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Countdown in Selm

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Du kannst mich totschlagen, aber ich gehe nicht über den Brink.

Das ist das erste Gebot: Du darfst die Totenruhe nicht stören. Und das zweite: Du darfst nicht über Gräber gehen.

Und deshalb mach ich einen Umweg. Immer.

Das macht sie wahnsinnig.

Weil sie es nicht verstehen. Dass es in mir hämmert und klopft und schreit.

Man darf nicht über Gräber gehen. Die Toten mögen das nicht. Sie wehren sich. Sie recken sich da unten und strecken sich und versuchen, nach oben zu stoßen. Aber sie können nicht. Weil der verdammte Möbelbunker obendrauf steht, da, wo der alte Friedhof war. Und der Scheißparkplatz und die Sparkasse und der Edeka.

Ich höre sie stoßen und schreien und heulen in meinem Kopf. Weil ihnen ein Bein fehlt oder beide oder die Arme oder die Rippen. Die haben sie ihnen weggenommen, als sie die Gräber aufgerissen und die Särge zerschlagen haben. Die fehlen jetzt.

Es schreit auch bei der Friedenskirche. Da liegt der unbekannte Soldat oder was von ihm übrig ist. Im Seitenschiff. Die Ohren muss ich mir zuhalten, wenn ich da langgehe.

„Tote schreien nicht“, hat Mama behauptet, als ich mal was gesagt habe. „Wenn man tot ist, ist man tot.“ Ist man nicht.

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Es zersprengt mir den Kopf. Aber sie verstehen nichts, gar nichts, noch nicht mal Lisa. Nun stell dich nicht so an jetzt komm schon was hast du denn ist doch nichts dabei.

Die Pein die Qual das Blut.

Nun geh schon mach voran du hältst alle auf. Ist doch schon ewig lange her. Das spielen sie heute im Kino.

Die Schmerzen die Schreie der Henker der Tod.

Nur um mich zu quälen, erzählen sie die alten Geschichten. Immer wieder. Wie sie die Verbrecher zur Angstkuhle geschleift haben. Wie sie ihnen die Rippen gebrochen, die Finger gequetscht, die Füße zerschlagen haben. Die Zunge herausgeschnitten die Augen ausgestochen die Därme aus dem Leib gerissen.

Immer wieder. Bis es hämmert in meinem Kopf. Bis alles aus mir rauskommt, unten und oben. Bis sie lachen und johlen und mich verspotten. Bis die Lehrerin kommt, die schickt mich zum Arzt.

Der, scheißfreundlich: Wie alt bist du? Vierzehn? Das kommt schon mal vor bei Mädchen in deinem Alter. Was hat das Alter damit zu tun?

8

Es ist etwas da. Es ist etwas Böses da. Das sieht man nicht, es kriecht aus dem Boden, kalt und klamm. Kriecht überall rein, setzt sich überall fest. Und weißt du was? Wir wohnen drauf.

Wir im Parkweg, wir sind die auf der Gifthalde, auf der Müllkippe. Was glaubst du wohl, was da alles zusammenkommt in so einem Bergwerk. Den ganzen giftigen Dreck aus der Zeche Hermann haben sie zusammengekippt und Häuser drauf gebaut, genau da, wo ich wohne. Und jetzt dampft das alles aus, was da im Boden steckt.

Das kann einen irre machen. Noch viele Jahre später. Wahrscheinlich sind wir alle irre. Alle, die zwischen Parkweg und Buddenbergstraße wohnen und das Gift einatmen, tags und nachts und immer.

Die Werkmeister hat mich wieder zum Arzt geschickt, heute in der großen Pause, weil ich so blass war und so geschwitzt habe, obwohl mir ganz kalt war. Der hat mich gefragt, wo ich wohne. Da hab ich’s ihm gesagt, und er hat ganz besorgt geguckt. Und dann hab ich ihn gefragt. Was da im Boden liegt und lauert und wartet. Und ob das nicht rauswill. Und was, wenn es raus ist?

Er: Liegt doch schon fast hundert Jahre da. Hat sich noch niemand drüber beklagt. Und …

Ich: Und?

Er: Und überhaupt.

Und dabei hat er mich angesehen, als ob ich irre wäre.

7

Heute ist es still. Es ist so still, dass es richtig schön ist. Weil ich die Vögel singen höre. Die hör ich sonst nie. Und die Bienen und Hummeln summen.

