Читать книгу Im Sinne der Gerechtigkeit - Anne Gold - Страница 7

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Kommissär Francesco Ferrari schaute aus dem Fenster seines Büros in den Innenhof. Seit Wochen ist es unheimlich ruhig. Nicht nur bei uns. Anscheinend geniessen sämtliche Mörder, Diebe und Räuber den extrem schönen und unverhältnismässig warmen Frühling. Ich kann mich nicht an eine solche Hitzeperiode im April erinnern, was natürlich wiederum alle Klimaaktivisten auf den Plan ruft. Die Erwärmung ist ein untrügliches Zeichen für die Veränderung des Klimas. Sobald die ersten Küstengegenden überflutet und unbewohnbar werden, setzt die nächste grosse Völkerwanderung ein. Der Mensch zerstört wissentlich seinen Lebensraum. Alle sind sich dessen bewusst, aber nur wenige tun etwas dagegen. Die Politik versagt total und verharrt in ihren veralteten Mustern, während die Klimaaktivisten demonstrieren, aber auch keine Lösung in der Tasche haben. Die Uhr tickt. Nach wie vor leben wir hier in der Schweiz im Paradies. Keine grossen Umweltkatastrophen, keine Terroristen, nur ab und zu ein Tötungsdelikt.

«Auf ein Wort, Ferrari.»

«Treten Sie ein, Herr Staatsanwalt. Hoffentlich mit guten Nachrichten.»

«Was für die einen gut ist, ist für andere negativ.»

«Also kein Mord? Schade.»

«Doch, es gibt einen, aber der Mörder wurde sozusagen in flagranti erwischt.»

«Was verschafft mir dann die Ehre Ihres Besuchs?»

«Kennen Sie einen Fabian Nader?»

«Nader? Nein, der Name sagt mir nichts. Wer ist das?»

«Der Mörder. Man fand die Tatwaffe bei ihm und er wurde verhaftet.»

«Behauptet er, dass er mich kennt?»

«Nein, nein. Ich dachte nur … Dann will ich Sie nicht länger stören.»

«Wie siehts mit der unheimlichen Mordserie aus?»

«Erinnern Sie mich nicht daran. Ich verfluche die Woche, als alles begann.»

«Wieso?»

«Ausgerechnet da waren Sie und Andrea Christ gemeinsam im Urlaub.»

«Gfeller und Imbach sind gute Ermittler.»

«Pah! Vier Morde und noch immer keine Spur.»

«Ich habe mir die Akten angeschaut. Es gibt keinerlei Verbindungen zwischen den Opfern, ein Serienmörder ist eher unwahrscheinlich. Man müsste die Fälle einzeln verfolgen.»

«Es gibt sehr wohl einen Zusammenhang.»

«Jetzt bin ich aber gespannt, was Kommissär Jakob Borer ermittelt hat.»

«Ich auch. Guten Morgen zusammen», gut gelaunt trat Nadine Kupfer, Ferraris Assistentin, ins Büro.

«Guten Morgen, Frau Kupfer. Alle Opfer wurden mit der gleichen Pistole erschossen.»

«Richtig. Mit einer alten Militärpistole.»

«Einer Parabellum 1900.»

«Was ist denn das?»

«Diese Pistole wurde von 1900 bis etwa 1948 als Ordonnanzpistole der Schweizer Armee abgegeben. Es ist ein Rückstosslader mit Kniegelenkverschluss und längst nicht mehr im Gebrauch.»

«Und mit solch einer Waffe wurden die vier ermordet?»

«Exakt. Alle durch einen Kopfschuss, eine richtiggehende Hinrichtung.»

«Nur gibt es keine Verbindung zwischen den Opfern. Der Mörder schlägt unverhofft und ohne System zu.»

«Vier Mal in den letzten zwölf Monaten. Ich wundere mich, dass sich die Medien noch nicht auf diesen Fall gestürzt haben. Gfeller und Imbach sind in einer Sackgasse gelandet. In welchem Fall ermitteln Sie im Moment?»

«Kommt nicht infrage. Wie gesagt, die beiden sind gut.»

«Also in keinem. Ich könnte mir vorstellen, dass Gfeller und Imbach nicht unglücklich wären, wenn sie den Fall abgeben könnten.»

«Nein.»

«Das bestimme immer noch ich. Sie lechzen geradezu nach einer Herausforderung und sie liegt vor Ihrer Nase. Also schnüffeln Sie daran.»

«Wie ein Trüffelschwein.»

«Ein guter Vergleich, Frau Kupfer. Nehmen Sie die Fährte auf. Selbstverständlich rede ich mit den beiden Kollegen. Ich werde sie davon überzeugen, dass ein neuer Wind notwendig ist. Vermutlich renne ich offene Türen ein. Im Vertrauen – Gfeller denkt daran, frühzeitig in den Ruhestand zu treten. Ich bin überzeugt, dass es mit diesem Fall zusammenhängt. Der belastet ihn stark … Eine hervorragende Idee. Warum bin ich nicht längst darauf gekommen. Dann will ich mal.»

«Weiss er es schon?», fragte Nadine.

«Nein. Er kennt ihn nicht einmal und das ist gut so. Sonst mischt ihr euch nur wieder ein. Der Fall ist gelöst.»

«Kann mich jemand aufklären, worüber ihr euch unterhaltet?», fragte der Kommissär.

«Fabian Nader wurde wegen Mordes verhaftet.»

«Das weiss ich. Er wurde in flagranti erwischt.»

«Wer sagt das?»

«Unser Staatsanwalt.»

«Das ist so nicht ganz richtig. Man fand bei ihm lediglich eine Pistole, die vermutlich die Tatwaffe ist. Beweise, die Nader des Mordes überführen, gibt es nicht.»

«Noch nicht. Letztlich wird man feststellen, dass es seine Pistole war. Sie sind gut informiert, Frau Kupfer.»

«Moment mal. Jetzt will ich es genauer wissen. Wer ist Fabian Nader?»

«Der Schwiegersohn von Hotz.»

«Von Mark Hotz?»

«Ja.»

Ferrari erhob sich und schritt zur Tür.

«Wohin wollen Sie?»

«Mit Mark reden und anschliessend mit seinem Schwiegersohn.»

«Das war zu befürchten. Sie sind imstande und zaubern einen anderen Täter aus dem Hut, nur um Ihre Freunde zu schützen. Sie sind wie Dr. Jekyll und Mr. Hyde, bewegen sich sowohl unter Milliardärinnen als auch unter dubiosen Gestalten. Bei diesem Mord handelt es sich bestimmt um einen Racheakt, der Schwiegersohn führt nur die Anweisungen des Paten aus. Aber jetzt sind die Typen zu weit gegangen. Wir werden den Sumpf trockenlegen. Dass Sie das alles mitmachen, kann ich nicht nachvollziehen, Frau Kupfer.»

«Die Unterwelt turnt mich an.»

«So genau wollte ich es nicht wissen. Machen wir einen Deal, Ferrari?»

«Und wie sieht der aus?»

«Ich gebe Ihnen achtundvierzig Stunden Zeit, im Fall Nader zu ermitteln. «48 Hrs.» – wie in der Komödie mit Nick Nolte und Eddie Murphy. Im Gegenzug entlasten Sie Gfeller und Imbach.»

«Was hältst du davon?»

«Ein fairer Deal.»

«Gut, die Abmachung gilt.»

«Sie können sich übrigens den Weg zu Hotz’ Schuppen sparen. Er ist im Gellert zu Hause, da wohnt anscheinend die ganze Familie.»

Ferrari sah sich den Zettel mit der Adresse an und zerknüllte ihn.

«Wir wissen, wo Mark wohnt.»

«Selbstverständlich. Das hätte ich mir denken können. Ich wusste, dass Sie sich nicht davon abbringen lassen. Sie können also zwei Tage ermitteln, werden keine neuen Erkenntnisse gewinnen und sich anschliessend dem Serienmordfall widmen, der mir laufend unangenehme Fragen einbringt. Eine wunderbare Win-win-Situation.»

«Und wenn wir im Fall unserer Kollegen auch nichts erreichen?»

«Dann, liebste Frau Kupfer, ist mein bestes Team gescheitert. Die Regierung wird das zur Kenntnis nehmen, und wir legen die Akten zu den ungelösten Fällen. Danach kann ich wieder ruhig schlafen, weil mir kein Regierungsrat mehr im Nacken sitzt. Worauf warten Sie, Ferrari, die Uhr tickt. Es sind nur noch … siebenundvierzig Stunden und vierzig Minuten bis High Noon.»

Auf der Fahrt ins Gellert dachte Ferrari an den Fall, in dem Mark Hotz eine tragende Rolle gespielt hatte. Damals, vor beinahe zehn Jahren, wurde die Enkelin von Staatsanwalt Borer entführt. Im Laufe der Ermittlungen lernten sie den Milieukönig Mark Hotz und seinen Freund Chris Habegger kennen, die ihnen entscheidende Hinweise zur Aufklärung des Falles lieferten. Und so entstand eine Freundschaft, was nicht allen im Kommissariat gefiel. Wie so oft nahm Ferrari das einfach zur Kenntnis. Gegen Gerüchte kommt man sowieso nicht an. Was solls. Die Leute sollen doch reden, was sie wollen. Nadine und ich haben schon einiges zusammen erlebt und die verrücktesten Fälle gelöst. Wir sind ein super Team. Unschlagbar. Sie ist prädestiniert für den Posten als Kommissärin, genauso wie Andrea Christ es bereits ist. Sogar noch eine Spur mehr. Verstohlen schaute er seine Kollegin von der Seite an.

«Nein, danke. Wenn du in Pension gehst, quittiere ich den Dienst. Dann übernehme ich Yvos Architekturbüro, er hat eh fast keine Zeit für das Administrative, und nerve ihn den ganzen Tag, weil er zu viele Spesen macht.»

«Du wärst eine super Kommissärin.»

«Ich will aber nicht. Ich bin eine sehr gute Nummer zwei und damit mehr als zufrieden. Und komm mir ja nicht mit mangelndem Ehrgeiz, dann läufst du ins Gellert.»

