Читать книгу Sophienlust Bestseller 13 – Familienroman - Anne Alexander - Страница 3

Оглавление

Die kleine Villa stand am Abhang des fast sechshundert Meter hohen Monte Salora. Von der Terrasse aus hatte Marion Färber einen herrlichen Blick auf den Golf von Neapel. Besonders abends saß sie gern hier, trank ein Glas Wein und genoß den Sonnenuntergang. Manchmal war auch Alfredo Pontello bei ihr, in dessen Armen sie dann lag, während sie auf die Stimme des kleinen Mädchens lauschten, das auf dem Nachbargrundstück wohnte.

Auch jetzt sang Ramona wieder. »Che baccan che baccan, fa la pionggia...«, klang es zu ihr hinüber.

Jedesmal, wenn sie Ramonas ­Stimme hörte, mußte sie an ihre eigene Tochter denken. Sie hatte Selina seit über einem Jahr nicht mehr ge­sehen, dennoch vermißte sie sie kaum. Ich bin einfach nicht dazu geschaffen, wie eine Glucke um sie herum zu sein, entschuldigte sie sich vor sich selbst. Sie war überzeugt davon, daß Selina dafür Verständnis aufbrachte.

Es war früher Vormittag. Ein leichter Wind kam von Süden, strich über die Terrasse und trug den Duft nach Blumen und blühenden Sträuchern mit sich. Marion Färber stützte sich auf die Brüstung des Geländers Sie blickte zum Hafen hinunter. Alfredo hatte versprochen, sie an diesem Tag zu besuchen. Sie wollten aufs Meer hinausfahren.

Die Vorfreude ließ die Augen der jungen Frau strahlen. Marion gab sich ganz den Gedanken an ihren Geliebten hin. Alfredo Pontello wohnte drüben in Neapel. Seine Eltern besaßen ein Haus auf dem Vomero-Hügel. Sie war zweimal in diesem Haus zu Gast gewesen und hatte gespürt, daß seine Eltern sie nicht gerade schätzten, doch das machte ihr wenig aus. Alfredo bekannte sich offen zu ihr. Er würde sich von seinen Eltern nicht beherrschen lassen.

»Signora!«

Aus ihren Träumen gerissen, drehte sich Marion um. »Ja, was gibt es, Angela?« fragte sie.

»Sie wollten mir noch sagen, in welchem Zimmer Ihre Tochter wohnen wird, Signora«, erinnerte das Hausmädchen sie leicht vorwurfsvoll.

Marion seufzte auf. »Das hat doch noch Zeit.«

»Signorina Selina kommt am Sonntag!«

Die junge Frau dachte kurz nach. »Geben Sie meiner Tochter das linke Gästezimmer, Angela«, entschied sie. »Vom Fenster aus hat man so einen herrlichen Blick auf die Bucht, das wird ihr gefallen. Und stellen Sie ihr bitte Blumen hinein. Selina liebt Blumen über alles.«

»Gern. Was für welche, Signora?«

Was waren Selinas Lieblingsblumen? Marion nagte an der Unterlippe. Sie konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern. »Nehmen Sie Rosen«, entschied sie schließlich.

Angela nickte. »Und dann müssen Sie mir noch sagen,was Signorina Selina gern ißt, damit ich den Speiseplan danach zusammenstellen kann.« Sie fühlte, daß sie störte, doch sie blieb unerbittlich. So gern sie für Signora Färber arbeitete, sie konnte nicht verstehen, daß sie sich so gar nicht auf die Ankunft der Tochter zu freuen schien. Sie selbst hätte es kaum erwarten können, ihre Tochter in die Arme zu schließen, doch die Signora stand auf der Terrasse und wartete auf Signor Pontello.

»Ich schreibe es Ihnen heute abend auf.«

»Gut, Signora.« Angela kehrte innerlich seufzend in die Küche zurück. Sie ahnte, daß Marion bis zum Abend ihr Versprechen vergessen haben würde, aber dann mußte sie eben noch einmal fragen. Jetzt wollte sie sich erst um das Zimmer der kleinen Signorina kümmern.

Im Hafen hatte ein schmuckes Motorboot angelegt. Ein junger, weißgekleideter Mann sprang an Land. Er beschattete die Augen mit der Hand und blickte den Berg hinauf. Glücklich winkte ihm Marion zu, obwohl es unmöglich war, daß er sie vom Kai aus sehen konnte. Trotz der vorgehaltenen Hand mußte ihn die Sonne blenden.

Sie ging ins Schlafzimmer und überprüfte vor dem großen, venezianischen Spiegel noch einmal ihr Aussehen. Mit sich zufrieden summte sie ein Lied vor sich hin. Sie war vierunddreißig, fast fünf Jahre älter als Alfredo, doch das sah man ihr nicht an. Obwohl er wußte, daß sie eine zwölfjährige Tochter hatte, ahnte er nichts von dem großen Altersunterschied. Er nahm an, sie hätte die Tochter bereits als Siebzehnjährige bekommen.

Es dauerte noch fast eine halbe Stunde, bis Alfredo Pontello die Villa seiner Geliebten erreicht hatte. Nachdem er die weißen Stufen, die vom Tal aus den Berg hinaufführten, erklommen hatte, blieb er einige Sekunden stehen, um Atem zu schöpfen und sich mit einem silbernen Kamm die schwarzen Haare zurückzukämmen. Erst dann drückte er auf den Klingelknopf.

Angela öffnete ihm und begrüßte ihn auf italienisch. »Die Signora erwartet Sie auf der Terrasse, Signor«, sagte sie und neigte leicht den Kopf.

»Bringen Sie mir bitte etwas Kaltes nach draußen, Angela.« Alfredo hob die Hand und kniff dem Hausmädchen leicht in die Wange. »Sie werden von Tag zu Tag hübscher.«

»Aber, Signor!« Angela errötete. Ihr Rückzug in die Küche ähnelte einer Flucht.

Auf der Terrasse fielen sich Marion Färber und Alfredo Pontello einander in die Arme. Leise flüsterte der junge Mann seiner Geliebten zärtliche Koseworte ins Ohr. Dann hielt er sie etwas von sich ab. »Ich habe eine Überraschung für dich, Amore mio.«

»Was für eine Überraschung?« Marions Augen leuchteten erwartungsvoll auf.

»Ich werde mir Urlaub nehmen. Wir beide fahren über Ostern nach Sardinien. Du weißt, ich besitze dort ein Haus. Es werden wundervolle Wochen werden, Marion.«

»Ich freue mich.« Sie schmiegte sich an ihn, bot ihm ihre Lippen zum Kuß. Dann erstarrte sie und trat einen Schritt zurück. Das Leuchten in ihren Augen erlosch. »Und Selina?« fragte sie sehr leise.

