Читать книгу Sophienlust 313 – Familienroman - Anne Alexander - Страница 3
Оглавление»Ich wünschte, wir hätten den ganzen Sommer über Ferien!« rief Angelika Langenbach enthusiastisch aus und rannte den anderen Kindern voran die Freitreppe hinab. »Wer zuerst am Spielplatz ist!«
»Das ist unfair, Angelika. Du bist eher losgelaufen!« schrie ihre zehnjährige Schwester Viktoria, genannt Vicky. Sie beeilte sich, Angelika einzuholen, aber sie schaffte es nicht. Empört sah sie, daß die fünfjährige Heidi Holsten an ihr vorbeijagte.
»Schneller rennen, Vicky!« rief Heidi, ohne im Laufen innezuhalten.
»Wie die Wilden!« Schwester Regine lachte, als auch noch die übrigen Bewohner des Kindersheims Sophienlust an ihr und dem Hausmädchen vorbeirannten. Die beiden Frauen standen oben auf der Treppe, neben dem Portal.
Das Hausmädchen Lena sah den Kindern nach und meinte dann schmunzelnd: »Plötzlich ist es so ruhig hier.«
»Jetzt haben Sie wenigstens entsprechende Ruhe, um mit Ulla den Großputz zu erledigen«, erwiderte Schwester Regine, eine hübsche junge Frau von neunundzwanzig Jahren.
»Hoffen wir es«, sagte Lena. »Wenn wir Glück haben, bleibt die Bande ein paar Stunden an der frischen Luft.« Sie blickte zum Himmel empor. »Es sieht aus, als würde es heute einmal nicht regnen. Ein Sommer ist das dieses Jahr! Ich weiß nicht, in meiner Jugend hat es im Sommer nicht so oft geregnet.«
»Ich habe heute morgen den Wetterbericht im Radio gehört«, erwiderte Schwester Regine. »Wenn man ihm glauben darf, wird das Wetter jetzt besser. Zu wünschen wäre es jedenfalls. Die Kinder wären mehr als enttäuscht, wenn es ihre Ferien verregnen würde.«
»Da kommen Nick und Henrik!« Lena wies zum Parktor. Die beiden Söhne Denise von Schoeneckers fuhren mit ihren Fahrrädern gerade die Auffahrt entlang. Kurz vor der Freitreppe sprangen sie schwungvoll von den Rädern.
»Mutti kommt heute etwas später!« schrie Henrik von Schoenecker den beiden Frauen entgegen. »Sie ist aufgehalten worden. Sie wollte gerade gehen, als ein Telefongespräch für sie kam.«
»Henrik glaubt, Sie und Lena wären schwerhörig, Schwester Regine«, spöttelte sein Bruder Dominik, genannt Nick.
»Selber schwerhörig!« Henrik stemmte die Fäuste in die Seiten.
»Halte die Luft an, kleiner Bruder«, neckte Nick.
»Von wegen klein«, empörte sich Henrik. »Wetten, daß ich jederzeit mit dir fertig werden würde?«
»Ist das nun ein richtiger Streit, oder tut ihr nur so?« fragte Lena stirnrunzelnd.
»Wir streiten uns nie!« erklärte Henrik und ließ seine Fäuste sinken. »Oder, Nick?«
»Wenn du dich anständig aufführst, bestimmt nicht.«
»Warte, wenn ich dich allein erwische«, drohte Henrik grimmig. »Aber wenn ich dich jetzt verprügle, dann helfen dir Schwester Regine und Lena.«
»Typische Selbstüberschätzung eines Neunjährigen.« Der sechszehnjährige Nick lachte. Er wich zur Seite aus, weil Henrik auf ihn losgehen wollte. Blitzschnell ergriff er die Hände des Kleinen und hielt ihn so fest. »Hören wir auf, Henrik, sonst bekommen Schwester Regine und Lena tatsächlich noch Angst.« Er schaute zum Spielplatz hinüber. »Wo ist denn Pünktchen?« fragte er die Kinderschwester.
»Bei der Huber-Mutter, die sich heute morgen nicht besonders wohl fühlte. Das Rheuma plagt sie wieder einmal. Ich habe ihr eine Tablette gegeben. Pünktchen wollte bei ihr bleiben, bis die Tablette zu wirken beginnt.«
»Sagen Sie ihr, daß ich bei den anderen auf dem Spielplatz bin«, bat Nick.
»Er sitzt mit Schaufel und Eimerchen im Sandkasten!« Henrik trat sicherheitshalber einige Schritte beiseite, als er das sagte. »Wie ich Nick kenne, wird er für Pünktchen ein paar Sandkuchen backen.«
»Warum nicht?« Nick lachte. »Das habe ich schon lange nicht mehr getan!«
Die beiden Jungen gingen im Richtung Spielplatz davon, und Schwester Regine kehrte ins Erste-Hilfe-Zimmer zurück, um den Arzneischrank zu überprüfen.
Lena ging hinauf in den ersten Stock, wo Ulla schon mit dem Abnehmen der Vorhänge begonnen hatte.
Zusammen mit Angelika, Irmela, Fabian und Vicky beschäftigte sich Nick eine Zeitlang mit den kleineren Kindern. Es machte ihm nichts aus, neben dem Sandkasten zu knien und den Kleinen beim Bau von Burgen, Häusern und Straßen aus Sand zu helfen. Ab und zu hob er den Kopf und blickte zum Haus hinüber. Endlich kam Pünktchen!
»Tschüß, bis später!« rief Nick den Kleinen zu und sprang auf. Eilig ging er der dreizehnjährigen Angelina Dommin entgegen.
Pünktchen winkte vergnügt, als sie Nick auf sich zukommen sah. Das Sonnenlicht lag voll auf ihrem Gesicht und ließ die vielen Sommersprossen besonders deutlich hervortreten. Wegen dieser Sommersprossen wurde sie in Sophienlust Pünktchen genannt, aber das machte ihr nichts aus. Sie liebte diesen Kosenamen sogar.
»Hallo!« rief Nick ihr entgegen und hob die Hand zum Gruß. »Wie geht es der Huber-Mutter?«
»Sie schläft jetzt«, erwiderte Pünktchen und hängte sich bei Nick ein. »Hoffentlich kommt sie bald wieder auf die Beine. Sie hat sich so auf unsere Ferien gefreut. Sie wollte uns sogar ab und zu zum Waldsee begleiten.«
»Die Huber-Mutter ist zäh, Pünktchen«, meinte Nick. »Sie wird bald wieder aufstehen. So schnell wirft
sie nichts um – trotz ihres hohen Alters.«
»Immerhin ist sie schon sehr alt«, gab Angelina besorgt zu bedenken.
