hat es kaum einen Abend gegeben, an dem du vor acht Uhr nach Hause gekommen bist.«

»Ich gelobe Besserung.«

»Ich nehme dich beim Wort.« Der Gutsbesitzer beugte sich zu ihr hinunter und küßte sie zärtlich auf den Mund.

*

»Kaffee, Herr Professor?« Anna Marquard steckte den Kopf in das Arbeitszimmer.

Tobias Lemmon antwortete nicht. Er hatte sich in seine Notizen vertieft und alles um sich herum vergessen.

Anna seufzte hörbar auf. »Herr Professor!«

Der Mann wandte den Kopf zur Tür. »Ja, was ist denn schon wieder?« fragte er unfreundlich. Erst vor einer halben Stunde war er durch den Postboten gestört worden, der auf seiner Unterschrift für einen Einschreibebrief bestanden hatte.

»Ich fragte, ob Sie eine Tasse Kaffee möchten«, erwiderte Anna ruhig.

Tobias Lemmon besann sich. Er lä­chelte um Entschuldigung bittend. »Ja, gern, Anna«, sagte er. »Sie wissen ja, wie das ist, wenn ich mitten in einer Arbeit stecke. In etwa einer halben Stunde möchte ich Ihnen wieder diktieren. Sind Sie bis dahin mit Ihrer Arbeit fertig?«

»Ich bin bereits fertig.«

»Sie sind schon ein Schatz, Anna.« Tobias nickte seiner Assistentin kurz zu, dann widmete er sich wieder seinen Aufzeichnungen. Er blickte nicht einmal auf, als sie ihm wenig später eine Tasse mit der dampfenden Flüssigkeit auf den Schreibtisch stellte.

Anna Marquard ging ins Labor hinüber, das sich in einem ehemaligen Schuppen des alten Bauernhauses befand, und vervollständigte die Eintragungen in dem Journal, das über

die einzelnen Versuchsreihen geführt wur­de. Sie arbeitete jetzt seit fast einem Jahr für Professor Lemmon. An der Universität war sie eine seiner eifrigsten Studentinnen gewesen, deshalb war es für sie nicht sehr verwunderlich gewesen, als er ihr die Stelle einer Assistentin angeboten hatte.

Auf ihrem Schreibtisch klingelte das Telefon. »Bei Lemmon«, meldete sie sich.

»Kinderheim Sophienlust. Ich hätte gern Herrn Lemmon gesprochen. Mein Name ist von Schoenecker.«

»Da sind Sie sicher falsch verbunden«, erwiderte Anna verblüfft. »Ich glaube nicht, daß der Herr Professor etwas mit einem Kinderheim zu tun hat.«

»Bitte verbinden Sie mich.«

»Würden Sie mir bitte sagen, um was es sich handelt, Frau von Schoenecker? Der Herr Professor wird sehr ungehalten sein, wenn ich ihn grundlos störe.«

»Es geht um seine Kinder Danielle und Isabelle«, erklärte Denise. »Es ist sehr wichtig«, setzte sie hinzu.

»Einen Moment bitte.« Anna holte tief Luft, dann drückte sie auf das weiße Knöpfchen und wählte die Nummer des Arbeitszimmers. »Entschuldigen Sie bitte die Störung, Herr Professor, aber da möchte Sie jemand wegen Ihrer Töchter sprechen«, sagte sie, wartete erst gar nicht seine Antwort ab, sondern stellte sofort durch.

»Anna! – Anna!«

»Von Schoenecker«, meldete sich Denise.

»Wer sind Sie denn?« bellte Tobias Lemmon in den Hörer.

»Ich verwalte das Kinderheim Sophienlust«, erwiderte Denise, ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen. »Sie haben doch zwei Töchter, Herr Lemmon?«

»Ja? – Was um alles in der Welt haben Sie mit meinen Kindern zu tun? Danielle und Isabelle leben doch bei ihrer Mutter in Maibach! – Ist etwas passiert?«

Also macht er sich doch Sorgen, dachte die Frau zufrieden. Sie erzählte, daß Frau Stein in Wildmoos mitten auf der Straße zusammengebrochen war und einer der Gutsarbeiter die beiden Kinder im Wald gefunden hatte.

»Ich begreife das alles nicht«, sagte Tobias. »Wo steckt denn meine Frau? Sie müssen wissen, wir leben in Scheidung, das heißt, offiziell haben wir sie allerdings noch nicht eingereicht.

