Читать книгу Julies Erwachen - Anne Karin Elstad - Страница 3

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Mein Zimmer nennt sie ihre Stube. »Nun habe ich ein eigenes Zimmer«, schreibt sie in den Briefen nach Hause. Das gibt ihr das Gefühl, erwachsen zu sein, selbständig, wichtig. Mein Zimmer. Allein der Gedanke daran läßt ein berauschendes Gefühl von Freude, von Freiheit in ihr aufkommen. Zu Hause hat sie die Stube immer mit den Geschwistern geteilt, mit der großen Schwester Synna und der kleinen Schwester Johanne. Und als sie letzten Winter auf die Amtsschule ging, wohnte sie mit zwei anderen Mädchen auf einem Zimmer. Das war ja alles gut uns schön, aber sie hat sich immer nach etwas Eigenem gesehnt, nach einem Ort, an dem sie allein sein kann mit ihren Büchern, Gedanken und Träumen.

Zufrieden läßt Julie den Blick durch den sauberen und aufgeräumten Raum wandern. Die Holzwände sind zart rosa gestrichen, die Decke, das Fenster und die Leisten weiß. In der einen Ecke steht ein schwarzer Etagenofen. An der Wand direkt gegenüber das weiße Waschgeschirr mit blauem Blumendekor, die braune Kommode und ihre Sachen, die wohlgeordnet an den Haken hängen. Vor ihrem Bett der runde Nachttisch und der Korbsessel, dessen Sitzpolster mit braunem Kunstleder bezogen ist. Über dem Bett liegt eine Häkeldecke mit demselben Muster wie der Kissenbezug im Korbsessel. An den Fenstern weiße gehäkelte Gardinen, auf dem Waschgestell, auf dem Tisch und auf der Kommode bestickte Decken. Die Bettdecke, das Kissen und die Tischdecken gehören ihr. Es macht ihr Spaß, schöne Dinge anzufertigen. Überhaupt liebt sie alles, was schön ist. Schöne Räume, schöne Gegenstände, die Natur, die Menschen, Musik, Bilder, die Schönheit der Sprache.

Der Ort, in den sie gekommen ist, liegt ein paar Meilen südwestlich von Kristiansund. Es war Glück, daß sie hier bei Kaufmann Fuglevik eine Anstellung gefunden hat, eine Kombination von Verkäuferin und Dienstmädchen. Und im Grunde genommen alles reiner Zufall. Der Vater, der an Fuglevik Fässer und Kisten liefert, hatte mitbekommen, daß im Laden und im Haushalt eine Hilfe gebraucht wurde. Eine Urlaubsvertretung mit der Aussicht auf Festanstellung. Wenn es nach der Mutter gegangen wäre, hätte Synna, die Älteste, hier anfangen sollen. Aber Synna wollte nicht von zu Hause weg. Zum einen war sie nicht im mindesten an einer Arbeit interessiert, bei der man rechnen mußte, sie hatte Angst, nicht schnell genug zu sein. Aber der eigentliche Grund war, daß sie sich sozusagen verlobt hatte, mit einem Burschen aus dem Dorf. Noch dazu mit einem, der den Hof erben würde. Nur Julie wußte davon. Deshalb war Julie nicht sonderlich gekränkt, als die Mutter ihr vorhielt, daß sie ein bißchen zu geschickt alles so hindrehte, wie sie es haben wollte.

So war sie im Frühsommer für drei Wochen hierher gekommen. Und als sie wieder nach Hause fuhr, war sie überglücklich, daß sie im Herbst zurückerwartet wurde. Nun ist sie fast einen Monat hier, und alles ist noch viel besser, als sie es sich erträumt hatte. Am besten gefällt ihr die Arbeit im Laden, dort hat sie auch die meiste Zeit des Tages zu tun. Im Haushalt hilft sie nur mit, wenn es im Geschäft ruhig zugeht, und nach Ladenschluß. Herr Fuglevik und seine Familie sind nett und freundlich. Auch was den Lohn angeht, kann man nichts sagen, fünfundzwanzig Kronen im Monat. Das meiste davon wird sie sparen. Zu diesem Zweck war sie auf der Bank und hat sich ein Sparbuch ausstellen lassen. Für sich selbst braucht sie nicht viel, und Kost und Logis sind frei.

In diesen Wochen hat die Arbeit ihre ganze Kraft und Konzentration gefordert. Viel Neues will gelernt sein. Die Preise der gängisten Waren hat sie sich eingeprägt, damit es beim Verkaufen so schnell geht wie nur möglich. Und dann der Umgang mit den Lebensmittelkarten, die nach Neujahr herausgekommen sind. Es ist nicht leicht, den Leuten begreiflich zu machen, daß eine Person nur alle vier Wochen 800 Gramm Zucker erhält und es deshalb sinnlos ist, mehr zu verlangen, selbst wenn man noch so viel Geld bietet. Die Leute müssen sich auch daran gewöhnen, daß sie nicht zu jeder beliebigen Tageszeit Kaffee trinken können, wenn jeder Person nicht mehr als fünfzig Gramm pro Woche zustehen. Das und daß manche anschreiben lassen wollen, macht ihr am wenigsten Spaß an der Arbeit. Oft findet sie es ungerecht, wenn die Kunden ihren Ärger an ihr auslassen. Aber damit muß man fertig werden, das gehört mit zur Arbeit. Und sie darf nie vergessen, daß sie eine traumhafte Stellung hat. Es gibt viele, die sie darum beneiden, sowohl hier als auch zu Hause im Ort. Die meisten Mädchen vom Lande müssen sich mit einer Arbeit als Dienstmädchen begnügen.

Wenn sie hinter dem Ladentisch steht, hat sie das Gefühl, jemand zu sein. Sie ist drinnen; zwischen ihr und denen, die zum Einkaufen kommen, gibt es eine magische Grenze. Das verleiht Macht. Das weiß sie von früher, als sie noch auf der anderen Seite stand. O ja, die Arbeit macht wirklich Spaß. Die Ware wiegen und die Preise ausrechnen, lange Zahlenkolonnen zusammenzählen, Stoff abmessen und vorsichtig Ratschläge erteilen, Ordnung im Laden halten. Ordnung ist das Steckenpferd von Herrn Fuglevik. Ordnung ist das halbe Leben, pflegt er zu sagen.

Als Julie noch zur Grundschule ging, war sie mit der Tochter des Kaufmanns aus dem Dorf in einer Klasse. Alle Mädchen der Klasse bemühten sich um ihre Gunst – wegen des Ladens. Julie erinnert sich an das seltsam feierliche Gefühl, als sie einmal hinter den Ladentisch durfte und einen Blick in die Schubkästen werfen konnte. Sie enthielten allerlei geheime Schätze, Backpflaumen und Rosinen, Aprikosen und Korinthen, Mandeln und Feigen. Alle Köstlichkeiten dieser Welt schienen an diesem Ort versammelt zu sein, und der Gipfel des irdischen Glücks war es, eine Feige oder einen Kampferdrops in die Hand gedrückt zu bekommen. Die Kaufmannstochter konnte sich ihre Freundinnen nach Belieben aussuchen.

Jetzt, wo sie selber über die Waren herrscht, erinnert sie sich oft an diese Zeit. Hier gefällt es ihr so gut, daß sie manchmal ein schlechtes Gewissen bekommt, wenn sie an zu Hause denkt. Obwohl sie sich wohl fühlt, hat sie doch mit Heimweh zu kämpfen. Besonders Synna vermißt sie, als Schwester und als beste Freundin. Seit Julies Konfirmation ist es, als wären sie gleichaltrig, auch wenn Synna zwei Jahre älter ist, und sie sind so enge Freundinnen geworden, daß sie keine andere mehr brauchen. Sie teilen alles, haben keine Geheimnisse voreinander. Jetzt müssen sie sich mit Briefen begnügen, aber sie schreiben fleißig, und es ist nicht schwer, etwas zu finden, über das man schreiben kann. Julie hat ihr Leben hier und all die neuen Dinge, die jeder einzelne Tag mit sich bringt, und Synnas Briefe drehen sich ganz um Hans. Hans sagt dies, und Hans tut jenes, und ob Julie meint, daß sie der Mutter bald von ihm erzählen soll? Es ist schrecklich spannend, daß Synna heimlich verlobt ist. Ja, sie vermißt Synna, Johanne und die beiden jüngeren Brüder. Ganz besonders den kleinen Kristen. Wenn sie sich vorstellt, wie er seine rundlichen Ärmchen um ihren Hals legt, muß sie gleich weinen. Und es ist ja eine so weite Reise, daß an einen Besuch zu Hause vor Weihnachten nicht zu denken ist. Nein, sie darf nicht hier sitzen und sich selbst bemitleiden und trübsinnig werden, denn die daheim vermissen sie gewiß nicht, das ist ihr jetzt klar. Heute ist ihr Geburtstag, Sonntag, der 22. September 1918. Achtzehn ist sie geworden, und das dürfte ja wohl ein Ereignis sein, das einen Gruß von zu Hause wert gewesen wäre. Hat sie nicht immer an die Geburtstage von allen gedacht? Aber kein einziger Brief ist gekommen, nicht einmal von Synna.

Niemand hier im Haus weiß, daß sie heute Geburtstag hat. Sie wollte es keinem sagen. Das hätte so aussehen können, als wollte sie eine Extrawurst gebraten haben an diesem Tag, das wäre dann doch zu peinlich gewesen. Und noch peinlicher, wenn Fugleviks gar nichts gemacht hätten. Da ist es schon am besten, den Mund zu halten.

Heute ist ihr freier Tag, der erste, den sie vollkommen frei hat, seit sie hier ist. Sie hat angeboten, beim Mittagessen zu helfen, aber Ane hat nein gesagt. Heute hat sie frei und soll keinen Handschlag tun, hat sie gesagt. Und noch ist es früh am Vormittag, der Tag, der vor ihr liegt, erscheint ihr unendlich lang, besonders wenn sie sich solche dummen Gedanken macht, die sie bedrücken.

Heute abend ist Tanz im Jugendhaus. Jetzt tut es Julie leid, daß sie Solveig, die tagsüber als Haushilfe kommt, abgeschlagen hat mitzugehen. Sie will mit ein paar anderen Mädchen aus dem Ort dorthin. Julie hat nein gesagt, weil sie sich hier noch fremd fühlt. Jetzt ärgert sie sich darüber. Wie soll sie mit den jungen Leuten hier Bekanntschaft schließen, wenn sie nicht mit ihnen ausgeht? Typisch für sie, sich so zu zieren. Wo sie doch schon die zwei Brüder kennt, die sich an den Nachmittagen im Laden herumdrücken. Sie kaufen ein paar Kleinigkeiten, sitzen aber meistens auf der Brottruhe und scherzen mit ihr, so daß sie schon mehr als einmal rot wurde und aus dem Konzept geriet. Sie mag die beiden, aber sie weiß nicht, welcher ihr besser gefällt. Na, darüber muß sie ja nicht jetzt nachdenken. Denn obwohl sie nun achtzehn ist und erwachsen, hat es keine Eile damit, nicht im geringsten. Sie wird sich nicht fest binden, noch lange nicht, weil sie Träume hat, ja, die hat sie. Aber ärgerlich, daß sie die Einladung zum Tanz ausgeschlagen hat. Allein kann sie nicht gehen. Damit würde sie sich im ganzen Ort blamieren. So darf sie jetzt schön allein sein und sich selbst bemitleiden. Aber das ist schließlich ihre eigene Schuld.

Nicht auszuhalten, hier drinnen zu sitzen und zu grübeln, sie muß hinaus. Sie hat sich ein Plätzchen ausgeguckt, eine Anhöhe oberhalb der Kirche. Wenn sie dorthin geht, kann sie das Meer sehen.

Sie sitzt auf einem flachen Felsen und sieht in die Ferne. Weit draußen, wo der Himmel und das Meer ineinander übergehen, schimmert blau der Horizont. Die See hat das leuchtende Blau des Septemberhimmels angenommen, schwingt sich auf zu schaumweißen Wogen, die sich über nackte Felsen und Strand, über Pfähle und Kaianlagen ergießen, so daß sie es bis hier oben hören kann. Landeinwärts ragen die Konturen der Bergrücken auf, die schneebedeckten Gipfel von der Sonne vergoldet. Die Landschaft mit den verstreut liegenden Gehöften glüht in den Herbstfarben, rot, gelb, goldbraun, gesprenkelt mit dem sanften Grün der Espen. Der Tag ist kühl. Obwohl die Sonne an einem klaren Himmel steht, beißt der frische Wind an Wangen und Ohrläppchen.

