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II) Kindheit und Jugendzeit als Keimzellen einer späteren Angststörung

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Da oftmals auch Entwicklungen während Kindheit und Jugend als Ursachen später auftretender psychischer Störungen in Betracht gezogen werden, möchte ich zu Beginn diesen Lebensabschnitt unter dem Aspekt der Angst betrachten. In meiner Herkunftsfamilie traten keine solchen Angstzustände auf, wie ich sie als junge Erwachsene durchlitt. Eine Rückführung der Neigung zu Angstanfällen auf genetische Faktoren entbehrt eines empirischen Nachweises, wobei ein biologischer Ansatz zudem in medizinischen Studien widerlegt worden ist [4]. Ein genetisches Risiko, an einer Angstneurose zu erkranken, existiert demnach nicht oder nur bedingt.

Meine Mutter beschrieb mich als ungewöhnlich waches, bewegliches Kleinkind. Wenn alle anderen Babys im Warteraum der Mütterberatung schliefen, krabbelte ich als Einzige herum. Im Kinderwagen rappelte ich mich in eine Stehposition, um meine Umgebung zu bestaunen statt brav zu liegen und zu schlafen. Ich war gar kein ängstliches Kind, nach eigener Erinnerung nicht und auch nicht nach den Erinnerungen meiner Eltern: ich kletterte auf Bäume, streunte mit anderen Kindern den ganzen Tag draußen herum. Wir bauten Buden an einem einsamen Bahndamm, fuhren in die Nachbardörfer mit dem Fahrrad, auch noch spätabends im Dunkeln, spielten den Erwachsenen Streiche. Aufgrund der dörflichen Lage meines Elternhauses fanden wir Kinder überall verwilderte Gebüsche, wo wir uns Geister- und Versteckspiele ausdachten. Vom Kleinkind- bis zum Jugendalter begleiteten mich feste, langjährige Freundschaften sowohl innerhalb als auch außerhalb der Schule. Wir trafen uns fast jeden Tag, strolchten herum, gingen ins Kino. Unseren Familienhund liebte ich sehr. Nach dem Schulunterricht besuchte ich die Arbeitsgemeinschaften für Zeichnen und für Astronomie. Ich war ein hochbegabtes Kind, lernte mühelos, ohne Anstrengung, ohne Aufwand. Die Lehrer schickten mich oft vorzeitig aus dem Unterricht. Als ältere Schülerin arbeitete ich in den Ferien sehr gern im Schulhort als Betreuerin jüngerer Hortkinder und über viele Jahre als Hilfskraft in einer Apotheke. Wenn wir als Jugendliche mit unseren Fahrrädern auf der Brücke über dem Fluss standen und sinnierten, kamen wir immer wieder zu dem Schluss, dass wir uns nicht vorstellen konnten, jemals so wie die Erwachsenen zu werden.

Aber das Familienleben in meinem Elternhaus verlief auf eigenwillige Art disharmonisch. Meine Eltern stritten sich regelmäßig mit meiner Großmutter, die zum Teil bei uns wohnte, im Haushalt half und sich um mich kümmerte. Gern spielte ich mit ihr. Manchmal eskalierten die Streitdispute lautstark. Ich stand als Kind daneben und dazwischen. Auch am abendlichen Esstisch brach zumeist Streit aus zwischen meiner stets anwesenden Großmutter und meinen Eltern. Ein weiterer problematischer Punkt meiner Kindheit bestand darin, dass meine Mutter nach körperlichen Anstrengungen Schwächeanfälle erlitt. Wenn sie sich genügend ausruhte, verschwanden diese wieder. Als Kind empfand ich dies als bedrohlich. Die Schwächeanfälle implizierten mir, dass der Körper nur Instabilitäten barg und man ständig auf der Hut sein muss, sich nicht zu überlasten. Dadurch gewann ich kein Vertrauen in meinen Körper. Hinzu kam, dass sich meine Mutter schnell über alles Mögliche aufregte. Im Zuhause meiner Kindheit gab es selten Entspannung, sondern meistens dominierten Anspannung und Streit. Weder lernte ich Lebensfreude noch Lebensvertrauen geschweige denn Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein. Wut zu äußern blieb mir ebenfalls unmöglich. In meinem Inneren entwickelte sich eine Tendenz, jeden Ärger in mir zu vergraben statt darüber zu sprechen. Dieses Alles-Hinunterschluck-Verhalten übertrug ich später in unglücklicher Weise auf meine Partnerschaft.

