Читать книгу Sophienlust 315 – Familienroman - Anne Alexander - Страница 3

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»Ausgeschlafen, mein Liebes?« Schwester Regine beugte sich lächelnd über das Kinderbett, das seit drei Monaten in ihrem Zimmer stand. Zwei Ärmchen streckten sich ihr erwartungsvoll entgegen. »Heute ist ein großer Tag für dich, Melissa«, fuhr sie fort und hob das kleine Mädchen aus dem Bett. Liebevoll drückte sie es an sich.

In den drei Monaten, die Melissa Braun jetzt in Sophienlust lebte, hatte die Kinderschwester sich so an die Kleine gewöhnt, daß sie sich nur schwer von ihr trennen konnte.

Melissa erinnerte sie an ihr eigenes Töchterchen Elke. Elke war genauso blond gewesen wie Melissa, aber sie war nur drei Jahre alt geworden. Der Unfall, der ihr und ihrem Mann das Leben gekostet hatte, lag nun schon einige Jahre zurück, aber den Schmerz über diesen Verlust hatte die junge Frau noch immer nicht ganz überwunden.

»Meli hat dich lieb!« Die Zweijährige schlang fest ihre Ärmchen um den Hals der Kinderschwester. »Sehr lieb!«

»Auch ich habe dich sehr lieb, mein Kleines!« Impulsiv küßte Schwester Regine das kleine Mädchen auf die Stirn. »Aber jetzt werden wir uns ganz schnell waschen, und dann geht es hinunter zum Frühstück.«

»Meli Schule gehn!«

»Nein, für die Schule ist Meli noch zu klein«, sagte Schwester Regine. »Aber nach dem Frühstück gehen wir mit Heidi, Werner, Traudi und Jochen auf den Spielplatz.« Sie stellte die Kleine auf den weichen Teppichboden. »Oje, du bist ja noch barfuß, Melissa!« Rasch bückte sie sich nach den winzigen Hausschuhen des Kindes und streifte sie ihm über.

Melissa rannte ihr vorweg zur Tür. Sie versuchte die Klinke zu erreichen, aber dazu war sie noch zu klein. »Tür auf!« forderte sie sehr energisch. »Tür auf!« Sie schlug mit den Fäusten an das Holz.

»Immer langsam, Meli«, mahnte die Kinderschwester. »Das Wasser läuft dir nicht davon!« Sie öffnete die Tür.

Melissa schoß an ihr vorbei in den Gang. Wenn es darauf ankam, konnte sie so flink wie ein Wiesel sein.

»Brumm, brumm!« machte die Kleine. »Meli ist Auto!« Damit bog sie in den Waschraum ein.

»Na, wer kommt denn da?« Angelina Dommin, ein blondes Mädchen von dreizehn Jahren, von allen Pünktchen genannt, ging in die Hocke und breitete die Arme aus. »Ist dieses Auto etwa unsere Meli?«

»Auto ist Meli«, bestätigte Melissa und ließ sich in Pünktchens Arme fallen.

»Wir werden dich sehr vermissen, Meli«, seufzte Pünktchen und hob die Kleine hoch, um sie dann an ihre fünfzehnjährige Freundin Irmela Groote weiterzugeben.

»Es ist richtig schön, wenn so ein kleines Kind in Sophienlust ist«, meinte Irmela und strich Melissa eine blonde Strähne aus der Stirn.

»Ich möchte sie auch einmal halten!« rief die zwölfjährige Angelika Langenbach und streckte ihre Arme nach Melissa aus.

»Hier hast du sie!« Irmela wirbelte das vor Vergnügen quietschende Mäd­chen herum und reichte es dann an Angelika weiter. Von Angelika wanderte es zu deren zehnjähriger Schwester Vicky.

»Und jetzt ich!« schrie die fünfjährige Heidi Holsten. Sie wischte sich die Hände am Handtuch ab. »Jetzt bin ich dran!«

»Du bist noch zu klein, um Meli zu tragen«, sagte Viktoria ablehnend und drehte sich demonstrativ mit Melissa zur anderen Seite. »Nicht wahr, Meli, du willst bei mir bleiben?« wandte sie sich an die Zweijährige.

»Meli Di-Di!« Melissa zappelte mit den Beinen. »Meli will Di-Di!«

»Hörst du, sie will zu mir!« Heidi streckte erneut ihre Arme aus. »Komm zu mir, Meli-Schatz!« Als Vicky keine Anstalten machte, ihr das kleine Mädchen zu geben, rannte sie zu Schwester Regine, die eben den Waschraum betrat. »Schwester Regine, sag Vicky, sie soll mir Meli geben!« rief sie. »Ich bin groß genug, um Meli zu halten. Da Meli heute weggeht, möchte ich sie auch noch einmal liebhaben.«

»Du hast noch bis heute mittag Zeit, Meli liebzuhaben, Heidi«, beruhigte Schwester Regine die Fünfjährige, »aber wenn Pünktchen, Irmela, Angelika und Vicky aus der Schule kommen, dann ist Meli schon fort.«

Heidi nagte an ihrer Unterlippe, wie immer, wenn sie nachdachte. »Warum bleiben Melis neue Eltern denn nicht noch zum Mittagessen in Sophienlust?« fragte sie.

»Weil sie noch heute nach Köln zurückfahren wollen.«

»Dauert es lange, bis man in Köln ist, Schwester Regine?«

»Ja, sehr viele Stunden.«

»Dann kann Meli uns ja gar nicht mehr besuchen«, stieß Heidi entsetzt hervor. In ihren blauen Augen glitzerten Tränen. »Dann ist sie immer weg!«

Heidi war im allgemeinen auf kleinere Kinder eifersüchtig, da sie das Nesthäkchen von Sophienlust sein wollte, aber Melissa hatte sie in ihr Herz geschlossen.

»Herrn und Frau Walter gefällt es in Sophienlust. Sie werden bestimmt ab und zu kommen, um uns zu besuchen«, sagte Schwester Regine. »Du weiß doch, die meisten Eltern, die Kinder von uns adoptieren, besuchen uns immer wieder.«

»Dann ist es gut!« Heidi wischte sich über die Augen. Danach drehte sie sich um. »Schau mal, Schwester Regine!« schrie sie. »Traudi ißt Seife!«

Traudi Mahler, ein sechsjähriges Mädchen, verzog eben angewidert das Gesicht und spuckte ein Stück Seife in das Waschbecken. Rasch griff sie zum Zahnputzbecher, nahm den Mund voll Wasser und spuckte es ebenfalls wieder aus. »Iii!« Sie schüttelte sich.