»Was ist mit ihr?«

»Hast du vergessen, daß meine Tochter über Ostern nach Capri kommt?«

Das Gesicht des jungen Mannes umwölkte sich. »Ich habe mich so gefreut, Amore mio. Es war schwer genug, Urlaub zu bekommen, du kennst doch meinen Vater.« Er strich ihr über die Wange. »Kannst du ihr nicht schreiben, sie soll erst in den Pfingstferien kommen? Nein, ruf an, das geht schneller.«

Marion schüttelte den Kopf. »Mein geschiedener Mann fliegt am Montag nach Peru. Ich habe dir ja erzählt, daß David an einem Buch über die Inkas arbeitet. Er kann Selina natürlich nicht mitnehmen.«

»Sagtest du nicht, sie wäre schon einmal in einem Kinderheim gewesen?«

Sophienlust, dachte Marion, das wäre natürlich eine Möglichkeit. Sie wollte schon zustimmen, schüttelte dann aber entschieden den Kopf. Selina war immerhin ihre Tochter, und sie hatten sich lange nicht mehr gesehen. »Wir könnten sie nach Sardinien mitnehmen«, schlug sie vor. »Selina freut sich ganz sicher auf den Besuch bei mir. Ich möchte sie nicht enttäuschen.«

»Auf einige Wochen mehr oder weniger kommt es doch nicht an«, meinte Alfredo. Er zog Marion in die Arme. »Ruf deinen geschiedenen Mann an, sage ihm, daß es nicht geht und er das Kind woanders unterbringen soll.« Zärtlich berührten seine Lippen ihre Stirn. »Diese Wochen auf Sardinien sollen nur unserer Liebe gehören, Marion.«

»Ich kann ihr nicht absagen.« Die Frau lächelte ihm verführerisch zu. »Es heißt doch immer, ihr Italiener wäret so kinderlieb.« Sie rieb ihre Nase an seiner.

»Ich liebe Bambinos, aber deine Bambina ist zwölf Jahre alt, schon fast eine Signorina, Amore mio. Ich habe mir den Urlaub in den leuchtendsten Farben ausgemalt. Selina würde alles verderben. Sie...« Er schlug sich gegen die Stirn. »Laß sie ruhig kommen, Marion, sie wird eben hier bei Angela bleiben. Ja, Angela kann für sie sorgen!«

Wie auf ein Stichwort trat Angela mit einem Tablett auf die Terrasse. Sie stellte einen Krug mit eisgekühlter Limonade und zwei Gläser auf ein Tischchen.

Alfredo wollte mit ihr sofort über Selina sprechen, doch Marion schüttelte den Kopf. »Wir sind heute den ganzen Tag zusammen, Alfredo. Uns wird sicher eine Lösung einfallen«, meinte sie. »Ich bin nicht dafür, etwas zu überstürzen.«

»Auf eine gute Lösung.« Alfredo hob sein gefülltes Glas. Seine dunklen Augen blitzten.

Bald darauf schlenderten sie zum Hafen hinunter. Marion trug einen breitkrempigen Sonnenhut, der sie noch jünger erscheinen ließ. Sie wirkte wie ein junges Mädchen. Galant half ihr Alfredo an Bord. Während sie sich setzte, warf er den Motor an. Wie ein Pfeil schoß die Delphina über das Wasser. Sie fuhren durch den Hafen und jagten in Richtung Blaue Grotte davon.

»Das ist, was ich unter leben verstehe«, schrie Alfredo. Er drehte sich zu ihr um.

Marion hielt sich fest. Sie liebte es, mit Alfredo durch das Wasser zu jagen. Sein Geschwindigkeitsrausch riß sie förmlich mit. Das Boot beschrieb jetzt eine ausladende Kurve. Alfredo ließ mit einer Hand das Steuer los, winkte zum wolkenlosen Himmel hinauf, riß aber bereits in der nächsten Sekunde das Steuer wieder zur anderen Seite. Er war wie besessen.

Marion stand vorsichtig auf, stellte sich neben ihn. Alfredo beugte sich zu ihr hinüber. Ihre Lippen trafen sich zu einem leidenschaftlichen Kuß.

Vor ihnen tauchte eine Klippe auf. Die Delphina raste auf die Felsen zu, wurde beim Zusammenprall hochgehoben und stürzte zur Seite. Es ging alles so schnell, daß den beiden nicht einmal Zeit blieb, aufzuschreien, als sie wie ein Ball durch die Luft gewirbelt wurden und ins Wasser eintauchten.

*

»Schade, daß Selina nicht schon zu Ostern bei uns ist«, meinte Angelina Dommin, eines der Dauerkinder von Sophienlust. Vorsichtig bemalte sie ein ausgeblasenes Hühnerei mit Filzstiften.

»Finde ich auch.« Irmela Groote betrachtete kritisch das Ei, das sie bemalt hatte. »Was meinst du, soll ich noch die Wolken weiß ausmalen, Pünktchen?«

Angelina schüttelte den Kopf. »Laß es lieber, so finde ich es hübscher.« Sie nahm einen anderen Filzstift und malte auf ihr Ei einen kleinen braunen Hasen. »Selina hat noch nie erlebt, wie lustig es an Ostern bei uns ist.«

»Ich freue mich schon aufs Ostereiersuchen«, sagte Irmela. Sie war zwar bereits fünfzehn, stürzte sich aber jedes Jahr wie die ganz Kleinen ins Vergnügen. »Ostern und Weihnachten können nirgendwo schöner sein als bei uns in Sophienlust.«

»Meine ich auch«, mischte sich Fabian Schöller ein. Er und Wolfgang Binder, ein Junge, der nur für drei Wochen in Sophienlust lebte, waren dabei, Osterkörbchen für die Jüngsten zu basteln. »Na, was sagt ihr dazu?« Er hielt ein Körbchen hoch, das rechts und links mit roten Schleifen umwickelte Bastschwänzchen hatte.

»Prima.« Angelika Langenbach lachte. Sie und ihre Schwester Viktoria lebten schon seit Jahren in Sophienlust. »Das soll doch sicher Heidis Körbchen sein.«

»Erraten.« Fabian grinste. »An diesen Rattenschwänzchen kann ich ziehen, ohne daß sich sofort ein Protestgeschrei erhebt.«

»Typisch Fabian«, meinte Angelina. »Ich…« Sie blickte zur Tür. Die fünfjährige Heidi Holsten, das jüngste der Sophienluster Dauerkinder, steckte den Kopf durch den Türspalt. »Sag’ mal, Heidi, hast du vergessen, daß das Bastelzimmer momentan für jedes Kind unter zehn tabu ist?«

Die Kleine schüttelte den Kopf. Sie trat jetzt ganz in den Raum. Die Kinder konnten sehen, daß sie eines ihrer Zwergkaninchen im Arm hielt. »Ich glaube, es ist krank.« Tränen kullerten aus ihren Augen. »Schneeweißchen liegt einfach nur so da.«

Pünktchen und Irmela sprangen auf. Während die Ältere Heidi das Kaninchen aus dem Arm nahm, versuchte Angelina die Kleine zu trösten.