Als vorbeugend gegen die pathologische Angstentstehung empfehlen Psychologen „eine Erziehungshaltung mit regelmäßiger Zuwendung, bei der nicht übertrieben beschützt oder aber zu viel erlaubt wird und bei der die Autonomie und das selbstständige Bemühen des Kindes nachhaltig gefördert werden.“ [1] Letzteres klappte in meiner Kind-Eltern-Beziehung offensichtlich nicht in der Weise, dass ich zur Selbstständigkeit heranreifte. Ich erinnere mich an unangenehme, beklemmende Gefühle, welche ich als Jugendliche empfand: diese drehten sich darum, dass ich glaubte, nur in Bezug auf meine Mutter existieren zu können. Dabei klagte sie oft über ein schlechtes Befinden, was bei mir eine stets präsente Angst bedingte. Ich weiß nicht einmal in Ansätzen, woher meine Fokussierung auf meine Mutter rührte. In Hinsicht auf meine gestörte Persönlichkeitsentwicklung während der Pubertät möchte ich meiner Mutter auch keine Schuld aufladen. Sie war und ist auch nur ein Mensch mit einer eigenen Geschichte. Als Person entfaltete sie viele sehr gute Eigenschaften wie Herzlichkeit, Großzügigkeit, Bescheidenheit und Hilfsbereitschaft.

Ich bin von meinen Eltern nicht überbehütet, wohl aber gedeckelt worden. Eine überbehütete Kindheit wird von Psychologen gern als einer der Gründe für die Anfälligkeit gegenüber Angsterkrankungen aufgezählt. Ein traumatisches Ereignis war der Tod unseres Hundes. Viele Wochen trauerte ich, sehnte mich nach seiner Wiederkehr. Doch solche schwer greif- und verstehbaren Formen der Angst, wie sie in meinem späteren Leben auftraten, kannte ich in der Kinder- und Jugendzeit auch in schwierigen Phasen nicht. Auch in der therapeutischen Psychologie setzt sich mittlerweile die Ansicht durch, dass Panik- und Agoraphobiepatienten im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung meist keine sehr belastete Kindheit erlebten [1].

