Читать книгу Lichtschacht - Anne Goldmann - Страница 6

Оглавление

Sie saßen nebeneinander auf dem Dach, keine sechzig Meter von ihr entfernt. Direkt vor den roten Schornsteinen, wo noch vor kurzem die Rabenkrähen sich gewärmt, Schutz gesucht hatten vor dem eisigen Wind: zwei Frauen, rechts davon ein Mann. Sie wirkten aufgedreht, waren ständig in Bewegung. Wandten die Köpfe. Schauten über die Dachlandschaft. Nach unten. Sie hielten Gläser in den Händen und prosteten einander zu. Die Frau in der Mitte warf den Kopf zurück und lachte. Die zweite – größer, schlank, mit langen weißblonden Haaren – hob ihr Glas an den Mund und leerte es in einem Zug.

Lena stand in der offenen Terrassentür und schaute sehnsüchtig zu ihnen hinüber. Sie winkte, aber niemand nahm Notiz von ihr. Hastig zog sie den Arm zurück. Der Rauch der Selbstgedrehten in ihrer Hand kräuselte hoch. Ein leichter Wind bewegte den Saum ihres Kleids. Sie fröstelte und wickelte die warme grüne Strickweste enger um sich.

Der erste laue Tag nach einem endlosen Winter ging zu Ende. Es roch würzig. Nach Frühling, Aufbruch. Nach Neubeginn. Lena seufzte. Sie war wohlig benebelt. Entspannt. Mit geschlossenen Augen nahm sie einen weiteren tiefen Zug und blies langsam den Rauch aus. Sie durfte es nicht übertreiben. War es nicht gewohnt. Entschlossen dämpfte sie den Stummel aus und drückte ihn im Blumentopf neben der Tür tief in die feuchte Erde.

Sie konnte ihren Blick nicht von den dreien lösen. Wie waren sie auf das Dach gekommen? Was feierten sie? Der Mann hob die Flasche und schenkte sich ein. Er stieß mit seiner Sitznachbarin an. Die mit der langen Mähne zog die Beine eng an den Körper. So saß sie eine Weile reglos, den Kopf ein wenig nach rechts geneigt, als hörte sie den anderen zu oder hinge ihren eigenen Gedanken nach. Nun hielt sie dem Mann ihr Glas hin. Er füllte es auf. Streckte dann unvermittelt den Arm aus und ließ die Flasche los. Sie prallte auf die Dachziegel und verschwand kopfüber im Abgrund. Drei Köpfe ruckten vor und schauten nach unten. Lena hielt die Luft an. Die waren verrückt, sich dort oben zu betrinken! Das war gefährlich. Wie leicht konnte jemand das Gleichgewicht verlieren, ins Rutschen geraten. Abstürzen. Fünf Stockwerke tief, dachte sie, das überlebt man nicht. Ihr wurde übel. Der Puls dröhnte in ihren Ohren.

Nun rückten sie enger zusammen. Es schien, als umarmten die beiden außen Sitzenden ihre Freundin, die sich einmal nach links, dann nach rechts wandte und schließlich zurücklehnte. Ihre Bewegungen wirkten verlangsamt. Die Frau am Rand hielt ihr Glas nachlässig mit dem Kelch nach unten, der Mann starrte auf den flammend roten Streifen am Horizont, der rasch schmaler wurde und schließlich verschwand.

Lena spähte angestrengt hinüber. Die Dämmerung schluckte die Farben, die ersten Straßenlampen gingen an. Die drei machten keine Anstalten, sich zu erheben. Zurückzuklettern. Sie gähnte und streckte sich. Ihr war kalt. Ein Windstoß fuhr ihr unter das Kleid und wehte ihr die Haare ins Gesicht.

Als sie wieder hinsah, war der Platz in der Mitte leer.

Sie schrie auf und schlug die Hand vor den Mund. Scannte das Dach: Nichts! Keine Spur von der zweiten Frau! Die beiden anderen saßen reglos.

Wieder kam Wind auf. Er wirbelte die langen glatten Haare der Frau durcheinander. Erst nach einer Weile neigte sie den Kopf ein wenig, fasste sie zusammen und schlang sie zu einem Knoten. Der Mann wandte sich ihr zu. Er rückte näher und zog sie zu sich hin. Ihr Kopf sank auf seine Schulter. Er strich ihr über das Haar, das sich wieder löste und sie wie ein heller Schleier umfloss. Eine ganze Weile saßen sie so, wie festgefroren, während Lena sich am Türrahmen festklammerte und nach Luft rang.

Nun hob die Frau langsam den Kopf. Sie schaute über die Dächer: nach rechts, wo am Horizont die Weinberge den Blick begrenzten. Über die Stadt. Der Mann bewegte sich nicht. Die Frau wandte sich um und deutete auf Lena.

Draußen war es längst dunkel. Das monotone Ticken der Küchenuhr tropfte in die Stille. Lena kauerte auf dem Boden. Sie war benommen, wie leicht betrunken. Ihr Herz pochte beängstigend schnell. Sie versuchte sich zu beruhigen: Das ist normal. Kann vorkommen, wenn du kiffst. Das letzte Mal lag schon Jahre zurück.

Die Tür war einen Spalt weit offen geblieben und schlug immer wieder gegen ihre linke Schulter. Sie hatte die Arme um sich gelegt. Kälte kroch über ihre Haut. Wieder raffte sie die grob gestrickte Weste über der Brust zusammen. Langsam, wie in Trance, erhob sie sich und schloss die Tür. Sie stellte sich ans Fenster und starrte angestrengt ins Dunkel über den Dächern. Unmöglich, etwas auszumachen. In einer der Wohnungen im Nebenhaus brannte ein schwaches Licht, das nach einer Weile erlosch.

Sie musste die Polizei anrufen! Bekifft? Und dann? Ich habe einen Mord beobachtet! Hatte sie gesehen, wie jemand die Frau in die Tiefe gestoßen hatte? Eben! Sie konnte übers Dach zurückgeklettert sein. So schnell? Wenn man geraucht hatte, veränderte sich das Zeitgefühl. Ja, das war es wohl. Die eine war gegangen. Zurück in eine der Wohnungen, die von den Häusern davor verdeckt wurden. Das Pärchen war noch eine Weile auf dem Dach geblieben. Nun saßen sie irgendwo, ein, zwei Stockwerke tiefer, beduselt wie sie, tranken vielleicht noch ein Glas oder aßen eine Kleinigkeit, bevor einer von ihnen – oder ein Pärchen – nach Hause gehen würde. Vielleicht waren sie ja eine Familie? Vater. Mutter. Tochter.

Lena dachte an die Sonnenfinsternis vor vielen Jahren. In einer anderen Stadt. Sie war neun. Ihr Vater, damals schon über vierzig, und Sanja, kaum halb so alt wie er, waren mit ihr aufs Dach geklettert. Sie hatten mit Sekt angestoßen. Der Vater hatte Sanja auf eine Weise geküsst, die ihr peinlich war. Als die Vögel verstummten und die Stadt unter ihnen, saß sie ein gutes Stück von den beiden entfernt an einen Schornstein gelehnt und fühlte sich ausgeschlossen. Wie eine Welle rollte das Grau heran und über sie hinweg. Es war totenstill.

||

Er hatte einen Schrei erwartet. Aber da waren nur ihre weit aufgerissenen Augen. Sein eigener Atem. Ein dumpfer Aufprall. Und dann Stille. Ausatmen. Verkehrslärm, an- und abschwellend wie die Brandung. Einatmen. Hin und wieder ein Hupen. Weiteratmen. Ein Folgetonhorn. Von unten, aus dem Hof, kein Laut. Wenn man fünf Stock tiefer mit dem Kopf voran auf den Betonboden knallt, ist man tot.

»Es war ein Unfall«, flüsterte sie und sah ihn beschwörend an. Fuchtelte mit ihren Händen vor seinem Gesicht herum. »Wir müssen die Polizei rufen. Die Rettung.« Er hörte ihre Zähne aufeinanderschlagen.

»Komm her«, sagte er leise. Vorsichtig rückte sie Stück für Stück näher. Ihr ganzer Körper bebte. Eiskalte Finger. »Kannst du aufstehen?«

Sie nickte. Ihr Blick flackerte. Sie atmete hastig, hechelnd. Ihre rechte Hand umklammerte immer noch das Glas.

Er nahm es ihr ab und warf es in die Tiefe. »Bind dir die Haare zusammen.« Sie schaffte es nicht. »Komm.« Er fasste sie an der Hand und half ihr auf. Sie krallte sich in seinen Unterarm. »Halt dich an den Ziegeln fest«, wies er sie an. »Genau. Auf allen vieren. Noch ein Stück. Gut. Schau, da ist schon die Leiter.« Wenn sie jetzt strauchelte, ausrutschte … Es wurde schon dunkel … Nein, er würde sie abfangen!

Über die Terrasse gelangten sie in die Wohnung. Er machte kein Licht. »Setz dich!«

Sie sank in einen Fauteuil, der mitten im Raum stand. »Wir müssen die Rettung … « Sie stand unter Schock. Ihre Knie schlackerten.

»Pscht«, machte er. Trat hinter sie, legte seine Arme um sie und zog sie an sich. Nach kurzem Widerstreben gab sie nach. Nun weinte sie leise. Er streichelte mechanisch ihre Oberarme und wartete.

»Denkst du, sie ist – tot?«

»Ja. Es sind fünf Stockwerke.« Wir haben keine Eile, dachte er. Ich kann in Ruhe überlegen.

Sie schluchzte auf.

Er ging in die Küche, die zur Straße hin lag, und machte Licht. Nahm ein Glas und ließ es mit Wasser volllaufen. Trank, füllte es wieder auf und brachte es ihr. Während sie hastig schluckte, es mit beiden Händen hielt wie ein Kind, ging er ins Nebenzimmer, zum Schreibtisch der Toten, und nahm ihr Handy und den Buchkalender an sich. Schob den Schein zwischen die Seiten und klappte ihn zu.

Sie saß noch genauso da, wie er sie verlassen hatte. Umklammerte ihr Wasserglas. Die Knöchel traten weiß hervor. Er löste ihre Finger und brachte es in die Küche. Als er sich umwandte, stand sie in der Tür. Er schaltete den Geschirrspüler ein.

»Wir reden später«, sagte er. »Zu Hause. Komm.« Er führte sie ins Badezimmer, wo sie sich das Gesicht wusch und vor dem Spiegel die Haare kämmte. Sie sah verheult aus. Er müde.

Er löschte das Licht. Schloss sorgfältig ab und zog sie an sich, als im Stiegenhaus das Licht aufflammte. »Guten Abend.«

»Guten Abend.«

Es dauerte lange, bis er sie davon überzeugt hatte, dass es besser war, nichts zu überstürzen.

||

Lena blinzelte und drehte sich zur Seite. Sie zog das rechte Bein an den Körper, seufzte wohlig und umarmte ein bauschiges weißes Kissen. Die zerknitterte Decke lag quer über dem Bett und bedeckte kaum ihren Hintern, die dünnen Träger ihres Nachthemds waren über die Schultern gerutscht. Ein leichter Wind bewegte die Gardinen, Straßengeräusche drangen ins Zimmer. Sie fasste nach der Decke und zog sie sich über die Brust. Langsam öffnete sie die Augen. Ihr Blick fiel auf einen Wäscheständer, auf dem ordentlich aufgereiht fremde Kleidungsstücke, drei ihrer eigenen Kleider und ihre Unterwäsche hingen. Einen weißen, spiegelnden Schrank dahinter. Der Teppich neben dem Bett sah weich und teuer aus. Langsam verzog sich ihr Mund zu einem Lächeln. So schön hatte sie noch nie gewohnt.

Sie rollte sich auf den Rücken, streckte sich wie eine Katze und setzte sich schwungvoll auf. Beugte sich zur Seite und tippte auf den Wecker. Kurz vor halb sieben. Es klappte immer, dass sie wach wurde, bevor er lospiepste. Sie hob die Gardinen an, raffte sie zur Seite und öffnete das Fenster ganz.

In der Küche schaltete sie das Radio, die Kaffeemaschine ein, stellte sich auf die Zehenspitzen und schaute auf die Straße hinunter. Der orangefarbene Müllwagen vor dem Haus verursachte Lärm und einen kleinen Stau, der erstaunlicherweise kein Hupkonzert nach sich zog. Lena gähnte. Die Fußgänger hatten es eilig. Ihr Blick folgte einem Mann mit Brille und einer dünnen Frau in einem engen, quietschgrünen Mantel, die schweigend nebeneinander dahinhasteten. Glück sah anders aus.

Sie öffnete die Terrassentür. Eine Rabenkrähe flog erschrocken auf. Kühle Luft strömte in den Raum und streifte ihre nackten Beine. Sie fröstelte und zog die Schultern hoch.

Das rote Ziegeldach lag im Schatten. Nichts deutete darauf hin, dass jemand dort oben gewesen war.

Sie musste geträumt haben. Hatte sich in ihrem Dusel etwas eingebildet. Ganz sicher!