»Was hat es denn?« Angelika und die übrigen Kinder waren ebenfalls aufgestanden. Fabian hatte nur noch rasch das Körbchen verschwinden lassen.

»Ich weiß nicht«, antwortete Irmela. »Es sieht wirklich komisch aus. Vielleicht hat es sich den Magen verdorben. Was hat es denn gefressen, Heidi?«

»Es muß sterben, nicht wahr?« Heidi schluchzte laut auf.

»Aber wer wird denn gleich so was denken?« fragte Angelina sanft. Sie tupfte der Kleinen die Tränen vom Gesicht. »Was sagt denn Justus?«

»Justus ist nicht da«, stammelte Heidi. »Er ist doch heute morgen nach Maibach gefahren und kommt erst am Abend wieder.« Erneut liefen dicke Tränen über ihre Wangen.

»Wir bringen Schneeweißchen zu Waldi & Co«, entschied Irmela. »Onkel Hans-Joachim kann ihm bestimmt helfen.«

Heidis Gesichtchen klärte sich etwas auf. »An Onkel Hans-Joachim habe ich gar nicht gedacht«, sagte sie. »Oh, ich bin dumm!«

»Nein, nicht dumm.« Wieder schlang Pünktchen ihre Arme um die Kleine. »Wenn man Kummer hat, vergißt man nur manchmal, wer einem helfen kann.«

»Wir gehen alle mit«, schlug Wolfgang vor. »Dürfen wir doch, oder?«

»Wir müssen nur Schwester Regine Bescheid sagen.« Fabian rannte bereits in die Halle, um die Kinder und Krankenschwester zu suchen. Angelina und Irmela betteten inzwischen das kranke Kaninchen in eine gepolsterte Schachtel.

Zehn Minuten später befanden sich die Kinder schon auf dem Weg zum Tierheim. Schneeweißchen lag in seinem Karton im Gepäckkorb von Irmelas Fahrrad. Sie fuhr ganz besonders vorsichtig, um den Karton nicht unnötig zu erschüttern. Unterwegs trafen sie noch Nick und Henrik, die Söhne Denise von Schoeneckers, der Verwalterin des Kinderheims. Ohne lange zu fragen, schlossen sich die beiden ihnen an. Pünktchen schenkte Nick ein freundliches Lächeln.

Waldi & Co., das Heim der glücklichen Tiere, lag neben dem langgestreckten Landhaus des Tierarztes Hans-Joachim von Lehn. Seine Frau Andrea trat gerade mit dem zweijährigen Peter-Alexander aus dem Haus, als die Kinder eintrafen. Sie stellte den kleinen Jungen auf den Boden. Auf seinen dicken Beinchen rannte er ihnen entgegen.

»Komm zu Onkel Henrik, Peterle«, rief der neunjährige Henrik. Er breitete die Arme aus, um seinen kleinen Neffen aufzufangen.

Peterle machte Anstalten, in Henriks Arme zu laufen, doch dann wandte er sich abrupt nach rechts. »Peterle Nick gehen«, krähte er und umklammerte die Beine des Sechzehnjährigen.

»Sein Onkel Henrik scheint heute nicht sein Favorit zu sein«, scherzte die zwölfjährige Angelika. Sie bückte sich zu Peterle hinunter und hob ihn hoch. »Was bist du doch für ein süßes Kerlchen«, meinte sie.

»Verwöhnt ihn nur richtig.« Andrea von Lehn begrüßte lachend die Kinder. Ihr Blick blieb an Heidi hängen. »Aber was hast du denn, Herzchen?« Sie faßte unter Heidis Kinn und hob ihren Kopf leicht an. »Sieht aus, als hättest du geweint.«

»Ganz doll hab’ ich geweint«, sagte Heidi. »Schneeweißchen ist krank.«

Sie zog die Nase hoch. »Aber Onkel Hans-Joachim macht doch Schneeweißchen wieder gesund, nicht wahr?«

Es wäre für Andrea leicht gewesen, ganz einfach ja zu sagen, doch sie wollte dem Kind nicht Hoffnung machen, wo es vielleicht gar keine mehr gab. »Am besten, wir zeigen dein Schneeweißchen erst einmal Onkel Hans-Joachim«, schlug sie vor.

»Wir gehen alle mit«, sagte Fabian.

»Dann kann sich Onkel Hans-Joachim ja gar nicht mehr in seiner Praxis drehen«, meinte Pünktchen vernünftig. »Nicht, Heidi, wir geben Tante Andrea dein Schneeweißchen und warten hier draußen.«

Die Kleine zauderte. Ganz ängstlich beobachtete sie, wie Nick den Karton seiner Stiefschwester überreichte. »Es hat aber doch etwas Angst, wenn

ich nicht dabei bin«, sagte sie schließlich.

»Wir werden ganz vorsichtig mit ihm sein«, versprach Andrea. Mit ihrer freien Hand strich sie der Kleinen durch die blonden Haare. »Spielt ein bißchen mit Peterle, ja?«

Heidi zog erneut das Näschen hoch, dann nickte sie. »Aber Onkel Hans-Joachim darf ihm nicht weh tun«, verlangte sie.

»Das wird er auch nicht.« Bevor Heidi noch weitere Bedenken äußern konnte, brachte Andrea das Kaninchen ins Haus.

»Es wird schreckliche Angst haben.« Die Fünfjährige ließ sich neben ihr Rad ins Gras gleiten.

Angelika stellte Peterle auf den Boden zurück. Der kleine Junge ließ sich auf die Knie hinunter und krabbelte auf Heidi zu. Obwohl Peterle schon prima laufen konnte, meinte er oft, so schneller vorwärts zu kommen. »Ei, ei«, machte er und strich über Heidis bloße Beine.

Aus dem Tierheim drang aufgeregtes Bellen zu ihnen. Waldi, der kleine Kurzhaardackel, nach dem das Heim benannt worden war, hatte die Ankunft der Kinder mitbekommen. Energisch verlangte er, von ihnen begrüßt zu werden.

»Wer bleibt bei Heidi und Peterle?« Irmela sah ihre Kameraden an.

»Wir.« Nick nahm Pünktchens Arm.

»Einverstanden.« Angelina strahlte ihn an. Sie verehrte Nick seit Jahren und träumte oft davon, eines Tages seine Frau zu werden. Die Zeit bis dahin erschien ihr endlos, schließlich war sie erst dreizehn, drei Jahre jünger als Nick.

Die anderen Kinder rannten zum Tor des Tierheims. Über ihm war ein langes, buntes Schild angebracht. Die Kinder hatten es selbst gemalt. In riesigen Buchstaben verkündete es, daß sich hier Waldi & Co., das Heim der glücklichen Tiere, befand. Und es war auch ein Heim, wie man es sich nur wünschen konnte. Tiere, die das Glück hatten, nach Waldi & Co. gebracht zu werden, schienen das große Los gezogen zu haben. Außer zahlreichen Hunden und Katzen gab es einen Esel, der vor der Schlachtbank gerettet worden war, ein zahmes Reh in einem Freigehege und einen jungen Schimpansen namens Mogli.