Von hier kann sie den ganzen Ort überblicken, mit der Kirche, den Bauernhöfen und den kleineren Häusern, dem langgestreckten, weißen Gebäude mit dem Laden, wo sie jetzt wohnt. Schön ist es hier, so schön, daß es ihr die Brust zusammenschnürt, so schön, daß sie am liebsten ein Gedicht schreiben würde über diesen Anblick. Eines Tages wird sie es tun. Wenn sie es überhaupt schafft.

Oh, wie sehr sie doch den Herbst liebt. Wenn andere sagen, sie sehnten sich nach dem Frühling, dann denkt sie, Sehnsucht nach dem Frühling, nein, nach dem Herbst, das ja. Der Frühling ist gefährlich, mit allem, was da grünt und sprießt, mit seiner alles überwältigenden Lebenskraft. Der Herbst aber in seiner Farbenpracht ist so schön, daß es schmerzt. Die Gewißheit, daß bald alles vorbei ist, daß diese Zeit so kurz ist, Wehmut und Trauer wie ein verborgener Strom in all der Schönheit. Die Rastlosigkeit, die Unruhe, die sie in dieser Zeit packt. Auch das Gefühl, daß sie das alles festhalten muß. Ob sie das vielleicht so empfindet, weil sie ein Herbstkind ist?

Im Herbst, sagt man, stirbt alles, Laub und Gras und Blumen. Aber ihre Blumen nicht, denn das sind ihre Träume und ihre Sehnsucht. Blumen, die nie verblühen.

Die Niedergeschlagenheit ist verflogen. Der Brief von zu Hause kommt bestimmt morgen, und tanzen gehen kann sie immer noch. Sie hat noch viel Zeit. Langweilen muß sie sich in ihrem Zimmer auch nicht. Sie hat ja noch die Bücher. Inzwischen kennt sie die Bibliothek, einmal in der Woche ist sie abends geöffnet. Gerade hat sie »Jenny« von Sigrid Undset angefangen, und obwohl sie das Buch schon einmal gelesen hat, ist es wieder genauso spannend wie beim ersten Mal. Damals hat sie es regelrecht verschlungen. Jetzt läßt sie sich mehr Zeit und entdeckt ständig neue Sachen, über die sie sich wundert. Dabei fehlt ihr Synna, denn sie haben immer dieselben Bücher gelesen und hinterher darüber gesprochen. So hatten sie immer noch lange nach der Lektüre eines Buches etwas davon. Besonders bei Büchern, die sie in aller Heimlichkeit ausgeliehen hatten. Bücher, die die Mutter nicht sehen sollte. Solche wie »Jenny«. Die Mutter ist in dieser Beziehung ziemlich prüde. Vielleicht gar nicht so verwunderlich, denn wenn Julie einzelne Stellen in solchen Büchern liest, kommt es schon vor, daß sie rot wird, auch wenn sie mutterseelenallein im Zimmer ist.

Auf dem Weg nach Hause sieht sie jemanden auf sich zukommen, und je näher er herankommt, desto mehr kommt ihr an der Gestalt irgend etwas bekannt vor, an der schlaksigen Art zu gehen. Das kann doch nicht möglich sein . . .? Aber doch, es stimmt, das ist Ingebrikt, der Freund aus Kindertagen. Die Röte, die sie im Gesicht aufflammen spürt, geht zum Glück wieder weg, bevor er heran ist. Was er hier wohl macht? Jedenfalls ist ihm anzusehen, daß er sich über die Begegnung freut. Feierlich streckt er ihr die Hand entgegen:

»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Julie.«

»Danke, aber woher weißt du das?«

Am vergangenen Wochenende war er zu Hause, erzählt er, und da hat er ihre Mutter im Laden getroffen. Als er erwähnte, daß er dieses Wochenende zu einem Schulfreund, der hier im Ort wohnt, nach Hause eingeladen ist, hatte sie ihn gefragt, ob er nicht ein kleines Päckchen für Julie mitnehmen würde. Das hat er getan, und das Päckchen ist bereits abgegeben.

»Du bist bei Fugleviks gewesen?«

»Ja, und ich habe mich richtig wohlerzogen benommen.«

»Und ich dachte schon, die zu Hause hätten mich vergessen.«

»So leicht ist es nun ja nicht, dich zu vergessen, Julie.«

Jetzt ist nicht nur der Wind schuld an ihren roten Wangen, die nun wohl nicht mehr zu übersehen sind. Daß er aber auch so etwas sagt.

Nach der ersten Verlegenheit redet sie wie ein Wasserfall. Wie geht es zu Hause? Was macht dieser und jener? Sie denkt, was sie schon so oft gedacht hat: Wie gut man sich mit Ingebrikt unterhalten kann. Und er weiß über vieles Bescheid, redet kein dummes Zeug daher. Das wäre ja auch noch schöner, er als Lehrersohn. Noch dazu, wo er im Frühjahr das Abitur macht, und davon kann sie wie die meisten jungen Leute aus ihrem Ort nur träumen.

Sie haben sich so viel zu erzählen, daß sie ganz überrascht ist, wie schnell sie zu Hause angekommen sind. Erst da fragt er sie, ob sie heute abend zum Tanz geht.

»Nein, ich glaube nicht.«

»Hast du denn keine Lust?«

»Ja, schon, aber ich habe niemanden, mit dem ich hingehen könnte.«

»Du kannst doch mit uns mitkommen.«

»Aber das geht doch nicht. Was glaubst du, was die Leute dazu sagen würden?«

»Habe ich nicht schon erwähnt, daß ich mich gut benehmen kann, wenn ich will?«

»Ja, aber . . .«

»Gut, dann holen wir dich um sieben ab.«

Bevor sie noch etwas einwenden kann, hat er ihr die Hand gegeben und sich verabschiedet.

Sie bleibt stehen und sieht ihm nach, wie er die Straße hinuntergeht, an den Kais vorbei und am Strand entlang. Eine hoch aufgeschossene Gestalt, die schwarze Schirmmütze mit der schmalen Krempe sitzt lässig hinten im Nacken auf dem gelockten blonden Haar. Die eine Hand in der Tasche, die andere frei schwingend. An der Art, wie er geht, sieht sie, daß er pfeift. Und es scheint ihn nicht im geringsten zu stören, daß Jacke und Hose viel zu kurz sind. Jetzt tritt er nach einem Stein und dreht sich einmal auf der Stelle im Kreis. Wie süß er jetzt ist! Was würde er wohl antworten, wenn sie ihm sagte, daß er süß ist?

Auf einmal fühlt sie sich ungeheuer glücklich. Und hatte er nicht von einem Päckchen gesprochen, das er für sie abgegeben hat?

Ane steht im Flur und nimmt sie in Empfang. Auch sie streckt ihr die Hand entgegen.

»Ich möchte dir herzlich zum Geburtstag gratulieren, Julie. Daß du aber auch nichts gesagt hast, sonst hätte ich mir doch die Zeit genommen, um dir einen Kuchen zu backen.«

»Nein, das ist doch wirklich nicht nötig!«

»Du weißt sicher schon, daß jemand hier war mit einem Päckchen für dich«, sagt Ane, die sie vom Fenster aus gesehen haben muß. »Ich habe ihn gefragt, ob es einen besonderen Anlaß gibt, und so erfahren, daß du heute Geburtstag hast. Also weißt du, Julie, du bist wirklich zu bescheiden. Aber der junge Mann machte einen guten Eindruck.«

»Ja, wir sind zusammen zur Schule gegangen. Er ist der Sohn von unserem Lehrer«, stottert Julie.

»Er ist beim Sohn des Pastors zu Besuch, hat er gesagt, und daß sie in Molde dieselbe Schule besuchen.«

»Sie gehen dort beide in die Abiturklasse. Er hat mich übrigens gefragt, ob ich heute abend mit ihnen zum Tanzen gehe. Ob ich das wohl machen kann?«

»Warum denn nicht? Ein Lehrersohn und der Sohn eines Pastors, bessere Kavaliere kannst du dir doch gar nicht wünschen. Und wenn du erst da bist, kannst du dich ja an Solveig halten. Aber wie ich dich kenne, kannst du auch gut selber auf dich aufpassen.«

Das Päckchen liegt auf dem runden Tisch. Sie sitzt im Sessel und schaut es nur an. Es ist fast wie am Weihnachtsabend. Man möchte die Geschenke auspacken, und gleichzeitig soll die Spannung noch etwas länger anhalten. Außerdem gibt es bald Mittag, sie wird sich das Ganze bis nach dem Essen aufheben. Vorfreude, schönste Freude.

Am Mittagstisch wissen alle Bescheid. Julie steht im Mittelpunkt.

»Du darfst dich zuerst bedienen, du hast heute deinen Ehrentag«, sagt Herr Fuglevik äußerst zuvorkommend.

Ane reicht ihr die Fleischklöße, die Kartoffeln und den gestampften Kohl. Der schmeckt wunderbar und fremd nach Muskat. Sie sitzen um den langen Tisch in der geräumigen Küche, Herr Fuglevik an der einen Stirnseite, Ane an der anderen. In der ersten Zeit hat Julie sie Frau Fuglevik genannt, wurde von ihr aber bald aufgefordert, Ane zu ihr zu sagen. Aber Herr Fuglevik wird nur mit dem Nachnamen angesprochen, auch von Ane, die mit ihm verheiratet ist. Die Kinder sitzen auch mit am Tisch, drei Jungen, die noch die Grundschule besuchen. Zwei erwachsene Töchter gehören auch dazu, aber sie wohnen nicht mehr zu Hause.

Gutmütig neckt Herr Fuglevik sie mit Ingebrikt, und zum Vergnügen der Jungen wird sie rot.

»Der wäre sicher keine schlechte Partie!« sagt Herr Fuglevik.

»Davon kann keine Rede sein«, protestiert sie verlegen, »wir sind bloß zusammen aufgewachsen.«

Beim Aufschnüren des Paketes läßt sie sich Zeit. Erst legt sie das graue Packpapier ordentlich zusammen, dann packt sie die Geschenke von den kleinen Brüdern aus, einen Block Schreibpapier und Briefumschläge mit geblümtem Futter. Von Johanne bekommt sie gestrickte Fingerhandschuhe, die sie mit ihrem Monogramm bestickt hat. Das Päckchen von Synna enthält ein Notizbuch mit festem Einband. In das Buch hat ihr Synna geschrieben: »Ich denke, du wirst für dieses Tagebuch Verwendung haben, jetzt, wo ich nicht mehr bei dir bin und du mir deine Geheimnisse nicht mehr anvertrauen kannst.«

Als sie das Geschenk von der Mutter auspackt, überkommt sie ein schlechtes Gewissen wegen all der vorwurfsvollen Gedanken und des Selbstmitleids von heute früh. Denn die Mutter hat ihr eine wunderschöne Bluse genäht. Aus cremefarbenem, glänzendem Seidenstoff. Und so sorgfältig ausgeführt, von oben bis unten zu knöpfen, mit klitzekleinen Knöpfen, die mit dem Blusenstoff bezogen sind. Dieselben Knöpfe auf den langen Manschetten der gekräuselten Ärmel. Entlang der Knopfleiste gereihte schmale Biesen, dazu ein großer flacher Kragen, besetzt mit Spitzen um den runden Halsausschnitt. Das ist das schönste Kleidungsstück, das sie je besessen hat.

Als ob das nicht mehr als genug wäre, liegt ein Umschlag vom Vater dabei mit fünf Kronen.

»Kauf dir davon, was du möchtest!« hat er auf den beiliegenden Zettel geschrieben.

Julie ist völlig aus dem Häuschen. So viel Aufhebens ist vorher noch nie von ihrem Geburtstag gemacht worden. Und ein Brief ist auch noch dabei und eine Karte von allen gemeinsam.