Eine Schnapsidee. Sie hatte das Zeug beim Aufräumen von Steffis Chaos gefunden, gleich nach ihrem Einzug. Es ein paar Tage liegen lassen und es dann, schon ein wenig benebelt von den zwei Gläsern Wein, schließlich geraucht. Kein Wunder, dass sie Gespenster sah.

Aber: Die Frau hatte zu ihr herübergeschaut! Den Mann auf sie aufmerksam gemacht. Kifferparanoia, beruhigte sie sich. Sie dachte daran, wie sie einmal, vor vielen Jahren, in einer fremden Wohnung in regelrechte Panik verfallen war, als jemand klopfte. Sich sicher gewesen war: Polizei! Man kam sie holen. Sie hatte sich tot gestellt und kaum zu atmen gewagt. Später hatten sie alle darüber gelacht. Kommt vor. Das kennt fast jeder. Entspann dich, Lena!

Sie kniff die Augen zusammen und beugte sich vor. Hinter den Schornsteinen, zur anderen Seite hin, schien es eine Leiter zu geben. Man sah eine Art Geländer. Darunter lag wohl eine Terrasse. Man konnte mit wenigen Schritten auf der anderen Seite sein. Du hast dich da in etwas hineingesteigert! Die neue Umgebung, alles noch fremd, der Alkohol – und dann der Joint. Niemand war zu Schaden gekommen, niemand war abgestürzt. Alles in Ordnung, Lena. Beruhige dich. Würden Freunde so ruhig sitzen bleiben, wenn eine von ihnen vom Dach fiel? Eben.

Entschlossen wandte sie sich um. Ging ins Bad, duschte und wusch sich die Haare. Machte das Bett und schloss mit Schwung das Schlafzimmerfenster. Nun war auch der Kaffee fertig. Sie trank ihn im Stehen – langsam, in großen Schlucken –, goss sich noch eine Tasse ein und wanderte damit zum Schreibtisch. Im Hintergrund zwitscherte das Radio.

Keine Mail von zu Hause. Keine von Steffi. Sie überflog die Nachrichten und klappte ihr Notebook wieder zu.

Schnappte sich ihre Tasche, fuhr mit dem Lift nach unten und verließ das Haus. Im letzten Moment sah sie ein zerdrücktes, verschmiertes Stück gelber Hundescheiße und sprang zur Seite. Sie fand an einem Radständer Halt und kontrollierte ihre Schuhsohlen. Nichts, zum Glück. Schon mehrmals hatte sie fluchend am Randstein das stinkende Zeug abgekratzt und den Geruch dennoch bis ins Geschäft geschleppt. Sie war es nicht gewohnt, ständig auf den Boden zu schauen, und wollte sich auch nicht daran gewöhnen. Hunde, dachte sie im Weitergehen, gehörten einfach nicht in die Stadt.

Das große Fenster eines Cafés warf ihr Spiegelbild zurück. Sie strich sich die Haare hinter die Ohren und rückte ihre Umhängetasche zurecht. Ihre Arbeitskleidung war noch ungewohnt. Der kurze Rock wippte über ihrem Hintern, der ärmellose hochgeschlossene Pulli war ihr über der Brust ein wenig zu weit und warf Falten. Die Jacke immerhin saß wie angegossen. Schwarz und schlicht, hatte er beim Vorstelltermin letzte Woche verlangt. Ihre eigene Garderobe beschränkte sich auf einige Kleider, grobe Strickwesten und zwei Jeans. Zum Glück hatte Steffi Unmengen schwarze Klamotten.

Sie wich einer Baustelle aus. Die kleine Grube war nachlässig gesichert und wirkte völlig verlassen. Weit und breit kein Arbeiter, keine Baumaschine.

Ein alter Mann mit grauem Haarkranz und sein Hund blockierten das schmale Trottoir. Das kompakte struppige Tier stemmte seine Vorderbeine in den Boden und sah stur vor sich hin. »Komm«, lockte der Mann. Er ging ein wenig in die Knie und klopfte auf seinen rechten Oberschenkel. Der Hund reagierte nicht. Der Alte seufzte. »Na komm«, sagte er wieder und machte ermunternde Gesten. »Die anderen warten schon.« Der Hund hob eine Braue. »Kommst du jetzt – bitte?« Das Tier und sein Besitzer wechselten einen langen Blick, dann setzte sich der Hund gemächlich in Bewegung, beschleunigte und hoppelte schließlich neben dem Mann her. Lena grinste. Hier war klar, wer das Rudel führte.

An der Hausecke blieb sie stehen. Das Haus wirkte anonym, verschlossen. Im obersten Stockwerk gab es Terrassen. Wenigstens nachsehen! Das Tor war geschlossen. Am Klingelbrett nur Türnummern, keine Namen. Was hatte sie erwartet?

Sie wich einem Radfahrer aus, der ihr auf dem Gehsteig entgegenkam. Er zwinkerte ihr zu. Überrascht schaute sie ihm nach. Die Umhängetasche schlug gegen ihre Hüften. An der Ecke wandte er sich noch einmal um und winkte. Zögernd hob sie die Hand und ließ sie wieder fallen.

Ein Blick auf die Uhr: Sie musste sich beeilen. Sie fasste ihre Tasche fester, drückte sie gegen den Oberkörper und rannte los.

Außer Atem erreichte sie die Straßenbahn, dankte dem hageren, bekümmert wirkenden Fahrer, der mit der Abfahrt auf sie gewartet hatte, mit einem Lächeln und ließ sich auf den nächsten freien Sitzplatz fallen. Sie zog ihren Rock zurecht und stellte die Beine eng nebeneinander. Mit einem Ruck fuhr der Zug an, bimmelte und machte gleich darauf eine Vollbremsung. Ein dumpfer Schlag. Eine Frau schrie auf.

»Na alsdann«, brummte der Fahrer, als hätte er so etwas kommen sehen. Ein verbeultes Auto stand quer auf den Schienen, zwei blasse, verschreckte Gesichter starrten zu ihnen herauf.

»Betriebsstörung.« Die ersten Fahrgäste hasteten laut schimpfend zu den Ausstiegen, während der Straßenbahner Kontakt mit der Leitstelle aufnahm und der Autofahrer sich langsam aus seiner Starre löste und zu seiner Gefährtin hinüberbeugte.

Das hier konnte dauern. Besser, sie ging zu Fuß. Sie stieg aus, umrundete einen Pulk von Gaffern und beschleunigte den Schritt. Knapp fünfzehn Minuten später hatte sie ihr Ziel erreicht.

Das Haus war relativ neu. Ein begrünter Innenhof, Pflastersteine. Zweite Türe rechts, hatte er gesagt. Neben dem Eingang stand ein mit bunten Bändern geschmücktes Olivenbäumchen in einem lichtblauen Topf. Sie drückte den Handballen auf den Klingelknopf und wartete.

Der Mann war groß und hager. »Komm weiter«, bat er und wandte sich um. Er hatte schüttere, flaumige Haare am Hinterkopf – wie ein Baby – und keinen Hintern in der Hose. Der hübsche, fast quadratische Vorraum war mit Holzspielzeug und Schuhen zugemüllt. Keine Türen. Viel Holz und Glas. Und Grünpflanzen. In der Wohnküche saß der Rest der Familie um einen großen Tisch: Eine tatkräftig wirkende Frau mit halblangen glatten Haaren hielt ein Kleinkind auf dem Schoß, das wie ein Vogel den Mund öffnete, sobald sie sich ihm mit dem Löffel näherte. Gegenüber ein zerzaustes, etwas größeres Mädchen. Es hatte ein Müsli vor sich stehen und las in einem dicken Buch. Er stellte sie einander vor. »Magst du Kaffee?«

Lena nickte.

»Setz dich.«

Der Sessel vor ihr war von einer dicken Katze belegt. Sie ließ sich neben dem Mädchen nieder. Es kaute mit vollen Backen und warf ihr einen prüfenden Blick zu. Die Mutter schob mit dem Löffel die Breireste um den Mund des Babys zusammen und spachtelte sie ihm zwischen die Lippen. Alle drei hatten die gleichen großen blauen Augen.

Der Kaffee war gut. Lena nahm einen weiteren Schluck und stellte die Tasse ab. »Sie brauchen jemanden, der sich um die Katzen kümmert.«

»Katze«, sagte das Mädchen ohne aufzublicken und blätterte geräuschvoll eine Seite um. »Wir haben nur eine. Jonas. Der kann nicht mit.«

»Wir fliegen für zwei Wochen auf die Insel«, erklärte der Mann und nahm ihr gegenüber Platz. »Nach Gomera. Jana, die unseren Haushalt führt, erledigt das sonst. Sie hatte einen Todesfall in der Familie. Ist nach Hause gefahren. Sie kommt erst zwei Tage vor uns zurück.«

Lena nickte und griff nach ihrer Tasse.

»Machst du das schon länger«, erkundigte sich die Frau, »Wohnungen hüten?« Das Baby rülpste.

»Ja. Katzen versorgen, Blumen gießen. Früher habe ich auch geputzt.« Sie wühlte in ihrer Tasche. »Pass. Meldezettel. – Meine Referenzen«, setzte sie nach. Das Paar sah sie überrascht an.

»Das brauchen wir nicht«, wehrte der Mann ab. »Wolfgang kennt dich. Das genügt.« Dann griffen beide gleichzeitig nach den Unterlagen, schauten auf, einander an. Dann zu ihr. Lachten ein bisschen unsicher. Wie ertappt. »Nur, weil du sie mithast … ich wollte immer schon einmal sehen, was die da so schreiben.«

»Passt schon«, sagte Lena. Es ist ihnen peinlich, dachte sie.

»Jana«, erklärte die Frau hastig, »gehört mittlerweile richtig zur Familie. Ich weiß gar nicht, wie ich –«, sie stockte kurz, »wie wir das alles schaffen würden ohne sie: Kinder, Haushalt, den Job. Ich bin Architektin.« Lena nickte. Die andere stand auf, strich ihr Baumwollkleid glatt und schob sich das Kind auf die linke Hüfte. »Gut. Ich zeige dir jetzt die Wohnung.«

Die Katze plumpste vom Sessel auf den Boden und folgte ihnen.

||

Er hatte sich schnell daran gewöhnt, das ganze Bett wieder für sich allein zu haben. Nun lag sie da. Wie früher jeden Morgen – flach auf dem Bauch, als wäre sie hingefallen, irgendwo heruntergefallen. Und nicht wieder aufgestanden. Er würde nie kapieren, wie man so schlafen konnte. Ihr Mund stand ein wenig offen. Sie atmete leise und gleichmäßig. Ihr Atem roch säuerlich. Er hielt die Luft an. Dachte kurz an Kathrin. Sie hatte sie nicht gemocht.

Vom ersten Moment an Abneigung: »Sie ist – nett. Ein wenig – nimm’s mir bitte nicht übel – naiv vielleicht. Wie sie drauflosplaudert. Zu dir aufschaut. Gut, sie ist noch sehr jung.«

Kathrin hatte ihr Lächeln erwidert. Ein naives Landkind, nicht besonders schlau.

»Woran denkst du?« Jetzt war sie wach. Stützte sich auf den linken Arm und strich sich die Haare aus dem Gesicht. Sie sah etwas benommen aus.

Er überging ihre Frage. »Kaffee?« Sie nickte. Er hörte sie ins Bad gehen, während er sich in der Küche zu schaffen machte, Laden öffnete und schloss, eine Kapsel in die Maschine drückte und eine Tasse, eine zweite, aus dem Regal nahm. Seine Morgen waren ihm heilig. Er vertrug keine Musik, keinen Lärm, keine Fragen. Sie wusste das.

Sie kam frisch geduscht mit feuchten, zu einem Zopf geflochtenen Haaren und vollständig bekleidet aus dem Badezimmer. Er hielt ihr eine Tasse hin. Sie dankte mit einem Nicken. Sie tranken schweigend. Sie sah ihn ein-, zweimal von der Seite an. Er reagierte nicht. Sie hielt die Schale mit beiden Händen, als wollte sie sich wärmen. Blickte ins Leere.

»Ich muss arbeiten«, sagte er schließlich. »Wir reden morgen weiter. Ich werde mich um die Sache kümmern.« Sie zuckte zusammen. »Hast du die Tabletten? Soll ich dich nach Hause bringen?«

»Nein danke. Ich komm schon zurecht.« Sie zögerte. »Kann ich dich anrufen? Am Abend?«

»Ich melde mich bei dir. Besser, wir reden nicht am Telefon.« Er strich ihr übers Haar. »Mach dir keine Sorgen. Dir wird nichts passieren«, murmelte er.

Ihr Kopf flog herum. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie ihn an.

||

Als Lena vor dem Geschäft ankam, stand die Tür bereits offen. Sich schon in der Früh hetzen zu müssen war wirklich das Letzte! »Guten Morgen. Bin ich zu spät?«

Ihr Chef drehte sich um. »Morgen, Lena.« Er lächelte und wies auf seine Armbanduhr. »Pünktlich auf die Minute.«

Warum sieht er mich so an? Sie stellte die Tasche ab und schlüpfte aus ihrer Jacke. Im zweiten Raum, der als Lager und Werkstatt diente, blubberte der Wasserkocher. Wolfgang verschwand nebenan und goss sich eine Tasse Tee auf. Lena zupfte an ihrem Rocksaum und zog ihn energisch nach unten. Zu kurz, dachte sie. Noch immer kam sie sich wie verkleidet vor.