Die Huber-Mutter lebte schon viele Jahre in Sophienlust. Für die Kinder war sie so etwas wie eine Großmutter. Sie war nicht nur gütig, sondern wußte auch jederzeit einen Rat, wenn es scheinbar unlösbare Probleme gab.
»Wir werden auf dem Rückweg von Waldi & Co. einen riesigen Blumenstrauß für sie pflücken«, überlegte Nick laut. »Du weißt, wie sehr die Huber-Mutter wilde Blumen liebt.«
Nick hatte seinem Schwager, Dr. Hans-Joachim von Lehn, versprochen, ihm zusammen mit Pünktchen etwas im Tierheim zu helfen.
Der alte Tierpfleger Janosch hatte sich den Fuß verstaucht und kam dadurch im Moment nicht mit der Arbeit nach.
Pünktchen nickte begeistert. Die Huber-Mutter hatte nicht viel für künstlich gezogene Blumen übrig. Dagegen liebte sie alles, was im Wald und auf den Wiesen wuchs. Die kannte sich auch unter den Heilkräutern sehr gut aus.
Bald darauf waren Nick und Pünktchen auf dem Weg zum Tierheim. Sie waren noch nicht weit gekommen, als ihnen ein grüner Ford auffiel, der am Straßenrand stand. Ein junger Mann von etwa dreißig Jahren, mit einem wilden braunen Haarschopf, öffnete gerade die Motorhaube.
»Haben Sie eine Panne?« fragte Nick und sprang vom Rad.
Der junge Mann hob den Kopf. Nick und Pünktchen sahen, daß er auch braune Augen hatte. »So scheint es!« Er seufzte auf.»Der Wagen fing plötzlich zu stottern an, hopste noch zwei Meter weiter und blieb dann stehen.«
»Werden Sie ihn wieder in Gang bringen können?« erkundigte sich Pünktchen und blickte auf das Gewirr von Drähten und Leitungen.
»Kaum. Ich verstehe nichts von dieser Art Motoren«, erwiderte der junge Mann. »Es wird mir nichts anderes übrigbleiben, als nach Bachenau zurückzulaufen und dort eine Werkstatt zu suchen.«
»Das ist nicht nötig«, sagte Nick. »Hundertfünfzig Meter von hier ist das Kinderheim Sophienlust. Sie können dort telefonieren. Sagen Sie, Pünktchen und Nick hätten Sie geschickt.«
»Das wäre natürlich wunderbar«, meinte der junge Mann. Er lachte. »Ich gehöre nicht gerade zu den Leuten, die gern wandern, vor allem dann nicht, wenn sie es nicht vorhatten. Gehört ihr zum Kinderheim?«
Angelina nickte. »Ich wohne in Sophienlust«, antwortete sie. »Nick ist der Sohn Denise von Schoeneckers. Frau von Schoenecker verwaltet das Heim, bis Nick volljährig ist. Denn eigentlich gehört Sophienlust ihm.«
»Ihr nehmt mich auf den Arm«, meinte der Fremde. Skeptisch sah er die beiden Jugendlichen an.
»Sophienlust gehört wirklich mir«, bestätigte Nick. »Meine Urgroßmutter hat es mir vererbt.«
»Sachen gibt’s!« Der junge Mann schüttelte den Kopf. »Aber nachdem ihr euch vorgestellt habt, muß ich es wohl auch tun! Ich bin Reinhold Steiner«, sagte er. »Ich mache zur Zeit in Maibach Urlaub.«
»Wir gehen in Maibach zur Schule«, erklärte Pünktchen.
Nick mahnte: »Wir müssen jetzt gehen, sonst kommen wir zu spät. Hoffentlich dauert die Reparatur an Ihrem Wagen nicht zu lange.« Er stieg wieder auf das Fahrrad. »Auf Wiedersehen, Herr Steiner!«
Pünktchen sprang ebenfalls auf ihr Rad. »Wiedersehen!« Sie winkte dem jungen Mann zu.
»Wiedersehen, ihr beiden!« Reinhold Steiner sah den beiden Radfahrern noch einige Sekunden nach, dann klappte er die Motorhaube seines Wagens zu und machte sich auf den Weg nach Sophienlust.
*
Erika Reimann saß mit ihrer neunjährigen Tochter Jessica auf der Terrasse ihres Maibacher Hotels und genoß den Sonnenschein. Vor den beiden auf dem Tisch lag ein Mühlespiel. Erika hatte ihre Tochter jetzt schon zum fünften Mal besiegt, obwohl es sonst gewöhnlich Jessica war, die alle Spiele gewann.
»Sollen wir aufhören, Jessi?« fragte Erika. »Wir könnten etwas anderes spielen, wenn du heute für Mühle keine Lust hast.«
Jessica hob den Kopf. Wie ihre Mutter hatte sie blaue Augen und dunkelblonde, fast braune Haare. »Warum heiratest du nicht, Mutti?« antwortete sie mit einer Gegenfrage.
Also darüber hatte ihre Tochter nachgedacht!
»Sag mal, Jessi, wie kommst du denn jetzt darauf?« fragte Erika Reimann. Sie wußte zwar, wie sehr sich Jessica einen Vater wünschte, aber nur des Kindes wegen konnte sie schließlich nicht heiraten. Außerdem steckte die Enttäuschung mit Jessicas Vater noch tief in ihr.
»Ich muß daran denken, daß die Renate einen neuen Vater bekommen hat.« Jessica strich sich die Haare aus dem Gesicht. »Sie hat jetzt zwei Väter, und ich habe nicht einmal einen!« Es klang anklagend.
»Renates Mutter hat sich vor einem Jahr scheiden lassen«, erwiderte Erika, »aber du hattest nie einen Vati. Dein Vati war schon nicht mehr bei mir, als du geboren wurdest.«
Gerhard Baumann, Jessicas Vater, hatte sich bereits vier Monate vor der Geburt des Kindes aus dem Staub gemacht und nicht daran gedacht, die Mutter zu heiraten. Erika dachte an all die großen Reden, die er damals geschwungen hatte. »Mein Leben lang werde ich für unser Kind sorgen, Erika. Das verspreche ich dir. Aber ich tauge nun einmal nicht zum Ehemann. Bitte, sieh das ein!«
Siebzehn war Erika damals gewesen und völlig allein.
»Hast du meinen Vati sehr liebgehabt?« erkundigte sich Jessica. Sie begann an ihren Fingernägeln zu knabbern, wie immer, wenn sie ein Problem hatte.
»Ja, ich habe deinen Vati sehr gern gehabt«, erwiderte Erika. Obwohl sie Gerhard Baumann noch jetzt wegen seiner Treulosigkeit haßte, verriet sie das nicht ihrer Tochter. Jessica sollte nicht wissen, wie gemein sich ihr Vater damals benommen hatte. Sie wollte nicht, daß das Kind damit belastet wurde. Es war schon schwierig genug für Jessica, ohne Vater aufwachsen zu müssen.