»Du mußt nicht glauben, daß wir nun jedesmal, wenn du Geburtstag hast, einen solchen Aufwand treiben. Aber dieses Mal bist du ja weit weg von zu Hause und allein, deshalb wollten wir dir in diesem Jahr eine besondere Freude machen. Auch um dich daran zu erinnern, daß du ab jetzt erwachsen bist. Es ist nun bald an der Zeit, daß du darüber nachdenkst, was du mit deinem Leben anfangen willst. Du gehst nun in dein neunzehntes Lebensjahr und bist den Kinderschuhen entwachsen. Die ungezügelte und unschuldige Kindheit liegt hinter dir. Du weißt ja, wir sind für dich da und werden helfen, so gut wir können und soweit es die finanziellen Verhältnisse zulassen. Ich finde, du solltest dieses Jahr nutzen und Erfahrungen sammeln und weiter über die Pläne nachdenken, die wir vor längerer Zeit in diesem Jahr besprochen haben. Daß du die Fähigkeiten dazu besitzt, weißt du.«

Ja, sie wird darüber nachdenken, aber nicht heute, denn dann bekommt sie wieder nur Zweifel und gerät ins Grübeln. Sie will zum Tanz, und sie freut sich darauf. Und sie ist auch sehr glücklich, daß alle zu Hause auf diese Weise an ihren Ehrentag gedacht haben.

Noch ist es viel zu früh, um sich für das Fest fertig zu machen. Das würde nur zur Folge haben, daß sie dort in verknitterten Sachen ankäme. Ruhe zum Lesen hat sie auch nicht mit diesem Durcheinander von Gedanken im Kopf. So bleibt sie im Sessel vor dem Fenster sitzen und blickt nach draußen. Die See, die Landschaft, hin und wieder Spaziergänger, die die Straße entlangkommen, Sonntagsfriede.

Ingebrikt. Seltsam, daß er ausgerechnet jetzt hier aufgetaucht ist. So war es mit ihm in den letzten Jahren aber schon immer. Er ist gekommen und gegangen, auch in ihren Gedanken. Sie war in ihn verliebt, und dann war es vorüber, wieder und wieder. Sie kennen sich nun schon seit Ewigkeiten. Obwohl er zwei Jahre älter ist als sie, waren sie doch in derselben Clique. Schon in der Grundschule hat sie immer nur ihn gesehen. Viele schöne Erinnerungen hängen daran. Sie muß an die mondhellen Winterabende denken, an denen die großen Schlitten vollgepackt wurden mit Kindern und Jugendlichen, und die größten und stärksten Jungen saßen ganz hinten und steuerten den Schlitten mit einem Ast, den sie sich von einem Baum geschnitten hatten. Ingebrikt sorgte immer dafür, daß er hinter ihr saß, so daß er sie festhalten konnte, wenn die Fahrt zu schnell wurde. Das war herrlich aufregend. Und nachdem sie konfirmiert worden war, hatte er nur noch Augen für sie. Sobald das Eis auf dem Fjord trug, waren sie auf Schlittschuhen draußen. Zwischen den Mädchen gab es einen Wettbewerb, wer die nettesten Jungen zum Anschieben gewinnt. Ingebrikt gehörte dazu, er schob sie, bis sie das Gefühl hatte, mit dem hinderlichen Rock, der sich wie ein Segel um die Beine legte, über das Eis zu fliegen. Wenn Tanz war, tanzte er fast nur mit ihr, und für gewöhnlich brachte er sie auch nach Hause. Deshalb war es kein Wunder, daß sie von den anderen für ein Paar gehalten wurden. Aber er war sehr oft weg. Er begann auf dem Gymnasium in Molde und fuhr an den Wochenenden selten nach Hause. Hinzu kam, daß sie letzten Winter die Amtsschule in Vestnes besuchte. Aber diesen Sommer über haben sie sich sehr häufig gesehen.

Es ist schon eine merkwürdige Sache mit Ingebrikt. Trifft sie ihn und sieht sie ihn, flammt die Verliebtheit in ihr auf. Danach hat sie ein paar Tage lang Sehnsucht, und dann ist alles wieder vorbei, sie vergißt ihn völlig, bis er wieder auftaucht und alles von vorn beginnt. Wenn es um solche Dinge geht, ist es mit ihr nun mal nicht wie bei anderen. Sie kann sich so unglaublich leicht verlieben, und genauso schnell ist es auch wieder vorüber. Manchmal fragt sie sich, ob sie es jemals schaffen wird, sich dauerhaft in einen Jungen zu verlieben, denn das ist ja der Traum aller Träume, den einen zu finden, den man den Richtigen nennt.

Er ist in jeder Hinsicht ein Junge, wie man ihn sich nicht besser wünschen kann. Er sieht sehr gut aus mit seinen blonden Haaren und den fröhlichen blauen Augen, er ist nicht sonderlich groß, hat aber eine gute Figur. Ein schöner junger Mann. Intelligent, und man kann sich mit ihm gut unterhalten, aber etwas hat er in seiner Art, mit dem sie nicht zurechtkommt. Er ist eigensinnig, jedesmal wenn sie diskutieren, ist er insgeheim darauf bedacht, recht zu bekommen, das letzte Wort zu behalten. Bei solchen Gelegenheiten ist ihr etwas in seinen Augen aufgefallen, eine Kälte, die sie frösteln läßt. Vielleicht ist es das, was sie bedenklich stimmt. Im Sommer hat er auch so Andeutungen gemacht, die darauf schließen lassen, daß er es ernster meint, als sie es tut. Und das möchte sie auf keinen Fall, sie will sich nicht an einen einzigen binden, noch nicht, noch lange nicht. Schließlich ist zwischen ihnen nicht mehr gewesen, als daß er mit ihr am häufigsten getanzt hat, daß sie es war, die er nach Hause brachte. Es gab sicher viele, die sie darum beneideten. Aber zwischen ihnen ist nie mehr gewesen, als daß sie Hand in Hand nach Hause gingen, wenn es niemand sah, nie mehr als eine flüchtige Umarmung zum Abschied. Und obwohl das alles sehr schön war, heißt das ja wohl noch lange nicht, daß sie ein Liebespaar sind. Oder hat es vielleicht dazu geführt, daß er sich ihrer sicher glaubt? Vorhin war das auch wieder zu merken, als er ihre vorsichtigen Einwände, zum Tanz mitzugehen, einfach überhörte. Er fegte sie hinweg, tat, als würde er sie gar nicht wahrnehmen. Eigensinnig, das ist er.

Wie auch immer, nun sitzt sie wieder da und ist verliebt. Möglicherweise gibt dieser Abend Antwort auf alles, worüber sie nachsinnt?

Sie muß ihre Sachen durchsehen. Die Bluse, die sie geschenkt bekommen hat, will sie heute abend anziehen. Sie wird sie noch einmal mit dem Plätteisen überbügeln müssen. Der Rock aus dem guten Stoff hat das wohl nicht nötig.

Als sie nach unten in die Küche kommt, steht Ane am Herd und kocht Kaffee.

»Gerade wollte ich dich zum Kaffee rufen«, sagt sie zu Julie, die in der Tür steht.

»Ach, ich kann doch eine Tasse hier in der Küche trinken, und dann würde ich gerne meine Bluse bügeln.«

»Natürlich mußt du heute zusammen mit uns Kaffee trinken, weißt du. Erst gibt es Geburtstagskaffee. Bügeln kannst du hinterher.«

Vorsichtig hängt Julie die Bluse über eine Stuhllehne, dort kann Ane sie nicht übersehen und muß sie bewundern.

»Oh, die ist ja wunderschön.«

Und dann erzählt Julie, daß die Bluse ein Geschenk von zu Hause ist, daß sie in dem Paket war und daß ihre Mutter sie genäht hat. Bestimmt mit Hilfe von Synna, die einen Schneiderkursus besucht hat. Dann wird ihr ganz heiß, weil sie schon die ganze Zeit viel zuviel redet.

In der guten Stube ist der Tisch mit dem Festtagsgeschirr gedeckt, mit einem bestickten Tischtuch, das strahlend sauber und frisch gestärkt ist, und mitten auf der Tafel thront eine große Torte. Wieder ist Julie verlegen, das wäre doch nicht . . . Aber Ane sagt, daß es ihnen doch auch Freude bereitet, ihr zeigen zu können, wie sehr sie sie mögen. Sie ist doch so tüchtig, und sie hoffen, sie noch lange hierbehalten zu können.

»Falls du es nicht vorziehst, uns demnächst zu verlassen, um zu heiraten«, neckt Herr Fuglevik sie. »Denn du kommst jetzt ja bald in das Alter.«

Wenn sie doch erst in einem Alter wäre, in dem sie dieses verräterische Rotwerden hinter sich hätte!

»Laß doch das Kind in Ruhe mit deinen Scherzen«, schimpft Ane.

Nicht nur eine leckere Torte mit Konfitüre und viel Sahne hat Ane herbeigezaubert, Julie bekommt auch Geschenke. Von Ane schön bestickte Taschentücher in einer Schachtel und von den Kindern einen Taschenspiegel mit Kamm.

Sie läßt das Bügeleisen auf dem Ofen heiß werden, streicht es auf der Plättdecke gründlich ab. Es darf nicht zu heiß sein, damit es keine Brandflecke auf der wertvollen Bluse gibt, und es darf kein Ruß dran sein. Sicherheitshalber bügelt sie die Bluse von der linken Seite. Das wäre eine schöne Bescherung, wenn sie sie mit Rußflekken verderben würde und ausgerechnet heute eine alte Bluse anziehen müßte.

Sie nimmt sich viel Zeit, um sich zurechtzumachen. Sie wäscht sich von Kopf bis Fuß, legt aus dem kleinen Fläschchen, das nach Maiglöckchen riecht, ein paar Tropfen auf. Aus der Kommode holt sie die feinste Unterwäsche, Mieder und Unterhemd, Schlüpfer und Unterkleid. Alles riecht frisch nach Heidemyrte, die sie selber gepflückt und in kleinen Beuteln aus Verbandmull zwischen die Sachen gelegt hat. Getrocknete Sträuße der Heidemyrte hängen auch zwischen ihren Kleidern an den Haken entlang der Wand. Das hält die Motten fern.

Die Bluse ist wunderbar und paßt sehr schön zu dem marineblauen, knöchellangen Rock aus dünnem Wollstoff, zu dieser Jahreszeit ihr bestes Kleidungsstück. Er ist glockenförmig geschnitten, sitzt eng um die Hüften und wird zum Saum hin sehr weit.

Darüber trägt sie einen breiten Gürtel in demselben Stoff wie der Rock. An den Füßen schwarze Knopfstiefel. Mit Ausnahme der Bluse sind das die Sachen, die sie zur Konfirmation getragen hat.

Sie freut sich über die neue Bluse. Die sie zur Konfirmation bekam, spannt über dem Busen, obwohl sie die Knöpfe schon versetzt hat, soweit es ging. Nun braucht sie sich deshalb nicht mehr zu genieren. Den Rock mußte sie nicht weiter machen. Der war gleich so genäht, daß sie hineinwachsen konnte. An dem Gürtel hat sie auch nichts geändert. Sie sieht fast so aus wie damals. Um den Busen herum und an den Hüften hat sie ein bißchen zugelegt, aber sie ist noch genauso schlank, und gewachsen ist sie auch nicht mehr, glücklicherweise. Bei der Konfirmation war sie die größte von allen Mädchen in der Kirche. Einsneunundsechzig.

Sie bürstet das schwarze Haar, bis es knistert und glänzt. Es reicht ihr bis zur Taille und ist so üppig und dick, daß sie es zu zwei Zöpfen flechten muß, die sie in einem Kranz um den Kopf legt.

Sie weiß, daß man von ihr sagt, sie sei schön, aber es fällt ihr schwer, das selber zu beurteilen. Von Synna sagt man das auch, und daß Synna schön ist, das kann sie sehen. Sie hat Ähnlichkeit mit den Verwandten der Mutter, sie ist nicht so groß wie Julie, und sie hat nicht dieses rabenschwarze Haar. Synnas Haare sind hellbraun, im Sommer, wenn sie von der Sonne gebleicht sind, bekommen sie einen goldenen Schimmer. Außerdem hat sie natürliche Locken. Als sie klein war, umhüllten die hellen Löckchen ihr Gesicht wie eine Wolke, während Julie, die nur leicht gewelltes Haar hat, fleißig flechten mußte, um solche Locken zu bekommen. Aber Synna flicht ihr Haar genauso zu Zöpfen wie Julie. Sie hat große, braune Augen, wie man das nur von Tieren kennt, und sie stehen in einem merkwürdigen Kontrast zu den hellen Haaren.

