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DONNERSTAG, 3. JUNI

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Am Morgen klingelte das Festnetztelefon im Wohnzimmer, ein Überbleibsel von Kathrins ehemaligem Freund, der seine Handynummer nicht mit jedem teilen wollte. Kathrin war schon auf dem Weg zur Hochschule. Leni trank gerade ihren Kaffee und schaute durch die Glasfront am gegenüberliegenden Hochhaus vorbei auf die Erasmus-Brücke. Dieser Blick erzeugte bei allen Besuchern einen Wow-Moment und kaschierte die Tatsache, dass die beiden Schlafzimmer mit jeweils zehn Quadratmetern ziemlich klein und dass sowohl die offene Küche als auch Bad und Toilette nur sehr einfach ausgestattet waren.

Am anderen Ende der Leitung war Klaus Dieter Wisch, der Leni bat, umgehend im Institut zu erscheinen. Das war ganz in ihrem Sinn, denn sie brauchte einen Zugang zum elektronischen Klassenbuch für den C2-Kurs von Beate. Dort sollte eigentlich etwas über die Hausaufgaben und die bereits behandelten Themen stehen.

Als Leni das Institut erreichte, stand Klaus Dieter vor der Eingangstür und trat von einem Bein auf das andere. So ein kurzer Ausflug an die frische Luft hatte auf ihn, zumindest früher in seinen Raucher-Zeiten, eine beruhigende Wirkung. Das klappte heute nicht. Er war noch nervöser als am Vortag, sah blass aus. Mit einem Becher Kaffee aus der Cafeteria erreichten sie schließlich sein Büro im zweiten Stock. Alles lag hier durcheinander.

„Ich brauche den Zugang zu Beates Klassenbuch“, begann Leni das Gespräch, den noch vorzubereitenden Unterricht im Hinterkopf.

„Ach ja, den Zugangscode, die Liste mit den Codes muss hier irgendwo sein.“ Etwas hilflos blätterte Klaus Dieter in den Papierstapeln auf seinem Tisch herum, ohne Erfolg.

„Wir haben aber noch ein anderes Problem. In einer Woche steht uns das Audit ins Haus, das weißt du ja, und ich bin mir nicht ganz sicher, wie weit Beate mit den Vorbereitungen gekommen ist. Da gibt es vermutlich noch einiges zu tun. Ich habe gestern noch mit der Institutsleiterin gesprochen. Meine Bitte, das Audit zu verschieben, wurde leider abgelehnt. Martina meinte, ich soll mich jetzt um die Vorbereitung kümmern.“ Dabei zeigte er mit dem Finger auf seine Brust und ließ diese Zumutung ein zweites Mal nach gestern Abend auf sich wirken. „Aber du verstehst natürlich, dass das für mich gar nicht so einfach ist. Ich stecke bis über beide Ohren in den Vorbereitungen zur Deutschlehrertagung, das ist viel Arbeit. Außerdem müssen wir noch an verschiedenen Institutionen Prüfungen abnehmen. Das wird mir alles zu viel.“

Leni wusste, dass die Tagung erst im Herbst stattfinden sollte und er selbst gar keine Prüfungen mehr abnahm, dennoch nickte sie verständnisvoll. „Kann ich dir irgendwie helfen?“

„Das ist aber nett, dass du das fragst. Ja, du kannst mir helfen. Ich werde noch mal mit Martina Müller-Bär sprechen und fragen, ob du vertretungsweise auch die organisatorischen Aufgaben für den Sprachkursbetrieb von Beate übernehmen kannst, bis wir die Stelle neu besetzen.“

Lenis Reaktion kam prompt, denn sie erkannte die Chance, die sich ihr bot. „Das mache ich sehr gerne. Das ist doch selbstverständlich.“

„Da fällt mir ein Stein vom Herzen. Du hast ja in den Test- und Einschreibungswochen für die Kurse schon mit dem neuen Kursteilnehmerverarbeitungsprogramm gearbeitet, deshalb bin ich mir sicher, dass du dich da sehr schnell reinfuchst. Ich werde bei der Institutsleiterin vorbeigehen und mit Rob sprechen, der soll dir den Zugang zu Beates Computer einrichten. Vielleicht kann der dir dann gleich mit dem Online-Klassenbuch helfen.“

Während Leni versuchte, sich die Freude über das unverhoffte Angebot nicht anmerken zu lassen, das für sie noch mehr Arbeitsstunden und demzufolge eine deutliche Verbesserung ihrer finanziellen Lage bedeutete, erkundigte sie sich nach Neuigkeiten zur Todesursache.

„Die Polizei hat sich angekündigt. Die kommen um 10:30 Uhr zu einem Gespräch mit Martina und mir.“ Klaus Dieter sah auf seine Uhr. „Das habe ich auch noch um die Ohren! Es wäre mir am liebsten, du würdest sofort loslegen, damit wir keine Zeit verlieren. Du kannst in Beates Büro arbeiten, das ist ja jetzt leer.“ Als er in die Innentasche seines Jacketts griff, um mit einer alkoholhaltigen Flüssigkeit aus einem silbernen Flachmann seine Nerven zu beruhigen, war Leni schon auf dem Weg zu ihrem neuen Arbeitsplatz.