»Wenn ein Kaninchen tot ist, kommt es dann in den Hasenhimmel?« fragte Heidi. Peterle in den Armen, schluchzte sie wieder auf. Mit einem Händchen wischte sie sich über die Augen.

»Heidi weint.« Erstaunt drehte sich Peterle zu Nick und Pünktchen um. »Hat Heidi aua?«

»Ein bißchen«, entgegnete Nick. Er kniete sich neben Heidi und seinem Neffen ins Gras. »Wer wird denn immer gleich das Schlimmste denken?« Sanft nahm er Heidis Näschen zwischen die Finger. »Ich bin sicher, daß sich Schneeweißchen nur überfressen hat. Bestimmt hast du deinen Kaninchen zuviel Futter in ihren Stall gegeben.«

»Sie müssen doch satt werden.«

»Aber man kann auch zuviel des Guten tun«, meinte Pünktchen.

Heidi sprang auf. Sie rannte über den Hof zum Landhaus hinüber. Vor dem Fenster der Tierarztpraxis blieb sie stehen. Sie wollte sich gerade auf die Zehenspitzen stellen, um hindurchzusehen, als Pünktchen sie einholte und zurückzog. »Ich wollte doch nur gucken.«

»Was sollen denn Onkel Hans-Joachim und Tante Andrea denken, wenn sie dich am Fenster sehen?« fragte Pünktchen.

»Ich bin so schrecklich traurig, Pünktchen.« Heidi klammerte sich an Angelina.

»Weißt du schon, daß Selina kommt?« versuchte Angelina, sie abzulenken, während sie die Kleine bei der Hand nahm und zur Wiese zurückführte.

»Weiß jeder.« Heidi nagte an ihrer Unterlippe. »Rosenrot wird auch sterben, wenn Schneeweißchen nicht mehr da ist.«

Bevor Pünktchen ihr noch antworten konnte, kam Hans-Joachim von Lehn aus seiner Praxis. Er hielt den Karton mit Schneeweißchen im Arm. Heidi löste sich sofort von Pünktchens Hand und rannte auf ihn zu. »Ist es tot?« Einen Schritt vor dem Tierarzt blieb sie stehen. Sie zitterte am ganzen Körper.

»Nein, Heidi, dein Schneeweißchen ist nicht tot, aber es muß ein paar Tage in Waldi & Co. bleiben, damit ich es besser beobachten kann«, sagte Hans-Joachim von Lehn. Er beugte sich hinunter und ließ das kleine Mädchen in den Karton schauen. »Siehst du?«

»Was hat Schneeweißchen?« Nick kam mit Peterle auf dem Arm zu seinem Schwager.

»Einen verdorbenen Magen.«

»Wie du gesagt hast.« Ehrfürchtig blickte Heidi zu Nick auf.

»Sieh an, du willst mir wohl ins Handwerk pfuschen.« Der Tierarzt lachte. »Andrea ist gerade dabei, für euch Rasselbande Schokolade und Kuchen zu richten. Wo sind denn die anderen?«

»Bei den Tieren«. Pünktchen wies zum Tor.

»Ich schicke sie dann ins Haus«, versprach Hans-Joachim. »Und sei unbesorgt, Heidi, Schneeweißchen wird es bald wieder bessergehen.«

»Danke, Onkel Hans-Joachim.« Heidi schmiegte sich an ihn.

»Da kommt ein Auto.« Pünktchen deutete zur Straße. Ein blauer Pkw war in das Grundstück des Tierarztes eingebogen. Es hielt in ihrer unmittelbaren Nähe. Hans-Joachim von Lehn drückte Nick den Karton mit Schneeweißchen in die Hand. »Halte ihn bitte einen Moment.« Er ging dem Besucher entgegen.

»Behandeln Sie auch Kaninchen?« fragte der Fremde. Er stellte sich als Paul Stephan aus Wildmoos vor. »Das habe ich am Straßenrand gefunden.« Er beugte sich in den Fond des Wagens und nahm ein in eine alte Decke gehülltes Bündel heraus.

Vorsichtig schlug der Tierarzt die Decke beiseite. Zum Vorschein kam ein schwarzes Kaninchen. Schon auf den ersten Blick erkannte er, daß sich das Tier einen Hinterlauf gebrochen hatte. »Scheint ein Tag der Kaninchen zu sein«, meinte er etwas sarkastisch. »Nick, bringe Schneeweißchen bitte zu Janosch. Er soll es in eine Box legen, und sage ihm gleich, daß noch ein Kaninchen nachkommt.« Dann wandte er sich wieder Herrn Stephan zu und bat ihn in seine Praxis.

»Das arme Kaninchen«, flüsterte Heidi. »Hoffentlich wird es wieder gesund.« Sie beugte sich wieder über den Karton, in dem Schneeweißchen lag. Ganz ruhig wirkte es. »Bin ich froh, daß du nur einen verdorbenen Magen und dir nicht eines deiner Beinchen gebrochen hast.« Sanft strich sie über das weiche Fell des kleinen Tierchens.

*

»Selina, hast du schon das Geschenk für deine Mutter eingepackt?« Marlene Hofrat, Sekretärin und Freundin Professor Färbers, trat in das hübsche Kinderzimmer. Die Nachmittagssonne fiel hell durch die breiten Fenster. Eines von ihnen stand offen. Von der Straße her klangen Kinderstimmen nach oben.

»Noch nicht.« Selina seufzte auf. »Meine Mutter wird mich gar nicht bei sich haben wollen. Ich bin ihr ja doch nur lästig.« Sie drehte sich um. »Ich würde so gern nach Peru mitkommen. Die Inkas sind viel interessanter als Capri.«

Marlene schloß die Zwölfjährige in die Arme. »Deine Mutter hat dich schon so lange nicht mehr gesehen, Selina«, sagte sie. »Sie hat ein Recht darauf, dich wenigstens für ein paar Wochen im Jahr bei sich zu haben.«

»Aber ich will’s doch gar nicht«, protestierte Selina.

»Sag’ das nicht.«

»Aber es ist doch wahr.« Selina entwand sich Marlenes Armen und ließ sich neben ihre Koffer aufs Bett fallen. »Wenn ich schon nicht nach Peru mitkommen kann, dann will ich lieber gleich nach Sophienlust fahren. Dort ist es wenigstens lustig.«

»Auf Capri wird es auch lustig werden«, versprach die junge Frau, wenngleich sie das Mädchen voll und ganz verstehen konnte. Es war ihr unbegreiflich, daß sich Marion Färber so gut wie überhaupt nicht um ihre Tochter kümmerte. Sie überschüttete zwar Selina zu den Festtagen mit Geschenken, doch das war auch alles.