Heute früh bin ich am Stadttor vor Schulze-Weischer vorbei, und es blieb still. Sonst hat es mir hier regelmäßig den Kopf zerspalten. Weißt du, warum? Wegen dem heiligen Ludger. Dessen Leiche haben sie hier zwischengelagert, weil: Den wollten sie nicht da begraben, wo er gestorben ist. Vielleicht war er ein Märtyrer? Vielleicht haben sie ihn gefoltert, vorher? Wie den heiligen Sebastian? Der war so wunderschön. Mit den Pfeilen überall drin.

Heute also alles still. Und dann kommt Tim vorbei, und wir nehmen die Räder und fahren raus. Am Femeplatz und an der Angstkuhle vorbei. Da ist auch alles still. Und dann immer weiter, den Ondruperweg entlang. Bis ich merke, wie er mich anstarrt, so von der Seite, als wir zu einem Haus mit Zaun drumrum kommen.

Und dann sagt er: „Mörderranch.“ Da weiß ich, warum er so blöd guckt. Hat wohl gedacht, ich würde mich mit Schaum vorm Mund auf der Straße wälzen, weil ich mich fürchte.

Das mit der Mörderranch, das war, als Oma noch ein Kind war. Da wohnten Asoziale – hat sie gesagt. Die Frau ist anschaffen gegangen. Es war nie Geld da. Und als der Bäcker mit dem Bäckerwagen vorbeikam, damit sie endlich die Rechnung bezahlen, hat der Sohn den Bäcker erschossen.

Ich: Hast wohl gedacht, ich hätte Angst?

Und er: Nein, natürlich nicht, wie kommst du drauf. Und so.

Er lügt. Ich lüge.

Ich habe Angst. Dass es mir wieder den Kopf zerreißt. Aber es bleibt still, die ganze Zeit. Und später liegen wir in der Sonne und küssen uns. Also Tim und ich. Ein bisschen komisch ist das schon. Das Küssen.

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Warum ich? Was findet er an mir? Ich fass es nicht. Ich glaub’s nicht. Es kann gar nicht wahr sein. Aber es fühlt sich gut an. Es kitzelt, wie im Whirlpool. Wie Brausepulver.

Albern, nicht?

Hab keinen klaren Gedanken gehabt in der Schule, hab an Tim gedacht und mich in Deutsch total blamiert. Die blöde Werkmeister: Du träumst, Jennifer. Oder willst du schon wieder umkippen?

Alles grölt. Ich hasse sie.

In Geschichte hat dann jemand was erzählt, das fand ich schön. Da wohnt ein Graf in einer Burg an der Lippe, der ermordet einen Priester, was dem Erzbischof nicht passt, weshalb der ihn belagert. Und als sie alle fast verhungert sind, tritt die edle Gräfin vor die Burg, und weil sie so gläubig ist, gibt der Erzbischof ihr freies Geleit. Sie darf gehen und mitnehmen, was ihr das Liebste ist. Und was tut sie? Sie nimmt den Grafen huckepack, schleppt ihn aus der Burg und überquert mit ihm die Lippe. Und der Bischof kann nichts dagegen machen.

Ist das Liebe?

Muss wohl.

5

Tim. Auf dem Schulhof. Tut, als ob er mich nicht kennt. Stößt seine Freunde mit dem Ellenbogen an. Die kichern blöd.

Ist mir egal. Ist mir so was von egal. Der soll mir bloß nicht nahe kommen. Mir soll niemand nahe kommen. Nicht heute.

Weißt du, wie das riecht, Blut? Wie abgestandener Kaffee. Doch, bestimmt. Ich hab’s gerochen, als ich heute früh aufwache und im Nassen liege.

Was für eine Schweinerei. Sagt Mama. Und ob ich denn nichts gemerkt habe. Hab ich nicht. In der Dusche läuft mir die rote Brühe die Beine runter. Mir ist schwindelig. Es ist eklig. Ich will nicht in die Schule.

Stell dich nicht so an das ist ganz normal wenn alle Mädchen in deinem Alter so ein Theater machen würden.

Ja, was dann?

Wenigstens brauch ich nicht zum Sport. Und Tim kann mich mal.

In der Freistunde bin ich in die Stadt zu Tchibo. Aber da weiß ich plötzlich nicht mehr, ob der Kaffee riecht oder ich. Und ob ich vielleicht auslaufe. Ob ich verblute und es gar nicht merke. Und dann bin ich umgekippt.