In meiner Jugendzeit traten erste seelische Nöte auf. Dazu gehörten vor allem monatelang andauernde Schlafstörungen und eine mehr als drei Jahre währende schwere Form der Magersucht. Als eine der auslösenden Ursachen für diese Schwierigkeiten identifiziere ich den Verlust zweier langjähriger Schulfreundinnen und unserer gemeinsamen Zeit in der Schule wie auch in der Freizeit. Die beiden waren wesentliche Bezugspersonen für mich. Im letzten Schuljahr trennten uns unsere schulischen Leistungen, wobei ich in eine zu dieser Zeit neu eingeführte sogenannte Leistungsklasse übersiedeln musste. In den Wirren der politischen Wendezeit wurde diese Art der Schüleraufteilung anhand ihrer Schulnoten erfunden, die über neun Jahre gewachsene Klassenverbände auseinander riss. Plötzlich, von einem Tag auf den anderen, war ich in der Schule allein. Ich hatte zwar noch andere Freundinnen außerhalb der Schule, doch ersetzten sie mir nicht die einsamen, so veränderten Schulstunden. Wenige Wochen vor den Abschlussprüfungen erkrankte ich im Alter von 16 Jahren an Windpocken, wohl auch deshalb, weil mich schwere Schlafstörungen plagten, die mein Immunsystem schwächten. Dazu rollte zur selben Zeit die politische Wende über uns DDR-Bürger hinweg. Die Menschen orientierten sich am materiellen Konsum der nun verfügbaren westlichen Warenwelt. Zudem strömten sie schier entfesselt mit Flugzeugen, Bussen und Privatfahrzeugen in alle Länder der Erde. Im Umfeld meiner Herkunftsfamilie fand stets ein Wettlauf um das größte Vergnügen statt: das beste Essen, die tollsten Reisen, das meiste Geld. Bald jedoch folgten die großen Entlassungswellen aus den ehedem volkseigenen Betrieben. Auch meine Eltern schlitterten in die Arbeitslosigkeit. Die Umgebungsbedingungen wirkten also weder beruhigend noch aufbauend auf heranwachsende Jugendliche. Zu dem ringsum tosenden gesellschaftlichen Chaos gesellte sich der ungewöhnliche Umstand hinzu, dass ich kein eigenes Kinder- und Jugendzimmer besaß, sondern noch bis zu einem Alter von 18 Jahren, also auch noch, als ich die 11. und 12. Klasse des Gymnasiums absolvierte, im Schlafzimmer meiner Mutter schlief. Zu dieser Zeit besaßen einige meiner Klassenkameraden schon eine eigene Wohnung. Wenn ich abends in das kleine Zimmer zurückkehren wollte, in welchem ich mir am Tag eine eigene kleine Kinder- und Jugendwelt aufbaute, saß meine Großmutter am Schreibtisch. Sie übernachtete dort. Meine kindliche und später jugendliche Seele verkraftete dies nur schwer, zumal meine Freundinnen eigene Kinder- und später Jugendzimmer besaßen. Ganz sicher behinderte diese aus Platzmangel resultierende Lage mein Erwachsenwerden und die Entwicklung einer eigenständigen Persönlichkeit. Ich litt unter der häuslichen Enge, fand aber keinen Ausweg. Statt mich nach vorn in Richtung der Schritte zu einer jungen Frau zu orientieren, suchte ich Halt in Kindheitserinnerungen, um in der Folge in eine Magersucht zu schlittern, welche mir den kindlichen Körperbau erhalten sollte. Im Innersten wollte ich längst erwachsen werden, aber ich fand in meinem familiären Umfeld keine Akzeptanz dafür. Stattdessen fühlte ich mich nur dann geliebt und in meiner Rolle als Familienmitglied bestätigt, wenn ich das brave Kind blieb. Somit verlief meine Jugend artig und still. Ich konzentrierte mich auf Schule und Studium. Dabei brach ich nicht aus der kleinbürgerlichen familiären Enge heraus. Ich flippte nicht aus wie andere Jugendliche und revoltierte nicht gegen meine Eltern, sondern versank ganz in meinem einsamen, magersüchtigen Unglück.

Ein aktueller Spielfilm aus dem Jahr 2020 stellt die dramatische Situation einer an Magersucht erkrankten Jugendlichen und ihrer Familie dar ["Aus Haut und Knochen"; Drehbuch: Burkhardt Wunderlich, Regie: Christina Schiewe]. Als Gründe für die Manifestation einer Magersucht werden darin neben einem übersteigerten Schlankheitsideal unserer Zeit Familienverhältnisse angeprangert, die junge Menschen regelrecht erdrücken. Am Ende des Spielfilms steht die bittere Erkenntnis, dass die Eltern ihre Tochter selbst in die Krankheit stießen, bei der das Mädchen Souveränität und Selbstbewusstsein in der scheinbaren Beherrschung des eigenen Körpers anstrebte.

Magersucht (Anorexia nervosa) zählt zu den psychischen Krankheiten mit der höchsten Sterberate. Ein tödlicher Verlauf tritt bei etwa 10 bis 15 Prozent der Betroffenen auf. Todesursachen sind Unterernährung, Organversagen oder Selbstmord. Die Statistikplattform Statista [8] weist einen Anstieg stationär behandelter Anorexie-Fälle in deutschen Krankenhäusern um knapp 30 Prozent in den vergangenen zehn Jahren aus. Das Veröffentlichungsdatum dafür liegt im September 2020. Als auslösende Ursachen pubertärer Magersucht vermuten Mediziner ein geringes Selbstwertgefühl, eine perfektionistische Persönlichkeitsstruktur, eine geringe Konfliktfähigkeit sowie seelisch stark belastende Ereignisse. Im familiären Umfeld werden Probleme und Unstimmigkeiten nicht diskutiert, sondern verdrängt und tabuisiert. Darüber hinaus fehlen positive Vorbilder für ein gesundes Essverhalten. Aufgrund stark ausgeprägter elterlicher Kontrolle fällt es den Jugendlichen schwer, sich im Zuge des Erwachsenwerdens vom Elternhaus zu lösen [9].