Selina stand auf und legte ihre Arme um Marlene. »Schade, daß du nicht meine Mutter bist«, meinte sie. »Ich hab’ dich schrecklich lieb.«

»Ich dich auch, Kleines.« Marlene beugte sich zu dem Mädchen hinunter und küßte es auf die Stirn. »Aber jetzt sollten wir uns beeilen, sonst ist der Koffer bis zum Abendessen noch nicht gepackt.«

»Und Vati bleibt auf seinem Gala-Dinner sitzen«, bemerkte Selina lachend. Sie lief zur Zimmertür und öffnete sie einen Spalt. »Riecht schon richtig prima.«

»Dein Vater ist ja auch ein Meisterkoch.«

»Hat jemand nach mir geschickt?« David Färber trat in den Korridor. Mit langen Schritten ging er zum Kinderzimmer. Er trug eine riesige Schürze mit buntem Aufdruck. Schwungvoll öffnete er die Tür ganz.

»Wir schwärmten nur von deinen Kochkünsten, David«, sagte Marlene. Wieder einmal wurde ihr bewußt, wie sehr sie ihn liebte. David war zweiundvierzig, wirkte aber entschieden jünger. Manchmal erschien er ihr sogar wie ein großer Lausbub, da er jederzeit zu einem Streich aufgelegt war. Bei seinen Studenten erfreute er sich großer Beliebtheit.

»An denen es hoffentlich nichts auszusetzen gibt.« David Färber drohte mit dem Finger. »Ein Wort gegen mein Cordon Bleu und ihr kocht in Zukunft selbst.«

»Wir werden uns hüten.« Die Frau lächelte ihm zu. »Dein Cordon bleu wird uns auf der Zunge zerschmelzen.«

»Ihr habt es gut.« Selina blickte von einem zum anderen. »Ihr werdet nicht in die Verbannung geschickt.«

»Nenne es nicht Verbannung, Liebes.« Zärtlich umfaßte der Professor die Schultern seiner Tochter. »Wenn du alt genug dazu bist, werden Marlene und ich dich auf unseren Forschungsreisen mitnehmen, das verspreche ich dir.«

»Und wann bin ich alt genug?«

»Sagen wir, in drei Jahren.«

»Das ist ja noch eine halbe Ewigkeit.« Selina schnitt eine merkwürdige Grimasse. »Aber bis dahin werde ich keine Zeile von deinem Inkabuch lesen, Vati.«

David lachte auf. »Du weißt genau, daß es noch Jahre dauern wird, bis es fertig ist.« Er strich ihr durch die langen, blonden Haare. Wie hübsch sie ist, dachte er. Flüchtig erinnerte er sich daran, wie gern er in Marions Haare gegriffen hatte. Selina war ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten. Von ihm hatte sie nur den Charakter und das Wesen geerbt.

»Ich weiß nicht, aber irgendwie riecht es angebrannt.« Marlene wandte sich der Tür zu.

»Das Gemüse!« David Färber stürzte in den Korridor.

»So, und wir beide sorgen jetzt dafür, daß der Koffer fertig gepackt wird«, sagte Marlene energisch. »Denk’ auch daran, daß auf Capri das Wetter schon so herrlich ist, daß du baden gehen kannst. Wo hast du denn deinen Badeanzug?«

»Noch im Schrank.« Selina lachte. »Den hätte ich völlig vergessen.«

Eine halbe Stunde später war der Koffer gepackt und stand bereits im Korridor. Selina verließ das Haus, um sich von ihren Freundinnen zu verabschieden. Sie versprach, innerhalb einer Stunde wieder zurück zu sein. Vom Küchenfenster aus blickten ihr Marlene und David nach.

»Gut, daß Marion nicht ahnt, wie ungern Selina zu ihr kommt«, meinte David aufseufzend. »Manchmal frage ich mich, ob ich nicht doch einen Fehler gemacht habe. Ich war zwar bestrebt, Selina nicht gegen ihre Mutter zu beeinflussen, aber vielleicht unbewußt…«

»Du hast dir nicht das geringste vorzuwerfen, David.« Marlene Hofrat strich ihm liebevoll eine braune Strähne aus der Stirn. »Es ist ganz allein die Schuld deiner Ex-Frau. Bis jetzt war für Selina jeder Besuch bei ihr mehr als enttäuschend. Irgend etwas hat es auf Capri immer gegeben. Sei es, daß deine Ex-Frau nicht genügend Zeit für Selina hatte, sei es daß ausgerechnet um diese Zeit das ganze Haus voller Gäste war... Jedenfalls hat sie sich niemals ausschließlich um Selina gekümmert. Das ist nun über ein Jahr her. Hättest du sie nicht gebeten, Selina über Ostern einzuladen, dann…«

»Schon gut.« David küßte sie leicht auf die Wange. »Es ist dir gelungen, mich wieder aufzurichten.«

»Du solltest nicht über alles Witze machen, David.«

»Wenn ich jetzt sage, daß ich dich liebe, Marlene, dann ist das kein Witz, sondern völliger Ernst.« David nahm die junge Frau in die Arme. »Ich wünschte, wir hätten uns früher kennengelernt, Liebling, und zwar, bevor ich überhaupt etwas von Marions Existenz ahnte. Selina wäre dann deine Tochter…« Zärtlich glitten seine Finger über ihr Gesicht.

»Ich wäre sehr glücklich darüber« flüsterte Marlene. Mit strahlenden Augen schmiegte sie sich an ihn.

Der Tisch im Eßzimmer war festlich gedeckt. David Färber hatte seine Schürze abgebunden. Er saß Marlene direkt gegenüber. Selina, die rechtzeitig zum Essen zurückgekehrt war, fuhr den Servierwagen hinein. Während sie die Kerzen anzündete die auf dem Tisch standen, verteilte Marlene die Suppentassen.

»Morgen abend sitze ich schon bei Mutti auf der Terrasse und esse Pizza«, sagte Selina plötzlich. »Das heißt, wenn Mutti nicht ausgeht.«

»Na, am ersten Abend wird sie bestimmt zu Hause bleiben«, wandte David ein. »Wie schmeckt euch meine Fenchelsuppe?«

»Prima, Vati, du solltest immer kochen.«

»Laß’ das nicht Frau Stein hören«, meinte Marlene. »Sie bekommt es fertig und kündigt.«

»Ich würde so etwas nie zu ihr sagen«, erwiderte Selina. »Ich mag Frau Stein sehr gern, und kochen kann sie auch ganz gut. Nur Vati macht eben ganz besondere Sachen.«

»Er ist ja auch etwas ganz Besonderes.« Marlene blinzelte David zu.

»Du sagst es.« Der Professor nahm ihre Hand und drückte sie.

Einige Minuten später stand die junge Frau auf, um die Suppentassen abzuräumen. Selina machte auf dem Tisch Platz für die Platte mit dem Cordon bleu. Sie legte gerade den Servierlöffel dazu, als es klingelte.