»Einfälle hast du, Trudi!« Schwester Regine ermahnte das kleinen Mäd­chen, noch einmal den Mund zu spülen. »Um alles in der Welt, warum hast du ein Stück von der Seife abgebissen?«

Traudi spuckte das Wasser aus. »Ich wollte wissen, wie sie schmeckt«, bekannte sie freimütig. »Seife schmeckt schlecht!« Sie drehte sich zu den anderen Mädchen um. »Warum lacht ihr denn?« fragte sie.

»Weil du bestimmt das erste Mädchen bist, das Seife ißt«, antwortete Vicky lachend. Sie stellte Melissa auf den Boden. Mit der Zeit war ihr die Kleine doch zu schwer geworden.

»Das erste Mädchen, das Seife ißt, ist Traudi bestimmt nicht«, sagte Schwester Regine. Sie verkniff sich nur mühsam das Lachen. Traudi war eines der neugierigsten Kinder, das sie je in Sophienlust gehabt hatten. Aber sie war nicht nur neugierig, sondern auch wißbegierig. Alles mußte sie ausprobieren.

Heidi bemühte sich inzwischen, Melissa hochzuheben, aber die Kleine war doch zu schwer für sie. »Ich werde dich waschen, Meli«, entschied sie und nahm Melissa an die Hand.

»Wie ich sehe, bin ich hier überflüssig«, meinte Schwester Regine. »Dann werde ich erst einmal Melissas Bett machen. Bringt sie mir bitte, wenn ihr fertig seid.«

»Darf ich Meli anziehen?« fragte Pünktchen, bevor eines der anderen Mädchen ihr zuvorkommen konnte.

»Wenn du willst, gern«, erwiderte Schwester Regine. Sie schmunzelte, denn Heidi belehrte Melissa eben darüber, wie wichtig es sei, sich auch jeden Tag den Hals zu waschen. »Vergiß deinen eigenen Hals nicht, Heidi!« rief sie lachend und verließ den Wasch­raum.

*

»Harald, bitte, kneif mich!«

»Was soll ich?« Harald Walter nahm den Blick von der Fahrbahn und sah seine Frau an, die neben ihm auf dem Beifahrersitz saß.

»Mich kneifen«, wiederholte Christine Walter. »Ich will wissen, ob ich nicht vielleicht doch träume. Vielleicht liege ich zu Hause in meinem Bett, und es gibt gar kein kleines Mädchen, das auf uns wartet.« Ihre braunen Augen strahlten vor Freude und Glück. »Ich kann einfach nicht glauben, daß wir jetzt endlich ein Kind haben werden, ein kleines Mädchen!«

»Ich war zwar zunächst dagegen, ein fremdes Kind in unsere Familie aufzunehmen, aber jetzt bin ich froh, daß du mich dazu überredet hast, Liebling«, erklärte Harald Walter. »Und Melissa ist erst zwei! An ihre eigene Mutter wird sie sich in einigen Wochen kaum noch erinnern.«

»Sie hat mich ja schon bei unserem letzten Besuch Mami genannt«, meinte Christine glücklich. »Ob ihr das Zimmer gefallen wird, das wir für sie eingerichtet haben?«

Sie dachte an die weißen Schleiflackmöbel, die sie vor zwei Wochen gekauft hatten. Die rosafarbenen Vorhänge und die weißen Gardinen hatte sie selbst genäht. Am liebsten hätte

sie für Melissa ein Himmelbett gekauft, aber Harald war dagegen gewesen. Er hielt nichts von übertriebenem Tand.

»Und ich werde ihr heute beibringen, mich Papa zu nennen«, sagte Harald in Christines Gedanken hinein. »Sobald sie sich etwas bei uns eingewöhnt hat, werde ich mit ihr Ausflüge machen. Sie wird schwimmen lernen und radeln, sie wird…«

»Harald, Meli ist erst zwei!« unterbrach seine Frau ihn amüsiert. »Es wird noch einige Zeit dauern, bis du ihr das Schwimmen beibringen kannst, und was ich von Radeln halte, das weißt du ja. Ich finde es unverantwortlich, ein kleines Kind auf ein Fahrrad zu setzen.«

»Natürlich wird Meli erst ein Dreirad bekommen, aber mit drei, vier Jahren kann sie schon auf einem Kinderfahrrad üben.«

»Und unters nächste Auto kommen.«

»Du bist zu ängstlich, Christine«, meinte Harald. »Ich werde jedenfalls nicht zulassen, daß du unsere Tochter zu einem Angsthasen erziehst.«

»Und ich werde nicht zulassen, daß du ihr Leben gefährdest.« Christines Stimme hatte sich gehoben. »Denke nur an die vielen Kinder, die alljährlich mit ihren Fahrrädern verunglücken. Und immer sind es die Jüngsten, die am meisten gefährdet sind. Ein Kind unter zehn Jahren ist kaum in der Lage, den Straßenverkehr richtig zu beurteilen.«

»Weil man es meistens nicht dazu erzogen hat.«

»Unsinn!« widersprach Christine ihrem Mann.

Harald hatte eine heftige Erwiderung auf der Zunge, schluckte sie aber hinunter und lachte. »Schöne Eltern werden wir«, meinte er. »Melissa ist noch nicht bei uns, und wir zanken uns bereits über ihre Erziehung. Wenn das so weitergeht…«

»Es wird nicht so weitergehen«, sagte Christine versöhnlich. »Wir werden ihr gute Eltern sein. Das weiß ich.« Mit einer anmutigen Bewegung strich sie eine lange Strähne ihres hellblonden Haares zurück. »Es wird wunderschön mit ihr werden.«

»Ja, bestimmt«, bestätigte Harald.

Eine Stunde später fuhren die beiden durch Wildmoos. Ungeduldig schaute Christine durch das Wagenfenster auf die kleinen Läden rechts und links der Straße. Noch nie war ihr die Fahrt von Köln nach Sophienlust so endlos erschienen. Sie spürte nicht die geringste Müdigkeit, obwohl sie und ihr Mann seit fünf Uhr unterwegs waren.

»Schau, da sind schon die bunten Wegweiser, die du immer so lustig gefunden hast«, sagte Harald neben ihr. Er verstand die Ungeduld seiner Frau, denn es erging ihm ähnlich. Es hatte lange gedauert, bis Christine ihn davon überzeugt hatte, daß sie ein adoptiertes Kind genauso lieben würden wie ein eigenes. Und dann waren noch einmal Monate vergangen, bis das Jugendamt ihnen Melissa vermittelt

hatte. Ihm war die Zeit des Wartens genauso lang geworden wie seiner Frau.

Bald lag auch Bachenau hinter ihnen. Jetzt fuhren sie auf einer von Bäumen begrenzten Straße nach Sophienlust. Schon konnten sie das Dach des ehemaligen Herrnhauses, in dem das Kinderheim untergebracht war, erkennen. Eine hohe Hecke schirmte es von der Straße ab.