»Und hat er dich auch liebgehabt?« Forschend ruhten die Augen des Mädchens auf dem Gesicht der Mutter.
»Ich glaube schon«, antwortete Erika. Sie griff über den Tisch hinweg und hielt Jessicas Hände fest. »Du sollst nicht immer deine Fingernägel abknabbern, Jessi!«
»Wenn sie aber so schartig sind!«
»Sie sind schartig, weil du sie abknabberst«, argumentierte Erika Reimann.
»Hm!« Jessica schaute auf ihre wirklich alles andere als ansehnlichen Fingernägel. »Wenn ich sie nicht mehr abknabbere, machst du mir dann Nagellack drauf, Mutti?«
»Einverstanden«, sagte Erika. Sie hatte farblosen Nagellack dabei. Wenn es half, Jessica das Knabbern abzugewöhnen, warum nicht? Sie winkte der Kellnerin, die gerade auf die Terrasse trat. »Jessi, möchtest du Eis oder Torte?« fragte sie ihre Tochter.
Jessica überlegte. »Ein kleines Eis und ein kleines Stück Erdbeerkuchen«, entschied sie.
Die Kellnerin sah Erika fragend an. »Wir haben nur die normalen Tortenstücke, Frau Reimann«, sagte sie.
»Bringen Sie Jessi ruhig beides«, erwiderte Erika. »Und für mich bitte ein Kännchen Kaffee und ebenfalls Torte. Schokoladentorte.«
Jessica wartete, bis die Kellnerin weitergegangen war, bevor sie fragte: »Glaubst du, daß du keinen Mann findest, Mutti?«
Erika mußte schlucken. Auf Ideen kam das Kind!
»Die Sache ist die, daß ich ganz einfach nicht heiraten möchte, Jessi«, sagte Erika. »Schau, wir haben es doch so schön zusammen. Nach der Schule kommst du zu mir in die Boutique, machst dort Schularbeiten und spielst, und wenn du etwas von mir möchtest, bin ich jederzeit für dich da. Deine Freundin Renate hat es nicht so gut. Sie muß nach der Schule in den Hort gehen. Und das wird jetzt auch nicht anders, nachdem ihre Mutter zum zweiten Mal geheiratet hat. Frau Till erzählte mir, daß sie auch weiterhin den ganzen Tag arbeiten gehen wird.«
»Aber Renate hat zwei Vatis!« Bekräftigend hob Jessica zwei Finger. »Du könntest eine Heiratsanzeige aufgeben«, schlug sie vor. »Manche Leute machen das.«
»Jessi, jetzt wollen wir dieses Thema fallenlassen«, erwiderte Erika streng. »Ich werde nicht heiraten, und damit mußt du dich abfinden ob es dir gefällt oder nicht.«
»Gut!« Jessica preßte die Lippen zusammen. Düster starrte sie vor sich hin. Plötzlich hob sie den Kopf und blickte über die Terrassenbrüstung hinweg in den Hotelgarten. Sie hatte Kinderstimmen gehört. Sehnsüchtig folgten ihre Augen der Familie, die im Garten spazierenging. Die beiden kleinen Mädchen hatten einen Vati!
Erika packte das Mühlespiel zusammen und schob es in den Karton zu den übrigen Spielen, die sie nach Maibach mitgebracht hatten. »Was meinst du, Jessi, sollen wir nachher noch ein bißchen in die Stadt gehen und einen Einkaufsbummel machen?«
Jessica nickte lustlos. Sie sah zur Terrassentür. Die Kellnerin brachte gerade Eis und Torte.
Erika dankte der Kellnerin und bezahlte gleich. Sie fühlte sich irgendwie schuldig, obwohl sie sich sagte, daß es dazu keinen Grund gebe. Warum sollte sie heiraten? Es gab genug schlechte Ehen in ihrem Bekanntenkreis. Und Jessica? Jessica würde sich umsehen, wenn sie einen Stiefvater bekommen würde. Wer garantierte ihr denn, daß der Mann, den sie heiraten würde, gut zu Jessica sein würde? Vor der Ehe konnte man viel versprechen!
Hand in Hand mit ihrer Tochter verließ Erika Reimann eine halbe Stunde später das Hotel. Jessica hatte ihre Puppe mitgenommen. Liebevoll hielt sie sie im Arm.
Kurz hinter dem Hotel kamen die beiden an eine Kreuzung. Um in die Innenstadt zu gelangen, mußten sie auf die andere Straßenseite wechseln. Gehorsam blieb Jessica neben ihrer Mutter stehen, während beide auf Grün warteten.
»So, jetzt!« Erika umfaßte die Hand ihrer Tochter etwas fester, denn sie hatte immer Angst um Jessica. Diese war zwar gewohnt, belebte Straßen zu überqueren, schließlich lebten sie in Stuttgart, aber sie war eben noch ein Kind.
Die beiden hatten schon die andere Straßenseite erreicht, als sie den Terrier sahen. Er lief auf die Straße und setzte sich mitten auf den Zebrastreifen. Eben schaltete die Ampel auf Rot.
Blitzschnell riß sich Jessica von der Hand ihrer Mutter los und rannte auf die Straße zurück. Sie wollte den Hund vor den anrollenden Wagen retten.
»Jessi!« Erikas entsetzter Aufschrei ging im Kreischen der Bremsen unter.
Jessica hatte den Hund mit ihrer freien Hand am Halsband ergriffen und zerrte ihn zur anderen Seite des Bürgersteigs. Hinter ihr fuhren die Wagen erneut an. »So, nun lauf!« Sie gab dem Terrier einen leichten Klaps. »Man läuft doch nicht bei Rot über die Straße!« schalt sie.
»Das solltest du dir aber selber merken, mein Kind!« Ein beleibter, rotgesichtiger Mann packte Jessica grob am Arm. »Einfach auf die Straße zu laufen! Und wenn was passiert, wer ist dann schuld? Natürlich der Autofahrer!«
»Lassen Sie meine Tochter los!« Erika Reimann stieß den Mann einfach beiseite. Sie war erst jetzt über die Straße gekommen.
»Sie sollten Ihrer Tochter beibringen, wie man sich im Straßenverkehr benimmt«, sagte der Mann. »Ich möchte wissen, was Sie erzählt hätten, wenn Ihre Tochter angefahren worden wäre!«
»Meine Tochter hat in diesem Moment nicht daran gedacht, daß Rot ist«, verteidigte Erika das Kind und legte einen Arm um die Schultern von Jessica. »Sie hatte Angst um den kleinen Hund.«
»Als ob ein Köter so wichtig wäre«, ereiferte sich der Mann.