Das Büro der Sprachkursbeauftragten war ziemlich klein und mit einem Schreibtisch, einem Rollschrank, einem Stuhl und halbleeren Regalen an der Wand ausreichend möbliert. Der Tisch stand vor dem Fenster und bot einen beruhigenden Blick auf eine Baumkrone. An der Wand hingen zwei alte Werbeplakate für die Sprachkurse, eins mit dem fett gedruckten Wort Schnapsidee, eins mit Fingerspitzengefühl. Darunter folgte in kleineren Buchstaben die Frage: Deutsch lernen? Leni zog vorsichtig die Schubladen auf, in denen aber nur Büromaterial zu finden war. Dann sah sie sich um. In dem Raum gab es nichts Privates, kein Foto, keine Blumentöpfe, keine Nippesfiguren oder Ähnliches. Als Leni ihre Tasche auspackte und ihre Stifte und das A5-Heft, das sie immer mit sich führte, auf dem Schreibtisch platzierte, tauchte Rob auf. Mit seinem durchtrainierten Körper, der Glatze und dem goldenen Ohrring im rechten Ohr beschrieb ihn Kathrin einmal sehr treffend als Mischung aus Bruce Willis und Meister Proper. Und das Einsatzgebiet, das ihm viele Kollegen und Besucher aufgrund seiner muskelbepackten Arme instinktiv zuordneten, lag eindeutig auf dem Gebiet von Schutz und Sicherheit. Doch seit Lenis Arbeitsbeginn vor sechs Jahren gab es keinerlei Vorfälle, die den Einsatz eines Sicherheitsbeauftragten erfordert hätten. Kein deutschsprachiges Buch verließ auf illegale Weise die Bibliothek und die ausgestellten Kunstwerke blieben solange im Ausstellungsraum, bis sie von den Künstlern selbst wieder entfernt wurden. Auch die Bedrohungslage des Instituts an sich war insgesamt als gering einzuschätzen, obwohl es nach Berichten von Mitarbeitern vor etlichen Jahren tatsächlich einmal zu einem Zwischenfall gekommen war. Damals gab es eine Gruppe von kurdischen Kämpfern, die nach einem ihrer Meinung nach ungerechten Urteil eines Hamburger Gerichts, bei dem einer der ihren zu einer längeren Freiheitsstrafe verurteilt worden war, beschlossen hatten, das Institut für deutsche Sprache und Kultur in Rotterdam zu überfallen. Warum die sich gerade Rotterdam ausgesucht hatten, wusste niemand so genau. Vielleicht wohnten einige von ihnen in der Hafenstadt. Ihr Bestreben bestand nun darin, die Verurteilten und ein paar andere Landsleute freizupressen. Die Aktion begann in der Unterrichtspause, kurz nach 20 Uhr. Eine kleine ältere Dame hatte an der verschlossenen Eingangstür geklingelt und den damaligen Rezeptionisten geschockt, als sie beim Öffnen der Tür gemeinsam mit von der linken und rechten Seite hervortretenden, mit Messern bewaffneten jungen Männern und Frauen in das Gebäude stürmte. Die Kursteilnehmer und Lehrerkollegen wurden als Geiseln genommen, Polizei und Presse versammelten sich vorm Institut auf dem Westersingel und in den niederländischen Nachrichten rutschte die Neuigkeit der Geiselnahme immer weiter nach oben. So erfuhr auch der Mann von Elli Geiger, dass seine Frau nicht pünktlich nach Hause kommen würde. Ellis Erzählung zufolge seien alle Beteiligten ruhig geblieben. Die Kursteilnehmer hätten sich erst beschwert, als gegen 21 Uhr die offizielle Unterrichtszeit zu Ende und somit die Freizeitaktivität Deutsch lernen für diese Woche abgearbeitet war. Eine Stunde später konnten die Lehrerinnen mit gutem Zureden gerade noch eine Prügelei zwischen einigen männlichen Teilnehmern und den Geiselnehmern verhindern. Um 22:30 Uhr hatten sich Polizei und Institutsbesetzer darauf geeinigt, das Ganze friedlich zu beenden und Letztere ließen sich ohne Gegenwehr vor laufenden Kameras festnehmen. Der Anführer gab dem Fernsehsender RTL4 noch kurz ein Interview, bevor das Polizeiauto mit zwei Polizeibeamten und dem Festgenommenen davonraste. Das war bisher die einzige Situation, in der ein Sicherheitsmann oder eine Sicherheitsfrau nützlich gewesen wäre und die war lange her. Zur Verwunderung aller war das Interesse am Institut und den Deutschkursen in der Nachfolgezeit dieses Ereignisses deutlich angestiegen, sodass sich selbst Jahre später Kollegen bei sinkenden Kursteilnehmerzahlen den makabren Scherz erlaubten, sich mal als Geiselnehmer zur Verfügung zu stellen und auf diese Weise für mediale Aufmerksamkeit zu sorgen.

Rob hatte jedenfalls mit Personenschutz nichts zu tun und ging nun seiner Tätigkeit als IT-Experte nach. Er startete den Computer, zog ein Backup der Dateien auf eine externe Festplatte und gab Leni den Code für Beates Online-Klassenbuch. Außerdem erhielt sie ein neues Passwort und hatte damit uneingeschränkten Zugriff auf Beates Computer.

Leni atmete tief durch, das ging doch alles sehr schnell. Jetzt fiel ihr ein, dass sie weder nach der Bezahlung, noch nach den Arbeitszeiten oder einem Vertrag gefragt hatte. Sie nahm sich vor, das nachzuholen. Mit einem winzigen Lächeln im Gesicht schaute sie zunächst in den Mail-Account: fünfundsiebzig nicht geöffnete Mails. Sie begann oben und öffnete die erste Mail. Eine Bitte um Informationen zu den Sprachkursen. Als sie bei Mail fünfzehn mit Fragen zu den Sprachkursen angelangt war, hörte sie von hinten: „Leni, was machst du denn hier?“ Hugo de Jonge hatte das Zimmer betreten, ohne dass sie es bemerkt hatte, da sie mit dem Rücken zur Tür saß. Hugo arbeitete seit fünfzehn Jahren als Assistent in der Sprachabteilung. Er kannte alle Kollegen, viele Kursteilnehmer und alle Verarbeitungsprogramme für die Sprachabteilung, die seit seinem Arbeitsantritt entwickelt wurden – und das waren nicht wenige.

„Hallo Hugo, ich wollte auch gerade zu dir kommen. Klaus Dieter hat mich gebeten, die Arbeit von Beate erst mal aushilfsweise zu übernehmen und bei der Durchführung des Audits zu helfen. Ich bin gerade dabei, mich mit dem Computer anzufreunden.“

„Da hat der Klaus Dieter ja mal was Gutes gemacht. Soll ich dich ein bisschen einweisen oder willst du gleich loslegen?“

„Na ja“, stammelte Leni, „das kam alles etwas unvorbereitet und ich muss mich noch auf den C2-Kurs heute Abend vorbereiten. Ich schlage vor, dass ich mir zunächst einen Überblick über die ganzen Dokumente verschaffe und wir vielleicht später reden.“

„Okay, du weißt ja, wo du mich findest.“ Er verschwand wieder aus ihrem Blickfeld.

Vielleicht hätte sie sich zuerst bei Hugo melden sollen. Mit einem Anflug von Selbstkritik wendete sich Leni wieder dem Computer zu und klickte sich weiter durch die Mails. Zwischen den ungeöffneten gab es einige bereits geöffnete Mails. Bei einer davon, einer Mail vom Regionalinstitut in London, blieb sie hängen.

Liebe Beate, nach Rücksprache mit Klaus Dieter Wisch und Martina Müller-Bär kann ich deiner Bitte, dich bei deiner Bewerbung in München zu unterstützen, leider nicht nachkommen. Ich empfehle dir daher, noch ein Jahr zu warten und es dann erneut zu versuchen. Beste Grüße, Charlotte Clemens Beate hatte also die Absicht, sich bei der Personalabteilung der Zentralverwaltung in München um eine Stelle als Fach- und Führungskraft zu bewerben. Im Erfolgsfall hätte sie dann einen leitenden Posten an einem der über einhundert Institute irgendwo auf der Welt übernommen. Interessant, aber bei Beates Ehrgeiz nicht verwunderlich, fand Leni. In Rotterdam gab es von diesen Führungspositionen, die von München aus, also von der Zentrale, besetzt wurden, nur zwei: die Institutsleitung, die gleichzeitig die Kulturarbeit betreute und die Leitung der Sprachabteilung. Alle anderen Mitarbeiter galten als sogenannte Ortskräfte, auch wenn Wörter wie Beauftragte oder Beauftragter, Leiterin oder Leiter in ihren Funktionsbeschreibungen standen, und hatten Verträge nach Landesrecht. So eine Stelle als FaFük – die Abkürzung für Fach- und Führungskraft hatte Leni gerade erfunden und murmelte sie zweimal amüsiert vor sich hin – bot mehrere Vorteile. Neben dem finanziellen Aspekt konnten die führenden Leiterinnen und Leiter im Rahmen ihrer Zuständigkeit relativ frei ihrer Tätigkeit nachgehen und Entscheidungen treffen, die in erster Linie sie selbst für richtig hielten. Ein Nachteil war, dass sie im Schnitt alle vier bis fünf Jahre das Institut, also auch das Land wechseln mussten. Bei einem weltumspannenden Institutsnetzwerk hatte das manchmal sogar eine Versetzung auf einen anderen Kontinent zur Folge. Dieser Nachteil war allerdings aus Sicht mancher Ortskräfte ein Vorteil, vor allem dann, wenn sich die oder der entsandte Vorgesetzte als nicht wirklich kompetent erwies. Man konnte auch Pech haben und die Nachfolgerin bzw. der Nachfolger war noch weniger geeignet. Es gab natürlich unter den Führungskräften eine Reihe vertrauenswürdiger und fähiger Personen, die ebenfalls nach dem Rotationsprinzip in einem Abstand von vier bis fünf Jahren an einen anderen Einsatzort geschickt wurden. In diesem Fall hatten die Ortskräfte Glück. Ob das Lehrerkollegium einer anderen Sprachabteilung von Glück gesprochen hätte, wenn Beate Neumann als Leiterin eingesetzt worden wäre? Mit der Beantwortung der Frage brauchte sich Leni nun nicht mehr zu beschäftigen, denn erstens wäre Beate ohne Unterstützung der Institutsleitung und des Regionalinstituts so schnell keine entsandte Führungskraft geworden und zweitens weilte sie ja nicht mehr unter den Lebenden.