»Ich muss in einer halben Stunde wieder weg. Denkst du, du schaffst das schon allein?«

»Ja, klar«, sagte sie forsch und nahm Rechnungsblock und Füllfeder aus der Schublade. Jedes Kind konnte das. Die Ware war ausgepreist. Rechnungen wurden – in Schönschrift, hatte er verlangt – mit der Hand geschrieben, das Bargeld in einer Kassette verwahrt. Die Bankomatkasse war kein Mirakel.

Als sie aufblickte, stand er mit einem Hocker mitten im Raum. Sie nahm ihn ihm ab und trug ihn vor die Tür. Er folgte mit einem kleinen Tischchen.

Wolfgang war schon älter, sicher vierzig, fünfundvierzig, schlank mit einem kleinen Bauchansatz, den er mit lässig geschnittenen, meist schwarzen Klamotten zu kaschieren versuchte. Dunkle kurze Haare, etwas Grau an den Schläfen. Kein Bart. Gutaussehend, wenn man diesen Typ Mann mochte. Lena hielt ihn für ein wenig eitel. Er hatte sie nach einem kurzen Gespräch eingestellt.

»Es geht um etwa drei Dienste pro Woche. Kann auch einmal kurzfristig sein.«

»Passt. Wenn ich es am Vortag weiß, kann ich mir das einteilen.« Sie brauchte dringend etwas Fixes, durfte keine großen Ansprüche stellen.

»Ich nehme an, es ist okay für dich, wenn wir uns duzen?« Wie mein Vater, dachte sie. Sie glauben, es macht sie jünger. »Ja, kein Problem.«

Wolfgang hatte das Geschäft vor knapp zwei Jahren eröffnet. EigeRT stand in großen Lettern auf dem Schaufenster. Dahinter ein ganz in Weiß gehaltenes Lokal. Kühl. Stylish. Wie die Wohnung, in der ich jetzt lebe, dachte sie. Man könnte viel daraus machen. Aus der Wohnung. Aus dem Laden. Aber beides gehörte nicht ihr.

Wolfgang verkaufte Kleinmöbel, vornehmlich Designerware, Dekoration und seine aktuelle Serie von künstlerisch verfremdeten Gebrauchsgegenständen. Die Kunden hatten Geld. Einige waren mit ihm befreundet. Manchmal kamen auch Leute in ihrem Alter, Studentinnen, Schüler. Sie sahen sich lange um, fragten viel und wählten dann eine Kleinigkeit, ein Geschenk für eine Freundin, ein Spiel, Klebebuchstaben, die aus irgendeinem Grund der große Renner waren. Ich würde nie in einem Geschäft wie dem hier einkaufen, dachte sie. Auch nicht, wenn ich Geld hätte. Die meisten Sachen waren viel zu teuer und nicht besonders originell. Und die wirklich schönen Stücke …

Wolfgang riss sie aus ihren Gedanken. »Hast du die Schorns schon angerufen?« Er trat einen Schritt zurück und betrachtete das Schaufenster. Er sah zufrieden aus.

»Ich komm grade von dort«, sagte sie schnell.

Ein kurzer Blick. »Und – machst du’s?«

»Ja.«

Er wandte sich um. Plötzlich hatte er es eilig. »Ich fahr dann.« Sie nickte und trat zurück in den Laden.

Die Zeit verging quälend langsam. Niemand kam. Jetzt bloß nicht grübeln! Sie holte Glasreiniger und Putzlappen und nahm sich das Regal hinter der Theke vor. Sie liebte es, aufzuräumen. Vor Sauberkeit blitzende Flächen zu hinterlassen. Das half immer, wenn sie unruhig war. Wenn sie das Drumherum wieder in Schuss brachte – und sich selber –, ordnete sich auch das Durcheinander an Ängsten und Zweifeln, in dem sie sich manchmal verhedderte. Mit jedem weiteren Handgriff klärten sich ihre Gedanken. Sie wusste: Wenn Menschen aus dem Takt gerieten, sah man es ihnen über kurz oder lang an. Sie pflegten sich nicht mehr und ihre Wohnungen versanken im Chaos.

Im Spital hatte sie immer wieder Patienten erlebt, die aufgegeben hatten, sich gehen ließen. Hatte versucht, sie zum Duschen zu bewegen, statt sie wie üblich schnell im Bett zu waschen. Sie dachte an Herrn Klein, ihren ersten Tumorpatienten, der eigentlich nicht auf ihre Station gehörte, aber aus Platzmangel dort gelandet war: wie er nach längerem Sträuben gegen ein Bad still und glücklich unter dem warmen Wasserstrahl hockte, nur noch Haut und Knochen, das Gesicht nach oben gewandt, die Augen geschlossen, als säße er in der warmen Herbstsonne, während sie ihn vorsichtig rasierte. Später, im frisch bezogenen Bett, von Seifengeruch umhüllt und noch ein wenig atemlos von der Anstrengung, hatte er ihre Hand gedrückt. Da glaubte sie noch, dass sie für diese Arbeit wie geschaffen war. Knapp zwei Jahre später hatte sie alles hingeschmissen und war gegangen.

Sie atmete tief durch und wandte sich dem Verkaufstisch zu. Hingebungsvoll polierte sie die Tischfläche, die Fronten. Sah auf die Uhr und holte sich ein Glas Wasser. Es war schon fast elf. Wo bloß die Kunden blieben? Gestern zehn, am Tag davor gezählte acht – davon konnte doch kein Mensch leben! Wenn sie nicht bald mehr Umsatz machte, war sie ihren Job bestimmt schnell wieder los. Ihr Chef sah nicht wie ein Wohltäter aus.

Er hätte dich nicht eingestellt, wenn es sich für ihn nicht rentiert, versuchte sie sich zu beruhigen und nahm sich das Schaufenster vor. Die filigranen weißen Schalen, wie aus Tortenspitze geformt, hoben sich kaum vom Hintergrund ab. Sie nahm sie vorsichtig hoch und stellte sie zur Seite. Man musste sie mit kräftigen Farben ergänzen, sie aufleuchten lassen. Ob er es merken würde, wenn sie das eine oder andere neu arrangierte? Sie zögerte kurz, konnte aber der Versuchung nicht widerstehen.

»Du hast echt einen Putzfimmel«, hatte Elias ihr mehr als einmal genervt vorgeworfen. Ihre Beziehung war letztendlich aber an seiner Unzuverlässigkeit gescheitert.

Lena richtete sich auf und sah nach draußen. Vor dem Shirtshop gegenüber probierte ein blasses Mädchen unter den kritischen Blicken ihrer Freundin mehrere Kleidungsstücke aus der Wühlkiste gleich auf der Straße an. Ein Herr mit markantem Profil verhielt den Schritt und schaute interessiert zu, wie beim Ausziehen eines Tops ihr dünner Pulli mit hochrutschte und sie mit nacktem Bauch dastand, bis die Freundin ihr lachend zu Hilfe kam. Lena zog die Brauen hoch und wandte sich ab.

||

Er rief sie am späten Nachmittag an. Sie meldete sich nach dem ersten Läuten. Sie verabredeten sich für den Abend beim neuen Italiener in der Nähe ihres Arbeitsplatzes.

Er war etwas zu spät dran, sie erwartete ihn bereits. Kein Lächeln, als er auf sie zueilte. Er beugte sich zu ihr hinab. Sie hielt ihm ihre Wange hin. Sie verfehlten sich, ihre Jochbeine schlugen gegeneinander.

»Entschuldige«, murmelte sie und rieb sich mit der Hand die schmerzende Stelle.

Er setzte sich und nahm ihr die Karte aus der Hand. »Was trinkst du?« Sie zuckte die Schultern. Er bestellte eine Flasche ihres Lieblingsweins. Und Pasta. Sie rollte währenddessen ihre Stoffserviette zusammen und wieder auseinander, zusammen und wieder auseinander. Es machte ihn nervös. Er nahm ihre Hand und hielt sie fest. Sie trug immer noch den Ring.

»Ich muss die ganze Zeit daran denken«, flüsterte sie. »Dass sie da liegt. Seit gestern Abend. Die ganze Nacht lang. Und einen ganzen Tag. Im engen Lichtschacht. Mit zerschmetterten Knochen. Vielleicht, vielleicht … lebt sie ja noch –« Ihre Stimme versagte. »Man kann sie doch nicht so liegen lassen!«, krächzte sie. »Wir müssen etwas tun.« Sie entzog ihm ihre Hand und massierte sich den Ringfinger.

»Ich hab dir doch gesagt: Einen Sturz aus dieser Höhe überlebt niemand.«

»Sie kann doch da nicht liegen bleiben. Der Gedanke macht mich verrückt. Da … ist sicher alles voller Taubenscheiße«, sie wurde lauter, »da sind bestimmt Ratten!«

»Bitte!«, unterbrach er sie energisch.

»Ich verstehe nicht, dass wir einfach gegangen sind.« Sie sah auf. Ihr Blick flackerte. »Du hast doch die Schlüssel. Es gibt sicher einen Zugang zum Lichthof. Wir holen sie da raus. Rufen die Polizei, was weiß ich … Wir können doch nicht einfach … «

Er schnellte vor und packte sie am Arm. »Halt den Mund, verdammt«, zischte er. »Das ist kein Grund, hysterisch zu werden. Willst du, dass jemand Verdacht schöpft? Ja? Ja? Willst du das?«

Sie versuchte erfolglos, ihm ihren Arm zu entwinden. Angstgeweitete Augen.

»Wir müssen uns genau überlegen, wie wir vorgehen. Wir waren uns doch einig … «, sagte er leise. Nun hatte er sich wieder unter Kontrolle.

Sie stöhnte. Er löste den Griff. Schlagartig veränderte sich ihr Blick. »Ich verstehe dich nicht«, murmelte sie. »Du klingst, als wäre nichts. So distanziert. So kühl.« Sie rückte ein Stück von ihm ab. Griff nach ihrem Glas, nahm hastig einen Schluck.

»Verdammt, was erwartest du?«, fuhr er sie erneut an. Sie zuckte zusammen. Er lehnte sich zurück und fixierte sie.

Ihr Atem ging schnell. Sie klammerte sich an ihrem Weinglas fest. »Entschuldige. Entschuldige bitte. Du hast recht. Ich rede die ganze Zeit nur von mir, und du … du … « Sie geriet ins Stocken.

Er half ihr nicht. Er sah dem Kellner zu, wie er Gläser polierte und gegen das Licht hielt. Es waren nur wenige Gäste da. In der Nische vorne beim Eingang erregte ein ungleiches Paar seine Aufmerksamkeit. Der Mann mit Schmerbauch und Maßsakko war wesentlich älter als die Frau. Er konnte seine Hände nicht von ihr lassen. Sie lächelte nachsichtig, ein wenig verächtlich, wie ihm schien, und legte die linke Hand auf den Arm ihres Begleiters. Sofort verflocht der seine Finger mit ihren. Sie griff nach ihrem Glas, drehte es geziert, nahm einen Schluck und sah zu ihm herüber. Ihre Blicke trafen sich. Er senkte den Kopf und fixierte sie aus halb geschlossenen Augen, lächelte und wandte sich um. Mit Geld, dachte er, kannst du jede haben. Er schenkte sich Wein nach, trank und stellte das Glas wieder ab.

Ihre Hand kroch näher. Sag was, dachte er. Mach endlich den Mund auf.

»Du hast deine … Freundin verloren«, flüsterte sie schließlich kaum hörbar.

»Ich will jetzt nicht daran denken«, unterbrach er sie schroff.

Sie nickte. Wagte es nicht, seine Hand zu nehmen. Sie starrte vor sich auf den Tisch. »Es war nicht meine Schuld«, sagte sie leise. »Ich war nicht betrunken. Ich erinnere mich an alles.«

»Ich weiß«, bestätigte er sanft. »Hör auf, dich zu quälen. Sie –«, er machte eine längere Pause, ließ seinen Blick erneut durch das Lokal schweifen und seufzte, »Kathrin hat mehrere Gläser gekippt. Mehr als ihr guttat. Die war ziemlich angesäuselt. Ist ausgerutscht … ein Unfall.«

»Ich habe –«, sie schien mit sich zu ringen, »sie nicht besonders gemocht.«

»Ich weiß. Es war nicht zu übersehen«, sagte er knapp.

Sie riss die Augen auf. Ihre Mundwinkel begannen zu zittern, das Kinn bebte. Nun heulte sie. Er legte seine Hand auf ihren Unterarm, während der Kellner an den Tisch trat, den Wein einschenkte und sich bemühte, ihre Tränen zu übersehen.

Er hob sein Glas. Sie reagierte nicht. Er trank. Die Pasta kam.

»Ein Unfall, ja«, schniefte sie. »Ich habe ihr nichts getan. Ich habe sie nicht gestoßen. Du musst mir glauben, dass ich … ich bin nicht eifersüchtig, das weißt du doch.« Er reichte ihr ein Taschentuch, was eine neuerliche Sturzflut auslöste.