Das schmiedeeiserne Tor des Kinderheims Sophienlust stand einladend offen. Harald Walter bog in die breite Auffahrt ein. Er fuhr sehr langsam, um nicht die Kinder zu gefährden, die, wie er wußte, sich frei in diesem riesigen, zum Kinderheim gehörenden Park bewegen konnten. Zwei Minuten später erreichte er den Parkplatz und stellte seinen Wagen neben dem Denise von Schoeneckers ab. »Alles aussteigen!« rief er munter und schlug seiner Frau leicht aufs Knie,.

»Unhold!« warf sie ihm lächelnd an den Kopf.

»Ungetüm!« konterte er.

»Paß auf, wenn Frau von Schoenecker uns so reden hört, gibt sie uns Melissa vielleicht gar nicht, weil wir einen schlechte Einfluß auf das Kind haben könnten«, meinte Christine und stieg aus.

»Dann müssen wir sehr, sehr vorsichtig sein«, flüsterte Harald ihr zu und legte einen Finger auf seine Lippen.

Christine sah ihn an. »Hast du auch so ein flaues Gefühl in der Magengegend?« fragte sie und zog eine Grimasse.

»Das nicht, aber etwas weiche Knie«, antwortete Harald. »Vater zu werden ist nicht gerade ein kleines Unternehmen.«

Denise von Schoenecker trat aus der Pforte und stieg die Freitreppe des Hauses herab. Sie war eine schlanke, aparte Frau, die von den meisten Leuten weit jünger geschätzt wurde, als sie in Wirklichkeit war. Seit ihr jetzt sechzehnjähriger Sohn Dominik vor vielen Jahren von seiner Urgroßmutter, Sophie von Wellentin, Sophienlust geerbt hatte, war sie der gute Geist des Kinderheims.

»Guten Morgen!« grüßte Denise freundlich.

»Guten Morgen«, erwiderten die beiden Walters. Sie wirkten etwas unsicher, wie die meisten Eltern, die endlich ein langersehntes Kind vom Heim abholen konnten.

»Weiß Meli, daß wir kommen?« fragte Christine.

»Wir haben es ihr nach dem Frühstück gesagt«, erwiderte Denise von Schoenecker, während sie gemeinsam mit dem Ehepaar Walter die Treppe emporstieg und die geräumige Halle betrat. »Meli wartet schon sehnsüchtig auf Sie.«

»Wo ist sie denn?« Christine sah sich suchend um.

Harald stieß seine junge Frau an. »He, du kannst doch nicht erwarten, daß sie wie ein Paradepferdchen gesattelt und gezäumt in der Halle steht.«

»Sie ist auf dem Spielplatz«, sagte Denise von Schoenecker. »Wir halten es für das beste, den Kindern den Übergang vom Heimleben zum Leben innerhalb einer Familie so natürlich und selbstverständlich wie möglich zu gestalten. Sie dürfen also nicht erwarten, daß wir Melissa extrafein herausgeputzt haben.«

»Keine Angst, das habe ich auch nicht erwartet«, antwortete Christine. »Ich werde Meli auch lieben, wenn sie wie ein kleines Ferkelchen vom Spielplatz kommt.«

»Na, ganz so arg wird es wohl nicht sein«, meinte Denise von Schoenecker und führte das Ehepaar Walter in das Biedermeierzimmer, in dem sie gewöhnlich ihre Besucher empfing.

Das Hausmädchen Ulla brachte Kaffee und Gebäck, und bald gesellte sich auch Frau Rennert, die mütterliche Heimleiterin, zu ihnen. Sie hatte die Mappe mit Melissas Unterlagen mitgebracht und ging die Papiere zusammen mit den Walters durch.

»Weiß man inzwischen etwas über Melissas Vater?« erkundigte sich Harald Walter, nachdem Frau Rennert ihm das Impfbuch der Kleinen übergeben hatte.

»Wir haben inzwischen nur herausbekommen, daß er wahrscheinlich Engländer ist«, sagte Denise ernst. »Wie Sie wissen, hat Frau Braun auf dem Standesamt keinerlei Angaben über Melissas Vater gemacht. Durch Zufall habe ich eine frühere Bekannte von ihr kennengelernt. Fräulein Wengel erzählte mir, daß Frau Braun vor knapp drei Jahren ihren Urlaub in London verbrachte. Als sie zurückkam, war sie schwanger.«

»Also ein Engländer«, sagte Harald nachdenklich. Er spielte mit seinem Teelöffel.

»Ich hoffe, das ändert nichts an Ihrem Entschluß, Herr Walter«, meine Denise, erschrocken über Haralds kurze Bemerkung.

»Für wen halten Sie mich, Frau von Schoenecker?« fragte der junge Mann. »Natürlich ändert dies nichts an unserem Entschluß, Melissa zu adoptieren.« Er lachte auf. »Was meinen Sie, was mir meine Frau erzählen würde!«

»Darauf kannst du dich verlassen!« drohte Christine.

»Sie dürfen mich nicht falsch verstehen, Frau von Schoenecker«, fuhr Harald fort. »Es ist nur verständlich, daß ich alles über Melissas Eltern wissen möchte. Je mehr wir über ihre Eltern wissen, um so mehr können wir uns auf sie einstellen. Wir…«

Harald wurde durch das Öffnen der Tür unterbrochen. Schwester Regine schob die kleine Melissa ins Biedermeierzimmer.

Die Kleine trug ein reizendes Spielhöschen und weiße Sandalen. Die schulterlangen Haare hatte Heidi ihr zu zwei Rattenschwänzchen zusammengebunden.

Chistine stand auf und lief ihr entgegen. »Komm zur Mutti, Meli«, lockte sie und ging mit ausgebreiteten Armen in die Hocke. »Komm, mein Schatz!«

»Schon da!« Melissa warf sich in die Arme der jungen Frau. »Meli lieb!« behauptete sie. »Meli lieb und brav.«

»Natürlich ist meine Meli lieb und brav«, bestätigte Christine. Mit der Kleinen im Arm stand sie auf.

Melissa schlang ihre Ärmchen um Christines Hals und gab der jungen Frau viele kleine Küßchen. Sie schien kein Ende zu finden.

»Und wo bleibe ich?« fragte Harald belustigt. Er kam hinter dem Tisch hervor. »Wenn du der Mami so viele Küßchen gibst, bleibt ja für den armen Papi gar nichts mehr übrig.«

Melissa strahlte ihn an. »Du Papi?« fragte sie.

Harald nickte. »Ja, ich bin dein Papi«, sagte er und streckte die Arme aus.

»Papi auch lieb!« Melissa zappelte in Christines Armen. »Meli zu Papi!« verlangte sie.