Während Leni auf den Bildschirm starrte, betraten zwei Männer das Büro, einer in Polizeiuniform, einer in Zivil. Die Stimme des lauten Hallo! in ihrem Rücken kam ihr bekannt vor und als sie sich umdrehte, wusste sie warum. Bei dem Mann in Zivil handelte es sich um den gestern Abend vermissten Kursteilnehmer. Auch der war sichtlich erstaunt, als er seine Lehrerin erkannte.

„Was machen Sie denn hier? Ich habe Sie eigentlich gestern Abend erwartet.“ Lenis Begrüßung war, ihrem Job entsprechend, mit dem Hinweis auf den verpassten Unterricht versehen.

„Das tut mir leid, ich habe viel zu tun im Moment.“

„Sie arbeiten bei der Rotterdamer Polizei, stimmt’s?“ Jetzt fiel es ihr ein.

„Ja. Ich bin Hoofdinspecteur und ich leite die Untersuchungen im Mordfall Beate Neumann.“

„Mordfall? Ist Beate tatsächlich ermordet worden?“ Also doch. Es gab jemanden, der Beate noch weniger leiden konnte als sie selbst.

„Wir gehen davon aus, dass sie jemand, wie sagt man? … geschlagen hat.“

„Erschlagen.“

„Erschlagen“, wiederholte er. „Das ist mein Kollege, Hoofdagent Pim Jansen, und wir müssen jetzt mal an den Computer da. Das ist doch das Büro von Frau Neumann, oder?“

„Ja, ja.“ Leni sprang auf und bot dem Agenten Pim Jansen ihren Platz an. Sie erwähnte kurz, dass der IT-Mann des Instituts schon eine Kopie des ganzen Computerinhalts auf einer externen Festplatte für die Polizei gesichert hatte und griff zum Telefon, damit Rob die Daten gleich übergeben konnte. Ihr Versuch, Jan de Rijk mit einem Lächeln zu einem Gegenlächeln zu bewegen, scheiterte. Der sah sich stattdessen aufmerksam im Raum um.

Die beiden Polizisten blieben an Lenis neuem Arbeitsplatz zurück und sie beschloss, ihren Fehler von vorhin wiedergutzumachen. Hugos Büro lag direkt neben ihrem, war aber mit zwei Schreibtischen und einer Besucherecke für Interessenten, die persönlich vorbeikommen und sich beraten lassen wollten, viel größer. Mit seiner direkten und humorvollen Art kam Hugo bei vielen Menschen gut an, vor allem bei Niederländern. Es gelang ihm scheinbar mühelos, potentiellen Kunden Kurse aufzuschwatzen, die sie eigentlich gar nicht machen wollten. So besuchten schon etliche Interessenten an einem Geschäftskommunikationskurs nach kurzer Überzeugungsarbeit einen Konversations- oder Literaturkurs, weil der berufssprachliche Kurs wegen zu geringer Einschreibungen nicht zustande kam. Oder umgekehrt, ein Literaturinteressierter nahm aufgrund mangelnder Nachfrage an einem Geschäftskurs teil.

„Tut mir leid, Hugo“, begann Leni, „dass ich vorhin nicht gleich bei dir vorbeigekommen bin. Jetzt habe ich doch ein bisschen Zeit, die Polizei ist mit Beates Computer beschäftigt.“

„Warum?“

Seltsame Frage. „Der Polizist hat gesagt, Beate sei erschlagen worden.“ Als Hugo auf diesen, wie sie selbst fand, höchst interessanten Hinweis keine Reaktion zeigte, ging sie wieder zur Tagesordnung über und fragte, womit sie anfangen solle.

„Mails beantworten und dich um die Vorbereitungen fürs Audit kümmern. Wir hätten schon lange eine Mappe mit Informationen über unsere Abteilung an die Auditoren schicken sollen. Ich habe auch schon angefangen etwas zusammenzusuchen, das liegt hier.“ Er schob eine Handvoll Werbeflyer über den Tisch, die auch im Eingangsbereich und in einem Ständer in der ersten Etage neben den Klassenzimmern zu finden waren. „Für den Rest musst du dich mal durch den Audit-Ordner wühlen. Da steht drin, was die wollen. Das findest du alles im Intranet unter dem Stichwort Qualitätsmanagement Sprachkurse. Du kannst dich natürlich auch zu Hause mit deinem Passwort einloggen.“

Lenis Hoffnung, dass der Assistent der Sprachabteilung ebenfalls die Mails mit Anfragen zu Sprachkursen sehen und vielleicht sogar beantworten könnte, zerschlug sich. Für alle Mails, die direkt an Beate adressiert waren, war sie selbst verantwortlich.

„Sag mal, kannst du eigentlich alles sehen, was in Beates Computer ist?“, fragte Hugo mit leicht nach rechts gebeugtem Kopf.

„Keine Ahnung. Könnte sein.“

„Dann schau mal genau hin, vielleicht findest du an der einen oder anderen Stelle was Interessantes.“

„Was bestimmtes Interessantes?“

„Na ja, vielleicht etwas über Klaus Dieter.“

„Über Klaus Dieter?“

Hugo sah seiner Kollegin an, wie sich ihre Gedanken so ganz, ganz langsam in die richtige Richtung bewegten.

„Die Beate und der Klaus Dieter?“

Er grinste und drehte sich zu seinem Bildschirm.

Die Polizei war schon ins Büro der Verwaltungsleiterin Susanne Wolf weitergezogen, als sich Leni wieder an ihren neuen Schreibtisch setzte und überlegte, wo sie am besten anfangen sollte. Dann schob sich das Bild der zugegebenermaßen attraktiven Beate und des um einige Jahre älteren Sprachabteilungsleiters, dessen Äußeres so durchschnittlich war, dass man es sich gar nicht merken konnte, vor ihr geistiges Auge. Klaus Dieters Erscheinungsbild wäre ihrer Meinung nach ideal für eine Verbrecherkarriere gewesen. Kein Zeuge hätte ihn genau beschreiben können, außer vielleicht: mittelgroß, mitteldick, mittelblond und mittelviele Haare auf dem Kopf. Ein Kaffee wäre jetzt gut, und eine Suppe oder ein Salat, im Cafe Floor, danach würde sie endgültig loslegen. Leni schnappte sich ihre Tasche und lief die Treppe hinunter. Auf der letzten Stufe zur ersten Etage blieb sie stehen, um zu kontrollieren, ob sie ihr Handy eingesteckt hatte. Plötzlich hörte sie zwei laute Stimmen aus einem der Klassenräume. Neugierig geworden, ging sie leise auf die Geräusche zu und suchte weiter nach ihrem Handy. Damit sie im Falle des Erwischtwerdens nicht als heimliche Mithörerin enttarnt wurde, stellte sie sich vor den Ständer mit den Werbeflyern für die Sprachkurse, nahm einige Flyer heraus und tat so, als würde sie die bunten Informationsblätter neu ordnen. Leni versuchte, ein paar Worte aufzuschnappen, die Stimmen von Klaus Dieter Wisch und Martina Müller-Bär hatte sie längst erkannt.