«Aber …»

«Ende der Diskussion. Einige Jährchen wirst du mir schon noch erhalten bleiben, bevor uns ein jüngeres Team abgelöst. Andrea und ihr Muskelmann stehen in der Startposition.»

«Daniel besteht nicht nur aus Muskeln.»

«Er erinnert mich ein wenig an dich, als ich bei dir anfing. Da ging oft die Post ab.»

«Es gab auch die eine oder andere Szene, wo ich dich ruhigstellen musste.»

«Stimmt.»

Nadine fuhr in einen Hof und parkierte ihren Porsche neben einem silbernen SUV. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis ein junger Mann im schwarzen Anzug neben dem Wagen stand. Nadine stieg aus und lächelte ihn zuckersüss an.

«Hier können Sie nicht parkieren. Das ist Privatareal. Sehen Sie das nicht?!»

«Ich darf das.»

Nadine drückte sich an dem jungen Mann vorbei und klopfte gegen eine Tür, während sich Ferrari umsah. Nicht schlecht. Mark liess von Yvo einen Quader mit sechs Häusern erstellen. Für jede seiner Töchter eines, das fünfte für sich und seine Frau und das sechste vermutlich als Gästehaus. Eine imposante Überbauung mit einem kleinen Privatpark und das mitten in der Stadt.

«Mein Name ist Ferrari, Francesco Ferrari», stellte sich der Kommissär vor und verhinderte so, dass der Jüngling hinter Nadine herrannte.

«Sie sind der Kommissär? Sorry, ich habe Sie mir ganz anders vorgestellt.»

«Sportlich, muskulös wie Sie und mit einer Pistole im Halfter?»

«Einfach anders.»

Mark Hotz trat aus dem Haus und umarmte Nadine.

«Ein seltener Besuch», wandte er sich an Ferrari.

«Es liegt halt nicht auf meinem Heimweg nach Birsfelden.»

«Du hast es gehört?»

«Ja, deswegen sind wir hier.»

«Maria bat mich, dich anzurufen, doch …»

«Du hättest den Rat deiner Frau befolgen sollen.»

«Ich wusste nicht, ob du kommen würdest. Leonie sitzt im Wohnzimmer, sie lässt sich nicht beruhigen.»

«Ist sie mit Fabian Nader verheiratet?»

«Seit zwei Jahren. Sie erwarten ihr erstes Kind.»

«Mark, so, wie uns der Staatsanwalt die Situation geschildert hat, ist der Fall eindeutig. Borer gibt uns trotzdem zwei Tage Zeit, keine Minute mehr. Erzähl uns, was passiert ist. Danach reden wir mit Nader. Aber bitte, erwarte keine Wunder.»

«Ich erwarte gar nichts. Dass ihr hier seid, übertrifft schon alles. Du kennst Jake noch nicht, er ist einer meiner Geschäftsführer.» Er winkte einen dreissig-jährigen, dunkelhaarigen Mann heran. Etwa einsneunzig gross, schätzte der Kommissär.

«Du hast dein Königreich in den letzten Jahren stark ausgebaut.»

«Das Vergnügen boomt. Die Leute haben immer mehr Freizeit. Sogar die Arbeitslosen besitzen genügend Kohle, um sich in einem meiner Schuppen zu amüsieren. Jake, das ist Kommissär Francesco Ferrari und die hübsche Braut, die ins Haus abgezischt ist, heisst Nadine. Wenn Francesco etwas verlangt, besorg es ihm. Ohne Diskussion. Egal, was er will.»

«Verstanden, Boss.»

«So, lasst uns reingehen.»

Nadine unterhielt sich bereits mit Leonie und Marks Freund Chris Habegger, der den Kommissär mit einer herzlichen Umarmung begrüsste.

«Und keinen Hotz Spezial für meinen Chef, nur einen Kaffee. Er trinkt keinen Alkohol mehr.»

«Zwischen euch hat sich nichts geändert. Höchstens, dass Nadine noch dominanter ist.»

«Das scheint nur so. Du bist Leonie, freut mich, dich kennenzulernen», wandte sich Ferrari an die zierliche Frau, die sich schwerfällig erhob. «Bleib doch sitzen. Im wievielten Monat bist du?»

«Im achten. Danke, dass ihr gekommen seid.»

Der Kommissär setzte sich zu ihr.

«Kannst du mir etwas über den Tathergang erzählen?»

«Es geschah im Büro von Fabian …»

Erst jetzt fiel Ferrari ein, dass er rein gar nichts über den Fall wusste, nicht einmal den Namen des Opfers.

«… aber das Opfer wurde beim Hammering Man am Aeschenplatz gefunden.»

«Fabians Büro befindet sich in der Langen Gasse», ergänzte Hotz.

«Das ist ein Stück weg vom Aeschenplatz. Nader gab zu Protokoll, dass das Opfer, ein Damian Schoch, ihn in der Kanzlei besuchte, wo es zum Streit kam. Als Schoch auf Nader losging, setzte er sich zur Wehr und schoss auf den Angreifer.»

«Jetzt einmal von Anfang an. Was ist dein Mann von Beruf?»

«Anwalt.»

«Er arbeitet praktisch nur für uns.»

«Und wer ist Schoch?»

«Eine ganz fiese Sau. Er schuldet uns eine Million. Es war dumm von Fabian, ihn zu killen.»

«Wie meinst du das, Chris?»

«Der stand ganz oben auf meiner Liste und hundertpro nicht nur auf meiner. Frag deinen Freund Rakic. Dem schuldet er noch bedeutend mehr Kohle.»

«Rakic? Ich kenne einen Rakic vom FCB her, der sitzt immer am Tisch nebenan. Ein biederes Männchen.»

«Das ist er. Ein fanatischer Fan. Er wollte vor Jahren bei deinem Club einsteigen.»

«Bevor ihr euch über den FC Basel unterhaltet, wieso schuldet er euch so viel Geld?»

«Wir wollten in Allschwil ein grosses Areal übernehmen, doch der Inhaber stellte sich quer. Schoch war ein guter Freund des Besitzers und so schmierten wir ihn.»

«Mit einer Million?»

«Ja, Rakic gab ihm anderthalb. Dieses Arschloch linkte uns eiskalt. Er dachte keine Sekunde daran, uns das Areal zuzuhalten, sondern versuchte, es sich selbst unter den Nagel zu reissen. Ohne Erfolg.»

«Mit eurem Geld.»

«Extrem dumm und total naiv von uns. Fabian verklagte ihn sofort, aber es war nichts zu holen. Angeblich verspielte er das Geld. Vor Gericht kam heraus, dass er auch bei anderen abkassiert hatte. Darunter waren mehrere Stiftungen und eine Pensionskasse. Der Prozess wurde wegen Befangenheit vertagt, weil der zuständige Richter mit der Präsidentin einer der involvierten Stiftungen liiert ist.»

«Ihr wart alle eine Spur zu gierig.»

«Dein Partner ist ein Wonneproppen, Nadine.»

«Deshalb bin ich so gerne mit ihm zusammen, Chris. Weshalb liegt Schoch nicht im Rechen von Kembs?»

«Weil wir unsere Kohle zurückwollen, Tote bezahlen ihre Schulden nicht.»

«Und wie wolltet ihr das anstellen?»

«Fabian wies ihn auf die Konsequenzen hin, falls er unsere Million nicht rausrückt.»

«Schön formuliert. Und dabei kam es zum Streit.»

«Wie würdest du Schoch charakterisieren?»

«Unberechenbar, ein Spieler und ein Kokser.»

«Auf so einen lasst ihr euch ein?», fragte der Kommissär erstaunt.

«Schoch wirkte überzeugend und wir sind beim Besitzer einfach nicht weitergekommen Wir hätten nicht im Traum daran gedacht, dass er sein eigenes Süppchen kocht. Er wusste schliesslich, mit wem er sich anlegt.»

«Mit uns ist nicht zu spassen.»

«Aber ihr wusstet nicht, dass Fabian eure Arbeit erledigt, Chris.»

«Nein. Das war dumm von ihm. Was kriegt er?»

«Einige Jahre.»

«Könnt ihr etwas für ihn tun?»

«Wir werden sehen. Er soll uns zuerst einmal erklären, wie es dazu kam.»

Mark begleitete den Kommissär und Nadine nach draussen.

«Verdammte Scheisse. Meine Kleine ist vollkommen durch den Wind. Hoffentlich kommt es zu keiner Fehlgeburt.»

«Mark, gibt es noch etwas, das wir wissen müssen?»

«Du kannst wohl Gedanken lesen. Genau deshalb wollte ich euch noch kurz unter sechs Augen sprechen. Ihr wisst, dass ich vier Töchter habe, oder?»

«Klar, sie sind dein ganzer Stolz.»

«Drei von ihnen. Michele tanzt aus der Reihe, sie befindet sich momentan in einer Entziehungskur in Davos. Vermutlich kommt sie ganz nach mir. Verdammt noch mal, ich wollte meine Familie immer aus dem Dreck raushalten. Das ist mir auch gelungen, bis auf Michele. Sie sollte mal meine Geschäfte übernehmen, doch sie ist zu weich. Leider ist mir dies zu spät klar geworden.»

«Warum erzählst du uns das?»

«Michele war kurz mit Schoch zusammen, sie koksten beide masslos. Als ich es bemerkte, schob ich dem Ganzen einen Riegel vor. Die Familie weiss nichts von der Affäre.»

«Und Fabian?»

«Der schon gar nicht. Er ist vollkommen seriös, leidet unter meinen Geschäften und versucht, sich so gut wie möglich aus allem rauszuhalten. Leonie liebt ihn wirklich. Glaubt ihr, dass er freikommt?»

«Das sagen wir dir, wenn wir uns näher mit dem Fall befasst haben.»

«Ich rechne mit einer Verurteilung. Vielleicht gibt es mildernde Umstände. Wenn er zwei, drei Jahre kriegt, lässt sich das verkraften. Nur nicht lebenslänglich.»

«Wir strengen uns an, Mark. Aber versprechen können wir nichts.»