»Bitte beruhige dich.« Er nahm einen Schluck Wein. »Tut mir leid«, sagte er, »ich sterbe vor Hunger. Wir brauchen jetzt einen klaren Kopf. Es hilft niemandem, wenn … es hilft ihr nicht mehr … «

Sie nickte, immer noch um Fassung ringend, und stocherte in ihrer Pasta. »Aber warum gehen wir nicht einfach zur Polizei? Wir erklären, was vorgefallen ist … «

»Einen ganzen Tag später? Was wird passieren, was meinst du?« Er sah sie eindringlich an.

»Wir werden erzählen, wie es war … «

»Ein Mann und seine Ex kommen aufs Kommissariat und geben an, dass sie gestern mit der neuen Freundin des Mannes auf ein Dach geklettert sind, dort getrunken haben und die Neue dann, einfach so, in den Lichtschacht gefallen ist.«

Der Kellner näherte sich. »Schmeckt es Ihnen nicht?«, fragte er mit besorgtem Stirnrunzeln.

Sie zögerte.

Respekt. Der Mann war ein guter Schauspieler! Er lächelte ihn an. »Es ist ausgezeichnet. Meine Bekannte ist ein bisschen«, er zögerte, »indisponiert.«

Er orderte einen Espresso, sie hielt sich an den Wein.

»Die zwei haben nichts unternommen, nicht nachgesehen. Keine Hilfe geholt. Weder die Rettung gerufen noch die Polizei. Sie haben eine Nacht darüber geschlafen, eine zweite, und – dir ist klar, dass wir in der Sekunde beide verdächtig sind?«

»Wir … wir können das doch erklären … «, stieß sie hervor.

»Erklären, erklären!«, fuhr er sie an. »Kapierst du das denn nicht?« Er legte die Gabel am Tellerrand ab. »Warum kommen wir zwei Tage später, hm? Wir haben mögliche Beweise beiseitegeschafft, uns abgesprochen, wer was sagt. Sie werden annehmen, dass … «

Sie war blass geworden. »Es war deine Idee«, sagte sie tonlos. »Ich wollte sofort … « Sie brach ab, griff nach dem Wein, trank hastig einen großen Schluck und bekam einen Hustenanfall. Er klopfte ihr auf den Rücken. Sie keuchte. Ihr Gesicht glühte, die Augen tränten. Sie sah erbärmlich aus.

Er nahm die Gabel wieder auf.

»In dem Zustand, in dem du gestern Abend warst, hätte man dich dort behalten«, sagte er nach einer Weile. »Und auseinandergenommen, bis du ein Geständnis ablegst. Du warst alkoholisiert. Unter Schock, hast gezittert. Du warst nahe am Durchdrehen. Wenn ich dir nicht etwas zur Beruhigung, zum Schlafen, gegeben hätte … «

Sie starrte ihn an. Er schob seinen leeren Teller zur Seite. Sie hatte nichts gegessen, die Nudeln mit den Meeresfrüchten verrührt, sie hin und her geschoben. Nun legte sie ihre Gabel weg und knüllte die Serviette zusammen.

Der Kellner brachte den Espresso. Er wartete, bis er außer Hörweite war. Rückte näher und nahm ihre Hand. »Ich habe mir Sorgen um dich gemacht«, sagte er mit Wärme in der Stimme. »Ich will nicht, dass du im Gefängnis landest. Nach allem, was war.«

Sie neigte den Kopf ein wenig, verharrte eine Weile und legte ihn dann auf seine Schulter.

Er strich ihr übers Haar. Zwei, drei Minuten vergingen. Dann löste sie sich von ihm.

»Sie war deine Freundin! Man wird dir glauben … « Ihre Stimme klang jetzt gefasst, ja zuversichtlich.

»Denk nicht, dass mir das alles leichtfällt«, unterbrach er sie. »Kathrin ist tot.« Er biss sich auf die Lippen. Schwieg. Sie wurde unruhig. Räusperte sich. Schluckte. Öffnete den Mund und schloss ihn wieder. »Ich will nicht auch noch durch die Polizeimühle gedreht werden«, fuhr er fort. »Für dich lügen, mich sorgen müssen, weil du dich in deiner Panik in eine Situation manövrierst, aus der du nicht mehr herauskommst. Alles spricht gegen dich: Natürlich werden sie Eifersucht als Motiv annehmen! Wir sind ja noch nicht so lange getrennt. Kathrin ist … war jünger als du. Du hast ein bisschen … nun … überreagiert in den ersten Wochen … Wenn sie Freunde und Bekannte befragen … «

»Was hat das denn damit zu tun? Ich wollte dich … es ist doch normal, dass man um eine Beziehung, um jemanden, den man liebt, kämpft. Ich dachte –« Sie stockte.

»Genau! Und damit lieferst du ihnen das Motiv auf einem Silbertablett. – Verstehst du jetzt, was ich meine?«

»Ja«, sagte sie tonlos. »Ja, ich verstehe.«

||

Lena hatte geputzt, Kunden bedient und schließlich auch noch einen Teil des Lagers aufgeräumt. Sie hatte den ganzen Tag nicht mehr daran gedacht, aber jetzt, als sie die Wohnungstüre aufschloss, ging ihr erster Blick zum Fenster. Die Dächer lagen in der Abendsonne. Das sanfte Licht wirkte wie ein Weichzeichner.

In der kurzen Mittagspause hatte sie im Kaffeehaus hastig die Zeitungen durchgeblättert und keinen Hinweis gefunden. Aber – nach einem Tag konnte man noch gar nichts sagen. Wenn einer vermisst wurde, wenn jemand eine Leiche fand, dauerte es wohl seine Zeit, bis die Zeitungen darüber berichteten. Sie hatte nie darüber nachgedacht.

Sie schlüpfte aus den Schuhen, dann aus ihren Kleidern. Ließ die Badewanne volllaufen, träufelte etwas Mandelöl ins Wasser und tauchte bis zum Kinn unter. Versuchte sich zu entspannen, schloss die Augen und riss sie gleich wieder auf. Sie schnupperte, bewegte ihre Hände, sah ihren Körper zerfließen und wieder ganz werden und versuchte, an nichts zu denken.

Wie das wohl war, wenn man plötzlich das Gleichgewicht verlor, stürzte, fiel? Aus großer Höhe. Begriff man in diesem Augenblick, was geschah? Dass man sterben wird. Schrie man? Verlor man die Stimme, den Verstand, während man auf den Boden zuraste und aufschlug? Spürte man den Aufprall? Einen Schlag? Wie innen alles kaputtging, die Lunge zerriss und in sich zusammenfiel, die Haut aufplatzte und die Knochen brachen? Man konnte wohl nichts mehr denken … Was, wenn man am Ende, aller Wahrscheinlichkeit zum Trotz, noch am Leben war? Zwischen den Müllcontainern auf dem Betonboden lag, mit zerschlagenem Schädel, im eigenen Blut, halb betäubt und wimmernd vor Schmerzen – und niemand kam?

Sie rutschte zur Seite und ließ heißes Wasser nachlaufen.

Gesetzt den Fall, ihr, Lena, würde etwas zustoßen: Wie lange würde es dauern, bis jemand sie vermissen, nach ihr suchen würde?

In den beiden Wohnungen, die sie hütete, würden die Pflanzen verdorren. Die Katzen verhungern. Verdursten. Nein, da stand Gießwasser. Im Regal eine halbvolle Packung mit Trockenfutter. Und Katzen waren klug.

Lena sah drei großäugige klapperdürre Gerippe durch eine weitläufige Altbauwohnung staksen. Hörte das Tippen ihrer viel zu langen Krallen auf dem Parkett. Langgezogene Schreie, die ihr durch Mark und Bein gingen. Über allem lag der scharfe Geruch von Katzenpisse und Kot.

Die Leute fuhren weg und übergaben fremden Menschen, von denen sie kaum den Namen kannten, Wohnung und Tiere zur Pflege und verließen sich darauf, beides wohlbehalten vorzufinden, wenn sie gebräunt und übermüdet – mit quengelnden Kindern an der Hand und Trolleys voller Schmutzwäsche – wieder vor der Tür standen.

Sie würden den Schaden begutachten, den Dreck, die toten Pflanzen. Würden anrufen, aufgebracht, erzürnt, zunehmend wütender, während das Läuten in einer leeren Wohnung ein paar Bezirke weiter verhallte. Oder in einem Hinterhof, dachte sie.

Keine Adresse, kein Familienname. Eine Empfehlung genügte im Allgemeinen, um Zugang zur Wohnung, zum Leben anderer zu bekommen. Ein Vorname, eine Handynummer. Ein kurzes Gespräch.

»Lena. Eine Abkürzung, oder? Wie heißt du mit ganzem Namen? Magdalena?«

»Milena.«

Er wirkt überrascht. »Woher kommst du?«

»Aus Salzburg.«

»Nein, ich meine … « Er verheddert sich. »Deine Familie.«

»Aus Salzburg.«

Wären die Schorns besorgt, wenn sie verschwinden würde? Oder voller Zorn? Würden sie nachsehen, die Nachbarn fragen oder es nach ein paar erfolglosen Anrufen dabei bewenden lassen und die Schlösser austauschen?

Und Wolfgang?

»Ich hatte Pech mit meiner letzten Aushilfe. Ja, wenige Tage nach dem ersten Lohn war sie weg. Hat mich im Regen stehen lassen, mitten in der Urlaubszeit, stellt euch vor! Wenigstens hat sie den Schorns nicht die Wohnung ausgeräumt. Sehr unangenehm, das. Nun, man kann in niemanden hineinschauen. Und im Allgemeinen sind sie ja zuverlässig.«

So in etwa? Nein, sie tat ihm unrecht. Er würde sich Sorgen machen. Nachsehen. Bestimmt. Sie öffnete das Ablaufventil, stieg aus der Wanne, rubbelte sich trocken und hüllte sich in ein großes Badetuch.

Wer blieb sonst? Steffi war noch gut ein halbes Jahr unterwegs. Mit Elias herrschte seit zwei Wochen endgültig Funkstille. Erst verletzt, dann zornig hatte sie die Handynummer gewechselt, auf Facebook ihren Status geändert und zwei Tage später den Account stillgelegt. Von den anderen, die sie zurückgelassen hatte, würde sich niemand wundern, wenn sie eine Zeitlang nichts von sich hören ließ. Ihre Freundinnen – zum Großteil frühere Kolleginnen – und die wenigen Freunde waren während ihrer Beziehung mit Elias nach und nach verlorengegangen.

Hier, in Wien, kannte sie noch niemanden. Die Nachbarin rechts – Mittelalter, Hüftleiden – bekam kaum die Lippen auseinander, um »guten Morgen« zu wünschen. In der Wohnung links hörte Lena fallweise jemanden gehen oder ein Fenster zuschlagen. Oft brannte die halbe Nacht Licht. Wer immer dort lebte, schlief noch, wenn sie das Haus verließ, und machte die Nacht zum Tage. Im Lift Zufallsbegegnungen, die sie nicht zuordnen konnte.

Du bist das perfekte Opfer! Die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag.

Hatte sie eigentlich abgeschlossen? Die Sicherheitstür hatte außen einen Knauf. Trotzdem … Sie raffte das Badetuch zusammen, lief barfuß durch den Flur.

Prallte zurück: Die Klingel! Jemand war an der Tür. Sie verharrte, nur durch das Türblatt vom Unbekannten getrennt, und wagte kaum zu atmen. Ihr Puls flog. Es musste bereits acht, halb neun sein. Wieder schrillte die Glocke. Nachdrücklich. Fordernd. Ein Fremder, ganz sicher! Mit der ganzen Hand auf der Klingel – so läutete kein Nachbar. Wie war er ins Haus gekommen? Sie beschloss, sich totzustellen. Sie kannte hier niemanden. Ein Notfall? Feuer? Sie schnupperte: Nein. Überlegte, durch den Spion zu schauen, und verwarf den Gedanken sofort. Damit war klar, dass jemand zu Hause war! Sie sah sich selber: halbnackt im Flur, hektisch um sich blickend, das feuchte Badetuch über der Brust gerafft. Die Klingel gellte in ihren Ohren.

Sie machte kehrt und floh ins Wohnzimmer. Auf Zehenspitzen, wie sie grimmig feststellte. Sie schlich durch ihre Wohnung, nur, weil jemand an der Tür war! Anläutete. Sie löschte das Licht.

Plötzlich war es still. Sie wartete. Der Unbekannte hatte aufgegeben. Sie tappte zum Fenster und spähte auf die Straße. Hob zögernd den Blick. Natürlich war niemand auf dem Dach! Sie behielt den Gehsteig vor dem Haus im Auge.

Sie hätte sich ohrfeigen können. Wie konnte man so himmelschreiend blöd sein, sich ohne Not eine Paranoia anzuzüchten! Irgendein Zeug zu rauchen, sich den Kopf zu vernebeln, weil man sich nach knapp zwei Wochen beinahe allabendlichem Putzen, Waschen und Aufräumen in der nun wieder ordentlichen Steffi-Wohnung, in der neuen Stadt, plötzlich sehr allein gefühlt hatte. Weil kein Wein mehr da war. Weil man sich nicht aufraffen konnte, irgendwohin zu gehen. In ein Lokal. Sich an eine Theke zu stellen. Jemanden anzureden.