„Ich hoffe sehr für dich, dass die Neue nicht so unfähig ist wie die Alte und das Audit gut über die Bühne bringt. Ich erwarte, dass wir einen exzellenten Eindruck hinterlassen und klar wird, wie gut das Institut geleitet wird. Außerdem gehe ich davon aus, dass wir durch die Inspektion eine Reihe von Problemen lösen können, zum Beispiel die mit einigen Lehrerinnen.“

„Martina, ich glaube, da unterliegst du einem kleinen Irrtum. So ein Audit in der Sprachabteilung ist keine Inspektion. Es hat eher den Charakter eines kollegialen Austausches.“

Warum reden die hier im Klassenzimmer? Die möchten nicht von der Polizei belauscht werden, die gerade in der zweiten Etage zugange ist, schoss es Leni durch den Kopf. So ganz wohl fühlte sie sich bei ihrer Mithöraktion nicht.

„Klaus Dieter, du bringst mich wirklich auf die Palme! Du glaubst doch nicht im Ernst an den Quatsch mit dem kollegialen Austausch. Wir müssen besser sein als die anderen in der Region Nordwesteuropa. Darum geht es! Verstehst du das? Schlechte Ergebnisse bringen uns nicht weiter, weder dich noch mich. Oder willst du bei der nächsten Versetzung nach Afghanistan?“

„Jetzt mal doch den Teufel nicht an die Wand! Wir haben gute Arbeit geleistet und können einige Erfolge vorweisen. Zum Beispiel im Bereich der Prüfungskooperation …“

„Hör auf mit der Prüfungskooperation!“, schrie Frau Müller-Bär. „Ich kann das nicht mehr hören. Du und Erfolge, im Bett der Sprachkursbeauftragen vielleicht. Sei froh, dass die Polizei davon nichts weiß. Das hätte mir gerade noch gefehlt, dass diese dumme Geschichte publik wird.“

„Wenn du weiter so schreist, wird das mit der Geheimhaltung schwierig“, wehrte sich der Angegriffene und Leni hörte Schritte, die sich der Tür näherten. Sie verschwand sofort im Klassenraum nebenan. Leider waren zwei Flyer beim Versuch, sie zurückzustecken, nach unten gefallen. Die Schritte stürmten an der Klassenzimmertür vorbei. Klaus Dieter fluchte hörbar: „Mir reicht’s.“

Noch rechtzeitig bevor die Tür aufgerissen wurde, konnte Leni das Whiteboard starten und das elektronische Klassenbuch öffnen, was den Eindruck konzentrierter Unterrichtsvorbereitung erzeugen sollte. Frau Müller-Bär wedelte mit den Flyern in der Hand. „Sind die Ihnen gerade runtergefallen?“

„Nein“, log Leni, „vielleicht sind sie durch einen Windzug aus dem Ständer gewedelt worden. Das passiert manchmal.“

Schon fast mit dem Rücken zu Leni drehte sich die Institutsleiterin noch einmal um. „Sind Sie nicht Leni Weber?“

„Ja.“ Sie stand auf, ging auf die Institutsleiterin zu und streckte ihr die Hand entgegen. „Ich bin sehr froh, dass ich Beate vertreten darf. Vielen Dank!“

Frau Müller-Bär entzog sich dem Handschlag, indem sie beide Hände nach oben hielt, als stünde jemand mit einer Pistole vor ihr. „Ich bin vorsichtig geworden und muss Rücksicht auf meine Gesundheit nehmen.“

„Natürlich. Entschuldigen Sie.“ Leni wich ein Stück zurück.

„Wie lange arbeiten Sie schon für uns?“

„Sechs Jahre. In den ersten Jahren habe ich noch sehr viel für die Universität Leiden gearbeitet und in Rotterdam nur einen Kurs im Semester gegeben. Seit zwei Jahren versuche ich, so viel wie möglich für das Institut zu arbeiten. Ich unterrichte Kurse auf allen Niveaus, nehme Prüfungen ab, helfe bei Tests und Einschreibungen und habe auch schon eine Fortbildung für die Kolleginnen und Kollegen geleitet.“ Das klang wie bei einer Bewerbung und Leni suchte fieberhaft nach weiteren positiven Punkten.

„Wurden Sie in Leiden gefeuert?“ Das Gespräch wurde nicht angenehmer.

„Nein, nein, ich habe Leiden und die Uni aus privaten Gründen verlassen.“

„Na ja, wie auch immer. Ich bin jedenfalls erleichtert, dass es in der Sprachabteilung erst mal weitergeht und das Audit von jemandem vorbereitet und begleitet wird. Wenn Sie Fragen haben oder Ihnen sonst etwas auffällt, wenden Sie sich direkt an mich.“

„Werde ich machen.“ Die Erleichterung, dass sie die Situation einigermaßen gemeistert hatte, war Leni anzumerken.

„Ach noch etwas, ich würde mich freuen, wenn Sie auch Präsenz bei unseren Kulturveranstaltungen zeigen. Heute um 18 Uhr ist die Ausstellungseröffnung für die Urs Friedhelm-Videoinstallation.“ Mit dem letzten Satz schloss Frau Müller-Bär die Tür von außen. Bevor sie zum Essen aufbrach, nutzte Leni die Gelegenheit, zur Vorbereitung ihres Abendunterrichts in das geöffnete Online-Klassenbuch von Beate Neumann zu schauen. Das Klassenbuch war leer.

Als die Institutsleiterin ihr Büro erreichte, wartete Marga Engels, ihre Assistentin, vor der Tür. „Hast du mal über das Bienenprojekt nachgedacht? Ich hatte heute bereits zweimal Marjolijn in der Leitung, die will eine Antwort.“

„Dann muss sie eben warten.“ Sie hatte im Moment wirklich keine Zeit, sich auch noch mit dem Bienenprojekt der Freundin der Assistentin herumzuschlagen, die die Idee hatte, gegen eine monatliche Gebühr Bienenstöcke an verschiedenen Orten der Stadt aufzustellen und dies als Kunstaktion unter dem Namen KULT-NAT-UR zu deklarieren. Eine dieser Bienenboxen sollte auf dem Parkplatz hinter dem Institut eine neue Heimat finden. Von dort aus hätten die Bienen dann auf die gegenüberliegende abgezäunte Wiese oder andere blütenreiche Grünflächen an Straßenrändern und Grachten fliegen können. Warum war ausgerechnet sie immer von Dilettanten umgeben? Von Leuten, die dämliche Projekte vorschlugen oder überhaupt keine Einfälle hatten? Aber was sollte sie machen? Sie konnte doch nicht alle Mitarbeiter entlassen, wenn sie irgendwo auf der Welt ein Institut übernahm. Schön wäre es ja. Da drängte sich ihr gleich die zweite Frage auf, die sie seit einiger Zeit umtrieb. Warum hatte man ausgerechnet sie, die schon mit so vielen tollen Kampagnen und Veranstaltungen überzeugen konnte, an so ein kleines Institut versetzt? Und dann auch noch in eine so uncharmante Stadt, die von dolce vita absolut nichts verstand. Wie viele ihrer Kolleginnen und Kollegen, die zur gleichen Zeit eingestellt worden waren wie sie, leiteten heute große Institute, zum Beispiel in Rom oder Paris? Dort gehörte sie eigentlich hin. Eine dieser Kolleginnen, Christa Börne, war sogar zur Leiterin des Regionalinstituts Nordwesteuropa in London aufgestiegen und somit ihre direkte Vorgesetzte, da Rotterdam im Rahmen des weltweiten Institutsnetzwerks zur Region Nordwesteuropa zählte. Regionalinstitute hatten eine übergeordnete Position und dass nun ausgerechnet diese Frau in der Region den Ton angab, wurmte sie maßlos. Es ging natürlich auch noch schlimmer, da brauchte sie nur an Klaus Dieter zu denken. Wenn der das Audit gegen die Wand fährt, wird das auch auf sie zurückfallen und ihre Führungsqualitäten in ein schlechtes Licht rücken. Eine grauenhafte Vorstellung. Frau Müller-Bär hatte inzwischen an ihrem Schreibtisch Platz genommen, als das Klingeln des Telefons ihre gedanklichen Abschweifungen unterbrach. Doch sie nahm den Hörer nicht ab. Die Nummer auf dem Display erinnerte sie an die Rede für den heutigen Abend, die sie noch nicht geschrieben hatte. Stattdessen griff sie selbst zum Hörer und bestellte Marga Engels in ihr Büro.