Jeannette ist mit den Kindern nach Maibach gezogen. Sie arbeitet dort in einem Modehaus.«

»Wir wissen nicht, wo Ihre Frau steckt, Herr Lemmon. Frau Stein ist leider noch nicht ansprechbar. Zum Glück erinnerte sich eine der Nachbarinnen, daß Ihre Frau einmal erwähnte, ihr Mann würde in Schleswig-Holstein leben. Wir haben in Marne Freunde, daher war es nicht allzu schwierig, Ihre Adresse herauszubekommen.«

»Das ist typisch Jeannette! Läßt einfach die Kinder allein!« brauste Tobias auf. »Verlaß war noch nie auf sie. Bitte entschuldigen Sie, daß ich vorhin so unfreundlich war.«

»Wissen Sie, für welches Modehaus Ihre Frau arbeitet?«

»Nein, ich habe mich für derlei Dinge nie interessiert.«

»Na, das macht nichts, Maibach ist keine Großstadt, es wird leicht sein, es herauszufinden.«

»Was geschieht nun mit den beiden? Wie geht es ihnen überhaupt?«

»Ich würde vorschlagen, daß sie vorläufig in Sophienlust bleiben, bis wir wissen, was mit Ihrer Frau ist«, erwiderte Denise. »Wer von Ihnen hat das Sorgerecht?«

»Meine Frau und ich gemeinsam. Um ehrlich zu sein, ich habe mich nie sehr darum gekümmert. Die Kinder haben mich im letzten Jahr mehrmals mit Frau Stein besucht. Es verlief alles fabelhaft. Ich konnte es mir immer einrichten, einige Tage freizunehmen.«

»Wären Sie bereit, die Kinder notfalls aufzunehmen, Herr Lemmon?«

»Sie meinen, falls meine Frau sich nicht um sie kümmern kann, da Frau Stein für längere Zeit, oder gar für immer, ausfällt? Keine Frage, Frau von Schoenecker. Bitte rufen Sie mich wieder an, wenn es etwas Neues gibt. Für Ihre Kosten komme ich selbstverständlich auf.«

»Die Kosten sind momentan nicht so wichtig. Hauptsache, es ist jemand da, der sich der Mädchen annehmen kann«, sagte Denise. »Sie hören dann wieder von mir.«

»Danke für Ihre Mühe, Frau von Schoenecker. Ich werde heute noch bei Ihnen anrufen und mit den beiden sprechen. Doch im Augenblick stecke ich mitten in der Arbeit.«

Denise schmunzelte. Danielle hatte ihr beim Frühstück verraten, daß ihr Papa immer arbeiten würde. »Ich werde es den Kindern ausrichten«, versprach sie und gab die Telefonnummer des Kinderheims durch. »Bis heute nachmittag!«

»Danke für Ihren Anruf. Auf Wiederhören!« Tobias Lemmon legte auf. Sekundenlang starrte er vor sich hin, dann beugte er sich wieder über seine Notizen. Innerhalb weniger Minuten galten seine Gedanken ausschließlich wieder seiner Arbeit.

*

»Hallo, Tante Isi!« Danielle rannte die Freitreppe hinunter und warf sich in Denise von Schoeneckers Arme. »Warum bist du gestern nicht dagewesen, Tante Isi? Ich habe so auf dich gewartet.«

»Weil ich in Stuttgart zu tun hatte, Danielle«, erwiderte Denise von Schoenecker. Die beiden Mädchen lebten jetzt bereits seit einer Woche in Sophienlust.

»Wann dürfen wir Frau Stein besuchen?«

»Das dauert noch ein Weilchen, Kleines.« Denise strich dem kleinen Mädchen die Haare aus der Stirn. »Frau Stein ist noch sehr krank. Es geht ihr zwar inzwischen etwas besser, aber sie braucht sehr, sehr viel Ruhe.«

»Und wenn Isabelle und ich ganz leise sind?«

»Auch dann nicht.«

»Schade.«

»Ihr könntet ihr einen Blumenstrauß ins Krankenhaus schicken«, schlug Denise vor. »Hier wachsen so viele Blumen, ihr habt also reichlich Auswahl.«

»Oh, fein!« Danielle strahlte.

»Am besten, ihr sagt Justus Bescheid, dann wird er euch dabei helfen.«

»Können wir gleich gehen? Isabelle ist im Bastelzimmer und malt zusammen mit Heidi. Ich werde es ihr sagen.« Danielle löste sich von Denises Hand und lief zur Treppe, drehte sich dort aber noch einmal um. »Du bist sehr lieb, Tante Isi. Ich hab’ dich richtig gern.« Wie ein Wirbelwind fuhr sie herum und stolperte die Treppe hinauf.

Frau Rennert kam Denise in der Halle entgegen. »Schön, wie sich die beiden bei uns eingelebt haben«, meinte sie. »Manche Eltern wissen gar nicht, was ihnen entgeht, wenn sie Kinder einfach nur in die Welt setzen und sich dann kaum noch um sie kümmern. Haben Sie inzwischen schon mit Frau Lemmon gesprochen?«

Die Verwalterin nickte. »Ich habe sie gestern abend noch erreicht. Sie entschuldigte sich mit ihrer vielen Arbeit.«

»Arbeit hin und her, sie hätte zumindest anrufen können, nachdem sie schon vor Tagen Ihre Nachricht bekam.«

Denise ging ins Empfangszimmer und ließ sich in einen der Sessel fallen. »Sie erklärte mir kurz und bündig, sie hätte schon von unserem Kinderheim gehört und deshalb gewußt, daß ihre Kleinen bei uns gut aufgehoben wä­ren.«

»Scheinbar bedeuten ihr die Kinder gar nichts.« Frau Rennert nahm hinter ihrem Schreibtisch Platz.