»Siehst du, was habe ich dir gesagt?« fragte Harald seine Frau und schloß die Arme um das kleine Mädchen. »Sie sagt schon Papi zu mir!«

»Wie es aussieht, hat Meli Sie bereits adoptiert«, meinte Schwester Regine zufrieden. Es tat ihr zwar leid, Melissa zu verlieren, aber sie war froh, daß die Kleine neue Eltern gefunden hatte.

»Bei ihr geht das schneller als bei uns«, seufzte Christine. »Wenn ich daran denke, daß noch mindestens ein Jahr vergehen wird, bis wir wissen, ob wir sie behalten dürfen…«

»Wenn nicht schwerwiegende Gründe vorliegen, wird man Ihnen die Kleine nicht mehr nehmen«, erklärte Denise bestimmt. »Das Jugendamt ist über jedes Kind froh, das es vermitteln kann. Aber diese Probezeit muß sein. Eltern und Kinder müssen Gelegenheit haben, sich aneinander zu gewöhnen, bevor der letzte Schritt getan wird. Eine bereits gültige Adoption rückgängig zu machen, ist ein langwieriges Verfahren, unter dem dann am meisten das betreffende Kind zu leiden hat.«

»Kommt so etwas überhaupt vor?« fragte Christine zweifelnd. Es fiel ihr schwer zu glauben, daß Eltern ein bereits adoptiertes Kind wieder zurückgaben.

»Ja, ab und zu schon«, sagte Denise. »Wir hatten vor zwei Jahren auch einmal so einen Fall. Es war eine mehr als unerfreuliche Sache.«

»Ich glaube, wir sollten Meli jetzt umziehen«, warf Schwester Regine ein. »So, wie sie aussieht, kann sie nicht mit Ihnen mitfahren.«

»Darf ich es tun?« fragte Christine, bemerkte aber sofort die Enttäuschung bei der Krankenschwester und dachte daran, wie sehr Melissa Schwester Regine ans Herz gewachsen war. »Wir könnten sie gemeinsam umziehen«, verbesserte sie sich.

»Gut!« Schwester Regine nahm Melissa von Haralds Arm.

»Will Papi!« protestierte Melissa.

»Bald wirst du den Papi für immer haben«, sagte Schwester Regine und drückte die Kleine an sich, »aber jetzt mußt du erst einmal umgezogen werden. Du wirst mit Mami und Papi eine weite Reise machen.« Sie ging mit Christine zur Tür.

»Ade, ade!« schrie Melissa winkend.

»Ade, Meli!« Harald warf ihr eine Kußhand zu.

Er wartete, bis seine Frau die Tür hinter sich und Schwester Regine geschlossen hatte, dann setzte er sich wieder zu Denise von Schoenecker und Else Rennert an den Tisch.

*

Es wurde später Nachmittag, bevor die Walters Köln erreichten. Die Rückfahrt von Sophienlust hatte viel länger gedauert als die Hinfahrt. Melissa zuliebe hatten sie zwei längere Pausen gemacht, und selbst auf der Autobahn war Harald nie über achtzig gefahren, um die Kleine nicht zu gefährden. Er war ein Mensch, der übernommene Pflichten sehr ernst nahm, und Melissa war für ihn eine Verpflichtung. Nicht nur, daß er sich vorgenommen hatte, mit ihr stets besonders vorsichtig zu fahren, nein, er dachte auch bereits darüber nach, ob er sie nicht später in eine Privatschule schicken sollte. Für Melissa würde nur noch das Beste gut genug sein.

Christine drehte sich um. Ein Lächeln verklärte ihr Gesicht. »Sie ist eingeschlafen, der kleine Schatz«, sagte sie zu ihrem Mann.

»Es war ein anstrengender Tag für sie«, meinte Harald. Er warf einen Blick durch den Rückspiegel zum Kindersitz im Fond. Wie süß die Kleine aussah, wenn sie schlief! Auch wenn der Gedanke unsinnig war, ihm kam es vor, als würde sie ein wenig Christine ähneln.

»Rot!« rief Christine und wies auf die Ampel, die vor ihnen auftauchte.

»Schon gesehen!« Harald bremste den Wagen sanft ab. Geduldig wartete er auf Grün, danm bog er in die Straße nach Heinhofen ein. Es war erst drei Wochen her, daß sie ein geräumiges Einfamilienhaus in Heinhofen, einem Vorort von Köln, bezogen hatten. Harald war froh, daß der Umzug noch vor Melissas Ankunft über die Bühne gegangen war. So würde ihr ein nochmaliger Wechsel der Umgebung erspart bleiben.

»Gott sei Dank sind wir endlich zu Hause!« Christine reckte sich. Sie blickte aus dem Fenster auf die vertraute Umgebung. Die Häuser in dieser Gegend lagen hinter Zäunen und hohen Hecken verborgen. Jedes Grundstück schien für seine Besitzer so etwas wie eine kleine Insel zu sein. Christine hatte noch nicht viel Kontakt zu ihren Nachbarinnen bekommen.

Harald bog in die Auffahrt zu seinem Haus ein. Er parkte den Wagen vor der Garage. »Ich fahre ihn erst später hinein«, sagte er zu seiner Frau. »Zunächst bringen wir die Kleine ins Haus.« Er stieg aus und öffnete die Fondtür. »Komm, Meli!«

Melissa rieb sich die Augen. Sie kicherte, als Harald sie aus dem Gurt und dem Sitz befreite. Vertrauensvoll schmiegte sie sich an ihn, als er sie aus dem Wagen hob.

»Sie ist so lieb«, meinte Christine und nahm ihrem Mann das Kind ab. »So lieb und müde«, fügte sie hinzu, weil Melissa herzhaft gähnte und dabei den Mund, so weit es ging, aufriß.

»Zeit, daß sie ins Bett kommt.« Harald eilte die Stufen zum Haus empor und schloß die Tür auf. »Bitte, die Damen!« Mit einer einladenden Geste trat er beiseite.

Christine brachte Melissa in die Küche und setzte sie in einen hohen Kinderstuhl. Die Kleine sollte wenigstens etwas essen, bevor sie schlafen ging.

Aber Melissa hatte noch nie zuvor in einem Kinderstuhl gesessen. Lauthals begann sie zu schreien.

»Aber, aber, wer wird denn so weinen?« fragte Harald und wischte ihr mit einem sauberen Taschentuch die Tränen ab. »Jetzt kocht die Mami dir einen feinen Brei, und dann geht’s ab in die Heia!«

Melissa trommelte mit den Fäusten auf die Lehnen des Kinderstuhls. »Nicht da, nicht da!« brüllte sie.

»Aber Liebes, was hast du denn?« Christine kamen vor Mitleid fast die Tränen. »Es muß der Stuhl sein«, sagte sie zu ihrem Mann. Sie klappte ihn auf und nahm die Kleine aus dem Sitz. Sofort versiegten die Tränen, sofort begann Melissa zu lächeln.