«Dass ihr euch meinem Schwiegersohn annehmt, ist mehr, als ich erwarten durfte. Jetzt weiss ich, dass sein Schicksal in den richtigen Händen liegt. Noch etwas: Sollte er lebenslänglich bekommen, hat das keinen Einfluss auf unsere Freundschaft. Damit das klar ist.»

«Danke. Wir melden uns morgen.»

«Kommt am besten in meinen Schuppen. Ein Hotz Spezial wartet auf dich, Francesco, und ein Cappuccino auf dich, meine Schöne.»

Nadine fuhr langsam auf die Strasse.

«Ein guter Anwalt plädiert auf Notwehr. Schoch greift Nader an, der zum eigenen Schutz eine Pistole zückt. Es kommt zu einem Gerangel und dabei geht ein Schuss los. Wann ist es eigentlich passiert?»

«Wenn du nicht so hirnlos davongestürmt wärst, müsstest du keine solchen Fragen stellen.»

«Ja, ja. Also, wann?»

«Gestern Abend.»

«Ach so. Ich dachte, heute Morgen.»

«Um elf.»

«Was? Nachts um elf?»

«Genau.»

«Um diese Zeit ist ein Ehemann doch bei seiner Frau. Vor allem, wenn sie hochschwanger ist. Was weisst du sonst noch?»

«Schwer verletzt schleppte sich Schoch zum Aeschenplatz.»

«Er musste durch die St. Jakobs-Strasse. Ist ihm dort niemand begegnet?»

«Anscheinend nicht. Um elf sind auch dort nicht viele Leute unterwegs, höchstens mit dem Tram. Er brach vor dem Hammering Man zusammen, wo ihn eine Frau schliesslich fand. Sie rief sofort die Notrufzentrale an.»

«Wie kamen die Kollegen darauf, dass Fabian Nader der Täter ist?»

«Schoch lebte noch und stammelte kurz vor der OP seinen Namen. Die Kollegen reagierten postwendend und fuhren mit einem Grossaufgebot zu Marks Burg.»

«Das sieht tatsächlich wie eine Burg aus. Von allen Seiten abgeriegelt, man kommt nur durch die Einfahrt rein. Erlag Schoch seinen schweren Verletzungen?»

«Ja. Er war zu schwach und starb noch auf dem Operationstisch.»

«Wenn Fabian wirklich der Täter ist, weshalb liess er dann die Tatwaffe nicht verschwinden?»

«Eine gute Frage.»

«Ganz schön dumm von ihm. Trotzdem, es kann Notwehr gewesen sein.»

«Davon wirst nicht einmal du einen Richter überzeugen.»

«Wieso?»

«Schoch wurde von hinten erschossen.»

«Hm! … Fahren wir zuerst zu Peter. Vielleicht gibts schon erste Resultate.»

Gerichtsmediziner Peter Strub sass neben der Leiche, ass ein Sandwich und schlürfte eine Tasse Kaffee. Offensichtlich machte er eine Pause.

«Auch einen Kaffee?»

«Nein, danke. Können wir uns in deinem Büro unterhalten?», fragte Ferrari, der sich sichtlich unwohl fühlte.

«Keine Sorge, wir sind unter uns. Dieser Schoch ist mausetot, toter geht nicht mehr. Ich dachte mir schon, dass ihr reinschneit. Schliesslich ist der Mörder ein Freund eines eurer Freunde. Allerdings bewegt ihr euch da in einer zwielichtigen Gesellschaftsschicht. Man könnte sagen, der Pate ruft und sein Lakai erledigt die Drecksarbeit.»

«Wenn du nicht in einer deiner Kühlkammern landen willst, solltest du dich ein wenig zurückhalten.»

«Deine Reaktion sagt alles, Francesco.»

«Du kannst dir weitere Beleidigungen sparen.» Strub blickte irritiert zu Nadine. «Ich meine es ernst. Dein Spruch ist vollkommen daneben, Francesco arbeitet sehr seriös. Und übrigens, Mark ist auch mein Freund. Ich stehe sogar auf seiner Lohnliste. Was glaubst du, wer mein Luxusleben samt Porsche finanziert?»

«Mann, heute seid ihr beiden aber besonders empfindlich. Ich darf doch wohl noch einen Scherz machen.»

«Schlechter Joke. Was kannst du uns zu dem Toten sagen?»

«Noch nicht sehr viel. Er hatte Kokain im Blut und wurde von hinten erschossen. Ich vermute, dass er sich beim ersten Schuss abgewendet hat. Die Kugel drang hier auf dieser Seite ein», Strub legte den Leichnam frei und deutete auf ein Einschussloch. «Die Kugel blieb stecken, vermutlich handelt es sich um eine 9mm-Waffe. Dieser Schuss war nicht tödlich.»

«Gibt es ein zweites Einschussloch?»

«Ja, unterhalb des Herzens. Der Mann scheint trotz des Koks ziemlich in Form gewesen zu sein, sonst hätte er sich mit dieser schweren Verletzung nicht noch einige Hundert Meter bis zum Hammering Man schleppen können. Die Ärzte operierten ihn sofort, doch er war zu schwach. Mich erstaunt, dass er überhaupt noch bei Bewusstsein war, als er ins Unispital eingeliefert wurde. Ach ja, die zweite Kugel haben wir nicht gefunden. Es war ein klarer Durchschuss.»

«Die liegt bestimmt im Büro von Nader.»

«Nein, dort haben wir nichts gefunden. Vermutlich ist Nader ihm nachgerannt und hat nochmals auf ihn geschossen. Das kann auch auf der Strasse gewesen sein. Die Kugel ist nirgends auffindbar … Wo ist eigentlich Francesco?»

«Eine gute Frage.»

Der Kommissär sass bleich, mit einem Papiertaschentuch vor dem Mund im Büro des Gerichtsmediziners.

«Du kotzt mir aber nicht mein Büro voll», mahnte Strub.

«Es … es geht schon wieder.»

«Lass ihm einen Kaffee raus, Nadine. Nimm am besten zwei der schwarzen Kapseln … Du bist und bleibst ein Weichei! Das war noch gar nichts. Wenn du noch eine halbe Stunde bleibst, kannst du zusehen, wie wir ihn aufschneiden.»

Das war des Guten zu viel. Ferrari schoss hoch und rannte aus dem Büro in Richtung Toilette.

«Wo ist denn Francesco?», fragte Nadine verwundert mit einem Pappbecher Kaffee in der Hand.

«Er musste kurz austreten. Es ist jedes Mal kurzweilig mit euch, ihr solltet öfters bei mir reinschauen.»

«Das hättest du wohl gerne.»

«Du solltest nach ihm sehen. Und sag ihm, dass er immer herzlich willkommen ist. Soll ich dir morgen den Abschlussbericht bringen?»

«Wenn es keine neuen Erkenntnisse gibt, kannst du ihn Borer auf den Tisch legen.»

«Gut, mach ich. Dieser Nader wird mit einer satten Strafe rechnen müssen. Das war Totschlag. Falls Borer die Anklage übernimmt, wird er vermutlich sogar auf Mord plädieren.»

Der Kommissär wartete draussen. Nach über dreissig Jahren konnte er noch immer keine Leichen sehen. Schon allein der Geruch in der Pathologie trieb ihm den Schweiss auf die Stirn.

«Das war aber harmlos.»

«Allein beim Gedanken, dass er ihn aufschneidet und dann wieder zusammenflickt, wurde mir schlecht.»

«Du hättest Peters Grinsen sehen sollen. Er wird seine Spässchen in Zukunft rund um seine Toten machen. Da kann er dich am besten vorführen.»

«Pervers, schlicht pervers. Den ganzen Tag schnippelt er an leblosen Körpern herum.»

«Ich sage es ungern, aber das Obduzieren ist wichtig. Er konnte uns schon viele wertvolle Hinweise geben. Was hast du mitbekommen?»

«Schoch schleppte sich von der Langen Gasse einige Hundert Meter bis zum Aeschenplatz. Dort brach er zusammen.»

«Nader schoss zweimal auf ihn.»

«Das ist mir neu. Und trotzdem gelang es Schoch, zu fliehen?»

«Ja, offenbar. Nehmen wir uns jetzt Nader zur Brust?»

«Gleich, zuerst muss ich im Büro einen heissen Kaffee trinken.»

Ferrari traute seinen Augen nicht. Auf seinem Tisch türmten sich zwei Aktenberge. Achtlos schob er sie zur Seite.

«Gfeller bedankt sich für Ihre Unterstützung.» Staatsanwalt Borer trat ohne Klopfen ein. «Wenn Sie Informationen benötigen, nur anrufen.»

«Bis ich diese Dossiers durchgeackert habe, ist Weihnachten.»

«Sehen Sie es sportlich. Wenn Sie den Fall lösen, wird Ihnen die Regierung ein Denkmal setzen. Eigentlich ist nur der linke Stoss relevant, das sind die vier Morde. Auf dem rechten finden Sie die Gerichtsakten. Die vier Toten waren … nun, wie soll ich sagen? … ziemliche clevere Typen.»

«Mir wäre die Akte Schoch-Nader lieber.»

Staatsanwalt Borer nahm das oberste Dossier vom Stapel und klatschte es Ferrari auf den Tisch.

«Ich arbeite Ihnen zu. Sechs von Ihren achtundvierzig Stunden haben Sie bereits verplempert. Ich bin gespannt, wie Sie Nader rausboxen wollen. Ich war inzwischen nicht untätig.» Borer öffnete das Dossier. «Während Sie Freunde besuchten, nahm ich das Protokoll auf. Es ist zwar nicht mein Job, aber da kein Ermittler zur Stelle war, sprang ich ein. Anina tippte es ab. Ein lupenreines Geständnis. Ohne Druck anzuwenden, es sprudelte nur so aus Nader heraus. Er ist ohne Zweifel der Täter. Mit etwas Glück kommt er mit Totschlag davon. Übrigens, fair, wie ich bin, baute ich ihm sogar eine Brücke. Auf Seite zwei nachzulesen. Ich fragte ihn, ob Schoch auf ihn losgegangen sei. Die Antwort war ein deutliches Nein.»

«Sie sind ein richtiger Wohltäter.»