»Jedes Geschöpf ist wichtig!« Reinhold Steiner hatte den kleinen Vorfall ebenfalls beobachtet. Er hatte gerade am Zeitungskiosk gestanden. »Ich kann verstehen, daß du den Hund retten wolltest«, sagte er freundlich zu Jessica. Dann sah er Erika an. »Sie können stolz auf Ihre Tochter sein!« Er lächelte Jessica zu. »Auch wenn das, was du getan hast, nicht ganz richtig war. Ich bin sicher, der Hund wäre nicht überfahren worden.«
»Da hört sich doch alles auf! Auch stolz soll sie noch auf das Gör sein!« Brummend entfernte sich der rotgesichtige Mann.
»Jessi, Jessi!« seufzte Erika. Sie drückte ihre Tochter an sich. »Weißt du, das hätte leicht ins Auge gehen können. Du darfst nie wieder so plötzlich auf die Straße laufen. Versprichst du mir das?«
»Es tut mit leid, Mutti. Ich wollte dich nicht ärgern«, sagte Jessica ziemlich kleinlaut. Sie blickte zu Boden.
»Das weiß deine Mutter auch«, meinte Reinhold Steiner. »Sie wird sicher nicht mit dir schimpfen.« Er blinzelte Erika zu. Die junge Frau konnte nicht anders, sie mußte lächeln.
»Ich habe Sie schon einmal gesehen«, sagte Jessica und hob den Blick. »Sie wohnen im selben Hotel wie wir, aber im dritten Stock. Stimmt es?«
»An dir scheint ein Detektiv verlorengegangen zu sein«, scherzte Reinhold. Er machte eine kleine Verbeugung. »Gestatten Sie, daß ich mich vorstelle, meine Damen? Reinhold Steiner!«
»Erika Reimann!« Die junge Frau reichte ihm die Hand.
»Und ich bin Jessica«, meldete sich das Mädchen. »Sie können aber ruhig Jessi zu mir sagen.«
»Lieb von dir!« Reinhold ließ Erikas Hand los und ergriff Jessicas Hand.
»Sind Sie verheiratet?« fragte Jessica unverblümt. Reinhold Steiner gefiel ihr. Er mochte Kinder. Das hatte sie gleich bemerkt.
»Jessi!« mahnte Erika. Sie hob entschuldigend die Schultern. »Auf was Kinder so alles kommen!«
»Lassen Sie nur, ich habe selbst zwei«, erwiderte Reinhold. »Nein, ich bin nicht verheiratet.« Und für Erika fügte er hinzu: »Ich bin geschieden. Seit drei Jahren.«
»Meine Mutti ist auch nicht verheiratet, aber sie ist auch nicht geschieden. Sie hat mich so bekommen«, plapperte Jessica munter drauflos. »Sie…«
»Jessica, ich glaube, jetzt reicht es!« Erika konnte nicht verhindern, daß ein leichtes Rot ihre Wangen färbte. »Es war nett, Sie kennengelernt zu haben, Herr Steiner, und nochmals vielen Dank für die Schützenhilfe. Wir müssen jetzt leider weiter.«
Reinhold Steiner verstand. »Ich habe auch noch einiges zu besorgen«, sagte er freundlich. »Wir werden uns sicher noch ab und zu im Hotel sehen.«
»Wie alt sind Ihre Kinder, Herr Steiner?« fragte Jessica, als sie ihm zum Abschied die Hand reichte. »Sind sie älter als ich? Ich bin
neun.«
»Sie sind drei und fünf Jahre alt«, erwiderte Reinhold. »Sie leben bei meiner geschiedenen Frau.«
»Sind es…«, begann Jessica, wurde aber von ihrer Mutter unterbrochen.
»Wir müssen jetzt wirklich weiter, Jessi! Außerdem ist es sehr unhöflich, Herrn Steiner so lange aufzuhalten.« Sie warf Reinhold ein kurzes Lächeln zu. »Auf Wiedersehen!« Noch bevor er ihren Gruß erwidern konnte, hatte sie schon Jessicas Hand ergriffen und zerrte ihre Tochter fort.
»Was hast du denn, Mutti?« fragte Jessica, als die beiden erneut die Straße überquerten. »Herr Steiner hätte sich bestimmt noch gern mit uns unterhalten.« Anklagend schaute sie ihre Mutter an.
»Du hast doch gehört, daß er auch noch einige Besorgungen machen muß«, erinnerte Erika ihre Tochter.
»Das hat er doch nur so gesagt, weil du weg wolltest«, meinte Jessica altklug. »Ich finde ihn richtig nett.« Sie blieb stehen. »Gefällt dir Herr Steiner, Mutti?«
Erika zauderte. Reinhold Steiner hatte einen guten Eindruck auf sie gemacht. Sie fand ihn äußerst sympathisch. Selten zuvor hatte ihr ein Mann auf Anhieb so gut gefallen. »Ja, ich finde ihn nett«, gab sie zu. »Aber jetzt komm, sonst wird aus unserem Einkaufsbummel nichts mehr. In zwei Stunden schließen die Läden.«
Jessica drehte sich um. Zufrieden lächelte sie. Reinhold Steiner stand neben der Ampel auf der anderen Seite der Straße. Er winkte ihr zu. Sie hob die Hand und erwiderte den Gruß.
»Wem winkst du denn?« Erika wandte den Kopf. Sie sah nirgends einen Bekannten.
»Herrn Steiner«, sagte Jessica. »Er hat uns nachgeschaut. Jetzt ist er weggegangen.«
»Du träumst mit offenen Augen«, meinte ihre Mutter. »Warum sollte Herr Steiner uns wohl nachschauen?« Liebevoll legte sie ihren Arm um Jessicas Schultern. »Du darfst nicht in jedem Mann einen Vater sehen. Jessi. Ich habe nicht vor, jemals zu heiraten. Damit mußt du dich abfinden, auch wenn es dir schwerfällt.«
»Ich will aber einen Vati haben!« Jessica trat mit dem Fuß auf. »Ich will! Ich will!«
»Jetzt ist aber endlich Schluß!« Erika nahm ihren Arm von den Schultern der Tochter. Dabei bemerkte sie, daß ihr die Passanten bereits neugierige Blicke zuwarfen. Peinlich berührt nahm sie wieder Jessicas Hand. »Noch ein Wort, und wir fahren nach Stuttgart zurück«, drohte sie.
»Gehen wir eben einkaufen«, meinte Jessica. »Ich sag nichts mehr von Herrn Steiner!«
»Das ist vernünftig!« Erika führte ihre Tochter zu dem in der Nähe liegenden Kaufhaus.
*
Jessica schüttelte den Inhalt ihrer Geldbörse auf die Bettdecke. Die Zunge zwischen den Lippen, begann sie ihre Barschaft zu zählen. Sie hatte noch genau zwölf Mark dreißig. Mehr als genug, um für Herrn Steiner ein paar Blumen zu kaufen.