Im Schein der Petroleumlampe, der auf ihr Gesicht fällt, steht sie vor dem Spiegel und betrachtet sich. Noch ist ihr Gesicht kindlich rund, obwohl sie versucht, eine erwachsenen Miene aufzusetzen. Sehr verändert hat sie sich nicht, seit sie fünfzehn ist und vom Pastor konfirmiert wurde. Ihre Nase ist kurz, mit einer Andeutung zur Stupsnase. Die Lippen sind voll, die Augen groß und graublau, mit etwas schweren Lidern, schwarzen Wimpern und schmalen, geraden Brauen darüber. Synna sagt, daß sie ganz besondere Augen hat. Daß sie die Menschen mit einer Direktheit und Ruhe im Blick anschauen kann, daß sie verlegen werden. Wenn sie sich ungerecht behandelt fühlt oder wenn ihr jemand zu nahe tritt, können ihre Augen ganz ausdruckslos sein oder vor Verachtung blitzen. Synna sagt, daß sie in der Lage ist, die Leute mit ihrem Blick einzuschüchtern. Das sagt Synna, doch selber kann sie das nicht feststellen. Ingebrikt sagt allerdings, daß sie schöne Augen hat.

Ihre Uhr, die an der langen Silberkette um ihren Hals hängt, ist gleich sieben. Sie will nicht nach draußen gehen und ihn dort erwarten, will keinen Übereifer zeigen. Doch den Mantel hat sie schon mal angezogen, während sie wartet. Der Mantel, den hat sie auch neu zur Konfirmation bekommen. Marineblau, halblang und mit einem schwarzen Persianerkragen. Der Kragen ist abnehmbar, so kann sie den Mantel das ganze Jahr über tragen.

Der Abend ist mondhell. Sie steht am Fenster und schaut nach draußen. Als sie die beiden auf das Haus zukommen sieht, nimmt sie sich viel Zeit, ehe sie das Zimmer verläßt, denn sie muß kontrollieren, ob alles in Ordnung ist. Nicht, daß es noch ein Feuer gibt. Sie schaut nach dem Ofen, den sie angeheizt hatte, bevor sie sich wusch und anzog. Dann löscht sie die Lampe und tastet sich im Dunkeln die Treppe hinunter.

Der Wind hat sich gelegt. Ein milder und stiller Abend im Mondschein. Am Himmel sind die ersten Sterne aufgegangen und verkünden, daß es Herbst ist.

Von ihren Begleitern eingerahmt, geht sie die Straße hinunter. Die beiden reden ununterbrochen. Sie selber sagt nichts, wie immer, wenn sie auf Fremde trifft. Sie muß sich die Menschen erst ansehen, bevor sie sich mit ihnen locker und ungezwungen unterhalten kann, Bekanntschaft mit ihnen schließt. Da hört sie Musik. Ihr Herz beginnt zu klopfen. So ist es immer, diese Erwartung, daß jetzt, jetzt alles geschehen kann.

Das Jugendhaus ist mit Girlanden aus buntem Krepppapier geschmückt. An der Decke hängen große Petroleumlampen, die den Saal in gedämpftes Licht tauchen. Die Bühne ist mit Herbstlaub dekoriert. Augenblicklich nimmt die festliche Stimmung des Lokals sie gefangen. Überrascht bemerkt sie, daß der Musikant, der dem Akkordeon die Töne entlockt, Odd ist, der jüngere der Brüder, die ihr in letzter Zeit den Hof machen. Daß er Akkordeon spielen kann, wußte sie nicht, und noch dazu so gut, wie sofort zu hören ist. Sie sieht ihm an, daß er sie bemerkt hat, die Verwunderung steht ihm im Gesicht geschrieben. Er und auch die anderen hier werden sich bestimmt fragen, wie sie es geschafft hat, in solcher Begleitung zum Tanz zu kommen. Unter all den Blicken wird ihr ganz heiß. Die meisten hier wissen bestimmt, daß sie im Laden arbeitet, sie aber kennt fast niemanden. Bestimmt wird man sie heute abend auf Schritt und Tritt beobachten.

Noch ist die Tanzfläche leer. Es dauert immer seine Zeit, bis sich der erste Mutige ein Herz faßt. In den Saalecken, im Schutz der Dunkelheit, stehen die Burschen in Gruppen zusammen und unterhalten sich. An den Wänden aufgereiht sitzen steif die festlich gekleideten Mädchen und warten darauf, daß man sie zum Tanz holt. Julies Augen wandern die Reihen suchend ab, und dort, Gott sei Dank, entdeckt sie Solveig. Als Julie auf sie zugeht, wirft sie den Kopf leicht in den Nacken, macht aber Platz, so daß Julie sich setzen kann und das Gefühl hat, etwas geschützter zu sein vor den neugierigen und lästigen Blicken.

»Schau an, du wolltest also doch zum Tanz?«

»Nein, das hatte ich wirklich nicht vor, aber dann habe ich einen ehemaligen Schulkameraden von zu Hause getroffen, und der hat mich überredet mitzukommen.«

»Na, wenn das so ist«, sagt Solveig, und es hört sich immer noch gekränkt an, aber Julie redet unbeirrt weiter, bis Solveig besänftigt ist. Denn es darf ja nicht der Eindruck entstehen, sie sei sich zu fein, gemeinsam mit den anderen Mädchen zum Tanz zu gehen. Dann wäre sie hier im Ort schnell unten durch.

Als erster fordert Ingebrikt sie auf. Darüber ist sie froh, denn mit ihm hat sie schon sehr viel getanzt, so daß sie fast jeden seiner Schritte genau kennt, und er ist ein guter Tänzer. Es kommen auch andere und holen sie, Burschen, die sie nicht kennt. Mit Erik, dem älteren der beiden Brüder, die manchmal auf ihrer Brottruhe sitzen, tanzt sie häufiger. Er fragt sie, wer Ingebrikt ist, und sie gibt ihm dieselbe Antwort, die sie den anderen gegeben hat, daß er nur ein Schulkamerad ist, nicht mehr.

Einige der Burschen haben getrunken und krakeelen herum. Zuerst begreift sie nicht, wie das angehen kann, denn Schnaps ist in dieser Zeit nicht aufzutreiben. Aber sie werden hier wohl Starkbier brauen, wie bei ihr zu Hause im Dorf auch. Sie selbst gehört zu den Alkoholgegnern, absolut. Für sie gibt es nichts Schlimmeres als Betrunkene. Nur gut, daß Ingebrikt nicht trinkt.

Später am Abend wird sie von einem zum Tanz aufgefordert, der Mühe hat, sich auf den Beinen zu halten. Das ist das Unangenehmste, was ihr passieren kann, dennoch zögert sie etwas, bevor sie nein sagt. Sie ist ja fremd hier, und man weiß nie, was wird, wenn sie jemandem einen Korb gibt. Und natürlich ist er beleidigt.

»Ach so, du bist hergekommen, obwohl du was Besseres bist. Hast dir einen importierten Kavalier mitgebracht und bist dir zu fein, mit uns hier aus dem Dorf zu tanzen.«

»Du kannst ein anderes Mal wiederkommen, wenn du nüchtern bist«, sagt sie und heftet ihren Blick so fest auf ihn, daß er sich zurückzieht. Dann kommt Ingebrikt und rettet sie, und für den Rest des Abends weicht er nicht mehr von ihrer Seite.

Alles ist so wunderbar. Ingebrikts fester Griff um ihre Taille, die Musik und der Rhythmus, der ihre Bewegungen steuert, alles so jenseits des Alltags. Das Herz in ihrer Brust klopft, von der wilden, wirbelnden Bewegung ist sie ganz benommen und merkwürdig berauscht. Aber nicht nur die Bewegung ist es, die sie schwindelig macht. Es ist die Verliebtheit, die wieder da ist, aber es sind auch die vielen Augen, die sie beobachten, besonders die von Odd und Erik, die Blicke, die sie den ganzen Abend auf sich gerichtet spürt, als wollten sie sie durchbohren. Ist sie etwa eitel? Sie hofft, sie benimmt sich auf dem Tanz so, daß ihr nach dem Abend niemand etwas nachsagen kann.

Ingebrikt hat ihr oft gesagt, daß sie distanziert wirkt, unnahbar, daß sie eine ganz besondere Fähigkeit besitzt, Menschen auf Abstand zu halten.

»Wenn ich nur wüßte, was du denkst!« hat er mehr als nur einmal gesagt.

Nur gut, daß er oder jemand sonst das nicht weiß, denn den Tag, an dem sie ihre geheimsten Gedanken mit anderen teilt, möchte sie selber bestimmen. Ob das je geschieht, irgendwann?

Die Zeit vergeht viel zu schnell, so könnte sie die ganze Nacht bis zum Morgengrauen tanzen. Mit den glücklichen Augen von Ingebrikt, in die sie schaut, mit seinen Armen, die er um sie gelegt hat, und mit all den Menschen hier ringsum im Saal. Doch um Mitternacht ist alles vorüber.

Sie gehen die Straße entlang inmitten einer Gruppe lachender und johlender Jugendlicher. Nachdem sich Paar um Paar allmählich aus der Gruppe gelöst hat und zurückgeblieben ist und auch die nach Hause geeilt sind, die niemanden gefunden haben, ist der Lärm verebbt. Sie geht neben Ingebrikt, und jetzt nimmt er ihre Hand, und sie läßt ihn gewähren.

Sie sitzen draußen am Rande des Kais auf einer Kiste. Die Nacht ist ruhig, und der Mond scheint. In der Stille kaum hörbar das Glucksen des Meerwassers an den Pfählen der Mole, Streifen des Mondlichtes auf der schwarzblanken See. Hier sitzen sie und plaudern. Er erzählt ihr, daß er Theologie studieren will, wenn er mit dem Gymnasium fertig ist. Da lacht sie.

»Du willst Pastor werden, wo du doch so viel Spaß am Tanzen hast?«

»Soll ich denn nicht Pastor werden können, bloß weil ich gern tanze?«

»Ein Pastor, der tanzt, das hab’ ich noch nicht gehört.«

Darüber sprechen sie und darüber, was Sünde ist und was nicht. Und obwohl sich seine Ansichten von allem unterscheiden, was sie bisher gedacht und geglaubt hat, sagt er doch vieles, was so klug ist, daß sie darüber noch nachgrübeln wird, wenn diese Nacht längst vorüber ist.

»Das war ein schönes Gedicht von dir in der Zeitung«, sagt er, und das kommt für sie so unvermittelt, daß sie sich erst einmal sammeln muß, bevor sie etwas sagen kann: »Woher weißt du denn, daß ich das war?«

Die Zunge könnte sie sich abbeißen. Nur Synna weiß, daß sie Gedichte an die Zeitung geschickt hat und einige davon abgedruckt wurden. Sie will nicht, daß andere davon wissen, denn auch das sind ihre Gedanken, von denen kein anderer etwas mitbekommen soll. Nicht einmal die Eltern wissen das. Der Vater könnte es schon erfahren, denn er würde das verstehen, mit ihm fühlt sie sich im Innersten verbunden. Aber die Mutter, die würde sich bestimmt aufregen und so etwas Hochmut und Grillen nennen. Jetzt fühlt sie sich ertappt, ausgeliefert und peinlich berührt.

»Wer hat denn das gesagt?«

»Als ich das Gedicht gelesen habe, wußte ich, daß es von dir sein mußte, und dann habe ich deine Schwester gefragt, und obwohl sie es bestritt, habe ich ihr doch angesehen, daß es von dir war. Außerdem war es auch mit J. R. signiert, und da wußte ich, daß du das bist. Ein schönes Gedicht, Julie, ich habe es aus der Zeitung ausgeschnitten.«

»Ich erlaube dir nicht, es jemandem zu zeigen und zu sagen, daß ich es geschrieben habe«, sagt sie aufgebracht. Sie entzieht ihm ihre Hand. Etwas zwischen ihnen ist zerbrochen, er hat etwas gesehen, das er nicht hätte sehen sollen. Sie fühlt sich nackt, und das ist ein quälendes Gefühl.