»Das will ich nicht einmal sagen. Sie machte mir durchaus nicht den Eindruck einer Frau, der es völlig gleichgültig ist, was mit ihren Kindern geschieht. Auch die Auskünfte, die ich in Maibach einholte, waren ziemlich positiv. Mir kommt es eher vor, als würde sie meinen, wenn die Kinder reichlich zu essen haben, gut gekleidet sind und jemand da ist, der für sie sorgt, alles getan zu haben.«

»Trotzdem ein ziemliches Armutszeugnis.«

»Es gibt viele Eltern, die so denken, vor allem in den bessergestellten Kreisen wie den Lemmons«, bemerkte Denise. Sie dankte dem Hausmädchen, das ihr eine Tasse Kaffee gebracht hatte. »Ich fragte Frau Lemmon, wann sie nach Maibach zurückkehren würde. Sie sagte mir, das wisse sie noch nicht genau.«

»Und der Vater…«

»Tante Isi!« Heidi Holsten, Vicky Langenbach, Fabian Schöller und die Schwestern Lemmon drängten sich ins Empfangszimmer. »Wir gehen jetzt alle Blumen pflücken«, verkündete Vicky.

»Denkt aber daran, daß ihr Frau Stein nicht die ganze Wiese ins Krankenhaus schicken könnt.« Denise lachte.

»Wir nehmen nur die schönsten Blumen«, erklärte Fabian.

Heidi rannte zu Denise und kletterte auf ihren Schoß. »Kannst du nicht mitkommen, Tante Isi? Mit dir macht Blumen pflücken noch viel mehr Spaß.«

»Es geht leider nicht, Heidi.«

»Och!« Die Fünfjährige schlang die Ärmchen um ihren Hals. »Wir sind auch ganz bald wieder da, Tante Isi. Du versäumst nicht viel Arbeit.« Sie legte das Köpfchen zur Seite und sah die Gutsbesitzerin von unten herauf treuherzig an.

»Nein, Liebes.« Denise nahm Heidis Näschen zwischen die Finger. »Auf mich wartet heute noch jede Menge Arbeit.« Zärtlich drückte sie das kleine Mädchen an sich, dann schob sie es vom Schoß. »Ab mit dir.«

»Ich auch.« Isabelle streckte die Ärmchen nach ihr aus. »Ich will auch gedrückt werden.«

Denise hob Isabelle hoch und preßte die Kleine zärtlich an sich. »So, zufrieden?«

»Ja.« Isabelle strahlte sie an.

Die Verwalterin stellte sie auf den Boden. »Frau Rennert und ich können auch ein paar Blumen gebrauchen«, sagte sie.

»Und auch Schwester Regine«, kam es von Vicky.

»Und ich pflück’ welche für Magda«, schrie Fabian.

»Die nächste Zeit werden sie beschäftigt sein«, meinte Frau Rennert, nachdem die Kinder durch die Halle ins Freie gelaufen waren. »Ich wollte vorhin sagen, daß der Vater auch nicht viel Interesse an den Kindern zu haben scheint. Seit fünf Tagen hört man nichts mehr von ihm.«

Es klopfte. »Ein Fräulein Marquard möchte Sie sprechen, Frau von Schoenecker«, meldete das Hausmäd­chen.

»Hat Fräulein Marquard gesagt, weshalb?«

»Es handelt sich um Danielle und Isabelle.«

»Ich komme.« Denise stand auf und trat in die Halle.

Anna Marquard hatte am Kamin auf die Gutsbesitzerin gewartet, jetzt ging sie ihr entgegen. »Bitte entschuldigen Sie, daß ich so unangemeldet hier hereinplatze«, sagte sie mit einem charmanten Lächeln.

»Oh, das macht doch nichts.« Die Verwalterin reichte ihr die Hand.

»Herr Lemmon schickt mich. Er macht sich Sorgen um die Kinder. Ihm gelingt es zwar immer, die Gedanken an Persönliches während der Arbeit zu verdrängen, aber nach Feierabend überfallen sie ihn dann mit aller Kraft. Da er gewöhnlich aber meist erst nach zehn, manchmal auch nach elf Uhr nachts Feierabend macht, kann er Sie natürlich nicht mehr stören.«

»Was macht Herr Lemmon beruflich?«

»Er ist Physiker und hat einige Jahre Vorlesungen an der Hamburger Universität gehalten. Dort haben wir uns kennengelernt. Jetzt hat er sich völlig zurückgezogen, um ein wissenschaftliches Werk, an dem er seit langer Zeit arbeitet, zu vollenden.«

Sophienlust Bestseller 7 – Familienroman

Подняться наверх