Читать книгу Die Kirche Saint-Nicolas in Hérémence - Anne-Fanny Cotting - Страница 4

Оглавление

Das Dorf Hérémence.

Das Val des Dix und die grossen Wasserkraftprojekte

Das frühere Leben

Bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts spiegelt die einheimische Architektur des Tals die schwierigen dortigen Lebensbedingungen. Die Baumaterialien sind Holz und Stein, die man in der Nähe findet, während Sand, Kalk und Gips aus dem Rhonetal heraufgebracht werden müssen. Wohnhäuser und Kornspeicher werden mit Hilfe der Gemeinschaft unter Leitung von Zimmerleuten und Maurern errichtet. Vor dem Beginn des 20. Jahrhunderts gibt es keine Bauvorschriften: Jeder baut nach seinem Gutdünken auf dem Stück Land, das ihm gehört. Im Dorf sind die Gebäude eng ineinander verschachtelt und die schmalen Gassen schwierig zu befahren. Die Wohnhäuser weisen gewöhnlich zwei Räume auf: die Küche und den Gemeinschaftsraum, in dem die ganze Familie lebt und schläft. Da es darum geht, die Stuben im Winter ausreichend zu heizen, sind sie eng und die Fenster klein.

Bis in die 1920er Jahre sind die Kirche und das Burgerhaus die einzigen öffentlichen Gebäude von Hérémence. Das Burgerhaus wird für öffentliche Versammlungen, Abstimmungen und Vereinstreffen genutzt. Im Untergeschoss sind das Gefängnis, ein Lager und ein Archivraum untergebracht. Der Gemeindepräsident, der Richter oder der Grundbuchverwalter üben ihre Tätigkeit oft zu Hause aus, wo sie auch die amtlichen Dokumente aufbewahren. Der Schulunterricht findet ebenfalls in Privathäusern statt, bis 1913 drei Klassenzimmer eingerichtet werden. Ab 1907 herrscht Schulpflicht; der Schulkalender ist dem bäuerlichen Alltag angepasst. Von klein auf arbeiten die Kinder, Jungen wie Mädchen, mit der Familie in der Landwirtschaft mit und erwerben das nötige Sachwissen für Ackerbau, Heuen, Viehpflege, Baumfällen oder kleine Schreinerarbeiten. Nur ausnahmsweise setzt ein Junge seine Ausbildung über die obligatorische Schulzeit hinaus fort. Selbst eine Lehre ist selten, ein Handwerk erlernt sich, indem man es ausübt: «Man stahl den Beruf mit den Augen», um den schönen Ausdruck eines alten Einwohners zu zitieren. Diese Situation hält bis in die 1950er Jahre an.


Die im 18. Jahrhundert erbaute Kirche, die 1946 durch ein Er beben schwer beschädigt wurde.

Die Pfarrei, die dem Gemeindegebiet entspricht, umfasst weitere kleine Ortschaften: Ayer, Euseigne, Mâche, Prolin, Cerise und Riod. Jeder Weiler hat seine Kapelle und seine Schule, da sie bis vor Kurzem häufig durch Lawinen und Erdrutsche vom Hauptort abgeschnitten wurden. Die Kirche von Hérémence ist das Zentrum des geistlichen Lebens der Pfarrei: In ihr werden Sonntagshochamt, Feste, wichtige Zeremonien und Totenämter gefeiert.

Der Bau der ersten Dixence-Staumauer

Durch den Bau der ersten Dixence-Staumauer (1929–1935) und jenen der Grande Dixence (1951–1965) wird das Leben der Talbewohner tiefgreifend verändert. 1922 nimmt die Gesellschaft Energie Ouest Suisse (EOS) ihre Tätigkeit im Wallis auf. Ihr Zweck ist die Erzeugung von Elektrizität, deren Bedarf seit Beginn des Jahrhunderts durch die Elektrifizierung der städtischen Zentren exponentiell gestiegen ist. Die Schweiz nutzt die Wasserkraft der vielen Gletscherbäche in grossem Umfang. Das Val des Dix gehört zu den für den Bau des ersten Dixence-Stausees ausgewählten Standorten.

Der Bau wirkt sich positiv auf das Tal aus. Die neue Fahrstrasse von Vex nach Motôt ermöglicht ab 1932 einen regelmässigen Postbusverkehr und erleichtert die Anreise der italienischen und deutschen Saisonarbeiter. Die Erschliessung des Tals und die finanziellen Erträge durch die vom Kraftwerk Chandoline erzeugten Einkünfte führen zu ersten wichtigen Veränderungen im Dorf. Die Gemeindebehörden unternehmen grosse Anstrengungen, um die Strassen und das Dorf zu sanieren und die Bewohner zu überzeugen, bestimmte Gebäude umzubauen oder abzureissen oder aber in die neuen Quartiere am Dorfrand zu ziehen. Aus gesundheitlichen Gründen wird ein landwirtschaftliches Quartier ausserhalb des Dorfs geschaffen. Schliesslich erhält Hérémence ein neues öffentliches Gebäude, in das eine Hauswirtschaftsschule und die Gemeindeverwaltung einziehen.