Sie sagt, morgen ist auch wieder ein Tag, ein Arbeitstag für sie, und er will ja wohl auch zeitig mit dem Dampfer von hier los. Da ist es das beste, schleunigst ins Bett zu gehen.

Davon will er nichts wissen. Er kommt mit wenig Schlaf aus, da wird sie das wohl auch schaffen. Sie ist doch wohl nicht beleidigt, weil er das mit dem Gedicht gesagt hat? Das war ja nun wirklich nicht seine Absicht. Er wollte doch nur sagen, daß es ein schönes Gedicht ist. Schließlich läßt sie sich überreden, noch ein Weilchen zu bleiben, aber über das Gedicht möchte sie nicht mehr sprechen.

»Was meinst du, Julie, was aus uns beiden wird?« fragt er und überrumpelt sie wieder mit einer dieser urplötzlichen Gesprächswendungen, die sie nun schon so gut kennt. Ihr wird heiß.

»Was meinst du damit?«

»Das weißt du nur zu gut. Aber ich werde nicht schlau aus dir. Manchmal glaube ich, daß du es auch ernst meinst mit uns beiden, aber beim nächsten Mal ist es wieder, als ob ich für dich gar nicht da bin.«

»Wir sind noch viel zu jung, um uns über solche Dinge den Kopf zu zerbrechen. Wir haben doch noch so viel Zeit.«

»Ich fühle mich nicht zu jung.«

»Über solche Dinge müssen wir nicht jetzt sprechen. Das können wir später immer noch tun.«

»Werden wir denn später dazu kommen?«

»Ich glaube schon. Nein, aber jetzt sollten wir diesen schönen Abend nicht kaputtmachen. Und ich muß augenblicklich nach Hause, sonst bin ich morgen kein Mensch.«

Da holt er ein kleines Schächtelchen aus seiner Brusttasche.

»Ich wollte erst sehen, wie der heutige Abend ausgeht, bevor ich dir das gebe. Es ist nur eine kleine Brosche. Pack sie zu Hause aus, hier ist es zu dunkel, um etwas zu sehen.«

»Vielen Dank, Ingebrikt, aber du sollst doch nicht . . .«

»Doch soll ich. Und eines will ich dir sagen, und zwar, wenn es mit uns beiden nichts wird, dann möchte ich, daß du die Brosche behältst, zur Erinnerung.«

Ach, wenn er doch so etwas nie gesagt hätte, denn das nimmt ihr etwas von ihrer Freude.

Bevor sie auseinandergehen, legt er die Arme um sie und zieht sie an sich. Als sie seine rauhe Wange an ihrer spürt, fühlt sie sich für einen Moment müde und hat ein merkwürdiges Gefühl im Körper. Aber als sie merkt, wie sich seine Arme fester um sie schließen, macht sie sich frei. Sie gibt ihm nur die Hand und verabschiedet sich. Seine Adresse in Molde hat sie, und wieder einmal haben sie einander versprochen zu schreiben.

Sie zieht die schwarzen Rollos herunter, bevor sie die Lampe anzündet und aus ihren Sachen schlüpft. Sie hängt alles schön ordentlich an seinen Platz, zieht das Nachthemd an und kriecht ins Bett. Erst dann öffnet sie das Schächtelchen und sieht sich die Brosche an. Sie ist wirklich schön, klein und oval mit einem leuchtend blauen Stein, eingerahmt in dunkles Silber. Sie wird sie morgen an den Kragen ihrer Alltagsbluse stecken. Er ist schon lieb, aber wenn sie daran denkt, was er gesagt hat, als er ihr die Brosche überreichte, daß er, bevor er sie ihr gibt, erst sehen wollte, wie der Abend ausgeht, ist ihr ein bißchen von der Freude über das schöne Geschenk genommen. Und sie denkt an ihr Gedicht, das in der Zeitung zu lesen war und in dem er sie wiedererkannt hat. Sie ist schon in einer absurden Weise verletzlich, und wie sie reagiert, ist unmöglich, aber was hilft es, sie hat das Gefühl, als ob es nicht mehr richtig ihr Gedicht ist. Sie weiß, daß es viele gelesen haben, es war ja abgedruckt in der Zeitung, aber keiner wußte, daß sie es geschrieben hat. Und die Vorstellung war wundervoll und aufregend. Aber er weiß es jetzt, und es kommt ihr vor, als habe sie dadurch etwas von sich selber verloren.

Nun sitzt sie da und wartet auf einen Brief von ihm. Sie hatten doch einander versprochen zu schreiben! Hat er das vergessen, oder wartet er darauf, daß sie zuerst schreibt? Aber das ist ja wohl nicht unbedingt üblich. Wieder verschwindet er aus ihren Gedanken. Die Erinnerung an die Stunden des Zusammenseins mit ihm verblaßt zu einem vagen Traum, der sie wehmütig stimmt. Ist es vielleicht nur der Traum, nach dem sie sich sehnt? Ist sie nur in die Verliebtheit selbst verliebt und gar nicht in ihn? Die Augenblicke dort unten am Kai formen sich zu einem wunderbaren Bild, das sie nicht mit Pinsel und Farbe malen kann, aber mit Worten kann sie es.

Ein Mondscheintraum

Mondhelle Nacht.

In scharfen Konturen die Berge stehn Wacht,

recken sich dunkel in den nachttiefen Himmel,

strecken sich hoch in das Sternengewimmel.

Still und traumesschwer

ruhet an felsigem Fuße das Meer,

– wie eine endlose Insel, schwarz und schön,

funkelnd im Lichtschein der Sterne aus unendlichen Höhn.

Stille und Frieden.

Nur der Gedanken Flug hebt ab uns von hienieden,

zu eilen in freudiger Furcht fremde Bahnen,

suchend die Reiche, die in der Ferne wir ahnen.

Doch nun genug;

ist eh bloß Blendwerk und Sinnesbetrug.

Verblaßt schon der Traum? – Es ist längst an der Zeit,

denn diese Sehnsucht führte wohl sonst noch zu weit.

Ging es so schnell?

Aller Zauberglanz gleich fort auf der Stell’?

Der Wolken Schwermutsgrau löscht die Lichterpracht.

Der Traum ist vorbei, übersteht nicht die Nacht.

Das Gedicht kam zu ihr, wie von selbst, ohne ihr geringstes Hinzutun. Es war wohl schon in ihrem Innern, mußte nur noch zu Papier gebracht werden. Es erstaunt sie immer wieder, wie leicht es ihr fällt, ihre tiefsten Gefühle in ein Gedicht zu fassen, wie genau sie darin ausdrücken kann, wofür sie sonst keine Worte findet.

Sie schreibt ihren Namen unter das Gedicht, steckt den Bogen in einen Briefumschlag und versiegelt ihn. Soll er doch denken, was er will. Noch bevor sie es sich anders überlegen kann, bringt sie den Brief zur Post und fühlt sich erleichtert, daß sie es getan hat.

Die Tage vergehen, ohne daß eine Antwort kommt. Was denkt er sich nur? Er muß den Brief doch schon längst bekommen haben. Vielleicht findet er sie und ihr Gedicht ziemlich einfältig. Unerträglich der Gedanke, daß er sie auslacht, sie und ihr kleines stümperhaftes Gedicht. Wenn sie jetzt darüber nachdenkt, wird ihr heiß vor Scham. Inzwischen findet sie es schrecklich unbedacht, daß sie ihm das Gedicht so Hals über Kopf geschickt hat. Typisch für sie, daß sie immer wieder Sachen macht, auf die kein anderer käme. Die Leute würden die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, wenn sie wüßten, was für verrückte Streiche ihr einfallen. Aber so ist sie nun einmal. Das schlimmste ist, daß es ihr in ihrem tiefsten Innern nicht einmal leid tut. Sie bereut es nicht im geringsten.

In dieser Zeit kennt sie sich selbst nicht wieder. Es gibt Tage, da kommt er in ihren Gedanken fast gar nicht vor, dann wünscht sie sich beinahe sogar, daß er ihr gar nicht schreibt. Odd und Erik sind stets in ihren Gedanken, die beiden sieht sie ja schließlich jeden Tag im Geschäft. Bestimmt ist sie ein bißchen in sie verliebt, ohne daß sie sagen kann, wen sie mehr mag. Odd sieht besser aus, aber er ist erst neunzehn, und in seinem Gesicht zeigt sich kaum der erste Flaum. Erik ist fünfundzwanzig, männlich, erwachsen. Manchmal, wenn sie an ihn denkt, empfindet sie eine Wonne, die ihr durch und durch geht. An solchen Tagen vergißt sie, daß es Ingebrikt gibt. Dann wieder denkt sie, daß niemand außer ihr solche Gedanken und Gefühle hat. Daß es nicht normal sein kann, sich darüber zu freuen, daß gleich zwei, noch dazu Brüder, um sie werben und ihr das Gefühl geben, attraktiv zu sein. Denn dieses Gefühl hat sie, und es ist herrlich. Eitelkeit, so hat man sie gelehrt, ist eine der schlimmsten Sünden.

An anderen Tagen ist sie unglücklich, weil er kein Lebenszeichen von sich gibt. Fühlt sich elend, weil sie durch ihren Leichtsinn vielleicht alles verdorben hat. Und könnte sie jemals einen bekommen, der besser ist als Ingebrikt?

Genauso wechselhaft wie ihre Gefühle ist das Wetter in dieser Zeit. Den einen Tag ist es strahlend schön mit Herbstsonnenschein über Land und Meer. An anderen Tagen heult der Herbststurm um die Häuser, peitscht den Regen gegen die Fensterscheiben, bricht Baumkronen herunter und jagt Blätter und Zweige in wirbelndem Tanz durch das Dämmerlicht.

An einem solchen Abend sitzt sie in ihrem Zimmer, fühlt den Sturm, der draußen wütet, fast mehr, als sie ihn hört. Obwohl es draußen so ungemütlich ist, spürt sie mit allen Fasern ihres Herzens, wie sehr sie die Herbststürme liebt. Ihre eigenen unglücklichen Gedanken sind es, die dort draußen im Kampf liegen, die wüten und heulen und drohen. Alles, was sie hört und sieht, stürzt auf sie ein und nimmt sie wieder gefangen und verwandelt sich in Worte, die sie niederschreibt.

Schon vor längerer Zeit hat sie begonnen, ihre Gedanken in Gedichten festzuhalten. Dann und wann ist ihr die vermessene Idee gekommen, Dichterin zu werden. Aber diesen Einfall hat sie verworfen. Das ist eine Grille, etwas, das mit der Wirklichkeit nichts zu tun hat. Sie, die sehr viel liest, sei es Lyrik oder Prosa, hat längst begriffen, daß mehr dazu gehört, eine Dichterin zu sein, als nur ihre Gedanken auf ein Stück Papier zu kritzeln. Sie schreibt für sich selbst. Dadurch kann sie ihre inneren Spannungen abbauen. Wenn Gedichte von ihr in der Lokalzeitung gedruckt wurden, hat sie das stolz und glücklich gemacht. Mehr wird nie dabei herauskommen, das weiß sie.

Eines Nachmittags, der Laden ist gerade voll, kommt der Brief. Herr Fuglevik überreicht ihn Julie, mit seiner lauten Stimme lenkt er die Aufmerksamkeit aller darauf, und sie spürt unter den Kommentaren der anwesenden Männer die verräterische Röte in ihrem Gesicht aufflammen. Aber sie versucht sich nichts anmerken zu lassen und steckt den Brief, ohne ihn zu öffnen, in die Tasche der karierten Schürze, die sie im Laden trägt.

Den ganzen Tag über ist ihr, als brenne der Brief in der Tasche, bis es endlich Feierabend ist und sie in ihrem Zimmer im Korbsessel unter der angezündeten Lampe sitzt, nachdem sie sich auch noch die Zeit genommen hat, den Ofen anzuheizen. Er bullert leise in der Ecke und verbreitet behagliche Wärme in dem von der Lampe erleuchteten Zimmer. Sie spürt das Herz in der Brust schlagen, während sie den Umschlag öffnet. Aber dann bekommt sie erst richtiges Herzklopfen.