»Nanu, wer kann denn das sein?« Professor Färber stand auf. »Laßt nur, ich gehe schon zur Tür.«

»Von meinen Freunden ist es bestimmt niemand«, sagte Selina zu Marlene. »Die wissen doch alle, daß wir um diese Zeit essen. Außerdem habe ich mich schon von ihnen verabschiedet.«

Es dauerte nicht lange, bis David zurückkam. Sein Gesicht wirkte grau. Marlene warf ihm einen besorgten Blick zu. »Ist etwas passiert?« fragte sie angstvoll. Erst dann entdeckte sie das Telegramm in seiner Hand.

»Hat Mutti abgesagt?« fragte Selina. »Hat sie keine Zeit für mich?«

David reichte Marlene stumm das Telegramm. »Selina, Liebes, es ist etwas Furchtbares passiert«, sagte er tonlos. »Deine Mutter hatte gestern vormittag einen Unfall. Sie...« Er schluckte. »Deine Mutter ist tot.«

Selina sprang auf. Ihre Augen starrten ihn entsetzt an. »Tot?« wiederholte sie. Dann warf sie sich in seine Arme. »Und ich wollte nicht zu ihr.« Aufschluchzend verbarg sie ihr Gesicht an seiner Brust.

»Du hast keinen Grund, dir Vorwürfe zu machen, Liebes«, versuchte David, seine Tochter zu trösten. »Daß du nicht die Osterferien bei deiner Mutter verbringen wolltest, hat nichts mit ihrem Tod zu tun.«

»Aber ich hätte sie öfter anrufen können«, stammelte Selina. »Ich hatte aber nie Lust, sie anzurufen.« Sie klammerte sich an ihn. »Vielleicht hat Mutti nur darauf gewartet.« Ihre Augen waren angstvoll auf ihn gerichtet.

»Das glaube ich nicht.« David drückte sie fest an sich. »Deine Mutter hätte doch auch anrufen können, oder?«

»Trotzdem.« Selina löste ihre Hände vom Vater. »Ich möchte ins Bett gehen.«

»Ich komme mit dir mit, Selina.« Marlene legte einen Arm um die Schultern der Zwölfjährigen. »Ich bleibe bei dir, bis du eingeschlafen bist.« Sie wandte sich halb zu David um. »Kannst du bitte einen Beruhigungstee aufbrühen?«

»Natürlich.« Der Mann warf nochmals einen kurzen Blick auf das Telegramm, das Marlene auf den Tisch gelegt hatte, dann ging er in die Küche.

Es dauerte lange, bis Selina trotz des Beruhigungstees eingeschlafen war. Zehn Uhr war längst vorbei, als Marlene endlich von ihrem Bett aufstand und ins Wohnzimmer ging. David Färber saß in einem der Sessel. Schwer stützte er den Kopf in die Hände. Als sie eintrat, blickte er auf. »Alles in Ordnung?«

Marlene nickte. »Sie schläft.« Sie strich sich müde über die Stirn. »Soll ich uns einen Kaffee machen?«

»Ich habe schon welchen aufgebrüht. Ich muß ihn nur noch hereinholen.« Der Professor wollte aufstehen.

»Laß nur, ich mache das schon.«

»Lieb von dir.«

Als Marlene das Eßzimmer durchquerte, merkte sie, daß David den Tisch abgeräumt hatte. Das Cordon bleu stand auf der Anrichte in der Küche, das gebrauchte Geschirr war bereits abgewaschen. Sie stellte die Schüssel mit dem Fleisch in den Eisschrank, dann nahm sie die Kaffeekanne und kehrte zurück. David hatte inzwischen Kaffeetassen und Unterteller auf ein kleines Tischchen gestellt.

»Ich habe mit Marions Mädchen gesprochen«, sagte er, nachdem er den ersten Schluck Kaffee getrunken hatte. »Zum Glück spricht diese Angela sehr gut deutsch. Mein Italienisch ist nämlich nicht gerade berühmt.«

»Angela?«

»Ach so, das habe ich auch erst jetzt erfahren. Marion hatte schon wieder einmal ein neues Mädchen. Du weißt ja, keine Hausangestellte hat es lange bei ihr ausgehalten. Dabei hat sie sich stets bemüht, nett zu ihnen zu sein.« Er zuckte die Schultern. »Sie war einfach nicht für ein ruhiges Leben geschaffen. Sie mußte stets mitten in einem Wirbelsturm sein.« Er seufzte leise auf. »Jedenfalls habe ich erfahren, was gestern passiert ist. Marion und ihr Freund sind mit seinem Motorboot direkt auf die Klippe zugefahren. Ein Augenzeuge hat berichtet, sie hätten sich während der Fahrt geküßt.«

»Das ist doch unmöglich.«

»Bei Marion nicht.« David griff nach seiner Tasse. »Ich reise nicht am Montag ab, sondern jetzt erst am Mittwoch. Begleitest du mich und Selina morgen nach Italien?«

»Würde ich nicht nur stören?«

»Aber, Liebling!« Er nahm ihre Hände. »Wenn Selina und ich dich jemals gebraucht haben, dann jetzt. Du ersetzt ihr seit Jahren die Mutter. Sie liebt dich. Bitte, Marlene, komme mit.«

»Gut.« Die Frau nickte. »Was ist mit Selinas Tante?«

»Ich habe versucht, sie zu erreichen, aber bei ihr meldet sich niemand. Womöglich ist sie bereits in Italien.« David schnitt eine Grimasse. »Ich habe mich nie mit ihr verstanden. Wir waren von Anfang an Feinde. Wie das kommt, weiß ich auch nicht. Irgendwie hatte ich immer den Verdacht, daß Hannelore es mir übelnahm, daß ich Marion geheiratet habe. Sie betrachtete Marion als ihren höchstpersönlichen Besitz.«

»Dann können wir uns ja auf etwas gefaßt machen«, meinte Marlene.

»Und kommst du trotzdem mit?«

»Denkst du, ich lasse dich im Stich?« Sie griff mit einer Hand in sein volles braunes Haar. »Wir werden es schon schaffen, David.« Ihre Stimme klang zuversichtlicher, als sie sich fühlte. Der Gedanke, unter Umständen in einen Familienstreit hineingezogen zu werden, erfüllte sie mit leisem Grauen.

*

Selina Färber starrte aus dem Fenster auf Neapel hinunter. An und für sich flog sie gern, doch dieser Flug hatte etwas von einem Alptraum für sie gehabt. Ihre Eltern hatten sich scheiden lassen, als sie erst drei Jahre alt gewesen war. Sie hatte ihre Mutter kaum gekannt. Die wenigen Besuche bei ihr zählten da nicht. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals mit irgendwelchen Sorgen zu ihr gegangen zu sein. Ihre Mutter war fröhlich gewesen und hatte immer eine Menge Menschen um sich herum gehabt, aber für sie hatte es in ihrem Leben nie einen Platz gegeben. »Ist das nicht der Vesuv?« Marlene Hofrat wies auf einen hohen Berg, der südlich der Stadt aufragte.