Nach meiner Erfahrung begünstigten zwei weitere Faktoren die Entstehung der Magersucht: ein Überfluss an Lebensmitteln zum Einen und ein Mangel an Lebenssinn zum Anderen. Für einen jungen Menschen gab es keinerlei Orientierung, dafür aber tausend sinnlose Wahlmöglichkeiten, das Leben scheinbar auszukosten. Ich erinnere mich gut daran, wie mir das nur auf materiellen Wohlstand und Gewinn ausgerichtete Leben zuwider war. Der Überfluss hielt pünktlich mit der deutschen Wiedervereinigung Einzug und lehrte einem heranwachsenden Menschen nicht den Respekt vor den Nahrungsmitteln. Stattdessen gaukelten die bunten Broschüren, die nun die Regale in den Läden füllten, sowie die Vielzahl schillernder Fernsehserien ein Schlankheitsideal vor. Und selbst mein kräftig gebauter und gern und viel essender Vater ermahnte mich des Öfteren aufzupassen, dass ich nicht zu dick werde. Ich fühlte mich zu dick, obwohl ich einen ganz zarten, schlanken Körperbau besaß und nicht zum Fettansätzen neigte. Darüber hinaus fühlte ich mich ungeliebt bzw. nur geachtet und gemocht, wenn ich genügend schlank war. In der 11. und 12. Klasse magerte ich auf 35 kg ab, weshalb ich ein Befreiungsattest für den Sportunterricht erhielt. Während meiner Magersucht entwickelte ich seltsame Verhaltensweisen: sehr oft roch ich an Lebensmitteln, zum Beispiel an einer aufgeschnittenen fruchtigen Kiwi, um den weggefallenen Genuss des Essens auszugleichen. Wenn ich in der Straßenbahn von der Schule oder vom Studium nach Hause fuhr, kämpfte ich zuweilen mit einer starken Übelkeit. Dazu befiel mich ein permanenter Schluckreiz, weil ich den ganzen Tag fast nichts aß außer einer einzigen Schnitte zum Mittag oder einer Dosenkonserve Rotkraut. Zum Frühstück verzehrte ich gekochte Kohlrabistückchen oder einen im Backofen erwärmten Joghurt. Die Plastebecher schmolzen manchmal schon; wer weiß, welche Vergiftungen ich mir dadurch zuzog. Aber ich hatte jegliches Gespür für meinen Körper verloren. Meine Emotionalität fuhr gegen Null. Zum Abendbrot genehmigte ich mir einen Gemüsesalat und eine halbe Scheibe Brot mit Belag. Akribisch führte ich eine Essentabelle, worin ich jeden Apfel eintrug. Ich lebte nur, um zu lernen, und zwar unendlich viele sinnlose Fakten, mit denen man im realen Leben nichts anfangen konnte. Zwar fiel mir das Lernen in der Schule sehr leicht, weshalb ich keine große Mühe darauf verwendete, doch genügte es nicht, das Leben sinnvoll auszufüllen. Ich spazierte durch die Kaufhallen, um die Lebensmittel anzuschauen. Lange stand ich vor den Regalen und träumte vom Geschmack der Speisen. Während des Spazierengehens mit meinen Eltern sprang ich auf und nieder, um Kalorien zu verbrennen und wieder essen zu dürfen. Wenn ich langsamer lief, löffelte ich dabei in ganz ausgedehnter Weise einen kleinen, fett- und zuckerarmen Joghurt. Ich kaufte mir kalorienreduzierte Produkte aus der Diätszene, z.B. aus der `natreen`- und der `Du darfst`-Serie, worin Süßstoffe den gewöhnlichen Zucker ersetzen und ein geringer Fettgehalt enthalten war. Am meisten verzehrte ich davon Joghurts, Milchreis und Kartoffelsalat. Dabei zögerte ich den Essensvorgang lange hinaus: ich kaute sehr langsam, um den Geschmack lange zu spüren. Gegen jede Nacht mich quälenden Hunger legte ich mir eine halbe Scheibe trockenes Brot neben das Bett. Oft aß ich auch mitten in der Nacht einen kleinen Becher Milchreis. Ich fühlte mich permanent schuldig für mein Sein, für meinen nicht perfekten Körper, für meine geringe Körpergröße, sogar dafür, dass es mich gab. Das war das ganze Elend meines jungen Lebens. Meine Regelblutung blieb jahrelang aus. Meine Mutter suchte mit mir einen Frauenarzt auf, damit er mich heilte. Ich erinnere mich nur an seine Worte, dass meine Brustansätze einem Mann gefallen würden: nun schämte ich mich noch mehr, um in der Folge noch mehr zu hungern. Es folgten Drohungen und Vorwürfe seitens meiner Eltern: meine Mutter hatte ein anderes magersüchtiges Mädchen in unserer Kleinstadt gesehen, das aus einer Alkoholikerfamilie stammte. Mit drohendem Klang ihrer Stimme warnte sie mich, dass ich so enden würde wie sie, die wie ein Skelett aussieht und dann sterben würde. Meine Angst stieg, aber ich wusste nicht, wohin; ich sank noch tiefer in die Magersucht hinab. Heute frage ich mich, warum mich keiner meiner Lehrer hinsichtlich meines abgemagerten Körpers ansprach. Zur selben Zeit tobten die Wirren der politischen Wende: in der Schule ging alles drunter und drüber; ehemals staatsnahe Lehrer wurden entlassen. Da ich die Abschlussprüfungen mit 1,0 bestand, schien alles in bester Ordnung zu ruhen. Wenn ich mit meinen Eltern in eine Gaststätte einkehrte, verabschiedete ich mich nach draußen, um mich in der Wartezeit auf das bestellte Essen sportlich zu bewegen, um mir das Recht auf das Essen zu „verdienen“. In der Speisekarte wählte ich nur Rotkraut und Kartoffeln, ohne Fett, ohne Soße, oder unpaniertes mageres Seehechtfilet. Ich weiß nicht, warum ich so war, ich war 16 Jahre alt, als es begann. Noch jahrzehntelang fühlte ich mich schuldig für mein einstiges magersüchtiges Verhalten. Es entwickelte sich einfach so: nie fragte jemand danach, warum ich nicht mehr aß. Wenn ich mich in meiner späteren Partnerschaft wegen verschiedenster Umstände zuweilen nicht wohlfühlte, lud mir mein Freund sogleich die Schuld dafür auf und sagte, dass ich krank wäre. Ich wehrte mich nicht. Viel war in mir kaputt gegangen; ich verlor meine Liebesfähigkeit, meinen Halt. In der jugendlichen Magersucht nahm das ganze jahrzehntelange Leid seinen Ursprung. „Ja, ich will leben. Ich weiß aber nicht, wie`s geht“, sagte die junge Frau aus dem genannten Film. Ihre Freundin aus der Therapiegruppe starb an Organversagen. Auch ich besuchte eine Psychologin, jedoch wegen meiner Schlaflosigkeit. Ihre Behandlungsansätze halfen mir überhaupt nicht. Im späteren Verlauf meines Lebens wandelte sich meine Magersucht in eine heftige Platzangststörung, die sich auf grausame Weise ausweitete und über mehr als 20 Jahre mein Leben einschränkte. Diese Angst war wie ein Schreien in mir.