»Es ist heute ihr erster Tag bei uns«, sagte Harald nachsichtig, »aber ab morgen sollten wir konsequent sein, Christine. Wir dürfen ihr nicht jeden Stein aus dem Weg räumen. Auch wenn ihr das Kinderstühlchen nicht gefällt, wird sie sich daran gewöhnen müssen.«

»Bei mir auf dem Schoß sitzt sie genauso bequem«, erwiderte Christine. »Ich gehe jede Wette ein, es gibt viele Kinder, die keinen eigenen Hochsitz haben.« Sie reichte die Kleine ihrem Mann. »Halte du sie, während ich den Brei koche.«

Harald setzte sich mit Melissa auf die Eckbank. Die Kleine war jetzt wieder quietschvergnügt, hatte ihre Müdigkeit überwunden. Begeistert machte sie mit, als der Vater mit ihr Hoppe-hoppe-Reiter spielte. Jedesmal, wenn er »Plumps« sagte, kreischte sie vor Lachen.

»Fertig!« rief Christine. Sie probierte den Brei. »Er schmeckt ausgezeichnet.«

»Ist er auch nicht zu heiß? Nicht, daß Meli sich den Mund verbrennt.«

»Gerade richtig.« Christine füllte den Brei in einen Kinderteller und stellte ihn auf den Tisch. Aus dem Eckschrank nahm sie ein Lätzchen, daß sich Melissa ohne Schwierigkeiten umbinden ließ. »So, und nun gib sie mir!« Die junge Frau setzte sich an den Tisch und streckte die Arme nach ihrer kleinen Tochter aus.

»Umsteigen, Meli!« Harald setzte Melissa auf Christines Schoß. Er hätte die Kleine gern selbst gefüttert, wollte seiner Frau aber diesen Spaß nicht nehmen. Interessiert sah er zu, als Christine Löffelchen um Löffelchen von dem Brei in Melissas Mündchen verschwinden ließ. Er fand, es ging ja eigentlich ganz einfach!

»’nug!« Melissa wehrte den nächsten Löffel mit der Hand ab. »Satt!« Sie preßte die Lippen zusammen.

»Aber sie hat doch noch kaum etwas gegessen«, meinte Harald, als Christine den Teller wegschob. »Sie kann doch noch nicht satt sein.«

»Glaube mir, Meli weiß recht gut, wann sie satt ist«, erwiderte Christine. »So ein kleines Kind hat noch ein sehr natürliches Verhältnis zur Nahrung. Wir wollen sie nicht zum Essen zwingen, sonst könnten wir uns einen kleinen Nimmersatt erziehen.«

»Bei mir zu Hause hieß es, der Teller wird leer gegessen«, erklärte Harald. »Und bin ich vielleicht ein Nimmersatt geworden?«

Christine puffte ihn liebevoll in die Seite. »Du setzt an, mein Schatz, du setzt an!« Sie zwinkerte ihm zu. »Was meinst du, Meli, sollen wir den Papa auf halbe Portion setzen?«

»Bonbon!« Melissa schlug die Händchen zusammen. »Meli will Bonbon!«

»Ich denke, sie ist satt?« kam es von Harald. Er griff in seine Hosentasche und holte eines der Bonbons heraus, die er unterwegs gekauft hatte. »Hier, mein Schatz«, sagte er und schob der Kleinen die Süßigkeit in den Mund.

»Ich hörte etwas von konsequent«, scherzte Christine.

»Damit können wir ab morgen beginnen«, schlug Harald vor. Er seufzte auf. »Wer kann so einem Engelchen schon widerstehen?«

Das Engelchen lachte ihn an und verlangte auf seinen Arm genommen zu werden. Kaum hatte es den Platz gewechselt, küßte es den Papa ungeachtet des Bonbons, den es im Mund hatte.

»Iii, du Ferkelchen!« Harald hielt die Kleine von sich ab und stellte sie zu Boden. »Du bist reif für die Badewanne, weißt du das?« fragte er und fuhr Melissa durch die hellblonden Haare. »Darf der Papa dich baden?«

»Und Mami!« verlangte Melissa.

»Sieht du, sie ist diplomatisch«, sagte Christine glücklich.

Sie nahm Melissa an die Hand und führte sie ins Bad.

*

»Guten Tag, Frau Walter!« Irene Petzold blieb stehen. Neugierig schaute sie Melissa an. »Haben Sie Besuch, Frau Walter? Eine Nichte?«

Sie streckte dem kleinen Mädchen ihre Hand entgegen. »Wie heißt du denn, mein Kleines?«

Melissa verbarg ihr Gesicht in einer Falte von Christines weitem Kleid. Verlegen steckte sie einen Finger in den Mund.

»Etwas schüchtern, das Kind«, bemerkte die Nachbarin.

»Wie alle Kinder in diesem Alter«, verteidigte Christine die kleine Tochter.

Frau Petzold war die dritte Nachbarin, der sie innerhalb von zehn Minuten Rede und Antwort stehen mußte. Früher hatte man sich nicht um sie gekümmert, aber plötzlich schien das anders geworden zu sein.

»Wie alt ist Ihre Nichte denn, Frau Walter?«

»Melissa ist zwei«, antwortete Christine, »aber sie ist nicht meine Nichte, sondern meine Tochter.«

»Ihre Tochter?« Irene Petzold stutzte. »Ich dachte, Sie hätten keine Kinder!«

»Mein Mann und ich werden Melissa adoptieren«, erklärte Christine. »Sie lebt seit gestern bei uns. Wir haben sie von Sophienlust geholt, einem Kinderheim.

»Ein Adoptivkind«, sagte Irene Petzold gedehnt. »Ehrlich, Sie und Ihr Mann haben Mut, Frau Walter. Ich weiß nicht… Ich meine, man weiß doch nie, was bei so einer Adoption herauskommt. Wissen Sie wenigstens, wer die Eltern sind?«

»Ja!« Christine nickte. »Melissas Mutter ist an einer Lungenentzündung gestorben.«

»Und der Vater hat sie dann so einfach weggegeben?«

»Sie ist unehelich«, bekannte Christine ruhig.

»Unehelich«, wiederholte Irene Petzold, als wäre dieses Wort etwas Anstößiges. »Also, ich weiß nicht recht, Frau Walter, hoffentlich haben Sie sich da kein Kuckucksei ins Nest gesetzt.«

»Auch ein Kuckuck ist ein schöner Vogel«, konterte Christine. Sie ärgerte sich zwar über die Nachbarin, aber sie ließ es sich nicht anmerken. Harald und sie hatten vorausgesehen, daß nicht alle Leute ihren Entschluß verstehen würden. Es gab noch immer Menschen, die glaubten, ein Heimkind wäre ein Kind zweiter Klasse.