Der Bau der ersten Dixence-Staumauer zwischen 1929 und 1935.

Die Grande-Dixence

Nach dem Zweiten Weltkrieg wird eine neue Konzession für den Bau einer zweiten, noch gewaltigeren Staumauer erteilt: der Grande-Dixence. Die Arbeiten beginnen 1951 und dauern bis 1961, gefolgt von vier Jahren, in denen die Infrastrukturen rückgebaut und das Gelände saniert wird. Die von der Grande-Dixence SA gezahlten Steuern und Abgaben nehmen zu mit der Erhöhung der Kapazität des Stausees, so dass die Umgestaltung der Taldörfer und die Sanierungsarbeiten fortgesetzt werden können. In Hérémence werden in den 1950er und 1960er Jahren ein Trinkwassernetz, neue Alpwege, eine zentrale Molkerei sowie ein Gebäude für die Gemeindedienste und die Primar- und Sekundarschule errichtet. Um den für diese Bauten benötigten Platz zu schaffen, werden weitere Häuser abgerissen. Übte die erste Staumauer einen deutlichen Einfluss auf die Dorfgestalt aus, so verändert die zweite die Dorfgemeinschaft und ihre Lebensweise grundlegend. Zahlreiche Männer des Val des Dix arbeiten über mehr oder weniger lange Perioden hinweg am Bau des Betonmonsters. Zunächst sind die Arbeiter in spartanischen Baracken untergebracht, die bald durch ein Gebäude ersetzt werden, das von seinen Bewohnern liebevoll das «Ritz» genannt wird. Es bietet Platz für fast 450 Arbeiter, die ihre Freizeit dank Fussballplatz, Kino, Bibliothek, Turnhalle und Blasmusikkonzerten vielfältig gestalten können. Ein solcher Komfort und dieses Unterhaltungsangebot sind neu für die einheimischen Arbeiter, die schnell Gefallen daran finden. Die Jüngeren werden auf der Baustelle ermutigt, eine Lehre zu machen, entweder vor Ort per Fernunterricht oder in den Berufsschulen im Rhonetal. Zum ersten Mal erhalten die Männer einen regelmässigen Lohn, der ihnen erlaubt, sich ein Leben vorzustellen, das anders als das ihrer Vorfahren ist. Auch wenn nach der Fertigstellung der Talsperre viele Familien aus Verbundenheit zu ihren Wurzeln weiterhin Landwirtschaft betreiben, gehen Ackerbau und Viehzucht stark zurück: 1940 sind 76,6% der werktätigen Bevölkerung der Gemeinde in der Landwirtschaft beschäftigt, 1960 nur noch 29,7%. Um die Landflucht zu begrenzen, die mit den neuen Berufsqualifikationen der Männer im arbeitsfähigen Alter einhergeht, fördern die Gemeindebehörden die Ansiedlung von zwei Fabriken, die sie beschäftigen können: die SODECO und die EAB (Elektro-Apparatebau), die bereits 1970 ihren Betrieb einstellen muss. Trotz einer Diversifizierung der Gewerbearten mit der Entwicklung des Tourismus im benachbarten Ferienort Thyon sieht sich die Gemeinde ab den 1970er Jahren mit einer fortschreitenden Entvölkerung konfrontiert.


Die von 1951 bis 1965 erbaute Grande-Dixence-Staumauer, im Vordergrund das liebevoll «Ritz» genannte Arbeiterwohngebäude.

Wer in Hérémence bleibt, spürt einen Wind der Modernisierung durch die Wohnungen wehen. Der Staumauerbau führt dazu, dass sich junge Männer aus dem Tal in allen möglichen Berufen ausbilden können, die in der Region unbekannt sind, wie zum Beispiel Fliesenleger und Heizungsbauer. Die Materialien werden leicht von Sitten heraufgebracht. Vor allem aber verdienen die Familien jetzt Geld, dank dem sie diese Handwerker zum Um- und Ausbau ihrer Häuser anstellen und ihre Wohnungen mit allem modernen Komfort ausstatten können: «In Hérémence konnte man vor der Staumauer die Badezimmer an den Fingern einer Hand abzählen, nach dem Bau zählte man die Häuser, die keines hatten.»


Ansicht des Tals und des Dorfs Hérémence mit seiner Kirche im Zentrum.

Auch heute noch hat das Dorf trotz der drastischen Sanierungskampagnen und Hausumbauten seinen Charme bewahrt und verfügt über zahlreiche gut erhaltene alte Gebäude. Vor dem Besuch der Kirche kann man durch die engen Gassen des Dorfs schlendern und sich das Musée multi-sites anschauen, das ein Heimatmuseum, ein traditionelles Wohnhaus, die Schmiede, die Kelter und die Mühle umfasst. Dieser Streifzug verdeutlicht, wie entschieden sich das Val d’Hérens in nur wenigen Jahrzehnten der Moderne zugewandt hat, und wie visionär die Einwohner von Hérémence und ihr Pfarrer waren, als sie für ihre neue Kirche ein so avantgardistisches Projekt wie das von Walter Maria Förderer unterstützten.

Die Kirche Saint-Nicolas in Hérémence

Подняться наверх