«In der Tat. Nun, ich will nicht weiter stören. Die Zeit läuft. Und glauben Sie ja nicht, dass Sie einen Aufschub kriegen. Nach zwei Tagen ist Schluss. Dann gehts ganz anders zur Sache. Man sieht sich, Herrschaften.»

Ferrari las zuerst das Vernehmungsprotokoll und vertiefte sich dann in die Akte Schoch. Knapp vierzig und mehrfach wegen Diebstahl verurteilt. In einer Anklageschrift ging es um Vergewaltigung. Obwohl Richter Kohler von seiner Schuld überzeugt war, konnte ihm das Vergehen nicht nachgewiesen werden. Ein Freund bezeugte zudem vor Gericht, dass er zur Tatzeit mit Schoch unterwegs gewesen sei. Der letzte Fall betraf die Anzeigen von Rakic, Hotz und einigen Stiftungen. Auch hier war Richter Rupf der festen Überzeugung, dass Schoch die Gelder kassiert hatte, was dieser nicht einmal bestritt. Die Anklage warf Schoch Veruntreuung und Betrug vor. Schochs Anwalt stellte sich hingegen auf den Standpunkt, dass die überwiesenen Beträge Vermittlungshonorare seien. Es ginge schliesslich um eine Bausumme von mehreren Hundert Millionen Franken, wenn eines der Projekte realisiert würde. Vor der Urteilssprechung, die nur noch Formsache war, stellte der Verteidiger einen Befangenheitsantrag gegen Rupf, weil er mit der Präsidentin einer in den Fall involvierten Stiftungen liiert war. Damit verkam der Prozess zur reinen Phrase und wurde vertagt. Schoch verliess den Gerichtssaal als freier Mann.

«Was ist denn das?», erkundigte sich Nadine, die mit zwei Kaffees ins Büro trat.

«Die Akten der vier Morde. Linker Stapel die Protokolle der Morde, rechter die Gerichtsprozesse. Du kannst sie gerne mitnehmen.»

«Die liegen gut bei dir. Was liest du da?»

«Die Akte Schoch. Ein fieser, kleiner Betrüger und erst noch ein Sexualtäter.»

«Vergewaltigung?»

«Der Richter war davon überzeugt, aber Schoch hatte ein Alibi.»

«Somit erhielt er letztendlich seine gerechte Strafe.»

«Etwas hart ausgedrückt, aber Schochs Opfer würde es sicher unterschreiben. Der letzte Prozess war sein grösster Coup. Der Fall wurde wegen Befangenheit des Richters auf unbestimmte Zeit vertagt.»

«Wer war dieser Richter?»

«Ein Beat Rupf. Der sagt mir nichts.»

«Wo ist das Geld abgeblieben?»

«Schoch behauptet, es verzockt zu haben. Millionen. Wie konnte Mark nur so dumm sein und ihm vertrauen? Er kannte ihn ja zur Genüge und wusste, dass auf ihn kein Verlass war.»

«Wo die Gier regiert … Yvo kennt das Areal. Es handelt sich um eine alte Fabrik mitten in der Bauzone. Der Besitzer ist ein störrischer Querulant. Er ist sogar mit einer Hacke auf Yvo losgegangen, als er Fragen stellte.»

«Yvo ist auch daran interessiert?»

«Ganz Basel. Es ist eines der letzten grossen unverbauten Grundstücke. Yvo meint, dass man dort problemlos mehrere Mehrfamilienhäuser hochziehen kann. Er spricht von einem Viertelmilliarde-Projekt. Er kennt auch diesen Schoch.»

«Sag jetzt aber nicht …»

«Nein, nein. Yvo ist ein vorsichtiger Mensch. Er bot Schoch eine Vermittlungsprovision von einer Million an, wohlverstanden nach Vertragsunterzeichnung. Aber der Besitzer will um keinen Preis verkaufen. Dabei lebt er nicht einmal dort. Auf dem Areal stehen nur ein paar alte Fabrikhallen, sonst nichts.»

«Wollen wir uns das mal ansehen?»

«Später vielleicht. Im Moment gibt es andere Prioritäten, Nader wartet auf uns.»

Der Anwalt Fabian Nader wirkte müde und irgendwie abwesend. Die erste Nacht in Untersuchungshaft hatte deutliche Spuren hinterlassen.

«Möchten Sie etwas trinken?»

«Danke. Das ist nicht notwendig. Warum bin ich hier? Ich habe meine Aussage bereits getätigt und unterschrieben.»

«Weil uns Mark darum bat. Wir sind Freunde.»

Nader schaute überrascht auf.

«Sie … Sie sind Kommissär Ferrari?»

«Ja, und das ist meine Partnerin Nadine Kupfer.»

«Sie waren oft Gesprächsthema bei uns. Immer, wenn Sie erfolgreich einen Fall lösten … Der Fall Nader ist simpel, die Sachlage eindeutig.»

«Was ist passiert?»

«Ich weiss es nicht mehr genau, Frau Kupfer.»

«Wir können uns gern duzen. Ich bin Nadine.»

«Sehr gern … Fabian.»

«An was kannst du dich erinnern?»

«Damian Schoch rief mich um vier Uhr nachmittags an, er wollte mit mir reden. Ich blockte zuerst ab und verwies ihn an Mark und Chris, doch er liess nicht locker. Wir vereinbarten schliesslich, dass ich ihn nach meiner gestrigen Sitzung anrufe und er dann kurz vorbeikommt.»

«Nicht gerade üblich, um elf noch jemanden zu treffen.»

«Ich wollte es hinter mich bringen und hoffte irgendwie, er wäre einsichtig. Er wusste mit Sicherheit, dass mit Mark nicht zu spassen ist. Zudem suchten wir ihn schon eine Weile.»

«Weshalb hast du Mark nicht informiert?»

«Weil Schoch es ausdrücklich verlangte. Entweder ein Gespräch unter vier Augen oder wir würden keinen Franken mehr sehen.»

«Wie ging es weiter?»

«Um zehn rief ich ihn an und zwanzig Minuten später war er da. Er bot mir eine halbe Million an, wenn ich Mark zur Vernunft bringen würde. Schoch wusste, dass Chris ein Kopfgeld auf ihn ausgesetzt hatte. Natürlich lehnte ich ab. Im Gegenzug schlug ich ihm vor, er solle Marks Million rausrücken und ich würde dann dafür sorgen, dass er in Ruhe gelassen werde.»

«Das lehnte er ab.»

«Ja, er lachte verächtlich und zog sich Koks rein. Ich bat ihn, es sich zu überlegen und zu gehen.»

«Weshalb ist es eskaliert?»

«Er … er erzählte mir eine wirre Geschichte, Herr Kommissär. Er sei Micheles Lover und kenne unsere Familienverhältnisse sehr genau. Er wisse, wo unsere Schwachstellen seien. Sollte er draufgehen, dann nehme er die eine und andere mit.»

«Geschwätz eines Bekloppten.»

«Er drohte, nach Davos zu fahren und Michele umzubringen.»

Ferrari schaute ihn durchdringend an.

«Und dass er Ihre Frau ermorden würde.»

«Woher wissen Sie das? Er stand schon bei der Tür, da drehte er sich nochmals um. Ich wisse jetzt, was geschieht, wenn Chris und Mark nicht einlenken würden. Es liege allein in meiner Hand. Dann …» Er atmete tief durch. «Dann drohte er, meine Frau … meine Frau zu töten … ihr den Bauch aufzuschlitzen … In diesem Moment sah ich nur noch rot. Ich tastete nach meiner Pistole und schoss.»

«Einmal oder zweimal?»

«Das weiss ich nicht mehr. Staatsanwalt Borer sagt zweimal. Ich war wie von Sinnen, sah Leonie tot auf dem Boden liegen. Schoch bluffte nicht, er war zu allem fähig. Obwohl ich ihn traf, torkelte er hinaus. Zuerst wollte ich ihm nachrennen …»

«Um ihm zu helfen?»

«Nein, Nadine, um ihm den Rest zu geben. Mir war klar, solange er leben würde, wäre Leonie in Gefahr. Aber ich konnte nicht. Als ich einige Minuten später das Büro verliess, war Schoch verschwunden.»

«Und dann fuhrst du nach Hause?»

«Ich gondelte noch durchs Quartier, doch Schoch war nirgends zu sehen. Irgendwie landete ich in der Burg und dort holten mich eure Kollegen heute ab.»

«Gehört die Pistole dir?»

«Ja. Zuerst wollte ich mir keine zutun, doch ihr wisst so gut wie ich, dass es bei Marks Geschäften manchmal ordentlich zur Sache geht. Ich fühle mich sicherer, seit ich die Pistole mit mir rumtrage. Selbstverständlich besitze ich einen Waffenschein.»

«Wusstest du von der Affäre zwischen Schoch und Michele?»

«Nein. Zuerst hielt ich es für einen Bluff, doch er kannte Details, die mich vom Gegenteil überzeugten.»

«Du weisst, was dich erwartet?»

«Lebenslänglich wegen Mordes.» Er stützte sein Gesicht in die Hände und fing an zu weinen. «Ich … ich würde es wieder tun, Nadine. Wenn … wenn ich mir vorstelle, wie er Leonie und unser Kind ermordet … Einen solchen Menschen kann man nicht stoppen.»

Ferrari schloss das Dossier und seufzte.

«Eine eindeutige Angelegenheit, Fabian Nader ist ausgerastet.»

«Wir hätten genauso reagiert … Allein diese Vorstellung ist grauenhaft und ich vermute, Schoch bluffte nicht. Schau dir seine Akte an. Gemäss Aussage des Vergewaltigungsopfers ging er total sadistisch vor. Ich erspare dir die Details. Und so ein Schwein lässt der Richter einfach laufen.»

«Nicht einfach, Herrschaften, sondern aus Mangel an Beweisen.» Staatsanwalt Borer war ohne Klopfen eingetreten. «Sein Kumpel gab ihm nämlich ein Alibi. Tja, so ist eben unser Rechtssystem.»

Borer behändigte die Akte Nader.

«Was soll das?»

«Nur nicht so aggressiv, Ferrari. Es müsste selbst Ihnen einleuchten, dass der Fall sonnenklar ist oder glauben Sie tatsächlich an einen anderen Täter?»