Das Schulsystem mit seinem vollgepackten Lehrplan voller lebensferner Inhalte quält Generationen Heranwachsender. In der gesamten zwölfjährigen Schulzeit lernte man ausschließlich reines Faktenwissen. Kein Lehrer, Erzieher oder Verwandter vermittelte einem Kind oder Jugendlichem den Umgang mit Gefühlen oder Sorgen und Nöten. Obwohl es durchaus möglich ist, „einem Menschen verständlich zu machen, wie er mit seinen Gefühlen umgehen kann, ohne Körper und Geist zu ruinieren“, geschieht dies viel zu selten [10]. Doch auch in der schwierigen Phase der Magersucht und der Schlafstörungen erlebte ich keine einzige Panikattacke und keinen einzigen Angstanfall. Es gibt Wissenschaftler, die einen Zusammenhang zwischen einer in der Jugend durchlittenen Magersucht und dem Auftreten von Depressionen oder Angststörungen im Erwachsenenalter vermuten [11, 12], weil das Geschlechtshormon Östrogen in der Phase der Pubertät an der Steuerung der Hirnentwicklung beteiligt ist. Im Fall einer Magersucht produziert der Körper im Vergleich zu normalgewichtigen Heranwachsenden deutlich reduzierte Östrogenmengen, weshalb sich bestimmte Hirnregionen, vor allem der Hippocampus und die Amygdala, welche bei der Ausprägung von Angststörungen eine maßgebliche Rolle spielen (s. auch Kap. I), nicht adäquat weiterentwickeln. Doch bei Weitem nicht jeder Erwachsene, der an einer Angststörung leidet, war als Jugendlicher an Magersucht erkrankt. Zudem führt die Rückerlangung eines gesunden Körpergewichts zu einer Ausreifung der genannten Hirnareale. Trotzdem vermute ich auch in meinem Fall eine Verbindung zwischen der Jahre später sich ausprägenden Angsterkrankung und der Magersuchtsepisode im Jugendalter. Eine Psychologin erklärte mir: wenn eine Art der psychischen Störung nicht behandelt und geheilt wird, tritt sie in Form einer anderen Störung wieder hervor. Als Motiv für eine Magersuchtsstörung gilt unter anderem ein Kontrollzwang über den eigenen Körper. In der von mir durchlittenen Krankheitsgenese taucht später die Angst vor Kontrollverlust wieder im Rahmen der Angststörung auf.