Als ob sie es nicht geahnt hätte, daß er ihr mit einem Gedicht antworten wird. Als sie auf die Amtsschule ging, haben sie sich eine Zeitlang auch Gedichte geschrieben. Die Briefe von damals liegen weggeschlossen unten im Schubfach ihrer Kommode.

Das Gedicht ist lang, hat viele Strophen. Es ist zu sehen, daß er sich tüchtig plagen mußte, viele der Reime holpern. Wohl deshalb hat die Antwort so lange auf sich warten lassen.

Nichts außer dem Gedicht. Genau wie sie es mit ihm gemacht hat, nur die Verse, sonst nichts. Sie wird ihm mit einem Gedicht antworten. Obwohl, für einen Moment kommt ihr der Gedanke, daß das nichts mit dem wirklichen Leben zu tun hat, sich Gedichte zu schicken. Sie fragt sich, was er dabei gedacht haben mag, als er die Verse für sie schrieb. Stellte er sich vor, daß es zwischen ihnen nun ernst ist? Aber ist es das auch? Nein, sie ist viel zu müde, um darüber nachzusinnen. Und sie ist viel zu müde, um daran denken zu können, ihm zu schreiben. Ohne daß die Worte ihr zufallen, hat es sowieso keinen Sinn, und jetzt, in diesem Moment hat sie keinen anderen Gedanken, als zu schlafen. Als hätte sein Gedicht eine unendliche Müdigkeit in ihr ausgelöst.

Julie ist es immer leichtgefallen zu lernen. Nach der Grundschule und auch, als sie von der weiterführenden Schule abging, hatte sie in allen Fächern gute Noten. Dasselbe, als sie die Amtsschule verließ. Ja, da waren ihre Zensuren so gut, daß der Direktor der Amtsschule sie in sein Büro rief, um ihr zu sagen, daß sie ihre Fähigkeiten nutzen und weitermachen müsse. Er meinte, sie sollte sich für das Seminar in Volda bewerben. So weit sie zurückdenken kann, ist das immer ihr Traum gewesen. Zur Schule gehen, mehr lernen. Ihr größter Wunsch war es, das Abitur zu machen, aber daran ist jetzt überhaupt nicht zu denken. Erst die Mittelschule und dann das Gymnasium, das dauert Jahre. Und anschließend ginge es dann mit der Ausbildung weiter. Erstens wäre das viel zu teuer, als daß die Eltern dafür aufkommen könnten, denn zur Familie gehören ja noch mehr Kinder, für die gesorgt werden muß. Und außerdem ist es zu spät, sie ist schon zu alt. Das Seminar, das wären nur drei Jahre, und die Eltern haben ihr zugeredet. Sie konnte sich nicht dazu entschließen. Deshalb arbeitet sie dieses Jahr. So hat sie noch Zeit, gründlich darüber nachzudenken, und ein paar Kronen kann sie sich außerdem zurücklegen. Wenn sie nur nicht diese Zweifel hätte. Falls sie heiratet, und das wird sie ja eines Tages, wäre alles umsonst. Und als unverheiratete strenge Lehrerin kann sie sich selbst einfach nicht vorstellen. Deshalb ist sie froh, daß sie dieses Jahr bekommen hat, sie braucht die Zeit, um sich entscheiden zu können. Noch kann sie die Sache vor sich herschieben, erst Ende des Frühjahrs läuft die Bewerbungsfrist ab.

Wenn sie an den Abenden mit solchen Gedanken allein in ihrem Zimmer sitzt, überkommt sie Heimweh. Am meisten vermißt sie dann Synna. Mit ihr kann sie Dinge besprechen, über die sie sonst mit keinem reden kann. Hier hat sie niemanden. Mit Solveig kann sie über nichts anderes als über alltägliche Sachen reden, und Ane kann sie mit so etwas nicht behelligen. Außerdem würde sie dann wohl annehmen, daß es ihr hier nicht gefällt, wenn ihr solche Gedanken im Kopf herumgehen. In jedem Brief an Synna hat sie sie gebeten, für ein Wochenende auf Besuch zu kommen. Bis Weihnachten ist es noch so unendlich lange hin. Ihr gefällt es wirklich gut hier, aber ab und zu wünscht sie sich, daß Synna da wäre. Dann wäre alles vollkommen. Und wenn Synna gar eine Arbeit in der Nähe finden würde? Aber das sind nur Träume. Für junge Frauen gibt es hier keine Arbeit. Höchstens als Dienstmädchen, und das würde die Mutter auf gar keinen Fall zulassen. Außerdem wird Synna zu Hause gebraucht, noch dazu, wo sie selbst jetzt hier ist. Aber auf einen Wochenendbesuch könnte sie ja vielleicht noch vor Weihnachten kommen. Wie gerne würde sie ihr zeigen, wie gut sie es hier getroffen hat.

Die Tage sind voll ausgefüllt. In dem Maße, wie sie sich an die Arbeit gewöhnt, erhält sie mehr Verantwortung im Laden. Ane sagt, sie hat es satt, hinter dem Ladentisch zu stehen, ihr gefällt die Hausarbeit besser. Dadurch ist Julie die längste Zeit des Tages im Geschäft. Wenn Herr Fuglevik besonders viel zu tun hat, kommt es vor, daß er ihr auch noch die Verantwortung für die Kasse überträgt, dann muß sie das Geld zählen und nach Ladenschluß abrechnen. Das macht ihr Spaß. Buchführung war ein Fach, das sie mochte. Es erfordert Genauigkeit und Konzentration, und jedesmal ist man gespannt, ob am Ende alles stimmt. Herr Fuglevik ist mit dem Neubau unten am Kai beschäftigt. Dort läßt er ein neues Geschäft bauen, mit Lager und Speicher. Im Neubau wird es auch einen Platz geben für die Fischannahme, die er betreibt, und hinter dem Laden ist ein separates Büro vorgesehen. Gleich nach dem Winter soll der Neubau eingeweiht werden.

Dort wird alles geräumiger und schöner sein als hier, aber Julie glaubt, daß sie den alten Laden vermissen wird. So wie es jetzt ist, befinden sich Laden und Lager im selben Teil des langgestreckten Gebäudes. Hinter dem Laden ist die Küche. Für Julie bedeutet das eine zusätzliche Sicherheit. Wenn sie irgend etwas fragen will, muß sie nur zu Ane hineinrufen, um Hilfe zu bekommen. Außerdem sind die niedrigen Räume gemütlich und anheimelnd. Auch wenn es mitunter eng wird, ist doch Platz für Waren aller Art. Alles, was aufgehängt werden kann, hängt an der Decke, kein Plätzchen in den Regalen und Schubfächern bleibt ungenutzt. Der Ladentisch ist rechtwinklig gebaut. Der eine Teil dient dem Aufmessen des Stoffes, der in den Regalen mit der Wäsche liegt. Am anderen Ende stehen die Waage und die Kartons mit den Messinggewichten sowie die Waren, die dort hingehören. Neben der Eingangstür steht die Brottruhe, wie sie genannt wird. In die große Kiste mit Deckel werden die frischen Backwaren gefüllt, die mit dem Schiff kommen. Die Brottruhe ist ein beliebter Sitzplatz für die Männer, die nachmittags gern in den Laden kommen, um Leute zu treffen und ein Schwätzchen zu halten. Manche benutzen sogar den Verkaufstresen als Sitzplatz. An manchen Abenden ist der Laden richtig voll, denn hier trifft man sich, um Neuigkeiten auszutauschen und sich zu unterhalten. Auf diese Weise erfährt Julie alles, was hier im Ort und sonst in der Welt passiert. Hier kommt ihr auch die Andeutung zu Ohren, daß Herr Fuglevik zu denen gehört, die es verstanden haben, ihr Schäfchen durch Krieg und schlechte Zeiten ins trockene zu bringen. Denn läßt er nicht ein Bauwerk von Ausmaßen errichten, wie man es in der ganzen Gegend noch nicht gesehen hat? In solchen Momenten hätte sie Lust, denen die passende Antwort zu geben, denn wie sie Herrn Fuglevik kennt, ist er die Rechtschaffenheit in Person. Und sie weiß nur zu gut, daß manche sich an den Zeiten gesundgestoßen haben. Daß sie nach Molde und nach Kristiansund fahren und Waren an Privatleute zu unverschämten Preisen verkaufen, Schwarzmarkt nennen sie das. Beispielsweise gibt es so gut wie niemanden, der Butter an das Geschäft liefert. Wenn sie so etwas hört, versteht sie erst recht nicht, wie sie es wagen können, ausgerechnet Herrn Fuglevik zu kritisieren. Hängt das damit zusammen, daß sie nur eine Frau ist und sie meinen, sie verstünde ihre Anspielungen nicht? Sie glaubt, daß es eher Neid ist, denn davon gibt es hier genug, genau wie anderswo.

Den meisten Gesprächsstoff liefert der große Krieg. Er ist viel näher herangerückt, seit sie hier ist. Der Ort hat zwei junge Männer auf dem Meer verloren. Das passierte im vergangenen Jahr im Frühling, dem Schreckensfrühjahr auf See, als viele norwegische Seeleute, deren Schiffe von deutschen U-Booten torpediert wurden, ihr Leben lassen mußten. Sie hatte davon in der Zeitung gelesen, aber das war so weit weg, und es war nur schwer vorstellbar, daß so etwas geschah.

Genauso schwer vorstellbar ist es, daß die grauenhaften Geschichten von dem Schützengrabenkrieg wahr sind. So viele Tote, es ist kaum zu fassen. Und wenn man sich das vorstellt und darüber nachdenkt, kann man den Verstand verlieren. So schrecklich ist das. Aber jetzt wird davon gesprochen, daß das bald ein Ende hat.

Das andere Thema, das diskutiert wird, ist die große Epidemie, die Spanische Grippe, von der das Land seit dem letzten Frühjahr heimgesucht wird. Jetzt hat sie den Ort erreicht. Die Männer senken die Stimme, wenn sie darauf zu sprechen kommen, die Krankheit verbreitet ein Grausen, das ihnen durch Mark und Bein geht. Einer erzählt, was er in der Zeitung gelesen hat: Als die Spanische, wie sie die Krankheit nennen, in Kristiania am schrecklichsten wütete, sind pro Woche sechs-, siebentausend Fälle gemeldet worden. Die Zeitungen waren voll von Todesanzeigen, und besonders unheimlich ist, daß so viele junge Menschen dahingerafft werden. Einige sterben schon wenige Tage nach Ausbruch der Krankheit, andere sterben an Lungenentzündung oder anderen Folgekrankheiten, und es gibt kein Mittel gegen diese Seuche. Die Einwohner der ländlichen Orte sollen sich gegen Ansteckung zu schützen versuchen, indem sie Veranstaltungen mit größeren Menschenansammlungen meiden. Aber wie soll man sich schützen, wenn selbst die Luft, wie es scheint, Bazillen mit sich führt? Wer die Krankheit erst im Haus hat, muß sich doch um den Kranken kümmern. Bald wird berichtet, daß ganze Familien im Bett liegen, und eines Tages werden die ersten Todesfälle gemeldet. Im Abstand von ein paar Tagen sterben eine Mutter und ihr vierzehnjähriger Sohn. Kaum sind sie unter Anteilnahme der ganzen Gemeinde beerdigt, sterben zwei junge Männer. Der eine von ihnen ist Familienvater mit kleinen Kindern. An diesen Tagen ist es sehr still im Laden.

Julie erfährt, daß auch Odd die Krankheit bekommen hat, aber wie es aussieht, wird er wohl durchkommen. Eines Tages erhalten sie Bescheid, daß Solveig krank ist, und wieder ein paar Tage später muß Ane ins Bett. Nach den ersten Tagen voller Angst wird klar, daß auch diese zwei es schaffen werden. Um Ane kümmert sich Herr Fuglevik persönlich, er bringt ihr das Essen und wischt das Zimmer, in dem sie liegt. Weder Julie noch die Kinder dürfen den Raum betreten.