«Nein.»

«Na also, dann kann ich die Akte an Kollege Loosli übergeben.»

«Wie? Sie vertreten die Anklage nicht selbst?»

«Nein. Bei diesem Fall kann man sich keine Lorbeeren verdienen. Sollte Fabian Nader zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt werden, wird es einen Aufschrei in der Bevölkerung geben. Dafür werden gewisse Leute sorgen.»

«Die Sie nicht namentlich nennen wollen.»

«Sie habens erfasst, Frau Kupfer. Loosli wird also auf Totschlag plädieren und einen Deal mit dem Verteidiger aushandeln. Nader bekommt fünf bis acht Jahre und wird bei guter Führung nach zwei Dritteln entlassen. Damit ist dem Recht Genüge getan. Ein simpler Fall. Wenn Felix auf dem Richterstuhl sitzt, könnte es jedoch eine Überraschung geben.»

«Richter Kohler? Wieso?»

«Er ist ein guter Freund von Beat Rupf, der von Schoch abgeseilt wurde. Kohler wird Milde walten lassen. Vor allem auch, weil er Schoch damals wegen der Vergewaltigung laufen lassen musste.»

«Das zum Thema Gerechtigkeit.»

«Und das aus Ihrem Mund, Ferrari. Dem Mauschelbruder Nummer eins bei der Polizei. Wären Sie gestern zur Stelle gewesen, würden wir immer noch nach dem Täter fahnden.»

«Das ist …»

«Die Wahrheit, nichts als die Wahrheit. Was machen Sie mit der Akte?»

«Die behalten wir. Die achtundvierzig Stunden sind noch nicht rum.»

«Ganz wie Sie meinen. Die junge Frau, die Schoch wegen Vergewaltigung anzeigte, wohnt übrigens immer noch in der Laufenstrasse, und wenn Sie sich beeilen, können Sie Richter Kohler im Strafgericht erwischen. Er bereitet seinen neusten Prozess vor und ist sicher bis vier im Gebäude.»

«Besten Dank.»

«Nichts zu danken. Ich bin selbst gespannt, welches Karnickel Sie aus dem Hut zaubern, um Ihren Freund zu retten. Ah ja, vergessen Sie nicht, Felix einen schönen Gruss von mir auszurichten, Frau Kupfer. Er kann schönen Frauen keinen Wunsch abschlagen, natürlich nur privat. Im Gerichtssaal ist er knallhart, aber fair.»

Beim Strafgericht mussten sie durch eine Sicherheitskontrolle und da der Alarm des Metalldetektors losging, wurde der Kommissär abgetastet. Dem Beamten war es sichtlich unangenehm, seinen Kollegen untersuchen zu müssen.

«Was versprichst du dir von dem Besuch?», erkundigte sich Nadine, die problemlos durch die Kontrolle kam.

«Richter Kohler steht auf schöne Frauen und du bist ein besonders attraktives Exemplar.»

«Aha. Ich soll ihn mit meinen Reizen bezirzen.»

«Exakt.»

Der kurz vor der Pensionierung stehende eitle Pfau strich seine grauen Haare glatt und fummelte an seiner Krawatte herum, als er Nadine sah.

«Ich freue mich, Sie endlich persönlich kennenzulernen, Frau Kupfer. Der Erfolg Ihrer Ermittlungstätigkeiten und der Ruf Ihrer Schönheit eilen Ihnen voraus.»

«Die Freude ist ganz meinerseits. Ich wollte schon lange den Strafgerichtspräsidenten kennenlernen. Das ist mein Chef, Kommissär Ferrari.»

«Seien Sie mir willkommen.»

Du eingebildeter Trottel!

«Wir stören hoffentlich nicht.»

«Ganz und gar nicht, Jakob kündigte Ihren Besuch an. Ich stecke in den Vorbereitungen eines kniffligen Falles. Leider darf ich nicht näher darauf eingehen.»

«Die schwierigen Fälle bleiben bestimmt alle an Ihnen hängen.»

«Das ist so. Die Komplexität geht oft an die Substanz und manchmal komme sogar ich an meine Grenzen. Ich bin halt auch nicht mehr der Jüngste.»

«Ich bitte Sie. Mit Anfang fünfzig sind Sie doch noch voll im Saft.»

«Fünfzig wäre schön. In drei Jahren gehe ich in den Ruhestand.»

«Das gibt man Ihnen aber nicht. Ich hätte Sie höchstens auf drei- oder vierundfünfzig geschätzt.»

Mir wird übel.

«Danke für das Kompliment. Was kann ich für Sie tun, Frau Kupfer? Oder wollen wir uns duzen?»

«Das wäre mir eine Ehre. Ich heisse Nadine.»

«Felix!»

«Gestern Nacht wurde Damian Schoch ermordet.»

«Ich weiss. Es ist immer bedauerlich, wenn jemand umgebracht wird. Aber bei allem Respekt, diesem Schoch weine ich keine Träne nach.»

«Wir kennen die Akte.»

«Dann weisst du auch, dass ich hundertprozentig sicher war, dass er Christine Oberer bestialisch folterte und vergewaltigte.»

«Und trotzdem musstest du ihn laufen lassen.»

«Nach den Buchstaben des Gesetzes. Der Staatsanwalt konnte das Alibi, das ihm Richard Widmer gab, nicht zerpflücken.»

«Du weisst noch sehr gut über den Fall Bescheid.»

«Allerdings. Es war einer meiner schwierigsten Fälle und die herbe Niederlage setzte mir zu. Damals zweifelte ich an unserem Rechtssystem. Auf der einen Seite die gebrochene Frau, die glaubhaft und mit stockender Stimme ihr schrecklichstes Erlebnis schilderte, auf der anderen ein überheblich grinsendes Monster, das wusste, dass es für sein Verbrechen nicht zur Rechenschaft gezogen werden kann. Ich werde diese Verhandlung nie vergessen. Ich sass da und hörte geduldig zu. Plötzlich trat wie aus dem Nichts der Entlastungszeuge auf. Er leistete einen Meineid, alle im Gerichtssaal wussten es. Selbst der Verteidiger, der nach der Urteilsverkündigung um ein Gespräch mit mir bat. Unter vier Augen bestätigte er mir, dass er nicht an Schochs Unschuld glaubte. Christine Oberer brach nach dem Urteil zusammen, unter dem höhnischen Gelächter von Schoch. Ich kam mir so ohnmächtig vor. Das Recht und die Gerechtigkeit wurden vorgeführt.»

«Weisst du, wie es Frau Oberer geht?»

«Wir blieben eine Zeit lang in Kontakt. Sie erholte sich nur langsam von ihren Qualen. Vor gut einem Monat bin ich ihr das letzte Mal begegnet, rein zufällig in der Freien Strasse. Sie nickte mir kurz zu und verschwand in eine Boutique. Vermutlich arbeitet sie dort. Wollt ihr sie besuchen?»

Nadine blickte fragend zu Ferrari.

«Das wird nicht nötig sein.»

«Ich könnte mir vorstellen, dass der Tod von Schoch befreiend wirkt. Vielleicht gelingt es ihr endlich, in die Normalität zurückzufinden. Wenigstens ist dieser Richard Widmer nicht ungestraft davongekommen.»

«Der Zeuge mit dem falschen Alibi?»

«Ja, genau. Ein Kollege verurteilte ihn wegen Mordes an einer Prostituierten zu einer lebenslänglichen Haftstrafe. Er sitzt im Bässlergut.»

«Und Schoch ist tot. Die Gerechtigkeit hat auf Umwegen gesiegt.»

«Leider bleibt eine junge Frau auf der Strecke, die nicht mehr an unser Rechtssystem glaubt.»

Nadine nickte nachdenklich.

«Wieso befindet sich Widmer im Bässlergut? Normalerweise sitzen dort keine Schwerverbrecher.»

«Das stimmt. Er war auch in der Justizvollzugsanstalt Bostadel. Aufgrund guter Führung und eines sehr guten Gutachtens empfahl ein Psychologe, ihn in den offenen Vollzug zu überführen. Gleichzeitig suchte der Direktor vom Bässlergut einen Koch. So schlug ich vor, Widmer seine verbleibende Haftzeit im Bässlergut verbüssen zu lassen.»

«Was bestimmt allen Beteiligten entgegenkam. Darf ich dich um etwas bitten?»

«Ich soll den Prozess gegen Fabian Nader leiten», schmunzelte Kohler.

«Wirst du?»

«Das liegt nicht in meiner Hand.»

«Du bist der Strafgerichtspräsident.»

«Jakob kennt mich gut, zu gut. Ich kann einer intelligenten, attraktiven Frau nichts abschlagen. Versprechen kann ich nichts, aber ich werde mich darum bemühen. Fabian Nader beging eine Straftat und vollstreckte zugleich das Urteil, das Schoch schon längst verdient hatte. Die Gründe, die zur Tat führten, kommen hoffentlich vor Gericht zur Sprache. Mit grosser Wahrscheinlichkeit spielten dabei Schochs sadistische Neigungen eine Rolle. Jeder Richter wird dies beim Strafmass berücksichtigen. Darauf kannst du dich verlassen, Nadine.»

Der Kommissär trottete hinter den beiden her zum Ausgang. Nadine küsste Kohler auf beide Wangen.

«Ich habe mich sehr gefreut, dir zu begegnen, Felix.»

«Die Freude ist ganz auf meiner Seite. Auf ein baldiges Wiedersehen. Einen schönen Tag noch, Herr Kommissär.»

«Wäh!»

«Ein total sympathischer Mann und für sein Alter gut in Form.»

«Du stehst ja auf alte Knacker», kaum ausgesprochen erwischte ihn ein Leberhaken. «Autsch, spinnst du?»

«Felix wird den Prozess führen und Fabian die Mindeststrafe geben. Borer ist uns immer einen Schritt voraus.»

«Es gefällt ihm, dass wir keinen anderen Täter präsentieren können.»

«Müssen wir auch nicht. Fabian wird die paar Jahre verkraften. Wir haben unser Möglichstes getan. Worüber denkst du nach?»