Es konnte dieser Mann da gewesen sein. Er war dunkel gekleidet und trug eine Umhängetasche. Er verlangsamte den Schritt, zögerte, wandte sich dann um und schaute zu ihren Fenstern herauf. Sie ging in Deckung. Als sie wieder auftauchte, war er verschwunden. Oder dieses Paar, die Frau … nein – die hatte kürzere Haare. Nein, der da! Es war hoffnungslos. Hirngespinste. Die Straßenlampen gingen an. Ein Pizzazusteller fuhr vorbei. Lena legte sich auf das Sofa und starrte ins Dunkel.

»Mörder!« Sie erwachte mit einem Schrei. Wo war sie? Der Raum war in rötliches Licht getaucht. Um sie zerknüllte Kissen. Sie selber halb nackt, bis zur Hüfte in ein Badetuch gewickelt. Sie hatte die Nacht auf dem Sofa verbracht! Ihre Füße tasteten über den rauen Stoffbezug. Ihr Herz schlug wie wild, der Mund war ausgedörrt, der Hals brannte. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie begriff: ein Traum. Sie hatte nur geträumt!

Der Mann zwingt sie zu springen, und obwohl die Aussichtsplattform gut besucht ist, greift niemand ein. Zwei Paare stehen eng umschlungen und küssen sich, Kinder wirbeln wie wild gewordene Kreisel zwischen den Erwachsenen herum und spielen Fangen. Direkt neben ihr hantiert ein dicker Mann gelassen mit einem imposanten Teleobjektiv, während ihr Mörder, der kein Gesicht hat, näher rückt und sie an den brüchigen, ungesicherten Rand drängt: »Spring!«

Rostige Eisenteile ragen ins Leere. Sie sieht sich – plötzlich von außen – an einem Balken hängen bleiben, über dem Abgrund baumeln wie in einem Horrorfilm. Sieht Straßen, Autos, Menschen unter sich, bevor ihr Blick verschwimmt. Ein Dröhnen in den Ohren, sie hofft, ohnmächtig zu werden, spürt, wie der Stoff reißt. Dann fällt sie – und schreit. Schreit.

Sie träumte sonst nie. Legte sich abends hin und schlief wie ein Stein. Sprang morgens vergnügt aus dem Bett. Alles war durcheinander. Sie musste es wieder in den Griff kriegen, etwas dagegen tun.

Nun stieg langsam die Sonne empor. Der beeindruckende Scherenschnitt einer Dachlandschaft mit Kränen vor flammendem Rot. Sie wickelte sich in das Badetuch und ging zum Fenster. Schaute auf die stille Straße hinunter.

Sie war ständig allein. Kein Wunder, dass das ganze Zeug in ihren Schlaf kroch und sie verrückt machte. Ich sollte endlich ausgehen, Leute kennenlernen. Sie hatte es sich einfacher vorgestellt.

Sie lief hinunter und holte die Zeitungen. »Alle drei?«, fragte der Trafikant. Sie nickte. Kaufte in der kleinen Bäckerei nebenan Milch und ein Brioche, machte Kaffee und setzte sich an den Tisch am Fenster.

Die Sonne streichelte ihren linken Oberarm, wanderte langsam über die Schulter und legte sich auf ihren Nacken. Diese Wohnung war ein Glücksgriff, ihr ganz persönlicher Lottogewinn. Lena kaute, genoss die Wärme und sog den Kaffeeduft ein, nahm hin und wieder einen Schluck, während sie akribisch Seite um Seite die Zeitungen durchsah und nach einer Toten fahndete, von der sie hoffte, dass es sie nicht gab.

»Leiche gefunden.« Ihr Herzschlag setzte aus. »Tote lag tagelang in Wohnung. Keiner der Nachbarn hat etwas bemerkt.« Porzellan klirrte auf Porzellan, der Kaffee ergoss sich über die Seiten. Es dauerte eine Weile, bis sie begriff: Die Frau war alt, der Fundort eine Villenetage im Botschaftsviertel.

Wenn das so weiterging, war sie über kurz oder lang ein Nervenbündel. Niemand hat gemordet. Es gibt keine Tote. Alles wird gut. Es war, als würde man sich selber in den Arm nehmen. Durch einen finsteren Wald stolpern und sich lautstark versichern, dass man keine Angst zu haben brauchte. Ungeheuer gibt es nicht!

Sie fuhr ihr Notebook hoch, löschte eine Menge Spam und schickte eine E-Mail an Steffi:

geht’s dir gut, gibt’s schon fotos? die vernichtung der beweismittel ist abgeschlossen.;-) die belohnung hatte es in sich.:-*, lena

Dann klappte sie den Laptop zu, knüllte die nasse Zeitung zusammen und stellte ihre Tasse in den Geschirrspüler. Sie brachte den Müll hinunter, bezog das Bett neu und startete eine Waschmaschine. Um halb elf verließ sie das Haus.

Sie hatte Steffi erst vor kurzem wiedergetroffen. An einem trüben, regnerischen Tag Anfang März standen sie einander plötzlich an einem der Wühltische im Großkaufhaus gegenüber.

»Steffi?«

Es war nicht zu fassen: Ihre Bekannte schob langsam, ohne sich im Geringsten um ihre Umgebung zu kümmern, ein cremefarbenes Spitzenhemdchen in die Innentasche ihrer Jacke und zog seelenruhig den Zipp zu. Sie stutzte, riss die Augen auf, strahlte sie an und fiel ihr um den Hals.

»Hey, was machst du denn hier? Wie geht’s dir? Seit wann bist du in Wien?« Sie duftete nach einem teuren Parfum. »Ich freu mich so, dich zu sehen. Du bist nicht mehr mit Elias zusammen, hab ich gehört? Das war immer cool mit euch beiden.«

»Ich arbeite hier«, sagte Lena hölzern und sah sich hektisch um. Die war verrückt. Überall waren Kameras installiert. Gleich würden der Detektiv oder Frau Schauer, die sich einen Sport daraus machte, Ladendiebe zu jagen, neben ihnen auftauchen und die Polizei rufen. Und dann? Oh nein, man wird uns für Komplizinnen halten! Sie konnte unmöglich da stehen bleiben.

»Ich dachte, du arbeitest im Spital?« Steffi hatte die Ruhe weg. Sie zog ein Spitzenhöschen aus dem Wäschehaufen und hielt es prüfend hoch. »Hübsch, oder?«

»Lass das. Hier sind überall Kameras.«

»Komm, entspann dich.« Steffi warf das Spitzending achtlos zurück. »Ein bisschen Nervenkitzel, ich brauch das. Mich erwischt schon keiner.«

»Kommst du öfter her? Wie lange machst du das jetzt schon?«

»Willst du den Detektiv auf mich hetzen?« Steffi lachte. »Ich bin das erste Mal hier, Lena, ich schwör’s. Wollte nur einmal schauen … Lena, was ist denn? Hey, tut mir leid.« Sie legte ihr den Arm auf die Schulter. »Ich … es ist wie ein Spiel, weißt du. Ein Kick. Stöbern. Shoppen. Hin und wieder was mitgehen lassen.«

»Du bist noch nie erwischt worden?«

»Einmal, vor einem halben Jahr. Zu Hause. War ziemlich peinlich. Die Sache wurde aber außergerichtlich geregelt. Mein Vater hat sich darum gekümmert. Du weißt ja, er kennt Gott und die Welt. Und du? Seit wann bist du in Wien? Wo wohnst du? Du lieber Himmel, ist das schade, dass wir uns erst jetzt treffen. Es ist unglaublich öd, allein wegzugehen. Mein ganzer Freundeskreis ist ja in Salzburg. Wir hätten … «

»Frau Lena, Sie können jetzt in die Pause gehen! Dreißig Minuten.«

Sie fuhr herum. Die Schauer! »Danke«, stammelte sie und hielt die Luft an. Jetzt! Aber ihre Chefin eilte weiter.

Steffi redete immer noch auf sie ein: »Meine Eltern haben mich zu einer Reise überredet. Ich fliege Anfang April. Ja, allein. Sag, Lena, hast du Lust auf einen Kaffee?«

»Nein, ich … okay«, sagte Lena matt. »In zehn Minuten. Gegenüber. Ich muss mich noch umziehen.« Sie wollte nicht dabei sein, wenn man Steffi ins Büro bat und höflich ersuchte, ihre Tasche zu öffnen und die Jacke auszuziehen.

Nichts dergleichen geschah. Als sie das Café betrat, saß ihre Bekannte bereits vor einem Latte und winkte ihr fröhlich zu. »Ich hab schon bestellt. Melange, oder?« Lena nickte.

Da hatte sie zum ersten Mal von der Wohnung gehört.

»Die steht leer, während ich weg bin. Meine Eltern wollen bei Gelegenheit nach dem Rechten sehen. Ich muss noch aufräumen, die trifft sonst der Schlag. – Ein paar Monate, halbes Jahr ungefähr, vielleicht länger. Mal sehen. Mein Vater hofft, dass ich danach weiß, was ich will. Also beruflich. Und dass ich die Sache da«, sie klopfte auf ihre Jacke, die neben ihr auf der Sitzbank lag, »in den Griff kriege. Wenn du magst, wenn dich das Chaos nicht stört, kannst du einziehen. Ja, sicher. Das ist es!«, rief Steffi enthusiastisch. »Dann spare ich mir den Stress mit den Eltern. Ich bin mitten in den Reisevorbereitungen. Momentan sieht es aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen. – Die Wohnung gehört mir«, nahm Steffi ihren Einwand vorweg. »Du zahlst die Betriebskosten weiter. Machst ein bisschen sauber. Räumst auf. Wenn dir irgendwas von meinen Klamotten gefällt«, sie lachte und zwinkerte Lena zu, »bedien dich. Ich mach mir nichts aus dem Zeug. Komm, Lena, komm, sag ja.«

Nach kurzem Zögern schlug sie ein.

Lena trödelte und blinzelte ins Helle. Sie hatte noch Zeit. Sollte sie gleich hingehen? Nachsehen? Sich überzeugen, dass alles in Ordnung war. Kein Mord. Kein Unfall. Keine Tote im Hof.

Ein bisschen Detektivarbeit. Vielleicht war die Tür ja diesmal offen? Sie konnte hineinschlüpfen, wenn jemand das Haus verließ. Sie wechselte die Straßenseite. Sie würde klingeln. Ich muss etwas abgeben. Die Postkästen kontrollieren. Ob einer überquoll. In den Hof gehen. Sich vergewissern, dass nichts geschehen war, und dann mit dem Thema abschließen. Bei Tag war alles plötzlich ganz einfach.

Sie hörte Schritte hinter sich und trat zur Seite.

»Hab ich dich!« Der Aufprall warf sie fast um. Sie schrie auf, ihre Knie gaben nach. Ein Überfall!

Sie klammerte sich an ihre Tasche, stolperte und versuchte sich loszureißen. Rammte ihre Ellbogen nach hinten. Trat nach dem Angreifer. Ein Aufschrei. Sie kam frei. Hörte ihn keuchen. Wirbelte herum und ging auf Abstand. Ihr Herz schlug wie wild.

Der Mann presste seine Hand gegen den Magen und atmete schwer. Er war unbewaffnet. »Entschuldigen Sie«, stammelte er und wich zurück. »Eine Verwechslung. Ich habe Sie verwechselt. Ich wollte Sie nicht – erschrecken.«

»Was willst du? Bist du verrückt?«, schrie sie ihn an. Er war kaum älter als sie. Durchschnitt, mittelgroß.

Der auf dem Dach, dachte sie plötzlich in Panik, wie sah der aus?

Es konnte hinkommen. Er hatte sie gefunden! Ich muss auf mich aufmerksam machen. Schreien! Sie blickte gehetzt um sich und brachte keinen Ton heraus. Er wird es nicht wagen! Sie bekam kaum noch Luft. Da waren Menschen. Man wird mir helfen! Bestimmt. Eine rundliche Frau auf der anderen Straßenseite blieb stehen, sah zu ihnen herüber und ging dann weiter. Ein Mann mit Kinderwagen und einem widerstrebenden Kleinkind an der Hand überholte sie. Rundherum Leute. Alles wie immer.

Nun war sie sich nicht mehr sicher: Der Radfahrer von gestern? Nein, der hier war breiter gebaut. Er trat von einem Bein aufs andere, schien unschlüssig, kam dann näher.

»Was soll das?«, pfauchte sie, immer noch aufgewühlt. »Willst du mich umbringen?«

»Nein. Wär schade um dich.« Ein impertinentes Grinsen. Sie holte aus. Der Schlag saß. Aber der Typ war hart im Nehmen: »Okay, das war jetzt der Ausgleich.« Und nach einer Pause: »Machst du Kampfsport oder so was?« Er rieb sich die Wange.

»Kann ich Ihnen helfen?« Plötzlich stand die Frau von vorhin da. Sie musterte Lenas Gegenüber besorgt und fummelte hektisch an ihrem Handy herum. Dabei behielt sie sie ängstlich im Blick.