»Na, zählst du die Häupter deiner Lieben?« fragte Erika. Sie kam aus dem Badezimmer. »Wieviel hast du denn noch?«
»Zwölf Mark dreißig!« Jessica hob den Kopf.
»Da werden wir das Vermögen auf fünfzehn Mark aufrunden«, meinte Erika. Sie nahm ihr Portemonnaie und zählte zwei Mark siebzig in die Hand ihrer Tochter.
»Danke, Mutti!« Jessicas Augen strahlten. »Wann ist der Film aus?« fragte sie.
»So gegen halb elf, Jessi. Du hast doch keine Angst, allein zu bleiben?« Zweifelnd blickte Erika ihre Tochter an.
Sie hatte immer ein schlechtes Gewissen, wenn sie einmal abends fortging. Aber an und für sich war Jessica gewohnt, auch ohne sie einzuschlafen.
»Ich bin doch schon groß«, sagte Jessica empört. Sie sprang vom Bett auf. »Du riechst gut!« stellte sie fest.
»Möchtest du auch etwas Parfüm?«
»O ja!«
Erika ergriff das Parfümfläschchen und tupfte ihrer Tochter etwas von der hellen Flüssigkeit hinter die Ohren und aufs Handgelenk.
»Wenn ich erwachsen bin, werde ich auch immer Parfüm nehmen«, sagte Jessica und hob ihr Handgelenk zur Nase. »Es riecht ganz prima.«
Erika warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Ich muß jetzt gehen, Liebling, sonst komme ich zu spät. Bleib nicht zu lange auf. Versprichst du mir das?«
Jessica nickte. Sie hatte nicht vor, sehr lange aufzubleiben. Sie wollte nur in die Hotelhalle hinunterlaufen, am Blumenstand Blumen für Herrn Steiner kaufen und sie ihm bringen. Danach würde sie sofort zu Bett gehen.
»Falls du noch Durst bekommst, dann bestellst du dir etwas beim Zimmerkellner«, sagte Erika. »Aber das weißt du natürlich alles. Du bist ja nicht zum ersten Mal einen Abend allein im Hotel.«
»Du kannst ruhig weggehen, Mutti!«
»Lieb von dir!« Erika zog sich ein Jäckchen über. Sie überprüfte schnell noch den Inhalt ihrer Handtasche und küßte sie zärtlich. »Schlaf gut, Jessi!«
»Viel Spaß, Mutti!« Jessica brachte ihre Mutter zur Tür. »Du brauchst keine Angst haben. Ich habe auch keine«, sagte sie.
»Schön, wenn man schon so eine große Tochter hat!« Erika drückte Jessica noch einmal kurz an sich, dann verließ sie das Zimmer.
Jessica hörte noch einige Sekunden lang das Klappern der mütterlichen Absätze im Gang. Sie steckte ihr Geld wieder in die Geldbörse zurück, rannte ins Badezimmer, kämmte sich die Haare und wusch sich die Hände. Dann ergriff sie die Geldbörse. Sie wollte schon aus dem Zimmer gehen, als sie sich sagte, daß es wohl besser sei, noch ein Weilchen zu warten.
Vielleicht war ihre Mutter in der Halle aufgehalten worden, und ihr wollte sie auf keinen Fall begegnen. Ihre Mutter durfte nicht wissen, daß sie Herrn Steiner Blumen bringen wollte.
Ungeduldig blickte Jessica auf den Wecker. Sie fand, selten war der Zeiger so langsam um das Zifferblatt gewandert. Acht Minuten, neun Minuten… So, jetzt konnte sie es wagen!
Vorsichtig lehnte Jessica die Zimmertür an, als sie auf den Gang hinaustrat. Sie besaß keinen Zimmerschlüssel. Den hatte ihre Mutter mitgenommen.
Etwas ängstlich schaute sie zurück. Hoffentlich fiel die Tür nicht zu, während sie die Blumen kaufte und zu Herrn Steiner brachte. Aber es gab ja Zimmermädchen! Sollte die Tür tatsächlich zufallen, brauchte sie nur zum Zimmermädchen zu gehen und es bitten, ihr die Tür wieder aufzuschließen.
Reinhold Steiner telefonierte gerade mit seiner geschiedenen Frau, als es klopfte. »Einen Moment bitte, Barbara«, bat er. »Ich bin gleich wieder da.«
»Ich habe es eilig, Reinhold«, sagte Barbara Steiner unwillig. »David wird jeden Moment kommen, und ich bin noch nicht einmal fertig angezogen.«
»Dein David wird wohl etwas warten können«, meinte Reinhold ärgerlich und legte den Hörer neben das Telefon. Eilig ging er zur Tür und riß sie auf. »Jessica!« stieß er verblüfft hervor. »Sag mal, Jessica, was machst du denn hier?«
»Ich möchte Ihnen die Blumen bringen!« Jessica streckte ihm den Strauß Nelken, den sie gekauft hatte, herausfordernd entgegen.
»Blumen?« fragte Reinhold verwirrt. »Komm herein, Jessi, aber laß die Tür auf. Weit auf!« Er ging zum Telefon zurück und ergriff den Hörer. »Barbara, bist du noch da?«
»Ja, ich bin noch da«, erwiderte Barbara Steiner. »Wie ich dir schon sagte, Marc und Eric sind bei Bekannten. Ich habe keinen Babysitter für sie gefunden, aber glücklicherweise waren Wolfgang und Susi bereit, sich um sie zu kümmern, obwohl sie heute eine kleine Feier haben.«
»Auf den Gedanken, an diesem Abend zu Hause zu bleiben, bist du wohl nicht gekommen?« fragte Reinhold. Er blickte sich nach Jessica um und deutete mit der Hand auf einen Sessel. »Setz dich, Jessi!«
»Bitte?« fragte Barbara.
»Entschuldige, ich habe Besuch bekommen«, sagte Reinhold.
»Jessi, das klingt nach einem weiblichen Besuch«, stellte Barbara ironisch fest.
Reinhold wollte die Situation schon erklären, als ihm bewußt wurde, daß er selbst kaum wußte, warum Jessica bei ihm war. »Ich finde es nicht richtig, wenn du unsere Söhne in der Weltgeschichte herumschickst«, sagte er. »Mark und Eric sind dazu noch viel zu klein. Außerdem ist dieser David Horgan in meinen Augen ein Heiratsschwindler.«
»Ein Urteil darüber steht dir wohl kaum zu.«
»O doch, schließlich willst du ihn zum Stiefvater meiner Söhne machen.«
»Reinhold, bitte, darüber haben wir uns schon endlos gestritten. Und ich habe jetzt keine Zeit. Wenn du morgen anrufst, sind Marc und Eric wieder bei mir. Du kannst dann mit ihnen sprechen. Gute Nacht!« Barbara Steiner legte auf.