«Über Peter.»

«Willst du dich an ihm rächen?»

«Immer, aber das ist es nicht. Du hast doch Schoch gesehen, oder?»

«Nicht gerade ein Anblick, der für euch Männer spricht. Ein ausgemergeltes Wrack.»

«Wie weit ist es von der Langen Gasse zum Aeschenplatz?»

«Was weiss denn ich. Alle sagen, einige Hundert Meter.»

«Lass uns die Strecke ablaufen.»

«Was soll das bringen?»

«Ich will die Strecke selber ablaufen.»

«Was kommt jetzt? Der grosse Unbekannte, der Schoch erschossen hat? Wohlgemerkt mit der Pistole von Fabian …»

Kurz darauf parkierte Nadine ihren Porsche in der Langen Gasse. Sie liefen die Strecke zum Aeschenplatz zweimal ab, Nadine verlor langsam die Geduld.

«Noch ein weiterer Versuch? Willst du mir beweisen, dass du dein iPhone beherrschst, vor allem die Stoppuhr?»

«Hier hinter dem Hammering Man lag Schoch. Von der Strasse aus ist dieser Ort nicht gut sichtbar und Passanten sind ihm bestimmt ausgewichen, weil sie ihn für einen Betrunkenen hielten. Von Naders Büro bis hierher brauchen wir fünf Minuten, wenn wir ganz normal laufen. Schoch war schwer verletzt und schleppte sich mühsam vorwärts.»

«Und was schliesst Sherlock Ferrari daraus?»

«Ein verladenes und ausgemergeltes Wrack bricht spätestens auf halber Strecke zusammen.»

«Tatsache ist, dass er hinter dem Hammering Man lag.»

«Was er meiner Meinung nach nur konnte, wenn er nicht so schwer verletzt war.»

«Ach so, jetzt kann ich dir folgen. Du meinst, jemand ist ihm gefolgt und hat ihn erschossen. Ist das nicht etwas weit hergeholt?»

«Nader weiss nicht mehr, ob er einmal oder zweimal schoss.»

«Diese wacklige Theorie willst du aber nicht Borer servieren, oder? Die nehme nicht einmal ich dir ab.»

«Es könnte so gewesen sein.»

«Gut, nehmen wir an, du hast recht. Woher wusste der dritte Mann, wo sich Schoch aufhielt? Und schoss er rein zufällig mit demselben Kaliber?»

«Guter Einwand. Fragen wir unseren Freund, den Leichenfledderer.»

Peter Strub sass vor dem Computer und schrieb fluchend einen Protokollbericht. Hoch konzentriert tippte er mit zwei Fingern Buchstabe um Buchstabe ein. Als ihm Ferrari eine Hand auf die Schulter legte, schrie der Polizeiarzt vor Schreck auf und fuhr aus seinem Bürostuhl hoch.

«Huhu! Ich bin ein lebender Toter aus einer deiner Kammern.»

«Das … Verdammt noch mal, was schleichst du dich so an?»

«Jetzt wissen wir wenigstens, was wir dir zum Dienstjubiläum schenken können: einen Tastaturschreibkurs.»

«Diese elenden Protokolle zerren an meinen Nerven.»

«Für uns?»

«So weit sind wir noch nicht, der Verstorbene im Altersheim hat Vortritt.»

«Mord?»

«Ein Herzinfarkt. Was wollt ihr denn jetzt schon wieder?»

«Nur eine klitzekleine Frage stellen. Könnte es sein, dass Schoch mit zwei verschiedenen Pistolen erschossen wurde?»

«Unwahrscheinlich. Ist das wieder eine seiner verrückten Theorien?», wandte sich Strub an Nadine.

«Du hast es erfasst, aber wir sollten ihm seinen Spass lassen. Was hältst du davon?»

«Mitkommen.»

Strub verliess sein Büro und ging in den Obduktionssaal.

«Ich muss noch schnell zur Toilette.»

«Du weisst ja, wo sie ist. Komm mit, Nadine, das schafft er noch knapp allein. In ein paar Jahren sieht es wohl anders aus.»

Im Saal war einer von Strubs Assistenten gerade dabei, die Instrumente zu sterilisieren.

«Hier herrscht absolute Reinheit, jedes einzelne Teil ist steril. Das ist für unsere Arbeit zentral. Ah, da kommt ja unser Mann mit der schwachen Blase. Jetzt kannst du nochmals deine abstruse Theorie äussern. Paul, komm bitte kurz her, Francesco will uns etwas fragen.»

«Wurde Schoch mit zwei verschiedenen Pistolen ermordet?»

«Nun, was sagst du dazu, Paul?» Strub lächelte zynisch.

«Gut möglich.»

«Wie bitte?»

«Ich wollte noch mit dir darüber reden, Peter. Ich bin mir eben nicht sicher.»

Irritiert sah der Gerichtsmediziner zu Nadine.

«Sind denn heute alle verrückt?»

«Lass den Toten zugedeckt», rief der Kommissär.

«Keine Angst. Er ist wieder zugenäht.»

Ferrari atmete erleichtert auf.

«Darf ich jetzt?»

«Von mir aus.»

«Tätärätä!» Strub zog theatralisch das Lacken vom Toten, der an verschiedenen Stellen aufgeschnitten war.

«Halt ihn fest, Paul!», schrie Nadine.

Ferrari verdrehte die Augen, schwankte und fiel Strubs Assistenten in den Arm.

«Legen wir ihn neben Schoch auf den Schragen … Eins, zwei, drei … So kann er wenigstens nicht ständig dazwischenquatschen. Wie kommst du auf eine zweite Pistole?», wandte sich Strub an seinen Assistenten.

«Der erste Schuss hinterliess eine ziemlich kleine Wunde.»

«Das hängt damit zusammen, dass Schoch sich bewegte. Vermutlich drehte er sich ab.»

«Das schon, aber schau dir die zweite Verletzung an. Das Einschussloch ist bedeutend grösser.»

«Stimmt. Und bei dieser Wunde ist es ein feiner Durchschuss. Francesco liegt ausnahmsweise richtig.»

«Im wahrsten Sinn des Wortes.»

«Weichei!»

«Das ist sogar für mich an der Grenze.»

«Unser Alltag … Gute Arbeit, Paul. Wecken wir den Schlappi auf.»

Strub klopfte dem Kommissär auf die Wangen.

«Das könnte ich stundenlang wiederholen.»

«Wo … Der Tote … ist er zugedeckt?»

«Ja, ist er. Keine Sorge. Vorsichtig, sonst purzelst du noch runter und brichst dir das Genick.»

Paul half dem zittrigen Kommissär auf die Beine.

«Deine Theorie war richtig. Er wurde durch zwei verschiedene Kugeln umgebracht. Willst du sehen, wie wir es herausgefunden haben?»

«Lass gut sein. Einmal pro Tag reicht mir.»

«Als Schmerzensgeld steht in meinem Büro ein Kaffee für dich bereit.»

Mit jedem Schluck spürte Ferrari, wie die Lebensgeister ein Stück mehr zurückkehrten. Wunderbar, dieser Kaffee.

«Das bedeutet, Nader ist nicht unser Mörder. Sein Schuss war nicht tödlich.»

«Der Steckschuss verletzte kein wichtiges Organ. Mit dieser Verletzung wäre er locker durch ganz Basel spaziert.»

«Sehr schön», frohlockte Ferrari. «Komm, Nadine, wir fragen Nader, wer von dem Termin wusste.»

«Aha, der Chef weilt wieder unter den Lebendigen.»

«Beehrt uns jederzeit gerne wieder. Es war mir ein besonderes Vergnügen.»

«Hm!»

Also doch. Ich wusste, dass der Fall nicht so einfach ist. Zufrieden liess sich Ferrari auf den Recarositz fallen.

«Hey! So ruinierst du mir den Sitz. Ich habe dir schon tausend Mal gesagt, du sollst dich nicht wie ein Mehlsack in den Sitz plumpsen lassen. Beim letzten Porsche musste ich zweimal den Sitz reparieren lassen.»

«Kauf dir ein anständiges Auto, in das ich ganz normal einsteigen kann.»

«Mir gefällt mein Porsche.»

«Nader ist kein Mörder, was zu beweisen war.»

«Stellt sich die Frage, wer dann?»

«Das wird uns hoffentlich Nader sagen.»

«Wieso lachst du?»

«Ich war nicht auf der Toilette.»

«Sondern?»

«Ich habe mir erlaubt, einige Änderungen in Peters Bericht anzubringen. Es ist nun der Report eines Mannes, der nicht mehr alle Knochen am Skelett hat.»

«Was?!»

«Der Empfänger wird unseren Gerichtsmediziner in die Psychiatrische einliefern lassen.»

«Ihr zwei seid unmöglich. Man müsste euch in eine Gummizelle sperren.»

«Hört, hört!»

Fabian Nader war erstaunt, als sie ihn nochmals in Ferraris Büro brachten. Ein Funke Hoffnung blitzte in seinen Augen.

«Wir haben noch ein paar Fragen, Herr Nader. Wann genau vereinbarten Sie den Termin mit Schoch?»

«Gestern Nachmittag, sagte ich das nicht schon? Als er mich anrief, war ich ziemlich genervt, weil ich mitten in wichtigen Sitzungsvorbereitungen steckte.»

«Um was ging es in dieser Sitzung?»

«Es handelt sich um eine Stiftung … Sie heisst Nothilfe Kind und es geht darum, Kinder zu beschützen. Vor allem vor häuslicher Gewalt. Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie viel Elend es bei uns gibt.»

«Wie sieht eure Hilfe konkret aus?», erkundigte sich Nadine.

«Finanzielle Hilfe und psychologische Begleitung. Manchmal auch …»

«Durch sanften Druck.»

«Ja. Wenn ich mit legalen Mitteln nicht weiterkomme, greife ich manchmal auf das Beziehungsnetz von Mark und Chris zurück. Das ist zwar nicht die feine Art, doch ich hasse Menschen, die sich an den Schwachen und Wehrlosen vergreifen und deren Abhängigkeit ausnutzen.»

«Und wie oft war das bisher der Fall?»