4

Da ist doch nichts bei, bleib cool, ich hab das auch, seit zwei Monaten, das dauert vier Tage max, dann ist gut.

Ich: Ja, aber der Geruch.

Lisa: Wieso?

Ja, wieso! Riecht das denn niemand? Es stinkt! Wie das rostige Geländer an der Kellertreppe. Wie ein fett eingebrannter Kaffeerest in der Kaffeemaschine. Ich könnt kotzen. Mein Kopf. Mama, voll auf Verständnis: Du wirst jetzt eine Frau. Du bist kein Kind mehr. Du wirst dich dran gewöhnen. Wirst sehen, wie schön das ist. Wenn man erwachsen wird.

Mir egal. Ich will, dass es aufhört. Der Gestank und das Blut. Überall.

Mama, voll genervt: Erzähl nicht so einen Unsinn. Du übertreibst schon wieder. Alles Einbildung, blühende Fantasie, hast du immer schon gehabt, bleib doch mal bei der Wahrheit. Und bla.

Was ist, wenn ich mir das nicht einbilde? Wenn es die Wahrheit ist? Dass es nach Blut riecht, überall, um mich herum, wohin ich auch gehe?

Es ist in den Straßen und in den Häusern, es kriecht aus dem Boden und aus den Wänden, alles ist durchtränkt von diesem widerlichen Geruch. Und die anderen riechen es nicht. Sie riechen nichts, weil: Sie waten drin.

Es steht knietief in diesem verdammten Kaff. Das Blut.

Weißt du, dass sie Knochen gefunden haben, als die Straße nach Lünen gebaut wurde? Hatten wir in Geschichte. Der Siebenjährige Krieg, auch Dritter Schlesischer Krieg genannt, 1756 bis 1763, Preußen und Hannoveraner gegen die Franzosen und so weiter. Was die alle bei uns wollten und wieso Schlesien, wo wir doch Münsterland sind, weiß niemand. Jedenfalls haben sie irgendwann hier gekämpft, und ein paar Franzosen sind dabei gefallen, und die haben sie dort begraben, neben der Hasseler Kapelle.

Glaubst du, dass das spurlos bleibt?

Und was ist mit dem ganzen Schutt aus der Zeche, der unter unserem Haus liegt? Vielleicht sind da ja auch die Leichen drin von denen, die erschlagen und abgestürzt und verschüttet sind im Berg? Mindestens ein toter Bergmann pro Monat, das hatten wir auch in Geschichte. Und dann all die anderen. Die Verhungerten.

Weißt du, dass man in Selm verhungern konnte, als sie die Zeche zugemacht haben?

Zwanzig Jahre Wohlstand und Glück. Hat die Oma immer gesagt. Obwohl die sich gar nicht dran erinnern kann. Das war ja alles schon in den Zwanzigern.

Zwanzig Jahre Glück. Und dafür Unglück bis heute.

3

Ich geh nicht mehr raus. Ich halt den Geruch nicht aus. Der Arzt sagt, das sei eine ganz un-erklärliche und au-ßer-gewöhnliche Überempfindlichkeit. Und ob es Migräne gibt in der Familie.

Weiß nicht.

Epilepsie?

Keine Ahnung.

Ob ich Medikamente nehme?

Nein.

Was mit der Schilddrüse wäre?

Häh? Wozu ist der Mann Arzt?

Und dann der Hammer. Ob ich mal auf den Kopf gefallen …

Da bin ich dann raus. Ich will da nicht mehr hin.

Ich will nirgendwo mehr hin. Schon gar nicht auf den Schulhof. Da ist es am schlimmsten. Aber da kommt es nicht aus dem Boden. Da kommt es aus der Ecke beim Bach, wo die Jungs stehen und rauchen, obwohl das streng verboten ist. Tim dabei. Schon deshalb will ich da nicht hin.

Die Werkmeister will nicht, dass ich im Klassenzimmer bleibe in der Pause. Man müsste doch mal. Frische Luft. Ist gesund. Aber was soll sie tun? Mich gewaltsam rausschleifen zu den anderen?

Dahin, wo es am schlimmsten ist? Das mit dem Geruch?

2

Ich weiß, dass was passieren wird. Es ist schwer zu erklären – aber ich weiß es einfach. Ich rieche es. Der Geruch ist zwar überall, aber ich kann langsam unterscheiden, wo er schwächer ist und wo stärker. Wenn es still ist in meinem Kopf und ich Kraft genug habe, gehe ich durch die Straßen und versuche herauszufinden, wo es am stärksten ist. Das Kraftfeld. Das Blutfeld. Weißt du, dass es Richtung Bork weniger stark ist? Stärker wird in Selm? Ganz stark ist in Beifang? Und nicht auszuhalten auf dem Schulhof?