»Barbara!« rief Reinhold in den Hörer. »Barbara!« Er seufzte auf. Es war immer dasselbe. Seine geschiedene Frau wollte einfach nicht einsehen, daß sie auf die unmöglichsten Männer hereinfiel. Er hatte diesen David Horgan ein einziges Mal gesehen, aber dieses eine Mal hatte ihm genügt, um sich ein Urteil über ihn zu bilden. David Horgan war auf keinen Fall ein Mann, der zu Barbara paßte!
»Sind Sie böse?« fragte Jessica. Sie saß im Sessel, die Blumen auf den Knien, und ließ die Beine baumeln. »Sie machen so ein wütendes Gesicht.«
»Das sieht nur so aus«, meinte Reinhold. Er ließ sich Jessica gegenüber in einen Sessel fallen. »So, und nun sagst du mir erst einmal, weshalb du gekommen bist.«
»Um Ihnen die Blumen zu bringen«, Jessica rutschte aus dem Sessel und legte ihm die Blumen in den Schoß.
»Aber warum denn?«
»Weil Sie heute nachmittag so lieb waren«, erklärte Jessica. »Ich mag Sie sehr gern«, fügte sie hinzu.
»Hat dich deine Mutti geschickt?« Reinhold runzelte die Stirn.
Jessica wollte nickten, doch dann schüttelte die den Kopf. »Nein, meine Mutti ist ins Kino gegangen«, sagte sie. »Allein. Sie geht immer allein.«
»Um diese Zeit kann sie dich auch nicht mehr ins Kino mitnehmen«, erwiderte Reinhold. Er nahm jetzt an, daß Jessica zu ihm gekommen war, weil sie sich einsam fühlte.
»Aber wenn ich einen Vati hätte, dann brauchte sie nicht allein ins Kino zu gehen, dann könnte sie meinen Vati mitnehmen«, erklärte Jessica. »Gefallen Ihnen die Blumen?«
»Sie sind sehr hübsch!« Reinhold wußte, daß er die Blumen annehmen mußte, wenn er die Kleine nicht kränken wollte. Behutsam brach er eine weiße Blüte ab und befestigte sie in Jessicas Haaren. »Damit du auch etwas von den Blumen hast«, sagte er.
»Soll ich sie ins Wasser stellen?« fragte Jessica eifrig. »Ihr Zimmer ist genauso wie unseres. Ich finde das Badezimmer, ohne daß Sie mir sagen müssen, wo es ist.«
»Gut, stelle die Blumen ins Wasser, und dann bringe ich dich zurück in dein Zimmer.« Reinhold stand auf und ergriff eine Vase, in der Kunstblumen steckten. Die Kunstblumen legte er auf den Tisch und gab Jessica die Vase.
»Morgen fahren wir zur Burg Hoheneck«, erzählte Jessica. »Meine Mutti sagt, daß es dort schön ist. Sie war schon einmal dort. Kennen Sie die Burg Hoheneck?«
»Nein, ich kenne sie nicht«, erwiderte Reinhold.
»Sie könnten mitkommen. Meine Mutti hätte bestimmt nichts dagegen«, schlug Jessica vor. »Sie würde sich bestimmt freuen.«
»Dessen bin ich aber nicht so sicher«, meinte Reinhold. Er dachte daran, wie schnell Erika Reimann am Nachmittag ihre Tochter fortgezogen hatte. Doch eigentlich war Jessicas Idee nicht schlecht! Er fand Erika Reimann sympathisch. Ein Ausflug mit ihr und der Kleinen würde bestimmt ein nettes Erlebnis werden. Und was sollte er allein hier? Er war nach Maibach gekommen, um sich zu erholen, aber bis jetzt hatte er sich meistens gelangweilt. Er konnte ja am nächsten Tag ganz zwanglos mit Jessica und deren Mutter im Frühstücksraum zusammentreffen. Vielleicht würde sich dann ergeben, daß er eine Einladung bekam, sie zu begleiten.
»Fahren Sie mit, Herr Steiner?« fragte Jessica eifrig.
»Das weiß ich noch nicht, Jessi«, erwiderte Reinhold. »Du wolltest doch die Blumen ins Wasser stellen«, erinnerte er sie. »Und dann bringe ich dich erst einmal zu deinem Zimmer zurück.«
»Fein!« Jessica lief mit der Vase ins Badezimmer.
Reinhold Steiner verließ zusammen mit Jessica im ersten Stock den Aufzug. Jessica hatte ihre Hand in seine Hand geschoben. Munter plauderte sie auf den jungen Mann ein. Scheu kannte sie nicht. Sie erzählte ihm, daß ihre Mutter in Stuttgart eine Boutique habe, und daß sie nach der Schule dort immer ihre Schularbeiten mache und spiele. »Alle meine Freundinnen haben einen Vati. Renate sogar zwei. Nur ich habe keinen«, schloß sie.
»Wenn du dich mit deiner Mutti gut verstehst, ist ein Vati gar nicht so wichtig«, machte Reinhold den Versuch, sie zu trösten.
»Doch, er ist wichtig!« Jessica blieb stehen. »Enorm wichtig!«
»Deine Mutter hat aber ein Recht, so…«
»Jessica!« Erika Reimann stürzte aus dem Hotelzimmer auf ihre Tochter und Reinhold Steiner zu. Sie wirkte ziemlich aufgelöst. »Wo warst du, Jessica? Ich habe dich schon gesucht!«
»Bist du nicht im Kino?« Jessica löste ihre Hand aus Reinholds Hand.
»Jessica war bei mir, Frau Reimann«, erklärte Reinhold. »Sie hat mir ein paar Blumen gebracht. Sie wollte sich dafür bedanken, daß ich ihr heute nachmittag geholfen habe.«
»Ich habe schon das ganze Hotel rebellisch gemacht«, gestand Erika. »Den Film, den ich sehen wollte, gab es nicht. Also bin ich zurückgekommen. Und dann fand ich das Zimmer leer, von Jessica keine Spur!« Sie umfaßte die Schultern ihrer Tochter. »Hattest du mir nicht versprochen, artig zu sein? Was ist nur mit dir los, Jessica? Früher konnte ich mich doch auf dich stets verlassen!«
»Ich wollte nicht ungezogen sein.« Jessica hob den Kopf. »Ich war es auch nicht! Du hättest doch gar nicht bemerkt, daß ich fort war, wenn du nicht früher zurückgekommen wärst.«
Reinhold gab sich Mühe, sich das Lachen zu verkneifen, aber es gelang ihm nicht. Er bemerkte, daß es auch Erika schwerfiel, ernst zu bleiben.