«Bis jetzt nur zweimal und dies ohne Wissen meiner Stiftungskollegen. Ich glaube nicht, dass sie mit meinem Vorgehen einverstanden wären. In unserem Vorstand sitzen Ökonomen, Ärzte, Lehrer, Anwälte und sogar ein Richter.»

«Man weiss nie. Ich kenne sogar einen Kommissär, der deine kriminellen Aktionen absegnen würde.»

«Hm! Wie erfahren Sie von den Missständen?»

«Vor allem durch die Ärzte und die Lehrer. Es spricht sich herum, dass wir für die Kids da sind. Jetzt, wo Leonie schwanger ist, bedeutet mir die Stiftung noch mehr. Wir erbten ein ziemlich grosses Haus, ein Legat, das soll nun ein Zufluchtsort für Frauen und Kinder werden. Eine Art Frauenhaus mit Betreuung und einer Rund-um-die-Uhr-Bewachung, damit die Untergebrachten absolut sicher sind. Gestern ging es um den Kredit für den Umbau.»

«Und?»

«Wir bekommen das Geld von der Bank und das notwendige Eigenkapital steuern wir bei.»

«Das klingt toll. Und während deinen Sitzungsvorbereitungen wurdest du von Schoch gestört, der nicht lockerliess?»

«Korrekt.»

«Wer wusste von eurem Treffen?»

«Ich und Jake.»

«Marks Geschäftsführer?»

«Er ist mehr als das. Jake koordiniert den ganzen Sicherheitsdienst von Chris’ und Marks Lokalen. Der hat richtig was auf dem Kasten. Er ist einer meiner besten Freunde.»

«Warum hast du ihn über das Treffen mit Schoch informiert?»

«Ihr kennt Mark, wir nennen ihn ja alle nur den Boss. Er hasst nichts mehr als Alleingänge. Ich wollte mich wenigstens mit Jake absprechen, immerhin ist er sein Stellvertreter. Er fand die Idee gut und fragte mich, wo ich ihn treffe. Das verschwieg ich ihm, denn ich wollte nicht, dass er plötzlich auftaucht.»

«Sonst jemand?»

«Nein. Leonie wollte ich damit nicht belasten. Die Sitzung dauerte bedeutend länger als geplant. Schoch war ganz schön sauer, als ich ihn in einer kurzen Pause anrief. Vermutlich dachte er, dass ich ihn hinhalte. Aber der Bankberater war extrem kompliziert und stellte hartnäckig seine Fragen, bis Emil Schwander der Kragen platzte.»

«Der Chefarzt?»

«Sie kennen ihn, Herr Kommissär?»

«Er ist ein guter Freund meiner Lebenspartnerin Monika Wenger. Nicht ganz pflegeleicht, würde ich sagen.»

«Das unterschreibt der Bankmann sofort. Emil drohte ihm mit einer anderen Bank und dass er sich beim Bankpräsidenten über ihn beschweren werde.»

«Das klingt nach Emil.»

«Daraufhin einigten wir uns verhältnismässig schnell.»

«Das heisst, Jake …»

«Förster.»

«Jake Förster wusste zwar von dem Termin, kannte aber weder die genaue Zeit noch den Ort.»

«Ja. Warum interessiert Sie das?»

«Wir haben eine vage Theorie, die noch nicht spruchreif ist. Mehr können wir leider nicht verraten.»

«Wir tasten uns langsam heran.»

«Glaubst du, Jake lag auf der Lauer und erledigte Schoch mit einem zweiten Schuss? Das wird Mark nicht gefallen.»

«Er kann wählen, entweder sein Schwiegersohn oder sein Geschäftsführer. Für wen entscheidet er sich?»

«Wie ich Mark kenne, für beide.»

«Ah, Sie sind noch da. Wieso erstaunt mich das nicht? Genau. Stecken persönliche Interessen dahinter, leistet der Herr Kommissär sogar Überzeit. Und, wer ist nun der Mörder?», Borers sarkastischer Unterton war nicht zu überhören.

«Das wissen wir noch nicht, doch wir sind ihm auf der Spur.»

«Aha.»

«Schoch wurde mit zwei verschiedenen Pistolen erschossen.»

«Ist nicht wahr!!!»

«Nader verletzte ihn nur leicht. Er rannte davon und wurde beim Hammering Man vom wirklichen Täter niedergestreckt.»

«Interessant.»

«Der Täter lag sehr wahrscheinlich auf der Lauer. Als Schoch verletzt aus dem Haus von Nader schwankte, folgte er ihm.»

«Beeindruckend.»

«Wir werden den wirklichen Täter fassen und Ihnen bald präsentieren.»

«Hervorragend. Wann kann ich damit rechnen?»

«Spätestens morgen Abend.»

«Ausgezeichnet. Ich gratuliere Ihnen, Ferrari.»

«Danke.»

«Dann wünsche ich allseits einen geruhsamen Feierabend, Herrschaften. Einfach genial, wie unser Kommissär auch die höchsten Hürden mit einer Leichtigkeit sondergleichen überspringt. Besser und schneller als Karsten Warholm. Was heisst Hürden? Er versetzt ganze Berge zum Wohle der Menschheit.»

Das schallende Gelächter des Staatsanwalts hallte im ganzen Kommissariat.

«Was sollte denn das?»

«Borer wird immer seltsamer. Soll ich dich nach Hause fahren?»

«Nein, danke. Ich nehme den Dreier. Dem wird sein Lachen noch vergehen.»

Der Dreier bremste abrupt und fuhr nun im Schritttempo auf die Haltestelle zu. Eine ältere Frau war nur dank des blitzartigen Eingreifens zweier Schülerinnen nicht vom Tram erwischt worden. Doch anstatt sich für ihre Unvorsichtigkeit zu entschuldigen, drohte sie dem Tramchauffeur mit der Faust. Eine verkehrte Welt. Ferrari stieg kopfschüttelnd ein. Wie immer zu Stosszeiten waren fast alle Sitzplätze belegt. Mit Wehmut dachte Ferrari an früher. Da gab es noch Tramzüge mit Anhängewagen und sein Lieblingsplatz befand sich im hintersten Wagen vorne rechts. Tja, wie heisst es so schön: Das einzige Beständige ist der Wandel. Die Fahrt verlief ohne weitere Störungen. An der Endstation überquerte der Kommissär die Strasse und ging durch ein Waldstück nach Hause. Aus dem Garten vernahm er Frauenstimmen. Oh nein, Hexenbasar! Aber heute ist doch nicht Donnerstag. Sehr seltsam. Da stimmt etwas nicht. Monika hätte mich ruhig vorwarnen können, dass ihre Freundinnen ausnahmsweise am Dienstagabend zu uns kommen. Am Anfang trafen sie sich immer am ersten Donnerstag im Monat, dann wurde es plötzlich jeden Donnerstag. Hm, am besten ich kehre um und bleibe eine oder zwei Stunden im Dorf oder tauche bei einem Nachbarn unter. Puma, die kleine schwarze Katze, begrüsste ihn lautstark und schmiegte sich an seine Beine. Pst, kleine Maus. Zu spät! Eine der Hexen ist bereits auf uns aufmerksam geworden.

«Francesco ist da! Oh, wie schön.»

Die nächste halbe Stunde war gelaufen. Ferrari liebte es zwar, von attraktiven Frauen umgarnt zu werden, aber die Ansammlung von akademischen Intelligenzbestien war über seinen Verhältnissen. Ein Glas Wein hier, ein Häppchen da, selbstgemacht versteht sich, dann ein Stück Kuchen, eine Eigenkreation von Stefanie, obwohl sie eigentlich keine freie Minute hat, weil sie im Moment an der Uni voll ausgelastet ist. Alles untermauert mit passenden, meistens lateinischen Zitaten oder sonstigen überkandidelten Bemerkungen. Und mittendrin Monika, die das Ganze in vollen Zügen geniesst.

«Noch ein Stück Kuchen?»

«Danke, ich bin randvoll. Wieso trefft ihr euch heute? Normalerweise kommt ihr doch am Donnerstag zusammen.»

«Krisensitzung!»

Ferrari schaute überrascht von seinem Teller auf.

«Was für eine Krisensitzung, Sandra?»

«Soll ich es ihm sagen?»

Die Hexen sassen stumm am Tisch. Diese Ruhe, dass ich das noch erleben darf. Ich höre sogar Pumas Schmatzen aus der Küche.

«Vielleicht kann er uns helfen. Er ist schliesslich Kommissär.»

Drei, vier, fünf. Es fehlen zwei. Nadine und?

«Wo ist Cloe?», die mag ich von allen am besten. Bei der fühl ich mich nicht wie ein Volltrottel.

«Wissen wir nicht.»

«Was heisst das? Du steckst doch immer mit ihr zusammen, Li.»

«Seit unserem letzten Treffen meldet sie sich nicht mehr.»

«Bei niemandem von uns. Ich war sogar bei ihr zu Hause. Philipp weiss auch nicht, wo sie ist.»

«Ich verstehe euch richtig, Cloe ist seit letztem Donnerstag verschwunden und niemand weiss, wo sie ist? Hattet ihr eine Auseinandersetzung?»

«Nein. Wir streiten nie.»

«Was ist mit Philipp?»

«Er war an einem Zahnärztekongress in Hamburg. Er ist erst gestern Abend zurückgekommen. Offenbar telefonierten sie jeden Tag und alles schien in bester Ordnung. Als er gestern nach Hause kam, war Cloe nicht da.»

«Sie ist verschwunden.»

«Blödsinn. Cloe verschwindet nicht einfach, Stefanie.»

«Eigenartig. Und niemand hatte seit letztem Donnerstag Kontakt zu ihr?»

«Mir schrieb sie am Freitag eine Whatsapp. Willst du sie sehen?» Birgit hielt dem Kommissär ihr iPhone hin.

«Bin extrem müde. Brauche ein Timeout … Stress mit Phil? … Es wächst mir alles über den Kopf … Kann ich dir helfen? … Ich komm klar, aber danke … Wir sind für dich da, wenn du uns brauchst.»

Die Korrespondenz endete mit einem Herz, einem lachenden und zwei weinenden Smileys.