Die Assistentin war wieder einmal ähnlich gekleidet wie ihre Vorgesetzte, mit einem kurzen Blazer, über dem eine sehr lange Kette baumelte, und einem knielangen Rock mit aufgenähten Taschen. Das störte die Institutsleiterin erheblich, denn sie hatte sich Anfang des Jahres von einer Stylistin exklusiv beraten lassen, um nicht nur durch ihre Persönlichkeit, sondern auch optisch einen fachkundigen und durchsetzungsfähigen Eindruck zu hinterlassen. Vor allem die Frage, was die Partner aus Politik, Kunst und Kultur dachten, wenn sie als anerkannte Kulturmanagerin von einer Imitation ihrer selbst bei wichtigen Veranstaltungen begleitet wurde, beunruhigte die Leiterin. Sie zog nun ernsthaft in Erwägung, ihre Assistentin bei Terminen außer Haus nicht länger an ihrer Seite zu dulden und damit der optischen Ablenkung der Gesprächspartner Einhalt zu gebieten. Eine Minute nach dem Anruf tauchte Marga Engels mit einigen Kunstkritiken älterer Videoinstallationen von Urs Friedhelm im Büro der Kulturverantwortlichen auf, die sie in weiser Voraussicht bereits im Internet zusammengesucht und ausgedruckt hatte. Wahrscheinlich will sie wegen der blöden Bienen meine Stimmung verbessern, schlussfolgerte Frau Müller-Bär und nahm die Papiere mit einer kurzen Rückversicherung: „Ist das alles?“, an sich.

Nach ungefähr vier Gehminuten erreichte Leni das Café Floor. Zuerst schaute sie in den langgezogenen Garten auf der Rückseite des Cafés. Fast alle Tische waren belegt, es war sehr voll und zu laut. Deshalb entschied sie sich für einen Tisch im Innenbereich am Fenster und bestellte einen Latte Macchiato und eine soep van de dag, das war heute Tomatensuppe. Der nicht vorhandene Klassenbucheintrag für ihren neu übernommenen Kurs machte sie nachdenklich. Wie konnte jemand nur so arbeiten? Warum war eigentlich ausgerechnet Beate Sprachkursbeauftragte geworden und nicht eine andere Kollegin? Hatte das etwas mit dem zu tun, was Hugo vermutet und die Institutsleiterin bestätigt hatte? Etwas wehmütig erinnerte sich Leni an den Vorgänger von Klaus Dieter, der ihr vor sechs Jahren einen Honorarvertrag als Lehrerin angeboten hatte und der ihr sowohl fachlich als auch im Umgang mit den Kollegen positiv im Gedächtnis geblieben war. Damals gab es die Stelle der Sprachkursbeauftragten an dem kleinen Rotterdamer Institut noch nicht, Klaus Dieter hatte sie zu seiner Arbeitserleichterung vor drei Jahren beantragt und genehmigt bekommen. In Sprachabteilungen größerer Institute war es schon seit längerer Zeit üblich, dass eine Ortskraft, meist jemand aus dem Lehrerkollegium, damit beauftragt wurde, sich um die anfallenden Arbeiten rund um die Sprachkurse zu kümmern.

„Hallo!“, Hoofdinspecteur Jan de Rijk stand plötzlich neben dem Tisch. „Ich habe dich beim Vorbeilaufen gesehen.“

Leni freute sich über das Du, trotzdem blieb sie zunächst beim Sie. „Setzen Sie sich doch. Möchten Sie auch einen Kaffee?“

„Wollen wir nicht du sagen?“

„Okay, setz dich doch“, wiederholte sie den Satz etwas lehrerhaft in der Du-Form. Leni wusste natürlich, dass in den Niederlanden viel eher geduzt wurde als etwa in Deutschland. Auch einige ihrer Kolleginnen bevorzugten im Unterricht die informelle Anrede. Sie selbst hatte sich aber beim Unterrichten für die Sie-Form entschieden, die es ihr etwas leichter machte, ganz implizit einige Umgangsformen in den deutschsprachigen Ländern zu vermitteln.

„Seid ihr schon weitergekommen mit euren Untersuchungen?“

„Wir ermitteln noch. Hast du am Dienstagabend auch unterrichtet?“ Die Frage empfand Leni als eine Spur zu direkt, vielleicht eine Retourkutsche auf ihr eigenes Vorpreschen zum Stand der Ermittlungen. Sie war jedoch froh, dass sie mit Ja antworten konnte.

„Und danach?“

„Bin ich nach Hause gegangen. An diesem Abend war ich ungefähr Viertel vor zehn in der Wohnung. Das kann meine Mitbewohnerin Kathrin bestätigen.“

„Kanntest du das Schlachtopfer gut?“

Leni versuchte, nicht zu lachen. „Opfer, nicht Schlachtopfer.“ Die Korrektur musste sein, auch wenn sie die direkte Übersetzung aus dem Niederländischen ziemlich lustig fand. „Nein, ich kannte sie nicht wirklich gut. Beate war meiner Meinung nach fachlich nicht so kompetent, doch die Organisationsarbeiten hat sie einigermaßen hingekriegt.“ Leni machte eine kurze Pause. „Ehrlich gesagt, ich hatte keinen besonders guten Draht zu ihr.“

„Nur du oder noch andere?“

Die Suppe kam. Leni begann, die heiße Flüssigkeit vorsichtig in sich hineinzulöffeln. „Das weiß ich nicht so genau. Zu einigen hatte sie jedenfalls eine sehr gute Beziehung, beispielsweise zum Sprachabteilungsleiter. Der hat sie offensichtlich sehr gemocht. Das habe ich jedenfalls gehört.“

„Was heißt das genau?“

„Na ja, was das eben so heißt.“

„Also, er hatte ein Verhältnis mit ihr“, interpretierte Jan die schwammige Antwort.