»Ja«, erwiderte Selina teilnahmslos. Sie starrte weiterhin aus dem Fenster. »Da ist Capri.« Ihre Stimme vibrierte. »Und ich wollte nicht nach Capri. Ich hatte überhaupt keine Lust, meine Mutter zu besuchen. Und jetzt ist sie tot!«

»Aber Liebes, beides hat doch nichts miteinander zu tun.« David Färber griff über Marlenes Schoß hinweg nach Selinas Hand. »Glaub’ mir, deiner Mutter wäre es gar nicht recht gewesen, wenn sie wüßte, daß du dir Vorwürfe machst.«

»Woher weißt du das?« Selina wandte ihm ihr Gesicht zu. »Sie hat mich bestimmt liebgehabt, auch wenn sie nie Zeit für mich hatte. Nur ich...« Sie vergrub das Gesicht in den Händen.

»Es wird alles wieder gut, Selina«, sprach Marlene beinahe beschwörend auf sie ein. Sie schloß die Zwölfjährige in die Arme. Sie bezweifelte nicht, daß Marion Färber ihre Tochter auf eine gewisse Art geliebt hatte, doch es war eine sehr egoistische Liebe gewesen. Sie hatte sich Selinas immer nur erinnert, wenn es in ihre eigenen Pläne gepaßt hatte.

Das Flugzeug kreiste jetzt über dem Flughafen und stieß dann steil nach unten. Bereits eine Stunde später befanden sie sich in einem Taxi, das sie zum Hafen brachte. Kurz darauf betraten sie die Fähre nach Capri.

Selina stand an der Reling. Sie wirkte völlig verloren. Nicht einmal die beiden italienischen Kinder, die ganz in ihrer Nähe spielten, interessierten sie, dabei liebte sie kleine Kinder über alles.

»Wir müssen ihr Zeit lassen«, flüsterte David bedrückt. »Zu dumm, daß ich spätestens am Mittwoch nach Peru fliegen muß.«

»Ich bin ja noch einige Zeit in Stuttgart, David«, meinte Marlene.

»Dann gibt es ja auch noch Sophienlust. Frau von Schoenecker wird ihr wahrscheinlich besser helfen können als wir.« Mit einem etwas schmerzlichen Lächeln fügte sie hinzu: »Immerhin hat sie darin eine gewisse Routine.«

Die Fähre legte im Hafen von Capri an. Sie waren kaum an Land gegangen, als ein älterer Mann auf sie zutrat. »Signor Färber?« fragte er.

»Ja, woher kennen Sie mich?« Verwundert sah ihn David an.

»Angela schickt mich. Ich soll Sie und die kleine Signorita abholen. Ich bin Luigi. Ich habe die Senora oft gefahren.« Er wandte sich an Selina, die einige Schritte entfernt von ihnen stehengeblieben war. »Kennst du mich nicht mehr, kleine Signorina?«

Selina hob den Kopf. Es dauerte einige Sekunden, bis sie sagte: »Doch, Luigi.... Buon giorno!«

Luigi lachte kurz auf. »Du hast nicht verlernt, was ich dir beigebracht habe, Signorina Selina.« Er legte die Hand auf ihre Schulter. »Du bist jetzt sehr traurig, weil deine Mama gestorben ist, aber eines Tages wirst du wieder lachen.«

Selina schüttelte den Kopf. »Ich werde nie wieder lachen, Luigi«, erwiderte sie, dann schlüpfte sie unter seiner Hand hindurch und ging zu dem klapprigen Wagen, der unweit von ihnen an der Kaimauer stand.

»Traurig, sehr traurig«, sagte Luigi. »Aber was kann man machen?«

Der Professor war froh, daß ihnen die Stufen den Berg hinauf erspart blieben und sie mit Luigis Wagen fast bis zur Villa seiner geschiedenen Frau gefahren waren. Oberhalb des Hauses hielt Luigi an. »Jetzt müssen wir laufen«, sagte er und griff sich einfach den erstbesten Koffer.

Marlene stieg aus. Sie trat zum Felsabsturz und blickte hinunter. »Was für ein atemberaubender Anblick!« Sie wandte sich zu David um. »Ich kann verstehen, daß sie diesen Platz geliebt hat.«

»Er vermittelte ihr das Gefühl der Freiheit, das sie wie Luft zum Leben brauchte«, sagte er. Sein Herz zog sich schmerzlich zusammen, als er daran dachte, daß ihr dieser Drang schließlich das Leben gekostet hatte. Marion hatte noch nie Zwang ertragen können und sich stets über alle Konventionen hinweggesetzt.

Ohne sich um Marlene oder ihren Vater zu kümmern, stieg Selina die wenigen Stufen, die zum Haus hinunterführten, nach unten. Noch bevor sie den Vorgarten erreicht hatten, wurde die Gartentür aufgerissen. Eine etwas füllige, hellblonde Frau von vierzig Jahren stürzte auf sie zu und zog sie in ihre Arme.

»Selina, mein armes Häschen«, stammelte sie unter Tränen. »Jetzt bist du völlig allein. Deine arme Mutter, sie ist jetzt tot. Nun hast du nur noch deine Tante Hannelore. Ich werde schon…«

Diese stürmische Begrüßung riß Selina endlich aus ihrer Lethargie. Mit einer heftigen Bewegung befreite sie sich von den Armen, die sie umfingen. »Ich habe meinen Vater, und ich habe Marlene«, widersprach sie. »Ich bin nicht allein.«

»Pah, dein Vater!« Hannelore Nowak hob den Kopf und blickte David entgegen, der mit Marlene gerade die Treppe hinunterkam. »Dein Vater hat meine Schwester, deine Mutter, zugrunde gerichtet. Hätte sie ihn nicht geheiratet, würde sie heute noch leben. Und als wenn das nicht genug wäre, wagt er es…«

»Ich glaube, es reicht, Hannelore!« fuhr David die erregte Frau an. »Wir haben uns nie gut verstanden. Du warst von jeher gegen mich, aber…«

»Das Martyrium ihrer Ehe…« fiel ihm Hannelore Nowak ins Wort.

»Marion hatte unsere Ehe nie als Martyrium empfunden. Sie wollte lediglich ihre Freiheit haben«, fuhr David fort. »Es blieb mir nichts anderes übrig, als es zu akzeptieren.« Er sah seine Ex-Schwägerin an. »Aber eines weiß ich sicher, Hannelore. Du wärst die letzte gewesen, bei der sich Marion über mich beschwert hätte.«

»Ich habe Marion geliebt. Gott allein weiß, wie sehr ich sie geliebt habe.«

»David, bitte gehen wir hinein«, bat Marlene. Sie hatte einen Arm um Selina gelegt. »Ihr könnt euch später weiter unterhalten.« Mit dem Kopf wies sie auf das Kind.

»Natürlich.« David lächelte ihr kurz zu.

»Diese Person kommt nicht in das Haus meiner Schwester!« Mit ausgestrecktem Arm zeigte Hannelore Nowak auf Marlene. »Ich werde nicht dulden, daß…«

»Es ist nicht dein Haus, Hannelore!« David Färber drängte die Frau einfach beiseite. »Kommt!« forderte er Marlene und seine Tochter auf.