Julie muß nun alle Arbeiten übernehmen, die im Haus anfallen. Sogar die drei Kühe muß sie melken, morgens und abends. Sonst kümmern sich Solveig oder Ane darum. Ungeübt nach den Wochen, die sie von zu Hause fort ist, schmerzen ihr von diesem bißchen Melken Arme und Finger. Außerdem ist da noch all das andere, was es im Haushalt zu tun gibt. Herr Fuglevik ist von Anes Kochkünsten verwöhnt, und Julie steht Todesängste aus, daß sie nicht gut genug kocht. Eines Tages kommt auf sie zu, wovor sie sich am meisten gefürchtet hat, das Brotbacken. Herr Fuglevik weigert sich, gekauftes Brot zu essen, und so muß sie ran. Sie hat ja auch schon vorher Brot gebacken, zu Hause, aber da war die Mutter ständig dabei und paßte auf, daß alles klappte.

Nachdem sie den Teig in dem großen Trog geknetet hat, stellt sie ihn zum Gehen auf die Feuerholzkiste neben dem Ofen. Ihre Angst ist groß, daß ihr der Teig nicht gerät, wieder und wieder schaut sie unter das Tuch, weil sie fürchtet, daß er sich nicht richtig hebt. Jedesmal, wenn sie nachsieht, drückt sie einen Finger in die Masse, um zu kontrollieren, ob die Delle wieder weggeht. Zum Schluß sieht es aus, als ob eine ganze Hühnerschar über den Teig spaziert ist. Das Abbacken der Brote ist genauso schwierig. Der Ofen darf nicht zu heiß sein, sonst backen die Brote zu schnell, verbrennen außen und werden innen klitschig. Ist aber der Ofen nicht heiß genug, werden die Brote trocken und flach. Aus diesem Grunde muß sie mit jedem Holzscheit, das sie nachlegt, vorsichtig sein. Glücklicherweise geht alles gut. Auch wenn die Brote nicht so schön aussehen wie Anes, so bekommt sie doch ein Lob von Herrn Fuglevik, als er kurz hereinkommt und einen mit Butter bestrichenen und mit Zukker bestreuten Kanten probiert. Und als sie die abgekühlten Brote, eingeschlagen in weiße, frische Tücher, in die Kiste legt, da hat sie das Gefühl, eine große Leistung vollbracht zu haben.

So kommt es, daß der Alltag ihre geistigen und körperlichen Kräfte voll in Anspruch nimmt. Um Angst zu haben, ist sie viel zu müde in dieser Zeit. Daß sie selbst krank werden könnte, kommt ihr nicht in den Sinn. Am Abend tun ihr alle Knochen weh, und sie sehnt sich nur noch nach Schlaf und Ruhe. Sie schläft tief und traumlos, und wenn Herr Fuglevik sie morgens um sechs Uhr weckt, hat sie das Gefühl, gerade erst zu Bett gegangen zu sein. Schlaftrunken steht sie auf, zieht sich fröstelnd an, während sich in ihrem Kopf alles dreht. Unten in der Küche trinkt sie hastig eine Tasse Kaffee, die Herr Fuglevik für sie hingestellt hat. Dann eilt sie über den Hof, aus dem Stall schlägt ihr der morgendliche Gestank entgegen, von dem ihr übel wird. Aber all das kommt bloß von der Müdigkeit, krank ist sie nicht.

Sonntag und Alltag gehen ineinander über, aber eines Tages ist es geschafft. Ane ist wieder auf den Beinen, und Solveig kommt zurück. Beide sehen abgespannt aus, sind dünner geworden und schmaler im Gesicht, aber allmählich kehrt wieder der normale Alltag ein. Herr Fuglevik gibt ihr diesen Monat zehn Kronen extra zum Lohn, er sagt, daß sie für drei gearbeitet hat in der Zeit, als Solveig und Ane krank waren, und daß es ohne sie niemals so gut gegangen wäre. Die Anerkennung macht sie stolz und glücklich. Diese schwierige Zeit hat sie auch mit der Familie hier enger verbunden. Sie hat sich um die Kinder gekümmert und sie über das Schlimmste hinweggetröstet. Und glücklicherweise ist niemand sonst im Haus krank geworden. Unglaublich, daß sie so davongekommen sind. Eines Tages steht Odd im Laden, hohlwangig und blaß auch er, aber seinen Lebensmut und den Humor hat er nicht verloren. Inzwischen ist es November geworden. Schwarz und kahl biegen sich die Bäume in Sturm und Regen. Wenn klares Wetter ist, bleiben morgens bei dem Gang über den Hof Spuren im Reif zurück, und unter den Schuhsohlen splittert die dünne Eisdecke auf den Pfützen. Es geht auf den Winter zu.

Auf Ingebrikts Brief hat sie noch immer nicht geantwortet. Sie war viel zu erschöpft, um ans Briefeschreiben zu denken, geschweige denn Gedichte zu verfassen. Vor lauter Arbeit hat sie fast nicht mehr an ihn gedacht. Einen einzigen Brief hat sie geschrieben, ein paar Zeilen nach Hause, damit sie nicht denken, ihr wäre etwas zugestoßen. Darin hat sie noch einmal darum gebeten, daß Synna sie doch für ein Wochenende besuchen möchte. Ein bißchen berechnend war es schon von ihr, zu schreiben, daß ein Besucher von zu Hause ihr schreckliches Heimweh lindern würde, weil es doch bis Weihnachten und bis sie alle wiedersieht, noch so lange hin ist. Etwas Wahres ist schon daran, aber ihr Heimweh war nie so stark, daß sie sich nach Hause zurückwünschte. Seit sie auf der Amtsschule war, sind ihr der Heimatort, der schmale Fjord und die hohen Berge zu eng geworden. Die Landschaft hier mit der Hustadbucht und dem Meer dahinter ist offen und weit. Um das Meer zu sehen, klettert sie immer wieder gerne auf die Berge, auch wenn ihre freien Stunden knapp bemessen sind. Ob in Sturm oder Stille, nichts fesselt sie wie das Meer. Auch die Menschen hier sind offener und zugänglicher als die zu Hause. Das Gefühl von Freiheit, das sie hier hat, möchte sie nicht mehr missen. Nicht, bis sie eines Tages etwas Besseres findet. Und das wird auf keinen Fall vor dem nächsten Herbst sein.

Vieles deutet darauf hin, daß der Winter bald kommt. Morgens, wenn sie aufsteht, ist es eiskalt im Zimmer. Obwohl sie abends eine Schüssel mit heißem Wasser in eine der Röhren des Etagenofens stellt, ist das Wasser nur noch verschlagen, wenn sie fröstelnd am Waschtisch steht und sich wäscht. Unter der Bluse trägt sie ein gestricktes Unterhemd, und der Rock für alle Tage ist aus warmem Wollstoff. Darüber trägt sie eine karierte, ärmellose Schürze und eine Strickjacke. Sie hat selbstgestrickte Strümpfe, die in der ersten Zeit höllisch kratzen, bis sie sich daran gewöhnt hat, und die Füße stecken in schweren, klobigen Winterstiefeln. Aber diese Kleidung muß sein. Immer wenn ein Kunde in den Laden hereinkommt, bringt er einen Schwall Kälte mit, und auch im Lagerraum ist es eisig. Wenn sie dort draußen war, sind ihre Hände ganz rot und klamm vor Kälte.

Eines Tages kommen zwei Briefe für sie. Der eine, das sieht sie gleich, ist von Synna. Auch die Handschrift auf dem anderen Umschlag kennt sie, die großen, selbstbewußten Schriftzüge, die ihr verraten, daß Ingebrikt der Absender ist. Sie bekommt ein schlechtes Gewissen, weil sie ihm nicht geschrieben hat. Aber jetzt wird sie es tun und alles berichten, was passiert ist, damit er sie versteht. Auch diese Briefe hebt sie wieder bis zum Abend auf.

Zuerst liest sie, was Synna schreibt. Sie könnte vor Glück jubilieren. Synna kommt schon dieses Wochenende her. Also hat ihr letzter Brief seine Wirkung nicht verfehlt. O wie sie sich freut, und was sie alles machen werden an diesen Tagen. Erzählen, das vor allem, und dann wird sie mit Synna draußen spazierengehen, damit sie die jungen Leute kennenlernt. Eigentlich sollte Tanz sein an diesem Wochenende, doch wegen der Spanischen Grippe und der vielen tragischen Todesfälle wurde er abgesagt. Aber an den Wochenenden treffen sich die jungen Leute neuerdings abends unten am Kai und bummeln die Straße entlang. Sie selbst war noch nicht dabei, weil sie niemanden hat, mit dem sie hingehen kann, doch wenn sie zu zweit sind, ist das sicher kein Problem. Und sie freut sich mächtig, den anderen ihre schöne Schwester präsentieren zu können. Das wird nach der ganzen Trostlosigkeit der letzten Zeit die größte Freude für sie sein.

Aber der Brief von Ingebrikt ist nicht gerade sehr erfreulich. Zuerst liest sie ihn, ohne zu begreifen, was da steht.

»Es ist Schluß!« schreibt er. »Nun ist dieser Wahnsinn, der mir Jahre meines Lebens geraubt hat, vorüber!«

Das schreibt er! Dann schreibt er noch, daß er ein Idiot war, an sie zu glauben, und daß er in den Jahren seit ihrer Konfirmation nur für sie und keine andere Augen hatte und was er dabei nicht alles versäumt hat. Er hätte viel früher merken müssen, daß solche wie sie treulos sind und mit den Gefühlen anderer spielen.

Er sagt, daß sie dünkelhaft ist, daß er selbst und die Zukunft, die er ihr bieten kann, wohl nicht gut genug für sie sind. Aber sie soll sich davor hüten, andere so zu behandeln, wie sie ihn behandelt hat. Sonst könnte es passieren, daß sie ihr Leben lang allein bleibt. Außerdem ist sie kalt, er hat sie kaum einmal berühren dürfen, ohne daß sie frostig reagierte, sich hinter ihrem Lächeln und ihren unergründlichen Augen versteckte. Unehrlich, das ist sie zu ihm gewesen. Dieses Mal hatte er erwartet, daß sie ihm zuerst schreibt, um zu beweisen, daß ihr die ganze Sache etwas bedeutet. Und wie glücklich war er, als er ihr kleines Gedicht erhielt. Aber jetzt hat er es gründlich studiert und erkannt, daß sie es nicht ernst meint, daß es für sie nur ein leichtsinniger Traum ist. Und dann das Allerletzte, ihre totale Gleichgültigkeit, die sie damit bewiesen hat, daß sie auf seinen Brief nun überhaupt nicht antwortete, das hat ihn mehr verletzt als alles andere. So sehr verletzt, daß er sie gänzlich aus seinem Herzen und seinen Gedanken gestrichen hat. Er wird mit ihr kein Wort mehr wechseln, als es die Höflichkeit verlangt, schreibt er. Alles ist aus, und zwar von seiner Seite endgültig. Alle Erklärungen sind zwecklos. Er bittet sie, alle Briefe, die er ihr geschrieben hat, zurückzuschicken. Die Brosche von ihm, die kann sie behalten.

Die Worte fördern einen Menschen zutage, den sie nicht kennt. Wie kann er es wagen, ihr so etwas zu schreiben? Daß er den Brief voller Enttäuschung, Zorn und verletztem Stolz geschrieben hat, ist offensichtlich. Ja, aus verletztem Stolz, das vielleicht am ehesten. Aber mußte er deshalb gleich so gemein werden und ihr schreiben, sie sei unehrlich? Sie, die Ehrlichkeit höher schätzt als alles andere?

Die es gerade für besonders ehrlich hielt, ihm zu sagen, daß sie noch Zeit braucht, bevor sie sich fest bindet. Denn das ist in ihren Augen doch die wichtigste Entscheidung, die ein Mensch überhaupt treffen kann. Der Entschluß, eine Bindung für den Rest des Lebens mit einem anderen Menschen einzugehen. Und kalt soll sie sein? Weiß er, was sich in ihrem Innern abspielt? Entflammt war sie für ihn. Voller Glut. Wenn sie mit ihm zusammengewesen war, spürte sie ein Feuer im Körper, das sie bis tief in die Nacht wach hielt. Was hat er denn von ihr erwartet, daß sie sich wie eine Dirne verhält? Darf er ihr zur Last legen, daß sie anständig geblieben ist? Was stellt er sich vor, er, der Pastor werden will?