Die Umgewöhnung auf das Gymnasium, welches sich in der meinem Heimatort benachbarten Großstadt befand, brachte keine Besserung meiner nun deutlich ausgeprägten Magersucht herbei. Zwar schloss ich einige Freundschaften zu neuen Schulkameraden, aber die unpersönliche Atmosphäre, welche in der städtischen Schule herrschte, ließ Gefühle der Fremdheit zurück. Der vertraute Umgang aus der alten Schule, der schon in der dortigen Leistungsklasse im letzten Schuljahr verloren ging, und die Unternehmensfreude der frühen Jugendtage kehrten nicht zurück. Trotzdem empfand ich den Schulwechsel als weniger einschneidend im Vergleich zu dem erwähnten Wechsel in die seltsame Leistungsklasse. Der tägliche Schulweg, welcher mittels einer einstündigen Straßenbahnfahrt und eines halbstündigen Fußweges bewältigt werden musste, glich für mich einem Aufbruch in eine Abenteuerexkursion. Angstzustände kannte ich damals noch keine. Oftmals stieg ich irgendwo an einer Zwischenstation aus, um in den fremden Straßen der großen Stadt spazieren zu gehen. Mit der Straßenbahn fuhr ich gern. Jeden Morgen marschierte ich frohen Mutes zur Haltestelle. Es störte mich weder, wenn viele Leute darin standen, dicht an dicht gedrängt, noch, wenn der Wagen ganz menschenleer war. Zu jener Zeit dachte ich nicht im bösesten Alptraum daran, dass eines Tages sich das Straßenbahnfahren für mich zu einem unüberwindbaren Hindernis gestalten würde. An den größten und unruhigsten Haltestellen im Zentrum einer Großstadt in unmittelbarer Nähe zum Hauptbahnhof, wo Straßenbahnen hin und her brausten, Unmengen an Menschen hin und her stürzten, empfand ich nicht den leisesten Anflug von Unruhe oder gar Angst. Wenige Jahre danach sollte es mir nicht mehr möglich sein, eine solche Haltestelle auch nur kurzzeitig zu betreten.