Luigi hatte den Koffer bereits ins Haus gebracht. Er saß jetzt in der Küche und beobachtete durch das Fenster die Szene im Vorgarten. »Mamma mia, mamma mia«, rief er ein ums andere Mal.

Angela nickte düster. Hannelore Nowak war seit dem Nachmittag des Vortags auf Capri. Sie hatte bereits ihre Erfahrungen mit der resoluten Schwester ihrer toten Herrin gemacht. Mit einem leisen Aufseufzen verließ sie die Küche, um Selina, ihren Vater und Marlene zu begrüßen.

»Angela, diese Person wird nicht im Haus meiner Schwester wohnen«, forderte Hannelore Nowak. »Ich lasse nicht zu, daß das Andenken meiner Schwester derart geschändet wird.«

»Willkommen, Signor Färber«, wandte sich Angela einfach an David. Sie ergriff seine dargebotene Hand. Dann begrüßte sie auch Marlene und Selina. »Ich habe bereits Zimmer für Sie gerichtet«, fügte sie hinzu. »Ich dachte, Signora Hofrat schläft mit Signorina Selina zusammen. Für Sie habe ich das kleinere der Gästezimmer vorgesehen.« Unsicher schaute sie von David auf Marlene. »Wenn Sie natürlich eine andere Anordnung wünschen, dann…«

»Soweit kommt es noch!«

»Hannelore, sei doch bitte einmal fünf Minuten still!« herrschte der Mann seine Ex-Schwägerin an. »Angela, Sie haben schon alles richtig gemacht, danke.«

»Wahrscheinlich wollen Sie sich erst einmal etwas frisch machen« vermutete das Hausmädchen. »In der Zwischenzeit kümmere ich mich ums Essen. Es ist so herrliches Wetter. Ich dachte, daß Sie vielleicht auf der Terrasse essen möchten.«

»Das geht in Ordnung.« David schenkte ihr ein freundliches Lächeln. »Wenn Sie uns jetzt die Zimmer zeigen würden, Angela!«

»Gern.«

Stumm folgte Selina den Erwachsenen. Sie kannte dieses Haus von ihren seltenen früheren Besuchen her, doch an diesem Tag fühlte sie sich hier wie eine Fremde. Nicht einmal der Blick aus dem Zimmerfenster bereitete ihr Freude. Wortlos begann sie, ihre Reisetasche auszupacken.

Die Beerdigung war für den Nachmittag angesetzt. Der Leichnam war in der kleinen Friedhofskapelle aufgebahrt. Marlene hatte nicht an der Beerdigung teilnehmen wollen, doch David und Selina hatten sie gebeten, ihnen den Gefallen zu tun. Beklommen nahm sie zwischen ihnen auf der gepolsterten Bank in der ersten Reihe Platz. Demonstrativ setzte sich Hannelore Nowak in die nächste.

Die Kapelle war bis zum letzten Platz gefüllt. Marion hatte auf Capri viele Freunde gehabt. Ihr Sarg war über und über mit Blumen bedeckt. Obwohl sie von der Predigt des Pfarrers kaum ein Wort verstanden, fühlten sie, daß auch er Marion geschätzt hatte.

Im Hintergrund der Kapelle sang ein Kinderchor. Selina hatte dieses Lied ab und zu auf Capri gehört. Ramona, die in der ersten Reihe stand, winkte ihr schüchtern zu, als sie hinter dem Sarg die Kapelle verließen.

Es war heiß geworden. Die Luft flimmerte. Blind vor Tränen stolperte Selina an der Hand ihres Vaters durch den Friedhof. Einmal hätte sie fast die Blumen verloren, die sie in der Hand hielt.

Noch einmal sprach der Geistliche, dann wurde der weiße Sarg von sechs Männern in die Grube hinuntergelassen. Selina trat an das Grab und warf ihre Blumen hinunter. Der Gedanke, daß ihre Mutter für immer in diesem Kasten eingeschlossen sein würde, ließ sie laut aufschluchzen.

»Sieh’ nur, was du dem Kind angetan hast«, fuhr Hannelore Nowak ihren Ex-Schwager an. »Nicht nur Marion mußte unter dir leiden, auch ihre Tochter.«

»Bitte, Hannelore, nimm dich zusammen«, herrschte David sie leise an.

»Das hättest du wohl gern.« Hannelore schlang die Arme um Selina. »Warum soll es nicht alle Welt hören, wie du meine arme Schwester in den Tod getrieben hast?«

»Signora, ich kann ja ihren Schmerz verstehen«, sagte der Geistliche auf deutsch. »Aber denken Sie bitte daran, daß wir Ihrer Schwester die letzte Ehre erweisen wollen.«

»Die letzte Ehre!« Hannelore lachte bitter auf. »Eine schöne Ehre, wenn geduldet wird, daß ihr geschiedener Mann mit seiner Geliebten an ihrem Grab steht!«

»Signora, bitte!«

»Was heißt da bitte? Es ist empörend! Es ist eine Schande!«

»Laß’ endlich meinen Vater in Ruhe!« Selina stieß Hannelore Nowak von sich. »Mein Vater hat dir nichts getan. Und Marlene hat dir auch nichts getan. Ich .. .«

»Ist gut, Selina, ist gut.« Ihr Vater schloß sie in die Arme. »Rege dich nicht auf, Liebes, manche Leute wissen nicht, was sie tun.«

Hannelore Nowak öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, schloB ihn dann aber wieder und kniff so fest die Lippen zusammen, daß sie nur noch einen schmalen Strich bildeten.

Nacheinander traten die Trauergäste an das Grab, verharrten dort einen Augenblick und warfen die mitgebrachten Blumen auf den Sarg hinunter.

Selina war völlig erschöpft, als sie endlich den Friedhof verließen. Die rechte Hand schmerzte ihr von all den Händen, die sie gedrückt hatten. Müde stolperte sie zwischen ihrem Vater und Marlene zu Luigis Wagen.

»Weine nicht, kleine Signorina«, sagte Luigi und fuhr ihr durch die Haare. »Deine Mutter hätte das nicht gewollt. Dort wo sie jetzt ist, spürt sie weder Kummer noch Schmerzen.«

»Aber sie weiß sicher auch, daß ich nicht zu ihr kommen wollte«, flüsterte Selina und kletterte in den Wagen.

Selina erschien nicht zum Abendessen, das Angela wieder auf der Terrasse serviert hatte. Nach dem Flug und den Aufregungen, die der Tag mit sich gebracht hatte, war sie noch im Wagen eingeschlafen. Luigi hatte sie auf seinen Armen die Treppe hinunter zur Villa getragen. Dann hatte sich Marlene ihrer angenommen und sie ausgezogen. Jetzt saß sie bei ihr am Bett und hielt ihre Hand, obwohl Selina wahrscheinlich gar nichts davon merkte.

Sophienlust Bestseller 13 – Familienroman

Подняться наверх