»Wir haben hier einen Mütterclub, Frau Walter«, sagte Irene Petzold. »Hätten Sie nicht Lust, ihm beizutreten? Wir treffen uns ein-, zweimal in der Woche.«

Diesem Club würden sicher nicht nur Frauen wie Irene Petzold angehören. Deshalb entschied Christine: »Gut, ich komme gern einmal. Allerdings möchte ich nicht gleich fest beitreten. Ich möchte erst einmal sehen, um was es da so geht.«

»Das ist selbstverständlich, Frau Walter.« Irene Petzold kramte in ihrer Handtasche und zog einen Bonbon heraus. »Na, Melissa, wie wär’s mit einem Bonbon?« fragte sie süß.

Melissa hob das Köpfchen. Blitzschnell langte sie zu und hatte den Bonbon schon in der Hand.

»Na, und wie sagt man?« fragte Irene Petzold.

Sofort vergrub Melissa ihr Gesichtchen wieder im Rock der Mutter.

»Sie sollten ihr unbedingt das Wort danke beibringen, Frau Walter«, meinte die Nachbarin pikiert. »Gerade ein Kind wie Ihre Kleine hat allen Grund, dankbar zu sein.«

»Kein Kind hat Grund, dankbar zu sein«, widersprach Christine ihr heftig. »Kein Kind kann etwas dafür, daß es in die Welt gesetzt wurde.«

Irene Petzold lachte auf, aber es war ein falsches Lachen. »Ich sehe schon jetzt, die nächsten Nachmittage im Club werden ziemlich farbig werden. Aber jetzt muß ich gehen. Renate hat Halsentzündung. Wegen des Clubs rufe ich Sie an.«

»Gut, danke!« Christine umfaßte die Hand ihrer kleinen Tochter noch fester. »Ich muß jetzt auch weiter«, sagte sie, weil Irene Petzold trotz ihrer Eile keine Anstalten machte, weiterzugehen.

»Auf Wiedersehen!«

»Ade, ade!« rief Melissa, nachdem sie schon einige Schritte gegangen waren.

Irene Petzold drehte sich überrascht um. »Wiedersehen, Melissa! Wiedersehen!« Sie winkte der Kleinen zu.

»Für heute hast du, glaube ich, genug fremde Tanten kennengelernt, Liebes«, meinte Christine. Sie nahm Melissa auf den Arm und betrat mit ihr einen Supermarkt. »Hau ruck!« scherzte sie, als sie die Kleine in den Einkaufswagen setzte.

Vergnügt ließ sich Melissa durch die Gänge fahren. Es gefiel ihr, wenn rechts und links von ihr immer mehr Waren aufgestapelt wurden. »Bonbon«, sagte sie jedesmal, wenn Christine etwas Neues in den Wagen legte.

»Magst du ein Scheibchen Wurst, kleines Fräulein?« fragte die Verkäuferin hinter der Wursttheke. Sie reichte Christine eine dicke Wurstscheibe. »Ein hübsches Kind haben Sie«, meinte sie und sah zufrieden zu, als Melissa die Wurst nach und nach im Mündchen verschwinden ließ. »Die Kleine ist Ihnen wie aus dem Gesicht geschnitten… Nur die Augen hast du nicht von der Mama«, wandte sie sich wieder an Melissa.

Christine errötete. Sie freute sich, daß man Melissa für ihre eigene kleine Tochter hielt, und nahm sich vor, es am Abend Harald zu erzählen.

Aber Harald lachte, als er das hörte, nicht, wie Christine erwartet hatte. »Ein wenig hat die Verkäuferin schon recht«, meinte er. »Vielleicht kommt es daher, daß Melissa auch blond ist.« Er zog die Kleine auf seinen Schoß.

»Melia bond«, plapperte Melissa. »Ganz bond!«

»Ja, ganz blond«, bestätigte Harald. Er stand auf und schwenkte Melissa durch die Luft. Vergnügt schrie die Kleine auf.

»Vorsicht, Harald!« mahnte Christine besorgt.

»Deine Mama ist eine alte Unke«, sagte Harald zu seiner Tochter. »Immerzu hat sie Angst.«

»Berechtigte Angst«, meinte Christine.

»Ach was, Meli ist doch nicht aus Porzellan!« Harald schwenkte die Kleine noch einmal herum.

»Noch, Papa, noch!« verlangte Melissa, als er sie auf den Boden stellte.

»Na, siehst du?« Der junge Vater warf seiner Frau einen triumphierenden Blick zu. »Unsere Tochter weiß besser, was ihr guttut, als du.«

»Man sollte nicht glauben, daß du bereits zweiunddreißig Jahre alt bist«, bemerkte Christine kopfschüttelnd.

»Dieses Kompliment kann ich dir nur zurückgeben«, ulkte Harald. »Nach deiner Ängstlichkeit müßte man dich für sechzig und nicht für achtundzwanzig halten.« Er zwinkerte Melissa zu. »Was meinst du, Meli-Kind, ist die Mama schon sechzig?« Als Melissa ihn verständnislos ansah, fügte er hinzu: »Ist die Mama schon alt?«

»Mama alt«, echote Melissa.

»Da hörst du es aus kundigem Mund«, erklärte Harald und legte den Arm um seine Frau.

»Warte, wenn Meli schläft, dann kannst du etwas erleben!« drohte Christine glücklich. Sie hatte einen Mann, den sie über alles liebte, und sie hatte nun eine kleine Tochter. Was konnte sie mehr erwarten?

An diesem Abend übernahm Harald die Aufgabe, Melissa zu füttern. Den Hochsitz brachte er zuvor eigenhändig in den Keller. Er fand, es war doch viel schöner, wenn die Kleine auf dem Schoß des einen und anderen saß. Später wurde die Kleine gemeinsam von ihnen gebadet und zu Bett gebracht. Es ging bereits auf acht zu, als Harald eine Flasche Sekt auf den Wohnzimmertisch stellte.

»Nanu, was feiern wir denn?« fragte Christine überrascht. »Auf Melis Ankunft haben wir doch schon gestern angestoßen. Du hast doch nicht etwa im Lotto gewonnen?«

»Es gibt noch andere Dinge, die man feiern kann«, meinte ihr Mann. »Direktor Gerlach ließ mich heute in sein Büro kommen. Er gratulierte mir zu Melissa, und dann sagte er mir, daß er mich nächste Woche zum Prokuristen ernennen würde.«

»Zum Prokuristen?« wiederholte Christine fassungslos.

»Ja!« Harald nickte. Er mühte sich mit der Sektflasche ab. Mit einem lauten Knall sprang der Korken aus dem Flaschenhals.