Trotz Magersucht und schwerer Schlafstörungen verschonten mich in meiner Jugendzeit die Angstanfälle noch. Als Jugendliche unternahmen wir weite Tagesausflüge mit dem Fahrrad, schwammen in einsamen Seen, entzündeten kleine Feuer, worin wir Kartoffeln rösteten. Einmal trat ich in einem Teich, in dem wir badeten, in eine Scherbe oder eine Muschelschale, woraufhin mein Fuß ganz fürchterlich blutete. Weder Angst noch Panik befielen mich, sondern seelenruhig radelte ich mit bluttriefendem Fuß zehn Kilometer bis nach Hause. Wenige Jahre später hätte ich einen Zitteranfall bekommen, der mich gezwungen hätte, Hilfe zu suchen; jemanden, der mich nach Hause bringt. Aber es wäre gar nicht so weit gekommen, denn ich wäre schon gar nicht in der Lage gewesen, mit einer Freundin an den See zu radeln. Doch damals, vor dem Ausbruch meiner Angsterkrankung, unternahm ich auch ganz allein mehrstündige Radtouren über Land. Ich erfreute mich daran. Angst tauchte nicht auf. Allerdings hatten Magersucht und Schlaflosigkeit die Unbeschwertheit meiner Jugendphase geraubt. Ein Freund erzählte mir von seiner Abiturklassenabschlussfahrt: „Wir hätten die Welt einreißen können; so gut fühlten wir uns.“ Im Gegensatz zu seiner Aussage vegetierte ich während der Abiturzeit als halb verhungertes, schlafloses Etwas dahin. In meinem Geist regten sich weder Wünsche noch Hoffnungen oder Sehnsüchte. Von innerer Verzweiflung über meine Schlafunfähigkeit verunsichert, traute ich mir auch keine Teilnahme an Klassenfahrten mehr zu, folglich auch nicht an der Abschlussfahrt. Damit isolierte ich mich noch stärker.

Trotz allem erwarb ich zum Abschluss der Gymnasialzeit ein glänzendes Abiturzeugnis, um in der Folge in derselben Großstadt fünf Jahre lang Biologie zu studieren. Auch während dieser langen Zeit entwickelte ich keine Angststörung, nicht einmal im Ansatz. Endlich gehörte mir auch ein eigenes Zimmer im elterlichen Einfamilienhaus, weil meine Großmutter zunehmend gebrechlicher wurde. Lange noch litt ich auch als Studentin unter Schlafstörungen. In alptraumartiger Weise träumte ich davon, wie meine Großmutter in mein kleines Zimmer zurückkehrte, woraufhin ich wieder zu meiner Mutter ins Schlafzimmer umziehen musste. Meine Magersucht verschwand im Lauf des Studiums, als ich einen Freund kennenlernte. Als er mir ein belegtes Brötchen anbot, schaffte ich es, nach mehr als drei Jahren wieder unbeschwert in ein solches zu beißen. Von da an blieb ich von Essstörungen jeglicher Art verschont. Trotz des zurückkehrenden normalen Essverhaltens blieb ich eine sehr zarte, schlanke Person. Auch wenn ich zukünftig sogar ungewöhnlich viel aß, behielt ich über viele Jahre hinweg bis etwa zum Ende des dritten Lebensjahrzehnts ein leichtes Untergewicht. Die Gegenwart meines Freundes heilte mich auch von meinen Schlafstörungen. Er erfüllte für mich in jener Zeit eine ganz wichtige Funktion, denn er rettete mich aus Magersucht und Schlaflosigkeit. Später entwickelte sich die Beziehung in zum Teil ungünstiger Weise. Doch aufgrund meiner weiter bestehenden Unselbständigkeit schlitterte in eine Abhängigkeit.