„Ich glaube schon.“

„War Beate Neumann verheiratet oder hatte sie eine feste Beziehung?“

„Keine Ahnung. Ich hatte mit ihr privat keinen Kontakt.“

„Und der Abteilungsleiter? Was ist mit dem?“

„Der hat eine Frau. Die habe ich sogar schon zweimal gesehen – auf unserem Sommerfest.“

Ob Jan verheiratet ist? Kaum gedacht, platzte es auch schon aus ihr heraus. „Bist du eigentlich verheiratet?“ Sofort griff sie zum halbleeren Latte Macchiato Glas und hoffte, sie könnte das Gesagte mit kleinen Schlückchen irgendwie wieder in sich verschwinden lassen. Ihr Gesprächspartner hatte die Frage wohl gehört, denn er lächelte zum ersten Mal.

„Ich bin etwas neben der Spur, tut mir leid. Seit heute muss ich die ganze organisatorische Arbeit von Beate machen und zusätzlich ihren Kurs übernehmen. Das ist alles etwas viel für mich.“ Ein Rettungsversuch.

„Ich brauche noch eine Übersicht über alle Kurse und alle Teilnehmer von Beate. Kannst du mir die mailen? An meine Dienstadresse?“

Leni griff in ihre Tasche und schob das A5-Heft über den Tisch, damit Jan seine dienstliche Mailadresse dort hinterlassen konnte.

„Beate hatte nur einen Kurs und den gebe ich heute Abend. Ich kann mir die Teilnehmer mal ansehen, möglicherweise kommt mir eine oder einer verdächtig vor. Als Lehrerin habe ich eine sehr gute Menschenkenntnis, das bringt der Beruf so mit sich.“ Das war ein mutiges Statement für jemanden, der in persönlichen Beziehungen bisher immer danebengegriffen hatte. Aber Leni war von ihrer Fähigkeit, Menschen nach kurzer Zeit gut einschätzen zu können, überzeugt.

„Nur die Liste, bitte. Und fang nicht an, selbst Detektiv zu spielen. Das ist unsere Aufgabe. Aber vielleicht kannst du mir auch gleich noch …“ Jan machte eine Pause und sah kurz auf sein Handy. „Nein, hat sich erledigt, die Liste der Mitarbeiter habe ich gerade von der Verwaltung bekommen. … Ah, hier steht auch die Telefonnummer des Bruders von Frau Neumann. Mit dem muss ich jetzt als erstes Kontakt aufnehmen.“ Ohne etwas gegessen oder getrunken zu haben, verließ der Hoofdinspecteur das Café.

Seine Gesprächspartnerin blieb noch eine Weile sitzen. Das Unbehagen wegen ihrer törichten Frage wollte sich nicht so schnell in Luft auflösen.

In der Bibliothek suchte Leni einen geeigneten Artikel für ihren Unterricht und entschied sich für einen Bericht über Umweltprobleme in Großstädten. Schönes Thema für eine Diskussion, anspruchsvoller Wortschatz. Jetzt freute sie sich sogar auf den Abend. Da die Bibliothek leer und der Tisch der Bibliothekarin verwaist war, klemmte sich Leni die Zeitung unter den Arm, ohne jemandem Bescheid zu sagen. Beim Verlassen der Räumlichkeiten wäre sie beinahe in den Sprachabteilungsleiter gerannt, der seinen Kopf durch die Bibliothekstür steckte und scheinbar nach jemandem Ausschau hielt.

„Gut, dass ich dich sehe, Klaus Dieter. Kann ich dich schnell noch was fragen?“ Leni ergriff die Gelegenheit, ihre am Vormittag nicht gestellten Fragen loszuwerden.

„Gibt’s Probleme?“

„Nein, nein. Mich würde nur noch interessieren, ob ich für die zusätzlichen Aufgaben, die ich übernommen habe, einen Vertrag bekomme. Ich habe ja im Moment nur einen Honorarvertrag und werde stundenweise bezahlt.“

„Ja, so ist das und daran ändert sich jetzt auch nichts. Du schreibst alle Stunden, die du arbeitest, auf deine Stundenabrechnung und reichst die in der Verwaltung ein. Einen Vertrag gibt es erst, wenn die Stelle offiziell besetzt wird, aber davor muss sie erst einmal ausgeschrieben werden.“ Das war eine klare Ansage, nach der Klaus Dieter wieder verschwand. So war das eben, da konnte man nicht viel machen.

„Wann bringst du die Zeitung zurück?“, Isabell Wittig, die Leiterin der Bibliothek, hatte ihr Reich betreten.

„Sofort, ich mache nur eine Kopie.“

„Gut, aber nicht vergessen.“ Leni sah sich um, sie war die einzige Besucherin im Raum. „Vielleicht kommt ja gleich jemand, der genau diese Zeitung dringend braucht. Du darfst ausnahmsweise unseren Kopierer benutzen.“ Isabell zeigte auf einen kleinen Kopierer, der etwas versteckt hinter einem Lesetisch stand. Leni nahm das Angebot dankend an, Isabell folgte ihr zum Kopierer. Ganz hinten in der Ecke, kaum sichtbar, entdeckte sie hinter einem Stapel von Büchern die obere Kopfhälfte der Praktikantin. „Hallo Gudrun! Ich habe dich vorhin gar nicht gesehen“, rief sie winkend in die dunkle Ecke. „Hallo!“, schallte es von dort zurück.

„Bitte stör die Gudrun jetzt nicht. Sie muss bis morgen alle neuen Bücher in unser Bestandsprogramm einarbeiten.“

„Das ist aber eine anspruchsvolle Arbeit.“ Leni meinte das nicht als versteckte Kritik, sondern als Lob für die fleißige Hilfskraft.

„Wenn sie etwas lernen will, darf sie nicht nur Kaffee kochen“, konterte die Bibliotheksleiterin, deren Personalausstattung lediglich aus einer festen Mitarbeiterin, nämlich ihr selbst, und wechselnden Praktikantinnen bestand. Das Argument mit dem Lernen war jedenfalls nicht so einfach zu entkräften.

„Apropos Tätigkeit. Hast du jetzt die Stelle von Beate bekommen?“

„Nein, ich helfe nur bei der Vorbereitung auf das Audit.“ Damit sollte sie tatsächlich mal beginnen, mahnte sich Leni selbst beim Kopieren. Sie gab die Zeitung zurück und vernahm beim Gehen noch Isabells Hinweis „Alles andere wäre auch nicht korrekt. Die Stelle muss nämlich offiziell ausgeschrieben werden.“

Zunächst sendete Leni die Teilnehmerliste für den C2-Kurs an Jan. Und weil sie gerade beim Suchen war, begab sie sich ins Intranet und entdeckte jede Menge Dokumente mit viel Text zum Thema Audit: Anweisungen für den Ablaufplan, Anweisungen für das Verfassen des Auditberichts und Beurteilungskriterien für eigentlich alles, selbst die Toiletten. Auch die Aufstellung der notwendigen Unterlagen für die Dokumentenmappe, die sämtliche Werbemaßnahmen, Protokolle von Lehrersitzungen, Gebäudedokumente sowie Übersichten zu Personal, Kursen, Online-Klassenbüchern, Prüfungen, Fortbildungsveranstaltungen und Planungszielen umfasste, entging ihr nicht. Den Hinweis, dass genau diese Dokumentation in zweifacher Ausführung, geordnet nach Themen, in einer Mappe circa sechs Wochen vor Audit-Beginn beiden Auditierenden zuzusenden sei, konnte man ebenso wenig übersehen. Etwas ungläubig schaute Leni noch einmal auf den von Beate erstellten Ablaufplan. Da stand es schwarz auf weiß: Das Audit sollte nächste Woche Donnerstag beginnen.