Eilig hielt Harald zwei Sektgläser unter die sprudelnde Fontäne. »Ich hätte nicht gedacht, daß ich dieses Ziel so schnell erreichen würde«, sagte er. »Gut, ich wollte vorwärtskommen, das weißt du ja, aber daß ich bereits jetzt Prokurist werden würde, das hatte ich in meinen kühnsten Träumen nicht erwartet.«

»Das freut mich, Harald!« Christine küßte ihn auf die Wange. »Ein Zeichen, wieviel Direktor Gerlach von dir hält.«

»Und darauf bin ich auch sehr stolz.« Harald drückte seiner Frau ein Glas in die Hand. »Natürlich werden ich mich jetzt erst recht anstrengen. Ich muß meinem Chef beweisen, was in mir steckt.«

»Beweise ihm nicht zuviel auf einmal«, mahnte Christine etwas besorgt. »Direktor Gerlach gehört zu den Chefs, die ihren Leuten gern mehr aufbürden, als sie verkraften können. Denke daran, daß du jetzt ein Kind hast! Melissa wird einen Teil deiner Zeit beanspruchen.«

»Sei unbesorgt, Liebes, ich lasse mir schon nicht zuviel aufbürden«, beruhigte Harald seine junge Frau gutgelaunt. »Ich weiß genau, wieviel ich mir zumuten kann. Du und die Kleine, ihr werdet nicht zu kurz kommen.«

Mit einem leisen Klirren stießen die Gläser aneinander.

*

Aber so einfach, wie Harald Walter es sich vorgestellt hatte, ging es nicht, seine neue Position und die Familie unter einen Hut zu bringen. Schon an einem der nächsten Tage teilte Direktor Gerlach ihm mit, daß er ihn zu einem Management-Kurs angemeldet habe, der bereits in der nächsten Wochen beginnen sollte.

Nun war Harald durchaus nicht abgeneigt, diesen Kurs mitzumachen, aber er wußte auch, daß er damit während der nächsten Wochen kaum noch Zeit für seine Frau und Melissa haben würde.

»Ich finde es unverschämt von Direktor Gerlach, dich einfach zu diesem Kurs anzumelden«, sagte Christine ärgerlich, als sie davon erfuhr.

»Aber bedenke einmal die Vorteile, die dieser Kurs mir bietet«, wandte Harald ein. »Ich will doch weiterkommen, Christine. Das mußt du verstehen.«

»Es wird so weit kommen, daß wir uns nur noch frühmorgens und am späten Abend sehen«, meinte Christine. »Vergiß nicht, ich habe bis vor kurzem als Sachearbeiterin in deiner Firma gearbeitet. Ich kenne Direktor Gerlach zur Genüge.«

»Zugegeben, während des Kurses werde ich mich nicht viel um euch kümmern können, aber danach wird alles wieder beim alten sein«, erwiderte Harald leichthin. »Du kannst dich darauf verlassen, daß mir trotz allem die Familie wichtiger ist als meine Arbeit.«

»Weißt du, wie endlos so ein Tag werden kann?« fragte Christine. »Mit dem Haushalt bin ich schnell fertig. Gut, ich habe Melissa, aber ich kann das Kind doch nicht an mein Bein binden. Melissa soll sich frei entfalten können und nicht ständig an meinem Schürzenzipfel hängen. Ich freue mich immer auf den Abend, wenn du nach Hause kommst. Es war so schön, daß du jetzt immer um halb fünf heimgekommen bist. Auch Meli wird das Tollen mir dir vermissen.«

»In einigen Wochen werde ich wieder pünktlich heimkommen«, versicherte Harald. Ganz glaubte er zwar selbst nicht daran, aber er wollte um jeden Preis einen Streit mit seiner Frau vermeiden. »Sag, wie war es bei dieser Heinhofer Müttervereinigung?«

Christine war am Vortag von Frau Petzold angerufen worden. Man hatte sich im Haus der Vereinsvorsitzenden getroffen, die ein Kindermädchen hatte, das während der Sitzung die kleineren Kinder betreute.

Christine winkte ab. »Nichts für mich! Am liebsten wäre ich mitten in der Sitzung aufgestanden, hätte Melissa genommen und wäre nach Hause gegangen. Zuerst gab es ein endloses Palaver über Kochrezepte und Strickmuster, und dann ging man zur Tagesordnung über. Man will eine Großaktion gegen die Heinhofer Hundebesitzer starten.«

»Was?« Harald sah seine Frau entgeistert an. »Gibt es denn für diese Frauen keine größeren Probleme als Hunde?«

»Allem Anschein nach nicht! Zugegeben, es darf nicht vorkommen, daß Hunde die Kinderspielplätze beschmutzen. Man sollte den betreffenden Hundebesitzern gehörig auf die Finger klopfen, aber den Hunden auch noch verbieten zu wollen, entlang der Feldwege oder auf der Fahrbahn ihr Geschäftchen zu verrichten, ist mehr als intolerant.«

»Und wie will man das durchsetzen?« fragte Harald.

»Indem man sich an die Öffentlichkeit wendet«, erwiderte Christine. »Ich habe mich geweigert, den Leserbrief zu unterschreiben, der an die Zeitung aufgesetzt wurde.«

»Das war richtig, Christine.« Harald schüttelte den Kopf. »Ich habe mir neulich den Spielplatz angesehen. Von Hundehaufen keine Spur, aber leere Konservendosen, Glasscherben, Papier und Zigarettenkippen genug.«

»Das war ja das allerschönste!« sagte Christine. »Doris, die kleine Tochter der Vorsitzenden, lief ins Zimmer und kletterte auf den Schoß ihrer Mutter. Frau Weingraf rauchte seelenruhig weiter und blies der Kleinen teilweise sogar den Rauch ins Gesicht. Sie rauchen wie ein Schlot und regen sich über Hundehaufen auf.«

»Du gehst auf keinen Fall noch einmal mit Melissa hin, Christine«, bestimmte Harald. »Es genügt, wenn diese Frauen ihre eigenen Kinder von der Zeugung an mit Rauch einnebeln. Unsere Melissa wird dem nicht ausgesetzt.«

»Ich habe dir doch neulich von der netten Verkäuferin im Supermarkt erzählt«, entgegnete Christine. »Sie leitet ein Sozialkomitee. Da würde ich gern mitmachen.«

»Ich weiß nicht«, meinte Harald gedehnt. »Na gut, wenn du unbedingt willst, schau es dir einmal an. Weißt du, ich bin jetzt in einer Position, in der es bedenklich ist, wenn die Ehefrau sich zu sehr öffentlich betätigt. Ich meine, Wohltätigkeitsveranstaltungen und dergleichen, dagegen ist nichts einzuwenden. Aber wenn du in einem Sozialkomitee arbeitest, mußt du womöglich zu sehr Stellung nehmen.«

»Ich soll also lieber zu Hause sitzen und Däumchen drehen?«

»So habe ich das nicht gemeint, Christinchen«, wehrte Harald ab, »aber du könntest doch auch dem Tennis- oder Reitclub beitreten. Es wohnen ja nicht nur Frauen wie die Damen Petzold und Weingraf in Heinhofen. Einige unserer Nachbarinnen werden sicher dem einen oder anderen Club angehören. Es wäre nur gut, wenn du näher mit ihnen bekannt würdest.«

»Weil es dein Image hebt?« Diese Frage konnte sich Christine nicht verkneifen. Sie verstand ihren Mann nicht. Seit er zum Prokuristen ernannt worden war, benahm er sich immer mehr wie ein Snob.