»Sehr nett von Ihnen«, bedankte sich der Mann. »Aber – das war bloß eine Trainingseinheit. Wir üben Stunts«, er zwinkerte Lena zu, »für den Film.« Der war nicht bei Trost!

»Ach so.« Die Frau grinste unsicher, lächelte ihn dann an und steckte ihr Handy weg. Gleich würde sie ihn nach einem Autogramm fragen.

»Ich weiß – schaut verdammt echt aus. Jedenfalls cool, dass Sie eingreifen. Das trauen sich die wenigsten.«

Jetzt strahlte sie.

Lena drehte sich um und ging.

Sofort war er wieder neben ihr. »Du kannst nicht einfach so weggehen.«

»Und ob ich kann. Hau ab.« Sie wurde schneller.

Er blieb an ihrer Seite. »Ich hab dich vor einer Anzeige bewahrt. Körperverletzung. Die Frau war wild entschlossen … « Er wies auf seine Wange. Der Abdruck ihrer Hand war noch gut zu sehen.

»Und der Überfall?« Lena blieb abrupt stehen. »Wie willst du das erklären, hm?«

»Herr Inspektor, sie hat mir gefallen … « Ein breites Grinsen.

»Idiot!«

»Ich heiße Georg.« Er hielt ihr die Hand hin.

Sie verschränkte die Arme vor der Brust.

»Was willst du: Soll ich auf die Knie fallen und um Vergebung bitten? Ich mach’s.« Er legte die Hand aufs Herz.

Nur das nicht! Der war dazu imstande. »Lena«, sagte sie widerstrebend.

»Lena, du bist nachtragend.«

»Nicht nur Stuntman. Sondern auch noch Psychologe. Respekt.«

»Ich arbeite in einer Bank. Ist nicht besonders aufregend. Ich wohne da vorne. Ich kann dir gern Führerschein, Meldezettel und Gehaltsnachweis vorlegen.«

»Führerschein genügt fürs Erste.«

Ohne mit der Wimper zu zucken, griff er nach seiner Brieftasche und hielt ihr das Dokument hin. Georg Neudeck, zwei Jahre älter als sie, hatte den Schein wie sie mit achtzehn gemacht.

»Hast du ein Motorrad?«

»Willst du einmal mitfahren?«

»Sicher nicht!«, pfauchte sie. Sie drehte sich um und trabte los.

Die nächsten Tage verliefen eintönig. Lenas Gedanken kreisten um das Haus, die drei auf dem Dach. Sie putzte die Fenster, kaufte Kleiderbügel und brachte Ordnung in Steffis begehbaren Schrank. Immer wieder fand sie Wäsche, an der noch das Preisschild hing, ungetragene Pullover und Modeschmuck, Sonnenbrillen und zahllose Lippenstifte, die sie nach Farben ordnete. Sie las aufmerksam die Zeitungen. Fand keinen Hinweis und kam dennoch nicht zur Ruhe. Sie stand gegen sieben auf, fütterte auf dem Weg zur Arbeit den phlegmatischen Kater der Schorns, wässerte gewissenhaft die großen Grünpflanzen im Haus und auf der Terrasse, immer in Sorge, eine zu übersehen, und fuhr am Abend in die andere, etwas weiter entfernte Wohnung. Hier waren drei Katzen zu versorgen. Sobald sie die Tür aufschloss, drängten sie sich an sie, strichen um ihre Beine und sprangen jammernd an ihr hoch. Nur mit Mühe gelang es ihr, die frisch gefüllten Schüsseln unfallfrei zum Futterplatz zu bringen. Während die Tiere mit vorgereckten Hälsen hastig schlangen, ging Lena durch die Räume der abgelebten Altbauwohnung und entfernte mit angehaltenem Atem ihre Hinterlassenschaften.

Auf dem Rückweg spähte sie zum Haus hinüber und versuchte es noch einmal. Die Eingangstüre war verschlossen. Sie wartete eine Weile. Keiner verließ das Gebäude, niemand kam.

Gegen halb neun war sie wieder zu Hause. Reinigte das verstopfte Waschbecken im Bad. Stand in der Küche und studierte die Kochanleitung eines Nudelgerichts auf der Rückseite der Packung. Sie aß lustlos vor dem Fernseher und spülte das Geschirr. Der Abend zog sich. Sie schaute lange aus dem Fenster. Zerteilte und aß einen Apfel. Klappte ihr Notebook auf und wenig später wieder zu. Legte sich aufs Sofa und starrte an die Decke. Hörte Musik. Sprang auf und ging ins Badezimmer. Überlegte, noch einmal aufzubrechen. Tanzen zu gehen. Oder ins Kino. Sie trödelte. Verlor sich dann im Internet und kroch lange nach Mitternacht völlig verspannt ins Bett.

Am zweiten Tag färbte sie sich die Haare. Tiefschwarz. Sie sah blass und fremd aus. Lustlos blätterte sie in einem der Modemagazine aus dem ordentlichen Stapel neben dem Sofa. Einem zweiten. Legte sie genervt beiseite. Ging ins Bad, wählte aus Steffis Lippenstiftsammlung mehrere aus und schnupperte daran. Sie trat ganz nahe zum Spiegel und malte sich den Mund rot. Es sah aus wie eine Wunde. Energisch wischte sie die Farbe wieder ab. Sie legte einen blassroten Stift auf die Ablage und die anderen zurück in die Lade. Dann schnitt sie sich Stirnfransen und besserte nach, bis sie schließlich zufrieden war.

Der Sonntag begann grau und verregnet. Sie erwachte früh und konnte nicht mehr einschlafen. Sie kochte Kaffee. Starrte hinaus in das Grau, schnitt sich ein Stück Brot ab und legte es wieder hin. Betrachtete sich lange im Spiegel, strich sich die noch ungewohnten Fransen aus der Stirn, verzog das Gesicht, nahm seitlich die Haare hoch und ließ sie wieder los. Gut, befand sie und stieg in die Dusche. Eine halbe Stunde später zog sie die Wohnungstür hinter sich zu. Sie musste raus! Spazieren gehen. Ins Kino, was auch immer. Dieses Herumlungern in der Wohnung macht mich noch verrückt.

Auf dem Fußabstreifer lag Werbematerial. Sie bückte sich danach. Unglaublich, wie oft jemand Prospekte, Zeitungen, irgendwelches Zeug in die Tür steckte oder davor ablegte. Eine Einladung für Einbrecher. Man sah sofort, schon nach wenigen Tagen: Hier war niemand zu Hause. Sie stutzte. Sie konnte nachsehen, ob das in einer der Dachgeschosswohnungen gegenüber der Fall war. Irgendwo klingeln. In den fünften Stock fahren. Feststellen, dass sie sich geirrt hatte. Niemand gefallen war. Niemand ermordet.

Sie ging zum Lift und drückte den Knopf.

Die Tür zur Nachbarwohnung öffnete sich einen Spalt. »Waren Sie zufrieden?« Eine Frauenstimme mit leichtem Akzent.

»Ja, Sie machen das perfekt. Moment – vergessen Sie das Geld nicht.« Ein Mann. »Iveta?«

»Ja?«

Der Lift kam. Lena blockierte die Tür und wartete.

»Mein Angebot steht. Wenn Sie für mich arbeiten wollen … «

»Danke. Ich überlege es mir.« Die Frau schien es eilig zu haben. »Bis nächste Woche dann.«

»Überlegen Sie nicht zu lange.«

Leichte schnelle Schritte. Die Tür flog auf. Lena sah einen Mann in Shorts, um die vierzig mit rasierter Glatze und reichlich Muskeln. Er nickte ihr zu und musterte sie.

Sie grüßte ihn, ohne eine Miene zu verziehen, trat zur Seite und lächelte die Frau an. Sie war schön. Ein ebenmäßiges Gesicht mit hohen Wangenknochen. Mittelscheitel, die glatten blonden Haare nachlässig hochgesteckt.

Die Frau hielt den Blick gesenkt, während der Lift nach unten summte und schließlich mit einem Ruck stehen blieb. Sie wühlte in ihrer Tasche, zog ein Tuch hervor. Einen roten Schirm. Ihre Blicke trafen sich. Große blaue Augen. Ein scheues Lächeln. »Auf Wiedersehen.«

»Auf Wiedersehen.« Scheißkerl, dachte Lena und zog energisch den Zipp ihrer Regenjacke hoch.

Drei Tage später sah sie die Frau in der Fußgängerzone wieder. Sie schlüpfte direkt vor ihr aus dem Seiteneingang eines Nachtlokals, versperrte die Tür und hastete, ohne nach links oder rechts zu blicken, die Straße entlang. Ihre Schuhe klackten auf dem Asphalt. Sie hatte die Haare mit einer Spange hochgesteckt. Eine Strähne wippte bei jedem Schritt. Sie trug Jeans und eine große graue Tasche über der Schulter. Lena sah ihr nach, bis sie im Gewühl der angrenzenden Einkaufsstraße verschwand.

||

Er hatte ihr versprochen, sich darum zu kümmern. Die Tote wegzuschaffen. Er dachte gar nicht daran, aber sie hatte ihm wie immer geglaubt.

Es besteht keine Gefahr, dass jemand die Leiche findet, überlegte er. Kein Schwein zwängt sich ohne Grund durch das schmale Klofenster, um den Lichthof zu inspizieren. Wer da zu liegen kommt, bleibt liegen. Er würde also den Teufel tun.

»Ruf mich nicht an. Das ist riskant. Ich sag dir Bescheid, wenn alles erledigt ist.«

Sie dreht ihren Ring am Finger. Nickt. Er kann ihren Blick nicht deuten. »Wo bringst du sie hin?«

»In den Wald. Ich … «

Sie unterbricht ihn sofort. »Du darfst sie nicht einfach ablegen. Die Tiere … « Sie zögert. »Ein Grab«, stammelt sie. »Du wirst sie doch begraben?«

»Jaaa.«

»Versprich es mir.« Sie packt seine Hände. »Versprich …!«

Er hätte es wissen müssen: Seit dieser Sache klebt sie an ihm. Ständige Anrufe, der Wunsch, ihn zu treffen. Zu reden. Er wird sie nicht mehr los. Immerhin: Die Medikamente machen sie ruhiger. Sie wirkt fahrig, aber weniger hysterisch als zuletzt.

»Vielleicht solltest du ein paar Tage wegfahren«, schlägt er vor. »Bis alles vorbei ist. Nimm dir Urlaub.«

»Und du?«

»Was meinst du?« Manchmal versteht er sie nicht.

»Warum machst du das alles?«

Ich werde verdammt viel Geld haben, wenn ich den Schein einlöse, denkt er. »Ich will nicht, dass du in Haft kommst. Dass dein Leben vorbei ist«, sagt er sanft. Er kann ihre Angst an- und ausknipsen. Mit zwei, drei Worten. Ihre Schuldgefühle und ihre Dankbarkeit. Es beginnt ihn zu langweilen. »Griechenland«, sagt er müde. »Irgendeine kleine Insel. Du kannst spazieren gehen, fotografieren, malen. In der Sonne liegen. Du kommst auf andere Gedanken. Und wenn du zurück bist, ist alles geregelt.«

Sie zögert. »Ich kann doch nicht wegfahren, während du … ich kann dich doch jetzt nicht allein lassen.«

Er hätte sie vom Dach stoßen sollen! Dem ersten Impuls folgen. »Genug! Es ist genug, hörst du! Es reicht!« Er fängt an zu schreien. Packt sie an den Oberarmen, schüttelt sie und brüllt, bis er heiser ist und sie heult.

»Entschuldige bitte«, schluchzt sie, »entschuldige.«

Er stößt sie weg. Sie taumelt, knallt gegen ihren Bücherschrank, verzieht das Gesicht und reibt sich die linke Schulter. Recht geschieht es ihr, denkt er. Sie rutscht langsam nach unten und kommt auf dem Boden zu sitzen. Er blickt auf ihren Scheitel, die nackten, nach außen gedrehten Beine. Sie hat die Arme vor der Brust gekreuzt und wiegt sich ganz leicht vor und zurück.

»Ich hab auch nur Nerven. Du provozierst mich. Machst du das absichtlich? Was? Was sagst du?« Er zerrt an ihrem Arm und stößt sie dann von sich.

Sie reißt die Augen auf. »Ich wollte … «, piepst sie.

»Du wolltest was?« Er wird lauter. »Es ist schwer genug. – Kathrin … « Er fährt sich mit der Hand übers Gesicht und verharrt eine Weile so. Kathrin ist nur noch ein Name.

Sie zittert. Will etwas sagen, schüttelt dann den Kopf. Mit ihrer langen hellen Mähne wirkt sie zerbrechlich und trotz der geröteten Augen schön. Sie neigt den Kopf. Dichte Wimpern. Alabasterhaut. Er greift ihr ins Haar. Zwingt sie, ihn anzusehen. Löst den Gürtel.

»Nicht«, flüstert sie. »Nicht.« Er lächelt. Er knöpft ihr die Bluse auf, streicht mit den Fingerspitzen ganz leicht über ihren Brustansatz, zieht sie näher zu sich heran. Sie wehrt sich ein bisschen.