Kurz vor fünf stattete Leni Hugo noch einmal einen Besuch in seinem Büro ab. „Sag mal, Hugo, habe ich das vorhin richtig verstanden, dass die Unterlagen an die Auditoren noch nicht verschickt wurden?“

„Ja, das hast du völlig richtig verstanden. Das müsste demnächst mal gemacht werden.“

„Die Informationsmappen hätten schon seit fünf Wochen bei den Auditoren liegen sollen. Das habe ich gerade gelesen.“

„Das ist korrekt. Aber ich glaube, das sind ungefähre Zeitangaben. Ich würde das nicht so eng sehen.“

„Egal, ob ungefähr oder genau, die Deadline ist nun wirklich lange vorbei. Ich gehe heute noch zur Ausstellungseröffnung und dann gebe ich Beates Kurs. Morgen Vormittag müssen wir das alles fertig machen.“

„Du gehst zur Ausstellungseröffnung? Na dann, viel Spaß!“ Hugo drehte sich um und schaltete alle Geräte aus.

Lenis anfängliche Euphorie wich langsam dem Gefühl, mit der Übernahme von Beates Tätigkeit eventuell ein Eigentor geschossen zu haben.

Im Ausstellungsraum hinter der Cafeteria im Erdgeschoss hatten inzwischen neun Leute, verteilt auf sechs Stuhlreihen, Platz genommen. Leni gesellte sich zu Susanne, der Verwaltungsleiterin, in Reihe vier. Vor ihr saßen zwei Mitarbeiterinnen aus der Kulturabteilung, eine davon war Marga Engels, und Isabell aus der Bibliothek. In Reihe eins zog Birgit Kaminski in einer selbstgehäkelten bunten Jacke die Blicke des Künstlers auf sich, der ihr gegenüber auf einer kleinen Bühne neben dem Rednerpult auf einem Stuhl hockte und sich dort offensichtlich nicht ganz wohl fühlte, denn er zappelte unruhig hin und her. Ebenfalls vorn, in den Reihen eins und zwei, hatten es sich drei Kunstinteressierte gemütlich gemacht, von denen einer seine Beine fast bis zur Bühne ausstreckte. Ganz hinten, in Reihe sechs, tippte Michael Bär, der Mann von Frau Müller-Bär, etwas in sein Handy. An der rechten Seite des Raums stand ein langer schmaler Tisch mit Getränken wie Wasser, Orangensaft und Wein sowie einigen Knabbereien und kleinen Tellern mit belegten Weißbrotscheiben. Dieser wurde von den Gästen immer wieder verstohlen begutachtet, auch von Leni. Plötzlich wurde es dunkel und auf einer aufgespannten Leinwand hinter dem Rednerpult startete ein Film, bei dem von einem Strand aus das Meer gefilmt worden war. Man sah nur den Strand, auf dem etwas Plastikmüll lag, und das Meer. Nach vielen überlangen Minuten schwenkte die Kamera langsam nach rechts, wieder nur Strand, Plastikmüll und Meer. Jetzt konnte man ein paar Möwen sehen und hören.

Martina Müller-Bär trat an das Rednerpult und begann mit ihrer Rede, die sie Wort für Wort abzulesen versuchte, was in der Dunkelheit nicht einfach war.

„Die neueste Arbeit des Videokünstlers Urs Friedheim …“, sie korrigierte sich, „Urs Friedhelm mit dem Titel Meer – Möwe – Mensch – Müll illustriert tiefgreifend und bewegend das Verhältnis zwischen der Natur und dem infernalen und zerstörerischen Treiben der Menschen. Die bildnerisch ausdrucksvollen Schleifen um das Thema verknüpfen in einer spielerischen Reaktion …“, sie musste sich wieder korrigieren, „Reflexion den Aspekt der menschengemachten Umweltzerstörung mit dem Kampf der Tiere und der Natur ums Überleben. Die Kritik an der sich nur am Konsum orientierenden Gesellschaft verfehlt mit einer klaren Bildsprache ihre Wirkung nicht und zieht den Betrachter sofort in ihren Bann …“

Dieser beschriebene Effekt trat scheinbar nicht bei allen ein, denn der freischaffende Historiker Michael Bär tippte noch immer auf seinem Smartphone herum und auch Leni war nicht ganz bei der Sache. Sie dachte vielmehr darüber nach, wie lange der offizielle Teil dauern und ob sie vor Unterrichtsbeginn um 18:30 Uhr noch an das Buffet kommen würde. Da summte ihr auf lautlos gestelltes Handy. Das Geräusch war immerhin noch so laut, dass sich die dritte Reihe geschlossen umdrehte. Mit ihrer Tasche und dem summenden Telefon hastete sie aus dem Raum. Als sie die grüne Taste gedrückt und das Handy am Ohr hatte, war der Anrufer weg.

Anstatt eine weitere Störung der Ansprache zu Meer – Möwe – Mensch – Müll zu verursachen, entschied sich Leni, in ihren Klassenraum zu gehen. Nach einer Weile tauchten zwei Teilnehmerinnen auf. Verwundert schaute Leni noch einmal auf die Kursliste, auf der vierzehn Namen aufgeführt waren. Um nicht später alles wiederholen zu müssen, stellte sie zunächst einige Fragen zur Person. Eine Teilnehmerin hieß Frauke, war Rentnerin und interessierte sich für Literatur. Die andere, Marijke, hatte vor, ab September an der Ludwig-Maximilians-Universität in München Kunstpädagogik zu studieren und brauchte für die Studienzulassung das Große Deutsche Sprachdiplom. Schließlich erschienen weitere drei Teilnehmer, die sich ebenfalls kurz vorstellten. Michiel war als Anwalt tätig und vertrat ab und zu deutschsprachige Mandanten. Leni schätze ihn auf Anfang 40, er hatte eine rundliche Figur und eine etwas zu große Nase. Der zweite, Jos, arbeitete für die Stadt Rotterdam im Bereich Städteplanung. Nummer drei hieß Nout, war bei einer Bank beschäftigt und beabsichtigte, demnächst in die Schweiz überzusiedeln. Der Banker war ziemlich attraktiv und sehr gut gekleidet. Es dauerte eine Weile, bis Leni die Teilnehmer den Namen auf ihrer Liste zugeordnet hatte, auf der nicht die Rufnamen, sondern entweder nur Buchstaben mit Punkt oder alle im Taufregister eingetragenen Vornamen standen. Mit diesen fünf Leuten begann die Lehrerin den Unterricht. „Ich bin Leni und ich werde ab heute Ihren Kurs leiten. Ich weiß nicht, ob es sich schon herumgesprochen hat: Beate Neumann ist am Dienstag auf tragische Weise ums Leben gekommen.“ Jetzt sah sie in betroffene Gesichter.

„Was ist passiert?“, fragte Marijke.

„Das weiß ich nicht genau. Ich weiß nur, dass die Polizei Untersuchungen aufgenommen hat. Wenn Sie sich nicht gut fühlen, dann können wir den Kurs jetzt abbrechen und an einem anderen Tag nachholen.“

„Nein, nein, ich würde gerne weitermachen“, war die Meinung von Michiel, die von Frauke mit „Ich auch!“ bestätigt wurde.

„Gut. Ich habe einen Artikel für Sie kopiert, in dem es um Umweltprobleme in Großstädten geht. Ich denke, den können wir als Grundlage für eine Diskussion nehmen. Aber zuerst werden wir mal Ihren Wortschatz aktivieren.“ Nachdem Leni das Wort Umwelt auf das elektronische Whiteboard geschrieben hatte, teilte sie die fünf Leutchen in zwei Gruppen ein und bat sie, Wörter zum genannten Thema zu sammeln.