»Sie sollten nicht noch über die Ungezogenheit meiner Tochter lachen, Herr Steiner!« meinte Erika erbost. »Jessica hat eine Tracht Prügel verdient. Das müssen Sie doch zugeben. Ich weiß nicht, was in sie gefahren ist. Früher hat sie nie fremde Leute belästigt.«
»Jessi hat mich nicht belästigt. Ich habe mich über ihren Besuch gefreut«, sagte Reinhold. »Außerdem bekommt man als Mann nicht jeden Tag Blumen geschenkt.«
»Meine Mutti haut mich nicht, Herr Steiner«, warf Jessica ein. »Das hat sie noch nie gemacht. Das sagt sie nur so!«
»An deiner Stelle würde ich mich darauf nicht verlassen, Jessi«, bemerkte Erika. »Es könnte sein, daß ich meine Erziehungsmethoden drastisch ändere, wenn du so weitermachst.« Sie sah Reinhold Steiner an. »Ich werde jetzt erst einmal die Rezeption anrufen und dem Portier sagen, daß Jessica wieder da ist.«
»Das muß nicht unbedingt durch einen Anruf erledigt werden«, meinte Reinhold. »Machen Sie mir die Freude und trinken Sie mit mir noch eine Tasse Kaffee im Restaurant, Frau Reimann. Wenn wir an der Rezeption vorbeikommen, melden wir dann gleich, daß mit Jessi alles in Ordnung ist.«
Jessicas Augen strahlten. »Ich werde auch bestimmt gleich schlafen gehen«, versprach sie.
»Das habe ich heute schon einmal gehört«, erwiderte Erika zögernd. Eigentlich war sie nicht abgeneigt, noch etwas mit Herrn Steiner zusammenzusitzen. Die Abende im Hotel konnten manchmal sehr lang werden.
»Ich glaube, diesmal wird Jessi ihr Versprechen halten«, sprang Reinhold der Kleinen bei.
»Ganz bestimmt«, versicherte Jessica.
»Also gut, gehen wir noch einen Kaffee trinken«, gab Erika nach. Sie dirigierte Jessica in Richtung der offenen Zimmertür. »Ab mit dir, junge Dame!« befahl sie. Dann wandte sie sich an Reinhold. »Vielleicht könnten Sie schon einmal vorausgehen und an der Rezeption Bescheid sagen. Ich möchte mich gern noch etwas kämmen und so weiter…«
»Selbstverständlich. Wir treffen uns dann im Restaurant«, sagte Reinhold. »Gute Nacht, Jessi!«
Jessica wandte sich um. »Gute Nacht, Herr Steiner! Und vergessen Sie nicht meine Mutti zu fragen, ob Sie morgen mitfahren dürfen.«
»Ihre Tochter hat mich eingeladen, Sie zur Burg Hoheneck zu begleiten«, erklärte Reinhold, als Erika ihn fragend ansah. »Ich würde schon gern mitkommen.«
»Dann sind Sie natürlich eingeladen«, antwortete Erika. »Bis gleich!« Sie folgte Jessica ins Zimmer. Lautlos schloß sie die Tür hinter sich.
»Ist es nicht schön, daß Herr Steiner mitkommt?« fragte Jessica und zog sich ihren weißen Pullover über den Kopf. »Er könnte doch immer mit uns mitkommen.«
Erika wartete, bis ihre Tochter sich des Pullovers entledigt hatte. »Jessica, ich möchte nicht, daß du noch einmal zu fremden Männern aufs Zimmer gehst«, sagte sie streng. »Du weißt, wie gefährlich das sein kann. Schon seit Jahren habe ich dich davor gewarnt. Als kleines Mädchen hättest du so etwas nicht getan, aber allem Anschein nach wirst du immer unvernünftiger.«
»Herr Steiner ist kein fremder Mann«, protestierte Jessica. »Wir haben ihn heute nachmittag kennengelernt, und er hat uns geholfen. Außerdem wohnt er im Hotel.«
»Trotzdem ist Herr Steiner ein fremder Mann für uns, Jessi«, sagte Erika. »Aber jetzt geh schlafen. Wir sprechen morgen noch einmal darüber.«
»Ich finde es prima, daß Herr Steiner nach Hoheneck mitkommt«, sagte Jessica und ging ins Badezimmer. »Freust du dich nicht?«
»Doch!« gab Erika zu und strich mit dem Kamm durch ihre vollen blonden Haare.
»Siehst du!« kam es triumphierend aus dem Badezimmer.
*
Reinhold Steiner hatte einen kleinen Tisch in einer Nische des Restaurants besetzt. Er stand auf, als Erika Reimann durch die Schwingtür trat, und ging ihr entgegen. »Schläft der kleine Fratz?« fragte er.
»Er hat mir jedenfalls versprochen, sofort einzuschlafen.« Erika lachte. »Ich weiß nicht, was in letzter Zeit mit Jessi los ist. Früher hat sie nie Schwierigkeiten gemacht. Ich war immer stolz darauf, so ein braves, vernünftiges Kind zu haben.«
»Vielleicht war sie früher zu vernünftig«, meinte Reinhold und brachte Erika zu dem ausgewählten Tisch. »Was darf ich für Sie bestellen? Möchten Sie Kaffee, oder darf es auch ein Gläschen Wein sein?«
»Bleiben wir bei Kaffee«, meinte Erika und setzte sich.
»Ihre Tochter erzählte mir, daß Sie in Stuttgart eine Boutique besitzen«, berichtete Reinhold, nachdem der Kellner die Bestellung aufgenommen hatte. »Ich kann Sie mir gut in einer Boutique vorstellen.«
»Meine Arbeit macht mir auch viel Freude«, erwiderte Erika. »Und für Jessi ist es ideal! Sie braucht nicht wie ihre Freundinnen nach der Schule mit dem Schlüssel um den Hals auf der Straße zu spielen.«
»Ist denn die Boutique in der Nähe der Schule?«
»Nein, leider nicht!« Erika seufzte auf. »Aber einen Haken hat gewöhnlich jede Sache. Jessica muß mit dem Bus nach Stuttgart fahren. Wir wohnen in Rot. Das liegt in der Nähe von Zuffenhausen.«
»Ich weiß. Ich kenne Stuttgart«, sagte Reinhold und fügte lachend hinzu: »Ich lebe selbst in Stuttgart. Da sieht man wieder einmal, wie klein die Welt ist.«
Der Kellner brachte den Kaffee und entfernte sich gleich wieder. Erika, die sich ausgesprochen wohl in Reinholds Gesellschaft fühlte, bediente den jungen Mann mit Milch und Zucker. »Was machen Sie beruflich?« fragte sie nach einer Weile.