«Wo wohnen sie?»

«In der Maulbeerstrasse im Haus ihrer Eltern. Nicht gerade meine liebste Gegend, aber Cloe gefällts.»

Die Hexen schauten den Kommissär erwartungsvoll an.

«Ich unterhalte mich mit Philipp. Dass Cloe alles hinwirft und abhaut, passt nicht zu dem Bild, das ich von ihr habe.»

«Wir begleiten dich.»

«Lieber nicht. Ein Grossaufgebot ist meist nicht effizient.»

«Glaubst du, dass Phil sie festhält?»

«Vielleicht liegt sie gefesselt im Keller.»

«Oder sie ist bereits tot.»

«Dann rächen wir sie. Wir foltern ihn, bis er um Gnade winselt.»

«Nun mal langsam. Bevor hier jemand massakriert wird, sollten wir ein vernünftiges Gespräch mit dem potenziellen Täter führen. Es gibt bestimmt eine einfache Erklärung. Ihr bleibt jetzt ruhig hier sitzen. Monika, wo sind die Autoschlüssel?»

«Ich fahre dich.»

Zwanzig Minuten später hielt Ferraris Lebensgefährtin vor einem schönen kleinen Haus in der Maulbeerstrasse.

«Soll ich auf dich warten?»

«Du kommst nicht mit rein?»

«Wenn Phil etwas mit dem Verschwinden von Cloe zu tun hat, erfährst du es eher in einem Gespräch unter Männern. Francesco, ich muss dir noch etwas beichten. Vor drei Wochen bat mich Cloe um ein Darlehen.»

«Wie viel?»

«Zwanzigtausend.»

«Erwähnte sie, wofür sie das Geld braucht?»

«Nein, und ich fragte nicht danach. Sie wollte es mir in zwei Monaten zurückzahlen.»

«Was verdient Cloe als Werberin im Monat?»

«So genau weiss ich es nicht. Wir gehören alle sieben zu den sehr gut verdienenden. Ich vermute, um die zehntausend im Monat.»

«Ich habe den falschen Beruf. Du musst nicht auf mich warten, ich komme dann mit dem Taxi nach Hause.»

Monika küsste den Kommissär zärtlich.

«Danke, der ist von uns allen. Hoffentlich ist ihr nichts passiert.»

Philipp öffnete sofort. Seine Augen waren gerötet, offenbar hatte er geweint. Sie setzten sich im Garten an einen Tisch.

«Sie meldet sich nicht. Ich schicke ihr alle fünf Minuten eine Whatsapp. Es ist etwas Schreckliches passiert, Francesco. Ich spüre es.»

«Jetzt mal ganz ruhig. Wann hast du zum letzten Mal mit ihr gesprochen?»

«Gestern Nachmittag. Kurz, bevor ich abflog. Sie wollte mich am EuroAirport abholen.» Philipp reichte ihm sein Handy. «Es war genau um halb vier. Wir unterhielten uns zehn Minuten.»

«Wann warst du zu Hause?»

«Kurz nach acht. Ich dachte, Cloe ist bei einer Freundin. Als sie um zehn nicht da war, rief ich alle Freundinnen an, die ich kenne. Monika nahm nicht ab.»

«Sie war an einem Konzert.»

«Ich konnte kaum ein Auge zu tun und ging heute Morgen sofort zur Polizei. Die vertrösteten mich. Ich solle wiederkommen, falls Cloe bis am Abend nicht nach Hause kommt. Ich habe den ganzen Tag rumtelefoniert, bei allen Leuten, die wir gemeinsam kennen, und in allen Spitälern nachgefragt. Nichts. Ich ging in ihr Geschäft und unterhielt mich lange mit den Arbeitskollegen. Seit ich im Ausland war, also seit Donnerstag erschien sie nicht zur Arbeit.»

«Meldete sie sich krank?»

«Nein. Das ist auch komisch. Cloe ist ein pflichtbewusster Mensch und hat sich bisher immer abgemeldet. Sie ärgert sich grün und blau, wenn sich eine Arbeitskollegin oder ein Arbeitskollege nicht abmeldet oder zu spät zu einem Termin kommt. Francesco, es ist ihr etwas passiert. Ich bin ganz sicher.»

«Wie war euer Verhältnis?»

«In den letzten Monaten sehr angespannt. Das hängt mit meiner neuen Sprechstundenhilfe zusammen. Cloe ist extrem eifersüchtig und ich Idiot habe eine äusserst attraktive Frau eingestellt. Ich dachte mir nichts dabei, ehrlich nicht. Ein Kollege fragte, ob ich für seine Frau eine freie Stelle hätte, nur für ein halbes Jahr. Und das traf sich optimal, denn meine Assistentin wollte ihre Babypause verlängern. Natürlich wusste Cloe, dass ich Linda einstelle, aber seit der ersten Begegnung war der Teufel los … Sie würde genau in mein Beuteschema passen … Zuerst hielt ich dagegen, doch je mehr ich insistierte, desto mehr fühlte sie sich in ihrer Meinung bestätigt. Die letzten Monate waren ein einziger Horror. In zwei Monaten wechselt Linda in die Praxis ihres Mannes, das war von Anfang an so geplant. Ich schwöre dir, die nächste Sprechstundenhilfe ist mindestens sechzig und absolut hässlich.»

«Steckt Cloe in finanziellen Schwierigkeiten?»

«Ich bitte dich. Wir verdienen zusammen etwa dreissigtausend Franken im Monat und Cloe erbte insgesamt drei Häuser von ihren Eltern. Wenn eines in unserer Beziehung stimmt, dann die Finanzen. Wir führen ein sorgenfreies Leben.»

«Wo könnte sie sein?»

«Für mich gibt es nur zwei Möglichkeiten: Es ist etwas Schreckliches passiert oder … sie hat mich verlassen.»

«Fehlt irgendetwas? Kleider, Schuhe, Taschen?»

«Wie? … Ich weiss es nicht.»

Philipp ging zum begehbaren Wandschrank und öffnete auf Cloes Seite eine Schublade nach der anderen.

«Der grösste Teil ihrer Garderobe ist noch hier, es fehlen zwei Paar Schuhe. Aber welche, kann ich dir nicht mit Bestimmtheit sagen.»

«Und Koffer?»

«Sind vollzählig da. Francesco, was soll ich tun? Du musst sie finden, bitte!»

«Schick mir ein Foto von Cloe per Whatsapp.»

Mit zittrigen Händen führte Philipp Ferraris Anweisung aus.

«Gut, danke. Ich gebe eine Vermisstenanzeige auf. Wir werden alles tun, um sie dir heil zurückzubringen.»

Philipp liess sich aufs Sofa fallen und begann hemmungslos zu weinen. Unbeholfen versuchte ihn der Kommissär zu beruhigen. Das ist eigentlich Nadines Stärke. Nach zehn Minuten, Philipp hatte sich einigermassen gefangen, informierte Ferrari seine Kollegen und liess sich kurz darauf von einem Dienstfahrzeug nach Hause fahren, wo er bereits ungeduldig erwartet wurde.

«Philipp ist vollkommen von der Rolle, Cloe und er hatten in den letzten Monaten grosse Auseinandersetzungen. Ich habe bei den Kollegen nun eine Vermisstenanzeige aufgegeben.»

«Wegen diesem Marilyn-Monroe-Verschnitt. Blond, grosser Busen und Beine wie eine Gazelle.»

«Woher weisst du das, Sandra?»

«Ich war zur Kontrolle bei Phil. Die sog ihn mit den Augen förmlich auf.»

«Er wollte nichts von ihr. Sie ist die Frau eines Kollegen.»

«Dein Mann ist süss, Monika. Ein wenig naiv.»

«Das bin ich nicht, Li. Aber ich sehe das Gute im Menschen und stelle keine Vermutungen an.»

«Wenn du wütend wirst, bist du noch süsser. Leihst du ihn mir für eine Nacht, Moni?»

«Also wenn ihr noch etwas Konstruktives zu Cloes Verschwinden beitragen könnt, dann bitte jetzt. Ich bin nämlich müde … Niemand? Gut, dann hätte ich noch eine letzte Frage: Wie viel hat jede von euch Cloe geliehen?»

«Francesco!»

«Raus damit. Du beginnst, Sandra.»

«Fünfzigtausend.»

«Li?»

«Dreissigtausend.»

«Stefanie?»

«Hunderttausend.»

«Mit den zwanzig von Monika ergibt das zweihunderttausend Franken. Kann sich jemand vorstellen, was Cloe mit dem Geld wollte?»

Es herrschte betretenes Schweigen.

«Woher weisst du, dass wir Cloe Geld liehen?»

«Du vergisst, ich bin Kommissär. Vor mir gibt es keine Geheimnisse, Sandra. So, jetzt gehe ich schlafen, ihr werdet sicher auch ohne mich auskommen.»

«Francesco, wir lieben Cloe und wir bitten dich inständig, alles zu unternehmen, um sie zu finden. Selbstverständlich unterstützen wir dich, du musst uns nur aufbieten.»

Ferrari küsste Stefanie auf die Wangen.

«Ich kann euch nicht versprechen, dass wir erfolgreich sind. Aber wir werden ganz Basel umkrempeln. Wenn Cloe in der Stadt ist, werden wir sie finden. Gute Nacht.»

Ferrari wälzte sich unruhig im Bett hin und her. Im Halbschlaf dachte er an das Gespräch mit Philipp. Verlor Cloe wegen den ewigen Streitereien die Nerven und zog sich an einen unbekannten Ort zurück, um sich über die Beziehung zu Philipp klarzuwerden? Wofür benötigte sie das viele Geld auf die Schnelle? Wurde sie erpresst? Möglich. Fragen, Fragen, nichts als Fragen und keine Antworten. Oder will ich es mir nicht eingestehen? Denn keine Frau verlässt freiwillig das Haus, ohne die wichtigsten persönlichen Sachen einzupacken. Daraus lässt sich nur eines schliessen: Cloe verliess nicht freiwillig das Haus, sondern wurde entführt, ermordet oder setzte ihrem Leben ein Ende!

Im Sinne der Gerechtigkeit

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