Eine halbe Stunde später verlässt er die Wohnung.

||

Über Nacht war es Sommer geworden. Lena lag auf einer bunt gestreiften Decke in der Wiese. Flugzeuge tauchten durch bauschige Wolken und hinterließen eine sich kräuselnde, langsam zerfließende Spur im kitschigen Blau. Der Wind strich durch die Baumkronen und über ihre nackten Arme. In einiger Entfernung saßen Großfamilien beim Picknick, spielten Kinder Fangen, schmiegten sich Paare aneinander. Sie hatte den Park durch Zufall entdeckt: einen englischen Landschaftsgarten mit Bäumen, Teichen und exotischen Pflanzen. Unweit der Liegewiese gab es einen Kleinkinderspielplatz, einen Kiosk und einen Streichelzoo. Auf dem Fußballplatz tobten ein paar Halbwüchsige. Bälle prallten auf den harten Boden und gegen die Gitter des Käfigs. Sie schloss die Augen. Lachen, Schreien und Quietschen vom Spielplatz. Es roch nach Gras, nach Sonnenöl und Sonntagsbraten. Nach Staub und süßem Klee. Bienen summten.

Erinnerungen an die Kindersommer im Freibad wurden wach. Fast vermeinte sie, das stark gechlorte Wasser zu riechen. Pommes frites. Wassereis mit Himbeergeschmack. Sie wartete auf das schrille Pfeifen des Bademeisters, mit dem er die Rabauken zur Raison brachte, die sie heimlich bewundert hatte, weil sie alles probierten, was verboten war. Sie war hingerissen von den Wasserspringern. Einmal, als sie schon leidlich schwimmen konnte, war sie auf den Turm geklettert, rasch, ohne ihrem Vater etwas zu sagen, ohne nachzudenken, ohne hinunterzusehen, und gesprungen – um sich zu beweisen, dass sie es auch konnte. Um es hinter sich zu haben. Der Aufprall nahm ihr die Luft. Sie ging unter wie ein Stein, schluckte Wasser, hustete, geriet in Panik. Riss die Augen auf. Sie sah strampelnde Beine, Badehosen, bekam einen Tritt gegen die Hüfte, einen Stoß gegen die linke Schulter, trudelte, tauchte auf – und schnappte nach Luft. Sie würgte, keuchte. Ihr Hals brannte. Rotz lief ihr aus der Nase, die Ohren dröhnten. Dann setzten die Freibadgeräusche wieder ein. Langsam schwamm sie zum Beckenrand und klammerte sich daran fest, bis das Zittern nachließ und ihr Herzschlag sich beruhigt hatte. Als sie den Freischwimmerschein machen sollte, verfiel sie in Panik und sperrte sich in der Umkleidekabine ein. Sie schämte sich ihrer Angst, aber sie gab nicht nach. Schließlich nahm der Vater sie aus dem Kurs. Es dauerte lange, bis sie wieder ins Wasser ging. Sie blieb eine Sonntagsschwimmerin.

Sie drehte sich auf den Bauch und streckte sich. Die Sonne machte sie müde. Sie hörte Krähen zetern. Das schnarrende Zirpen einer einsamen Grille. Kinderlachen aus großer Entfernung. Langsam verschwamm die Geräuschkulisse. Sie dämmerte ein.

Ein harter Schlag gegen den Kopf, ein dumpfer Schmerz. Benommen rappelte sie sich auf und tastete mit der Hand ihren Hinterkopf ab. Mit dem Blick die Umgebung. Um sie herum immer noch Sommeridylle. Spielende Kinder, zwei junge Familien beim Picknick. Staubwolken und halbnackte Spieler im Fußballkäfig. Vor ihr im Gras lag eine Frisbeescheibe.

Ein Mann rannte auf sie zu. »Entschuldige bitte, ich war zu langsam. Er wirft ziemlich hart. Hast du dir wehgetan?« Er ging in die Knie. »Lass sehen.« Schräggestellte grüne Augen, ein besorgter Blick.

Sie zuckte zurück. »Nein, schon okay«, wehrte sie ab. »Tut nicht weh. Kein Problem. Ich bin bloß erschrocken. – Muss wohl eingeschlafen sein«, ergänzte sie nach einer Pause.

»Tut mir leid.« Er angelte nach der Scheibe und hockte sich neben sie ins Gras. Er war groß und schlaksig. Trotz der Hitze trug er eine Mütze und ein Langarm-Shirt. Er zögerte. »Magst du mitspielen? Wir … entschuldige, ich bin … «

»Max – Vorsicht! Abstand! Die ist gefährlich!«

Beide fuhren herum. Lena hielt die Luft an. Das war doch der Kerl von letztens! Der sie auf der Straße überfallen hatte. Gregor oder so.

Mit einem breiten Grinsen kam er auf sie zu. »Ich hätte dich fast nicht wiedererkannt. Was hast du mit deinen Haaren gemacht?«

»Ihr kennt einander?« Max sah vom einen zur anderen und runzelte die Stirn.

»Wonach sieht es aus?« Sie verschränkte die Arme vor der Brust.

»Kratzbürste!« Der Kerl lächelte vergnügt, beugte sich vor, streckte ihr die Hand hin und sagte betont deutlich: »Hallo, Georg. Schön, dich wiederzusehen. – Ist doch nicht so schwer, oder?«

»Hast du es irgendwie auf mich abgesehen oder was?« Blitzschnell war sie auf den Beinen.

»Wenn du so fragst … « Sein Lächeln wurde breiter.

Unfassbar. Was bildet der sich ein! »Dein Freund ist ein Psycho«, informierte sie Max. »Der überfällt Frauen auf der Straße und findet das lustig.« Sie wirbelte herum. »Kannst du dich nicht wie ein normaler Mensch benehmen, hä? Was passiert als Nächstes? Fährst du mich über den Haufen? Stellst du Fallen auf?«

»Womit wärst du denn zu ködern?« Der Typ machte sich über sie lustig!

Der andere, Max, schien etwas sagen zu wollen, überlegte es sich anders, griff sich die Scheibe und trabte los. Der ist in Ordnung, dachte sie. Ruhig, aufmerksam, unaufdringlich. Kein überflüssiges Wort, kein Posen. Was der an so einem fand?

Georg musterte sie. Er stand neben ihr, die Hände in den Hosentaschen. »Immer noch sauer? Ich … « Er lächelte. Schien sich über sie zu amüsieren. Arrogant, dachte Lena. Einer von den ganz Coolen, der sich sicher ist, immer zu gewinnen. Früher wäre sie unter seinem Blick errötet. Wut fühlte sich deutlich besser an.

Sein Handy läutete. Er seufzte genervt und drückte das Gespräch weg.

»Fang.« Max. Sie wirbelte herum und packte reflexartig zu. Schleuderte die Scheibe zurück. Max sprintete los und schaffte es knapp. Visierte Georg an. Der warf zu ihr. Schon waren sie mitten im Spiel. Eine Drehung aus dem Handgelenk. Loslassen. Das Frisbee segelte über das Gras und beschrieb einen Bogen, bis einer von ihnen es schnappte und zurückschoss. Ihr Spiel wurde härter, schneller. Sie rannte, hechtete nach links, nach rechts, streckte sich und sprang wieder auf die Beine. Sie keuchte und strahlte. Jagte die Jungs über die Wiese und wurde selber gejagt. Schwitzte, lachte. Es roch betäubend nach frischem Gras.

Max suchte ihren Blick, bevor er warf. Der andere forderte sie. Er täuschte einen gezielten Wurf an, pfefferte dann die Scheibe ungefähr in ihre Richtung. Er weckte ihren Ehrgeiz. Sie radierte über das Gras, knallte der Länge nach hin und hielt triumphierend das Frisbee hoch. Sie revanchierte sich mit harten Würfen und sah lachend zu, wie er verbissen kämpfte.

Irgendwann ließ Max sich bäuchlings ins Gras fallen. Sie setzte sich neben ihn. Ihr Gesicht glühte.

»Muss was trinken. Magst du auch?« Er griff in seinen Rucksack und hielt ihr eine große grüne Glasflasche hin. Erst jetzt merkte sie, wie durstig sie war. Sie trank, setzte ab und suchte in ihrem Rucksack nach den Taschentüchern.

Er sah sie unentwegt an. Seine Augen leuchteten. »Nicht nötig, gib her.« Er lachte. »Du bist ja nicht giftig.« Er setzte die Flasche an und trank mit geschlossenen Augen. Das Wasser lief sein Kinn, den Hals entlang und färbte sein rotes T-Shirt dunkel.

Sie tauschten ihre Handynummern aus. Verabschiedeten sich, als die Baumschatten länger wurden und der Lärm vom Kinderspielplatz verstummte. Auf dem Weg zur Straßenbahn summte sie vor sich hin. Winkte den beiden, als sie auf ihren Motorrädern an ihr vorüberbrausten. Mücken tanzten in der Abendsonne. Seit langem fühlte sie sich zum ersten Mal wieder leicht und glücklich. Spaziergänger, die ihr entgegenkamen, lächelten sie an.

Lena erwachte vergnügt und eine halbe Stunde früher als gewöhnlich. Sie frühstückte in dem kleinen Café in der Nähe und blätterte rasch die Zeitungen durch. Nichts, dachte sie erleichtert. Es war wie ein Mantra: Wenn etwas passiert wäre, hätte man sie schon gefunden. Da war nichts!

Trotzdem: Sie musste endlich in dieses verdammte Haus! Nachsehen. Dann konnte sie damit aufhören. Abschließen. Sie würde es morgen wieder versuchen. Irgendwann, zum Teufel, muss es ja klappen. Sie legte die Zeitungen beiseite und schaute auf ihr Handy: Keine Nachricht.

Sie lächelte. Er schläft sicher noch. Heute, irgendwann im Laufe des Tages, oder morgen würden sie telefonieren, einander wiedersehen. Wie er sie angesehen hatte: ruhig und konzentriert , als müsste er sich ihr Gesicht für immer einprägen … Er war anders als die meisten, die sie kannte. Ernster, dachte sie, erwachsener. Jemand, auf den man sich verlassen kann.

Sie zahlte und drängte sich in letzter Minute in die gerammelt volle Straßenbahn. Die Leute stiegen einander auf die Zehen, Schulkinder lärmten, ein Baby plärrte durchdringend. Jemand rammte ihr einen Rucksack ins Kreuz. Der Mann vor ihr schrie in sein Handy. Er stank aus dem Mund.

Sie floh bei nächster Gelegenheit und ging das letzte Stück zu Fuß. Ein strahlend schöner Morgen. Radfahrer, Kindergartenknirpse, entspannte junge Väter, die keine Eile hatten. Die Läden, die Cafés öffneten gerade erst. Das hier war eine andere Welt.

Die Tür zum Geschäft stand bereits offen. Ihr Chef lehnte am Verkaufspult und blätterte in einem dicken Katalog.

»Guten Morgen.«

»Hallo, Lena. Schönes Wochenende gehabt?«

»Ja.« Man sah es ihr an! Ihr wurde heiß unter seinem prüfenden Blick. Sie verstaute ihre Jacke, fuhr sich durch die Haare und sah sich um. Neben dem Eingang standen einige Kartons. »Neue Lieferung?«

Er nickte gleichgültig.

Okay, das ist also mein Job. Sie bückte sich nach einem der Pakete und trug es in den Nebenraum. Wo war das Stanleymesser? Sie schaute sich suchend um.

Wolfgang stand plötzlich hinter ihr. »Lass, Lena, ich mach das schon. Schau, ich muss dir etwas zeigen.« Er schob das Paket zur Seite und legte eine Architekturzeitschrift vor sie hin. Er deutete mit dem Finger auf eine ausladende Sitzlandschaft, die sündhaft teuer aussah. »Wie gefällt dir die?«

Sie war irritiert. Wieso …?

»Du hast einen guten Geschmack«, nahm er ihre Frage vorweg.

»Elegant«, befand sie. »Die braucht aber einen großen, fast leeren Raum, etwas wie ein Atelier oder … «

»Du hast recht. Ist was für Großverdiener.«

»Oder Erben.«

»Genau.« Er lachte und klappte den Katalog zu. »Sag, wie lebst du eigentlich?«

»In der Wohnung einer Bekannten. Im Dachgeschoss. Ein Traum. Ich kann dort aber nicht bleiben. Spätestens im Herbst braucht sie sie selber wieder.« Sie nagte an ihrer Unterlippe. »Bis dahin muss ich etwas gefunden haben. Klein und billig, mehr ist nicht drin. Ich muss wohl wieder nach unten ins Parterre.« Sie wollte gar nicht daran denken. Graue Wände und Straßenlärm vor den Fenstern. Laute Nachbarn. Wenig Licht.

»Kennst du niemanden, der … «

»Nein«, sagte sie kläglich.

»Ich kann mich umhören«, bot er an. »Vielleicht gibt’s ja eine andere Möglichkeit.«

»Ja, vielleicht«, sagte sie ohne rechte Überzeugung. »Danke.« Er wusste doch, wie wenig Geld sie zur Verfügung hatte! »Mit einem Vollzeitjob wäre es deutlich einfacher«, sagte sie forsch und warf ihm einen raschen Blick zu. War das nicht zu direkt? Zu frech?