Gegen 19:30 Uhr betraten Hoofdinspecteur Jan de Rijk und Hoofdagent Pim Jansen das Gebäude. Hieronymus schaute mit aufgesetzten Kopfhörern in seinen Laptop und bemerkte weder die Polizisten noch das Klingeln des Telefons. Jan blieb nichts anderes übrig, als seine Schulter zu berühren, um sich bemerkbar zu machen.

„Oh, sorry“, jetzt nahm er die Kopfhörer ab.

„In welchem Raum ist der Kurs, den Beate Neumann gegeben hat?“

Die Suchaktion in einem Papierstapel, die deutlich länger dauerte als das Telefonklingeln, konnte Hieronymus erfolgreich beenden.

„Klassenraum B, erste Etage.“

Kurze Zeit später klopfte es an Lenis Klassenzimmertür und die späten Gäste traten ein. „Ich wollte dich telefonisch vorwarnen, aber ich habe dich nicht erreicht“, sagte Jan.

„Ich war gerade bei einer Ausstellungseröffnung unserer Kulturabteilung. Ich vermute, ihr habt einige Fragen an die Teilnehmerinnen und Teilnehmer.“ Leni bemühte sich um eine vorbildliche gendergerechte Wortwahl und war ein bisschen stolz, dass sie den Lernenden mit der kurzen Konversation ein persönliches Verhältnis zu den ermittelnden Behörden demonstrieren konnte.

„Wir machen jetzt eine kurze Pause, damit sich die Polizisten mit Ihnen unterhalten können. Wenn die Befragung beendet ist und Sie unten einen Kaffee getrunken haben, machen wir weiter.“

Inzwischen war im Ausstellungsraum der offizielle Teil in den inoffiziellen übergegangen und der Künstler, Frau Müller-Bär und alle Besucher außer Birgit, die unterrichten musste, befanden sich in der Nähe des seitlich aufgebauten Tisches beim Smalltalk. So eine lockere Plauderei ist nicht sehr einfach zu führen, wenn man mit einem übervollen Teller in der einen und einem Glas Wein in der anderen Hand gleichzeitig reden, essen und trinken möchte. Der Institutsleiterin gelang die Konversation mit dem Künstler dennoch. „Ich würde wahnsinnig gerne nach Brüssel gehen. Dort kann man kulturell so viel machen, auch in Zusammenarbeit mit den europäischen Institutionen.“ Michael Bär wendete seine Augen von Marga Engels ab und unterstützte die Aussagen seiner Frau, der wiederum die Blicke ihres Mannes auf ihr Mode-Double nicht entgangen waren, mit einem kurzen, kräftigen Nicken. Dann prostete er Urs Friedhelm munter zu. Das war nach seinen Erfahrungen immer eine gute Geste, wenn man nicht richtig zugehört hatte. Der Videokünstler hatte sich gerade ein Stückchen Brot gegönnt, sah sich aber genötigt, sofort und mit halbvollem Mund zu antworten. „Und man kann in Belgien wirklich gut essen … und trinken natürlich. Wenn ich an all die wunderbaren Biersorten denke.“

„Sie sagen es. Das burgundische Leben hat doch viel für sich.“ Jetzt nippte auch Frau Müller-Bär gekonnt an ihrem Weinglas und war kurz abgelenkt, als Leni den Raum betrat, ihn aber gleich wieder verließ, weil auf dem Tisch, im Gegensatz zu den Tellern, nichts Essbares mehr zu sehen war.

Ihr Hunger war nach dem Unterricht so groß, dass Leni sich auf dem Heimweg beim Albert Heijn am Bahnhof einen eingeschweißten Salat inklusive Dressing-Tüte und ein Sandwich besorgte. Das belegte Brot verzehrte sie gleich unterwegs. Sie war sehr müde, als sie die Wohnung betrat und Kathrin in der Mitte des Wohnzimmers in der Stellung des herabschauenden Hundes vorfand.

„Ist was passiert?“, fragte sie in Anbetracht der Yogaübung zu dieser späten Stunde.

„Ich muss mich ein bisschen abreagieren. Wir haben jetzt an der Hochschule einen neuen Manager. So einen jungen, dynamischen, der alles umkrempeln will. Ich bin mir noch nicht sicher, ob zum Guten oder zum Schlechten. Der war vorher Manager im Bereich Baukunde und ist nach anderthalb Jahren zu uns in die Deutschlehrerausbildung versetzt worden. Da kann doch was nicht stimmen. Meiner Meinung nach sieht das nach einer Strafversetzung aus.“

„Warte es doch erst mal ab. Vielleicht bewegt der ja was, macht mehr Werbung für euch, damit eure Studentenzahlen steigen.“ Leni mischte das Dressing unter den Salat, nahm eine Gabel aus dem Besteckfach und stopfte den Inhalt des Plastikbehälters in sich hinein.

„Ich habe übrigens auch einen neuen Job“, ließ sie nebenbei fallen. Kathrin hatte gerade den Lotussitz eingenommen und sah ihre Mitbewohnerin interessiert an.

„Toll. Wo denn?“

„Klaus Dieter hat mich heute gefragt, ob ich die Aufgaben von Beate übernehme, übergangsweise, bis die Stelle neu ausgeschrieben wird.“

Kathrins Begeisterung hielt sich, anders als von Leni erwartet, in Grenzen. Es folgten eine weitere Yoga-Figur und die Frage: „Arbeitest du da mit Beates Computer?“

„Ja.“

„Kommst du an alle Dateien ran? Ich meine, kannst du alles lesen?“

Da war sie wieder, die Frage nach den Dateien in Beates Computer. Merkwürdig. Leni selbst hätte sich ohne ihre neuen Aufgaben nicht im Geringsten für den Inhalt dieses Accounts interessiert. Aber womöglich lauerte dort noch die eine oder andere Überraschung.

„Ich glaube schon, aber ich habe gar keine Zeit, mich mit all den Dokumenten zu befassen. Das Audit hat oberste Priorität und dann sind da noch die ganzen Mails, die ich beantworten muss und mein Unterricht … Aber warum fragst du? Soll ich was Bestimmtes für dich suchen?“

„Nein, nein, das war nur so eine ganz allgemeine Frage.“ Kathrin bemühte sich um Beiläufigkeit, ohne Erfolg. „Wieso hat Klaus Dieter eigentlich dich gefragt? Er hätte doch auch jemand anderen fragen können.“

„Dich zum Beispiel?“, jetzt klang auch Leni gereizt.

„Na ja, bei mir wäre es sicher schwierig geworden, ich habe ja schon eine Teilzeitstelle an der Hochschule. Aber natürlich hätte er mich erst mal fragen können.“

„Es geht meiner Ansicht nach darum, dass es irgendwie weitergeht und jemand die Rolle des Rettungsassistenten übernimmt. Dafür war ich nun mal zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Wärst du zu Hause gewesen und nach Klaus Dieters Anruf gleich ins Institut gerannt, hätte er bestimmt dich gefragt. Aber ich muss mich jetzt hier nicht vor dir rechtfertigen.“ Leni stürmte aus dem Raum und schloss sich auf dem Klo ein.

Dort blieb sie ziemlich lange, während Kathrin ihre Yoga-Einheit beendete, eine Flasche Wein öffnete und sich mit zwei vollen Gläsern vor der Toilettentür aufbaute. „Tut mir leid, Leni.“

Das Audit

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