Wenn ich daran denke, wird mir rot vor Augen.

Vielleicht liegt was begraben unter dem Schulhof? Früher hat man was Lebendes eingemauert ins Fundament, wenn man baute. Kleine Kinder oder Katzen. Hunde. Blut eben.

Aber das ist es nicht. Nicht wirklich. Je länger ich darüber nachdenke, desto sicherer bin ich mir. Was da ist, kommt nicht von damals. Es kommt auch nicht von heute. Es kommt aus der Zukunft.

Und es ist Tim.

1

Hier an unserer Schule?

Die Werkmeister. Voll am Ventilieren. Schlägt mit den Flügeln wie ein Suppenhuhn vorm Geschlachtetwerden.

Woher willst du das wissen? Was weißt du? Wer? Wieso?

Ich, cool: Ich riech das.

Da fällt sie zusammen. Schließt die Augen und nickt und sagt: Du armes Kind, du! Das ist ja ganz, ganz schlimm! Soll ich den Arzt holen?

Den Arzt? Der hat keine Ahnung. Und tun kann der auch nichts. Aber man muss was tun. Tim riecht, jeden Tag mehr. Riecht nach Kälte und Wahnsinn. Nach Strömen von Blut. Ich sehe, wie es in den Boden rinnt. Auf dem Schulhof.

Es ist Tim, sag ich. Es ist dunkel um ihn herum und kalt und er riecht nach Blut.

Jetzt flattert die Werkmeister wieder hoch. Wie kannst du nur woher weißt du denn was unterstellst du da warum tust du das. Sag so was nie wieder, hörst du?

Guckt mich an, so mit zusammengekniffenen Augen. Schaltet auf die weiche Tour. Du bist traurig, Jenny, nicht? Weil er nicht mehr mit dir geht. Dich nicht mehr anguckt. Über dich lacht. Ist es das?

Dachte, ich sag lieber was, bevor es zu spät ist, sag ich und starre zurück.

Sie schickt mich nach Hause.

Ab sofort muss ich nicht mehr zur Schule. Mama hat einen Termin mit einem Psychologen gemacht. Sie macht sich Sorgen um mich, sagt sie. Mir egal. Ich warte.

Und heute ist es so weit. Ich geh früh los. Vom Parkweg zum Hagenplatz, die Hagenstraße entlang bis zur Brückenstraße. Ein Stückchen links die Kreisstraße hinunter. Dann rechts, am Bach entlang. Dem Geruch nach.

Im Kopf ist alles klar. Keine Stimmen oder sonst was Irres. Ich bin nicht verrückt. Ich bin völlig ruhig. Ich weiß, was geschehen wird.

0

Ich seh ihn auf dem Schulhof stehen. Schwarze Jeans und schwarzes T-Shirt, darüber ein langer schwarzer Mantel. Und das im August.

Tim. Er sieht blass aus. Er wartet.

Es schellt zur großen Pause. Alles rennt auf den Schulhof, an die frische Luft. Tim schlägt den Mantel zurück und legt die Hände auf die Hüften, wie in einem Western.

Jemand schreit. Lisa. Sie hat gesehen, was Tim unter dem Mantel hat.

„Jenny! Bleib stehn!“

Alle sind still. Alle bleiben stehn, ich nicht. Ich geh auf Tim zu, dem Geruch entgegen, immer so weiter. Und jetzt sehen alle, was Tim unter dem Mantel hat. Ihr Aufschrei klingt wie Möwengeschrei, nur lauter.

Tim hat ein Gewehr unter dem Mantel. Er holt es hervor. Er legt an. Bleib stehn, Jenny!

Der erste Schuss, der zweite.

Die Werkmeister. Recht geschieht ihr. Sie hat mir kein Wort geglaubt.

Der dritte vierte fünfte.

Tims Klassenlehrer. Der hat nie was geschnallt.

„Jenny!“

Der sechste Schuss. Einer aus der Raucherecke. Der mit dem blöden Grinsen. Der siebte achte neunte.

Schieß doch, Tim. Du hast dich auch nur über mich lustig gemacht.

Der zehnte.

Es steht knietief in diesem verdammten Kaff. Das Blut.

Der elfte.

Landlust letal

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