»Schauen wir einmal.«

Was sollte das heißen? Hatte er vor, ihr einen Ganztagsjob anzubieten? Unwahrscheinlich. Der Laden warf kaum Gewinn ab. Sie musste so rasch wie möglich mit der Wohnungssuche beginnen. Mehr arbeiten, vielleicht wieder putzen gehen. Sie seufzte. Ihr war zum Heulen.

»Hey, was ist los? Was hast du?«

Sie wandte sich ab. »Ich hab mich verzettelt, lebe, als hätte ich alle Zeit der Welt«, murmelte sie. »Ich muss schleunigst anfangen zu suchen.«

»Es wird sich schon etwas ergeben«, beruhigte er sie.

Aber so funktionierte die Welt nun einmal nicht. Abwarten führte zu gar nichts. Alles blieb in der Schwebe. Sie musste endlich etwas tun.

Diesmal stand die Haustüre offen. Lenas Herz schlug schneller.

Auf Zehenspitzen huschte sie über den frisch gewischten Boden. Die Abdrücke ihrer Schuhkuppen waren deutlich zu sehen. Ein älterer Mann in Arbeitskleidung stand bei den Briefkästen. Sie grüßte und setzte einen schuldbewussten Blick auf.

»Macht nichts«, sagte er und lachte. »Ist schon fast trocken.« Während sie auf den Lift wartete, packte er seine Putzutensilien zusammen und zündete sich eine Zigarette an. »Wiedersehen!« Die Haustür fiel ins Schloss.

Lena sah sich um. Rechts vom Lift, drei Stufen tiefer, lag der Zugang zum Hof. Sie öffnete die Tür und stand in einem mit grauen Steinen gepflasterten, aufgeräumten Geviert, das an zwei Seiten vom Haus umarmt wurde. Drei Bäume warfen dichte Schatten. Links schloss das Nachbarhaus an. Auf der Feuermauer gegenüber der Tür rankte Efeu. Davor standen, ordentlich aufgereiht, Müllcontainer und Sammelbehälter für Altpapier. Jemand hatte ein paar staubige Pflanzen abgestellt. Daneben lagen zwei Säcke mit Blumenerde, verkrustete Tontöpfe und eine grobe Bürste. Ein grüner Gartenschlauch schlängelte sich über das Pflaster. Weit und breit keine Leiche. Keine Spuren. Kein Hinweis darauf, dass hier jemand zu Tode gekommen wäre.

Wieder war sie Opfer ihrer blühenden Phantasie geworden. Hatte sich tagelang umsonst gefürchtet. Während andere der Sache sofort auf den Grund gingen, spann sie ihre Geschichten um etwas, das ihr aufgefallen war, Begegnungen, Kleinigkeiten – bis sie sich schließlich selber davor zu gruseln begann.

Sie trat ein paar Schritte zurück und betrachtete die Hinterhoffassaden . Hier war erst vor kurzem renoviert worden, die Gangfenster neu. Der Großteil der Wohnungen musste zur Straße hin liegen. Im letzten Stock gab es zwei Terrassen.

Nun, wo sie schon da war, konnte sie sich das Haus auch gleich genauer ansehen. Die Bilder wieder bannen, dachte sie. Der Lift brachte sie ins Dachgeschoss. Weiße Türen ohne Namensschilder, kein Werbematerial. Lena atmete auf. Ein Hightech-Fahrrad war ans Geländer gekettet. Im vierten Stock roch es ein wenig nach Rauch. Auch hier wohnte man anonym. Vier teure, ein billiger Fußabstreifer im dritten Stock. Im zweiten lagen graue Standardmodelle. Sie trat näher heran, las zwei russisch klingende Namen und sprang erschrocken zurück, als jemand durch den Spion schaute. Sie tat, als suche sie in ihrer Tasche nach der Adresse und kam sich dumm dabei vor. Sie spürte den Blick bis in die Haarwurzeln, ihr wurde heiß. Sie floh in den ersten Stock. Über ihr öffnete sich eine Tür. Husten. Sie erwartete einen Zuruf, eine Frage. Aber es blieb still. Sie begnügte sich mit einem raschen Rundumblick, lief ins Parterre und verließ das Haus.

Als Detektivin, Lena, murmelte sie, bist du völlig ungeeignet.

||

Champagner. Er hatte den teuersten genommen, den er fand. Eigentlich machte er sich nicht viel aus dem Zeug, aber dieser Abend war eine Zäsur. Alles lief gut. Nach Plan. Morgen begann sein neues Leben.

Warten war nicht seine Stärke, aber diesmal hatte er sich Zeit gelassen. Was waren schon ein paar Tage mehr oder weniger? Ab jetzt konnte er alles haben. Es war eine große Summe. Zwei Stunden hatte er damit zugebracht, sich im Internet Luxuswohnungen anzusehen. Seine war so weit in Ordnung, viel zu teuer natürlich, aber irgendwie hatte er es immer geschafft. Mit einem starken Willen klappte alles. Geld spielte ab jetzt keine Rolle mehr. Er konnte sich kaufen, wonach immer ihm war.

Es blieb seltsam abstrakt. Jetzt, wo er kurz davor war, in Geld zu schwimmen, gab es nichts, das er unbedingt haben musste. Kein großer Wunsch, der der Erfüllung harrte. Nein, halt: Reich sein, richtig reich – das war es! In den Tag hinein leben. Tun und lassen, worauf er Lust hatte. Es den Snobs zeigen. Er stellte sein Glas ab und holte den Kalender. Die Einträge in ihrer ordentlichen, ein wenig bauchigen Kleinmädchenschrift endeten am 15. April. Die restlichen Kalenderblätter waren leer und würden es bleiben.

Da war der Schein! Drei Quicktipps. Joker. Und: Volltreffer. Kathrin hatte ihn aufgeregt angerufen: »Ich hab den Doppeljackpot geknackt, stell dir vor! Was wünschst du dir? Wir müssen feiern! Gleich. Komm rüber.« Dumm und zutraulich wie ein Stubenküken. Ihr erster Fehler …

||

Lena sah auf die Uhr: kurz vor acht. Das Flugzeug musste bereits gelandet sein. Sie würde dem Mann die Schlüssel zurückgeben und den Rest kassieren. Leicht verdientes Geld, wenn man sich nicht ekelte und mit Katzen gut auskam. Er hatte es eilig gehabt und ihr, während unten bereits das Taxi wartete, noch einmal umständlich erklärt, welche Räume er versperrt und welche sie zu kontrollieren hatte. »Sie protestieren gegen meine Abwesenheit, indem sie da und dort Häufchen hinterlassen. Die dürfen natürlich nicht liegen bleiben.«

Er hatte tatsächlich »Häufchen« gesagt! Die penibel geschriebenen Listen in der Küche, wo er die Katzenfutterdosen aufbewahrte, hatte sie erst später entdeckt: Den Fütterungs- und Tränkplan. Anweisungen zur Katzenklohygiene. Die Lüftungsvorgaben und in welchen Raum die Katzen zwischenzeitlich zu »verbringen« waren, um ein Entwischen zu verhindern. »Man muss sie auch kraulen«, hatte er erklärt. »Eine halbe Stunde genügt im Allgemeinen.«

Wie lebte so jemand? Wie verbrachte er seine Tage? Lena stellte sich einen Beamten vor, der seine Kollegen durch seine Pingeligkeit regelmäßig in den Wahnsinn trieb. Sie sah ihn in einem übertrieben ordentlichen, leicht angestaubten Einzelbüro allein seine Jause einnehmen. Seinem Chef beflissen die geforderten Unterlagen reichen. Eine Partei, wie die Kunden einer Behörde hier genannt wurden, durch eine eigenwillige Mischung aus Rechthaberei und Unterwürfigkeit dazu bringen, je nach Temperament erschöpft aufzugeben oder türenknallend davonzurauschen und beim nächsten Mal den Anwalt vorzuschicken. Würde er ihr auf der Straße auffallen? Wahrscheinlich nicht. Viele sahen so aus: durchschnittlich, unauffällig, beige. Sie schlüpften in Hauseingänge und verschwanden in Wohnungen, die ihnen glichen.

Auf der Suche nach einem Dosenöffner hatte sie in der Küche ein paar Laden geöffnet. Ein bisschen Besteck, Teller, Gläser, zwei Töpfe. Futterschüsseln. Und Unmengen von Instantsuppen in Plastikboxen, nach Geschmacksrichtung sortiert. Sie war sich sicher, dass er ihr Fallen gestellt hatte, Haare oder Fäden in Schranktüren und Laden geklemmt, um zu sehen, ob sie sie öffnete, an seine Sachen ging. Viele ihrer Kunden waren Kontrollfreaks. Eine Dame, die sich nur schwer von ihrer fetten Katze hatte trennen können, ließ vor ihrer Abreise in die Kuranstalt die Wohnung verstauben, um sie anhand von Fingerabdrücken eines »Übergriffs«, wie sie das nannte, zu überführen. Eine andere stand die ganze Zeit wie eine Aufseherin neben ihr, während Lena wie verlangt mit der Zahnbürste die Ecken der Badezimmerschränke schrubbte, und herrschte sie schließlich an: »Sie sind Ihr Geld nicht wert.«

Sie zog den schweren Vorhang ein Stück zur Seite. Ein breiter Sonnenstreifen fiel auf das fleckige Eichenparkett. Sie hatte große Lust, an den räudigen Lappen zu ziehen, bis sie nachgaben und zu Boden gingen, die Fenster sperrangelweit aufzureißen. Durchzulüften und … Man müsste den Boden abschleifen und ölen, die Wände neu tapezieren. Eine ganz helle Tapete, dachte sie. Fenster und Türen in mattem Elfenbein. Weiß war zu hart. Sie sah sich durch die schimmernden, leeren Räume gehen und staunen. Nach und nach würden sie sich mit Möbeln füllen. Mit Bildern in kräftigen Farben. Sie hatte Zeit. Man musste die Dinge zusammenfügen, eins nach dem anderen. Stoffe aussuchen, Lampen. Auf Flohmärkten stöbern …

Vergiss es! Sie seufzte. Eine Wohnung wie die hier wirst du dir nie leisten können. Und der steife, farblose Mann, der hier lebte, hatte keinen Blick für das Besondere. Die Tapeten waren vergilbt und zerkratzt. Auf den schönen, aber abgewohnten Möbeln lag Staub, an manchen Stellen verwischt, als hätte jemand ein Tuch darübergezogen und gleich darauf die Lust zu putzen verloren. Wasserränder von achtlos abgestellten Gläsern. Aufgequollene gewellte Oberflächen. Daneben Pfotenabdrücke. Die Katzen lagen satt und zufrieden auf dem haarigen Sofa und putzten sich. Sie setzte sich auf den Boden und sah ihnen zu, wie ihre kleinen rauen rosigen Zungen über das Fell fuhren. Und über die samtigen Pfoten. Wenn sie erst ihre eigene Wohnung hatte … Träume, nichts als Träume. Ich hantle mich von einem Provisorium zum nächsten. Seit Jahren ging das nun schon so. Ich habe den Absprung verpasst. Sie seufzte und erhob sich.

Und Max. Kein Anruf. Keine Nachricht. Kein Lebenszeichen. Sollte sie den ersten Schritt tun, ihn anrufen? Oder …

Sie fuhr herum. Jemand hantierte am Türschloss. Rasch durchquerte sie das Wohnzimmer, den Vorraum und schaute durch den Spion. Der Wohnungsinhaber war in Begleitung.

Die üppige ältere Dame drängte ihn zur Seite und hielt sich nicht lange mit Freundlichkeiten auf: »Ich hoffe, Sie haben hier nicht herumgestöbert.«

»Mama, bitte!« Der Mann schien peinlich berührt. »Sie meint es nicht so«, flüsterte er nach einem raschen Blick auf seine Mutter, die vergeblich an einem großen Koffer zerrte.

Lena zuckte die Achseln. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie der Kater einen Fluchtversuch vorbereitete, und bückte sich, um ihn abzufangen. Sie nahm ihn hoch und hatte alle Hände voll zu tun, um ihn zu bändigen. Er verpasste ihr einen tiefen Kratzer unter dem Schlüsselbein, der sofort höllisch brannte. Mit dem Ellbogen öffnete sie die Tür zur Küche und setzte das pfauchende Tier ab.

»Auf die paar Meter ist es ihm angekommen«, ließ sich die Frau aus dem Stiegenhaus vernehmen. »Kaum haben sie ihr Trinkgeld, sind sie weg.« Sie schnaufte und stemmte sich die Hände ins Kreuz. »Egmont!«

»Warte, Mama … « Er eilte zu ihr und schaffte es, das Ungetüm von Koffer über die Schwelle zu wuchten. Sie folgte in einer kleinen Wolke aus Schweiß und Parfum, in der Hand eine altmodische karierte bauchige Reisetasche, und zog die Wohnungstüre hinter sich zu.

»Und das Fräulein?« Sie setzte die Tasche vor Lena auf den Boden und wies Richtung Bad. »Muss man euch alles anschaffen? Bringen Sie das ins Badezimmer«, befahl sie harsch.

»Mama, bitte!«

So weit kam es noch! Mit mir nicht. Lena rührte sich nicht vom Fleck.

Lichtschacht

Подняться наверх