»Ich bin Vertreter für Elektromotoren«, antwortete Reinhold. »Mein Beruf bringt es mit sich, daß ich manchmal wochenlang im Ausland zu tun habe.« Er rührte in seiner Tasse. »Das ist einer der Gründe, weshalb meine Ehe gescheitert ist. Barbara und ich, wir haben uns oft drei, vier Wochen nicht gesehen, manchmal sogar länger. Ich…« Er sprach nicht weiter.
»Sie sagten, daß Sie Kinder hätten.« Erika sah ihn an.
»Reinhold nickte. »Zwei Söhne, Marc und Eric. Marc ist fünf, Eric drei. Um der Kinder willen hoffe ich noch immer, daß wir uns eines Tages wieder versöhnen. Na ja, nicht nur um der Kinder willen.«
»Und besteht die Aussicht?« fragte Erika. Sie nippte an ihrem Kaffee.
»Es nützt nichts, wenn ich mir etwas vormache«, gestand Reinhold widerwillig. »Ich glaube nicht, daß wir uns wieder versöhnen. Barbara und ich, wir hatten uns schon vor der Scheidung völlig auseinandergelebt. Wie gesagt, ich mußte meine Familie oft allein lassen. Dann kam ich dahinter, daß meine Frau einen Freund hatte. Und als Eric auf die Welt kam…« Reinhold warf noch ein Stück Zucker in seinen Kaffee. »Ich wußte gar nicht, daß es in der Nähe von Maibach eine Burg gibt«, wechselte er abrupt das Thema.
»Schon ziemlich lange«, scherzte Erika.
Reinhold lachte. »Das ist wohl anzunehmen«, meinte er. »Wann brechen wir morgen früh auf?«
»Ich dachte, so gegen neun! Jessi liebt Burgen. Sie wird den ganzen Tag auf Hoheneck verbringen wollen. Zum Glück gibt es dort auch ein Restaurant, so daß wir uns unser Essen nicht mitnehmen müssen. Ich habe etwas gegen von der Hitze aufgeweichte Brote und lauwarme Limonade.«
»Ich auch«, gab Reinhold zu. »Ich hoffe, Sie werden erlauben, daß ich Sie und Jessi morgen zum Essen einlade.« Als er bemerkte, daß Erika die Hand zu einer abwehrenden Geste hob, fuhr er rasch fort: »Nein, sagen Sie nichts, Frau Reimann! Ohne Ihre Tochter hätte ich nie erfahren, daß es Hoheneck gibt, und hätte mich damit um einen bestimmt schönen Tag gebracht.«
»Jessica hätte Sie nicht so überfallen dürfen«, sagte Erika. »Ich muß mich für das Benehmen meiner Tochter entschuldigen. Es ist sonst wirklich nicht ihre Art, einfach zu fremden Leuten aufs Zimmer zu gehen.«
»Sie hat mich jedenfalls davor bewahrt, einen langweiligen Abend vor dem Fernsehapparat zu verbringen«, meinte Reinhold. »Sie haben also keinen Grund, sich zu entschuldigen.« Er trank den Rest seines Kaffees. »Bleiben wir noch etwas sitzen, oder sollen wir einen Spaziergang machen? Ich plädiere mehr für den Spaziergang!«
Erika zögerte. Sie fühlte, daß sie sich in den jungen Mann zu verlieben begann. Es war schon lange her, daß sie zuletzt mit einem Mann in einem Restaurant gesessen und Kaffee getrunken hatte. Seit ihrer Enttäuschung mit Jessicas Vater hatte es keine Männer mehr in ihrem Leben gegeben.
»Oder haben Sie Angst davor, mit mir spazierenzugehen?« fragte Reinhold. Er berührte sekundenlang ihre Hand. »Ich gelte nicht gerade als Frauenschreck.«
»Das habe ich auch nicht angenommen«, sagte Erika. »Gut, gehen wir noch ein Stückchen spazieren.«
Es war ein lauer Sommerabend. Zuvorkommend reichte Reinhold der jungen Frau die Hand, als sie die etwas steilen Stufen in den Hotelgarten hinabstiegen. Sein Ärger über Barbara begann zu verblassen. Er konnte doch nichts daran ändern, daß sie mit diesem David Horgan ausging. Aber noch waren David und seine geschiedene Frau nicht miteinander verheiratet. Und wenn er es verhindern konnte, so würde es auch nie soweit kommen.
Erika Reimann entzog ihre Hand der seinen, als die beiden auf dem Gartenweg angekommen waren. Langsam schlenderten sie an den Oleandersträuchern und dem Jasmin vorbei, der den Weg säumte. Sie gelangten zu einem künstlich angelegten Teich, dessen Wasser im Schein der Gartenbeleuchtung silbern schimmerte.
»Sehen Sie die Goldfische?« fragte Reinhold. Er hockte sich ins Gras und wies ins Wasser. »Dort!«
»Hm, ich sehe sie«, sagte Erika. »Jessica hatte früher einmal ein paar Goldfische. Nacheinander sind sie dann alle eingegangen. Jessica war furchtbar traurig darüber. Wir haben die toten Goldfische feierlich in einem nahen Park begraben.«
»Besser, als sie in der Toilette hinunterzuspülen.« Reinhold kam wieder hoch. »Ich hatte als Kind auch Goldfische. Als einer von ihnen starb, nahm mein Vater ihn und warf ihn in die Toilette. Das habe ich ihm lange nicht verziehen.«
»Ich glaube, Eltern machen sich manchmal gar nicht klar, was sie den Seelen ihrer Kinder antun«, meinte Erika nachdenklich.
»Eltern handeln oft unüberlegt«, bestätigte Reinhold. »Als Marc auf die Welt kam, hatte ich mir vorgenommen, ein vorbildlicher Vater zu werden, aber ich bin kläglich gescheitert.«
»Sehen Sie Ihre Söhne oft?« fragte Erika, während sie mit Reinhold weiterging.
»Wenn ich in Deutschland bin, alle zwei Wochen. Manchmal kann ich auch einen Tag mit ihnen verbringen. Aber es ist nichts Halbes und nichts Ganzes. Die Kinder werden mir immer mehr entfremdet.«
»Mit drei und fünf Jahren sind Kinder noch zu klein, um zu begreifen, warum ihr Vater so oft weg ist«, meinte Erika. »Sie brauchen noch ihre festen Bezugspersonen. Das war einer der Gründe, daß ich meine Stelle im Büro aufgab und mich auf das Risiko mit der Boutiqe einließ. Jessica war damals drei. Sie lebte unter der Woche bei einer Pflegefamilie, die noch drei andere Kinder hatte. Eines Abends, als ich sie über das Wochenende wieder zu mir holen wollte, stellte ich fest, daß sie in mir mehr eine Tante als eine Mutter sah. Am Montag darauf kündigte ich meine Stelle, nahm einen Kredit bei der Bank auf und suchte einen geeigneten Laden, den ich mieten konnte.«