»Warum sollte unser Image nicht gehoben werden?« fragte Harald. »Es ist nichts dagegen einzuwenden.«

»Du sprichst schon wie Direktor Walter«, warf Christine ihm etwas bissig vor.

»Bei der Firma Gerlach kann ich nicht noch höher steigen«, erwiderte ihr Mann unbeeindruckt. »Aber wer zwingt mich, ständig bei ihr zu bleiben? In einigen Jahren werde ich mich nach einer noch besseren Position umsehen. Industrie und Wirtschaft brauchen ständig Leute, die bereit sind, sich völlig einzusetzen.«

»Aber vor Industrie und Wirtschaft sollte immer deine Familie stehen«, sagte Christine mit Nachdruck. »Ich kann verstehen, daß dir deine neue Position etwas zu Kopf gestiegen ist, aber irgendwann solltest du wieder herunter auf die Erde kommen.«

»Mir ist gar nichts zu Kopf gestiegen!« Harald Walter mußte sich zwingen, ruhig zu bleiben. Warum war Christine nur so begriffsstutzig? Konnte sie denn nicht begreifen, daß ein Mann in seinem Beruf weiterkommen mußte?

»Das merkst du nur nicht«, meinte die junge Frau. »Aber warum zanken wir uns, Harald? Es ist doch sinnlos!« Sie schenkte ihm ein versöhnliches Lächeln. »Nutzen wir lieber die uns verbleibende Zeit für ein intensives Familienleben.«

»Einverstanden!« Harald küßte sie aufs rechte Ohr. »Schauen wir noch einmal nach Meli? Ich habe noch nie ein niedlicheres Kind gesehen.«

»Wahrscheinlich gibt es nur wenige Väter, die so vernarrt in ihre Tochter sind, wie du es bist«, scherzte Christine und zwang sich, nicht über Haralds plötzlichen Snobismus nachzudenken.

»Es haben auch nur wenige Väter eine so hübsche, kluge Tochter«, konterte Harald.

Leise stiegen sie die Stufen zum ersten Stock empor. Lautlos öffnete Harald die Tür des Kinderzimmers. Beim Fenster brannte ein kleines Nachtlicht. Sein Schein reichte eben aus, die Konturen des Kindes erkennen zu lassen.

Hand in Hand stand das Ehepaar am Kinderbettchen. Nach den langen Jahren des Wartens kam es Christine noch immer wie ein Wunder vor, daß sie nun endlich ein Kind hatte. Gut, Melissa war nicht ihr leibliches Kind, aber kaum ein Kind wurde wohl mehr geliebt. Sie schwor sich, alles zu tun, damit es im Leben der Kleinen keine dunklen Schatten gab.

*

Christine Walter kam aus dem Kindergarten, der dem Heinhofer Reitclub angeschlossen war. Sie hatte ein wenig Angst gehabt, Melissa dort abzugeben, aber die Kleine hatte keine Schwierigkeiten gemacht. Munter hatte sie ihr nachgewinkt und »ade« »ade« gerufen. »Was für ein braves Kind«, hatte die junge Kindergärtnerin gemeint und Melissa zu ihren fünf anderen Schützlingen gebracht.

Christine ging über den weiten Platz zu den Ställen. Sie kam sich in ihrem Reitdreß lächerlich vor, aber dann sah sie, daß die anderen Frauen genauso gekleidet waren. Seufzend setzte sie auch noch ihre Kappe auf.

»Hallo!«

Christine wandte sich nach links. Sie sah einen etwa dreißigjährigen Mann, der einen weißen Schimmel am Halfter führte. Er trug einen sehr eleganten Reitanzug und spiegelblanke Stiefel dazu.

Trotz seiner etwas zu langen blonden Haare sah er wirklich sehr gut aus.

»Guten Morgen!« grüßte Christine.

»Sind Sie die Neuerwerbung?« fragte der junge Mann unverblümt. Er blieb neben ihr stehen. Unverhohlen betrachtete er sie. Anerkennend pfiff er durch die Zähne. »Nicht schlecht, nicht schlecht«, murmelte er vor sich hin.

Christine errötete. »Sind Sie mit Ihrer Inspektion fertig?« fragte sie ärgerlich. »Kann ich weitergehen?«

»Entschuldigen Sie, ich wollte Sie nicht verärgern!« Der junge Mann lachte sie an. »Als unser Leon vor zwei Tagen sagte, daß wir Neuzuwachs erwarten könnten, dachten wir alle an eine Dame zwischen vierzig und fünfzig.«

»In Ausreden sind Sie wohl nie verlegen?« fragte Christine. Obwohl sie den jungen Mann für reichlich unverschämt hielt, fühlte sie sich zu ihm hingezogen. Er besaß ohne Zweifel einen gewissen Charme.

»Eine gute Ausrede zur rechten Zeit spart Ärger und Verlegenheit«, erwiderte der junge Mann grinsend. »Aber jetzt sollte ich mich endlich vorstellen. Ich bin Bernd Heubach.«

»Christine Walter«, stellte sich auch Christine vor und reichte ihm die Hand. »Sagen Sie, der Name Heubach kommt mir so bekannt vor…«

»Heubach Import-Export«, erklärte Bernd Heubach. »Ich bin der Junior!« Er lachte. »Allerdings habe ich nichts mit den Geschäften meines Vaters zu tun. Ich ziehe es vor, mein Leben auf angenehmere Art zu verbringen.«

»Auch ein Standpunkt.«

»Und kein schlechter.«

»Wo finde ich Herrn Robitschek?« fragte Christine.

»In seinem Büro.« Bernd wies nach rechts. »Sehen Sie den roten Anbau?«

Als Christine nickte, fuhr er fort:

»Gut, dort befindet sich Leons Büro. Bestellen Sie ihm einen schönen Gruß von mir.«

»Werde ich«, sagte Christine. »Danke für die Auskunft!«

»Wir könnten einmal zusammen essen gehen«, schlug Bernd unvermittelt vor. Christine gefiel ihm. Sie war viel natürlicher als die Mädchen und Frauen, die er bis jetzt kennengelernt hatte.

»Ich bin verheiratet und habe eine kleine Tochter«, antwortete Christine. »Sie verschwenden also Ihren Charme.«

Sophienlust 315 – Familienroman

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