Die langwierigen Straßenbahnfahrten und die Fußstrecken, die ich schon von der Gymnasialzeit gewöhnt war, dauerten an, um die Örtlichkeiten meines Studienplatzes zu erreichen. Im Lauf des Studiums stieg ich immer öfter von der Straßenbahn auf mein Fahrrad um. So legte ich täglich am Morgen und am Abend eine anderthalbstündige Fahrradstrecke zurück, bei jedem Wetter, auch im Regen und Schnee. Meine selbst ausgesuchten und ständig variierten Fahrrouten führten mich durch viele Park- und Grünanlagen, vom Zuhause zu den Universitätsgebäuden, und am Abend, oftmals auch im Dunkeln, wieder zurück. Einige große, vielbefahrene Straßen und Ampelkreuzungen waren nicht zu vermeiden, was mich aber nicht störte; damals zumindest nicht. Wenige Monate nach dem Abschluss meines fünfjährigen Studiums und der anschließenden Diplomarbeit sollten mich in der Nähe großer Straßenkreuzungen gewaltige Schwindel- und Zitteranfälle erfassen. Doch während der Studienzeit war noch alles in Ordnung. Ich liebte dieses Radfahren, fühlte mich frei und glücklich. Undenkbar erschien damals, dass sich dies je ändern könnte. In meiner studienfreien Zeit unternahm ich ausgedehnte Radtouren über die Dörfer der Umgebung, durch Felder und Wälder. Ich mochte die ausdauernde Bewegung an der frischen Luft, die Beobachtung der Natur und die Einsamkeit. Wenn ich auf Landstraßen und Feldwegen entlang radelte, schaltete ich die Gedanken aus und achtete nur noch auf meine Sinneswahrnehmungen. So schwebte ich, einem tranceartigen Zustand gleich, in völligem Einklang mit den wegsäumenden Bäumen und Sträuchern und mit mir selbst über das Land. Im Rahmen der im Lauf des Biologiestudiums zu erledigenden Studienarbeit übernahm ich die Kartierung der Pflanzenarten eines Messtischblattquadranten. Diese Aufgabe machte mir großen Spaß, denn um die mir zugeordnete Region zu kartieren, konnte ich wiederum weite Strecken mit dem Fahrrad zurücklegen, durch Wiesen, Felder und Dörfer streifen. Es gab keine Angst, kein Zittern, keine Hilflosigkeit. Ich war gern unterwegs, vor allem auch allein. In den Semesterferien unternahm ich einmal gemeinsam mit meinen Eltern eine Flugreise auf eine griechische Insel. Der Flug bereitete mir keinerlei Schwierigkeiten. Ich ahnte nichts von der zerstörerischen Platzangst, die mein freies Leben schon bald ruinieren sollte.

In größeren Pausen, die im Stundenplan die Praktika, Vorlesungen und Seminare unterbrachen, unternahm ich große Spaziergänge durch städtische Parkanlagen und durch die Innenstadt mit ihren vielbesuchten Einkaufspassagen. Ich bummelte durch die großen Kaufhäuser, probierte Sachen an, besuchte Imbiss-Gaststätten. Besonders gern spazierte ich zur Adventszeit über den Weihnachtsmarkt. Manchmal begleiteten mich andere Studenten, aber ich war auch gern allein unterwegs, um mir in Ruhe alles anzuschauen und meine Freizeit zu genießen. In den Semesterferien arbeitete ich als Hilfskraft in einer Gärtnerei und in einem chemischen Institut. Auch dorthin fuhr ich jeden Morgen eine Stunde mit dem Fahrrad und am Nachmittag wieder zurück nach Hause. Oftmals legte ich einen Umweg zu einer Kaufhalle ein oder probierte eine neue Fahrstrecke aus. Solche Aktionen, die mir gefielen und mich körperlich fit und seelisch ausgeglichen hielten, konnte ich mir wenige Jahre später wegen eines stark angeschlagenen körperlich-seelischen Zustandes nicht mehr leisten.

Das Studium gefiel mir. Obwohl man als Student einer naturwissenschaftlichen Fachrichtung ein dichtes Programm aus Laborpraktika, Vorlesungen, Seminaren und Exkursionen absolvierte und die regelmäßig stattfindenden Testate und Klausuren eine straffe, ausdauernde Lernarbeit erforderten, genoss man eine freie Lebensgestaltung. Alle Abschlussprüfungen im Studium wie auch in der vorangegangenen Schulzeit bewältigte ich, ohne dass sich Ängste oder anderweitige seelische Störungen einstellten. Auch hatte ich mit meinen Studienkameraden neue Freundschaften geschlossen: wir lernten gemeinsam und trafen uns zu vielen spannenden Freizeitunternehmungen. Es war eine gute Zeit. Von meiner künftigen Angsterkrankung ahnte ich nicht einmal eine Spur.

Als die Angst kam - als die Angst ging

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