An diesem Abend braucht sie mehr Petroleum und mehr Feuerholz, als sie sollte. Herr Fuglevik wird ihr das nachsehen, sie braucht jetzt einfach Licht und Wärme in ihrem Zimmer, und die Nacht wird lang werden. Denn das muß sie erst einmal verkraften, damit muß sie erst einmal fertig werden.

Als allererstes nimmt sie die Brosche ab, die sie jeden Tag getragen hat, seit sie sie von ihm bekam. Sie legt sie in die Schachtel in der Kommode. Noch weiß sie nicht, ob sie die behält. Tragen wird sie die Brosche auf keinen Fall mehr. Dann holt sie die Briefe von ihm hervor, liest sie und kann gar nicht mehr verstehen, daß sie derselbe Mensch geschrieben hat wie den Brief, den sie heute bekam. Aus einem plötzlichen sentimentalen Gefühl heraus überträgt sie seine Gedichte in ihr Tagebuch.

Zeitig am Samstagabend wartet Julie am Kai darauf, daß der Dampfer anlegt. Sie steht zusammen mit mehreren jungen Leuten, denen sie erzählt hat, wen sie erwartet. Ihnen ist anzumerken, daß sie neugierig sind. Nicht jeden Tag kommt ein fremdes Mädchen in den Ort. Auch sonst ist es üblich, daß sie sich einfinden, wenn der Dampfer kommt. Diese Abwechslung dürfen sie sich nicht entgehen lassen, denn allzu viel gibt es sonst nicht davon.

»Du machst doch heute abend bestimmt noch einen Spaziergang mit deiner Schwester?« fragt Erik.

»Ich glaube nicht. Aber vielleicht morgen, falls gutes Wetter ist.«

Und es sieht ganz danach aus, daß das Wetter am Wochenende schön wird. Fast die ganze Woche über hat es geregnet und gestürmt, aber heute ist das Wetter umgeschlagen, ein warmer Wind von Südost schiebt die Wolken über den dunklen Himmel. Sobald die Wolkendecke aufreißt, leuchtet der Abend im Mondschein und im Licht der ersten Sterne, die sich jetzt zeigen.

Als das Schiff im hellen Schein der Kaibeleuchtung herangleitet, sieht sie Synna ganz vorne in der Reihe der Passagiere stehen, die an Land wollen. An dem braunen Mantel mit dem Persianerkragen ist sie leicht zu erkennen. Auf dem Kopf trägt sie eine weiße wollene Strickmütze. Julie bekommt unbändige Lust, der Schwester um den Hals zu fallen, aber das tut sie hier in aller Öffentlichkeit natürlich nicht, wo sie alle dastehen und gaffen. Schließlich weiß sie, was sich gehört, und so begnügt sie sich damit, Synna die Hand zu geben und sie willkommen zu heißen.

Nach Ankunft des Dampfers hält Herr Fuglevik das Geschäft eine Weile geöffnet, und nun ziehen alle Männer dorthin. Julie sagt, daß sie auch kurz in den Laden muß, nur auf einen Sprung. Synna will draußen warten, aber Julie meint, sie soll mit reinkommen, und zieht ihr die Mütze vom Kopf und steckt sie sich in die Tasche.

»Warum machst du denn das?«

»Weil ich es eben so will.«

Ausgelassen kichern sie dabei, und alles ist wie früher, so als hätten sie sich erst gestern getrennt. Was für ein Glück, daß Synna endlich hier ist.

Die Männer verstummen, als die beiden Mädchen zur Tür hereinkommen. Synna wird rot, aus Verlegenheit und von dem Wind, der ihre Wangen und die Nasenspitze schon gefärbt hatte, während sie an Deck stand und darauf wartete, daß der Dampfer am Kai anlegte. Als Julie ihr die Mütze vom Kopf zog, ist ihr großer Knoten im Nacken in Unordnung geraten, ungebändigt fallen ihr die Locken in die Stirn und über die Wangen. Aber als Julie die Klappe des Ladentisches anhebt und Synna mit dahinter treten läßt, hat sie das Gefühl, daß ihr die ganze Welt gehört. Sie fragt Herrn Fuglevik, ob er Hilfe braucht, aber er sagt nein und das wäre ja noch schöner, jetzt, wo sie Besuch hat und alles. Nein, sie soll nun ihr Wochenende genießen. Trotzdem läßt sie sich Zeit und schafft ein bißchen Ordnung auf dem Verkaufstisch. Sie will, daß Odd und Erik und die anderen alle sehen, was für eine schöne Schwester sie hat. Denn sie ist ja so stolz auf sie.

Von Ane werden sie mit einem gedeckten Abendbrottisch empfangen. Mit Herrn Fuglevik und Ane kann man sich gut unterhalten, und sie beziehen Synna in das Gespräch ein. Herr Fuglevik erkundigt sich nach dem Vater und nach allem, was sonst bei ihnen in der Gegend passiert. Und ob dort die Spanische Grippe geherrscht hat. Da erzählt Synna, daß die Mutter und Johanne krank waren. Ein Anflug der Spanischen vielleicht. Aber bestimmt war es nur eine starke Erkältung. Ansonsten hat die Krankheit auch dort Opfer gefordert, doch nun sieht es so aus, als würde sie abflauen. Erst jetzt merkt Julie, daß sie nie daran gedacht hat, jemand zu Hause könnte auch betroffen sein. So viel gab es zu tun, als es hier am schlimmsten war.

»Aber ich wußte gar nicht, daß Mama und Johanne krank waren.«

»Nein, wir wollten dich nicht unnötig beunruhigen, und so schlimm war es ja nicht.«

Erst als sie oben in ihrem Zimmer sind, kann sie endlich tun, was sie am liebsten getan hätte, als Synna an Land kam, sie umfaßt sie und tanzt mit ihr im Kreis durch die Stube.

»Ach, wenn du wüßtest, wie glücklich ich bin!«

»Du hast es aber schön hier!«

»Ja, aber habe ich dir das nicht geschrieben?«

»Ich dachte, du übertreibst ein bißchen. Aber jetzt könnte ich dich fast beneiden.«

»O nein, das darfst du nicht sagen, sonst bekomme ich ein schlechtes Gewissen. Mama wollte ja, daß du hergehst und nicht ich.«

»Na, so sehr, daß ich hier sein wollte, beneide ich dich nun auch wieder nicht. Wo es mir jetzt gerade so gutgeht . . .«

»Ich verstehe, wegen Hans, stimmt’s?«

»O ja, du weißt gar nicht, wie . . .«

»Nein, bestimmt nicht«, sagt Julie, und plötzlich steigt in ihr alles hoch, was sie in den letzten Tagen verdrängt hat. Ingebrikt. Ein innerer Schmerz, den sie nicht wahrhaben will, der sie jetzt aber, da sie Synnas Glück sieht, überkommt und ihr dicke Tränen in die Augen treibt.

»Aber was ist denn mit dir, Julie? Hab’ ich was Falsches gesagt?«

Sie hatte Synna von dem Wochenende, als er hier war, geschrieben, auch von ihren Zweifeln. Jetzt gibt sie Synna den Brief, ihre Abschrift, die sie angefertigt hat, bevor sie ihn an Ingebrikt zurückschickte. Irgendwie hat sie das Gefühl, daß Synna selber lesen muß, was er geschrieben hat, daß das stärker wirkt, als wenn sie nur davon hört.

»Nein, so was . . .«, sagt Synna. »Wie kann er denn so etwas schreiben? Nein, Julie, den mußt du einfach vergessen!«

»Aber es kann ja sein, daß ich mich auch nicht so ganz richtig verhalten habe.«

»Hast du ihm denn irgend etwas versprochen?«

»Nein, ich fand mich zu jung dafür.«

»Das habe ich dir schon immer gesagt, aber du wolltest ja nichts davon hören. Ich hatte schon lange den Eindruck, daß Ingebrikt ziemlich arrogant und selbstgefällig sein kann.«

»Ich kenne ihn besser als du. Wir haben uns doch gut verstanden.«

»Wenn er nur bestimmen durfte, nicht?«

»Aber er ist immer so fröhlich und gut gelaunt, es macht Spaß, mit ihm zusammen zu sein.«

»Immer?«

»Na ja, fast immer.«

»War es nicht eher so, daß du fügsam und sanft sein mußtest, damit er nett zu dir ist?«

»Nein, das . . .«

»Aber genau das schreibt er hier. Wenn du ihm zuerst geschrieben hättest, hätte er geantwortet. Das Geburtstagsgeschenk von ihm solltest du an dem Abend, als er hier war, erst bekommen, nachdem du seine Erwartungen erfüllt hattest. Begreifst du nicht, wie das aussehen sollte, Julie?«

»Er ist so ein schöner Mann . . .«

»Jetzt mach aber mal einen Punkt. Schön! Höchste Zeit, daß du erwachsen wirst, damit du endlich begreifst, daß Äußerlichkeiten nichts über den Charakter eines Menschen aussagen. Ich glaube, Ingebrikt wäre dein Unglück. Du mußt ihn aus deinen Gedanken streichen, und versprich mir, daß du diesem Menschen, der so gemein zu dir ist, keine Träne mehr nachweinst.«

Julie zeigt Synna das letzte Gedicht, das sie ihm geschickt hat.

»War es dumm von mir, ihm das zu schicken?«

»Du bist hoffnungslos romantisch, aber getan ist getan, und natürlich wird er das Gedicht zu seinen Gunsten auslegen, er wird es als Eingeständnis von dir ansehen. Nein, Julie, du solltest froh sein, daß du ihn los bist.«

Synna steht mit dem Brief in der Hand vor dem Ofen.

»Soll ich?«

Julie zögert einen Augenblick, dann nickt sie nur. Synna wirft den Brief ins Feuer, und gierig wird er von den Flammen verschlungen.

»So, weg ist er«, sagt Synna zufrieden, aber Julie verspürt einen Stich im Innern, als der Brief in Flammen aufgeht. Es ist ein Schmerz, der ihr sagt, daß mehr dazu gehört, als bloß einen Brief ins Feuer zu werfen, um sich von dem Menschen zu lösen, der ihr so wichtig war.

»Ich denke, wir haben nun genug darüber gesprochen. Willst du nicht hören, wie es mir geht?«

Jetzt ist Hans dran, und es ist immer interessant zu hören, wie es um die beiden steht. Hat die Mutter schon etwas gemerkt? Nein, die Mutter wird es noch früh genug erfahren, meint Synna. Denn Julie weiß ja, die Mutter kann die Leute da draußen auf Li nicht leiden. Das wissen sie nur zu gut. Die Mutter wurde in einer Pächterkate geboren, die zu Li gehörte. Als junges Mädchen war sie Magd auf dem Hof. Sie wissen auch, daß sie sich seither ihr ganzes Leben lang bemüht hat, damit fertig zu werden, deshalb haben sie ihr manches nachgesehen. Aber es hat sie verletzt, wenn die Leute im Ort durchblicken ließen, daß die Mutter noch immer etwas Besseres sein wollte als andere. Daß sie ihre Kinder auf Schulen schicken wollte und daß es für sie nicht in Frage kam, eine ihrer Töchter als Magd auf einen Bauernhof zu schicken.

»Nein, sie erfährt es noch früh genug«, seufzt Synna.

»Schimpfen wird sie sowieso, wenn sie mitbekommt, daß ihr zwei euch liebt«, sagt Julie. »Und außerdem ist alles, was gewesen ist, nun schon so lange her, sie muß es endlich vergessen.«

Ja, bevor sie sich im Frühjahr verloben, richtig mit Ringen, wollen sie auf keinen Fall etwas sagen, weder auf Li noch zu Hause. Die Hochzeitsfeier haben sie für das nächste Frühjahr geplant, falls die Eltern sich nicht widersetzen.

»Ich glaube nicht, daß sie das tun.«

»Es würde mich wundern, wenn alle so glücklich darüber wären wie wir.«

Seit sie ganz klein waren, haben sie so beieinander gelegen und sich flüsternd ihre Geheimnisse mitgeteilt. Sie sind Nachteulen, alle beide, und da sie sich so lange nicht gesehen haben, sind die Zeiger der Uhr schon weit vorgerückt, als sie sich endlich gute Nacht sagen.

Am Sonntagmorgen begrüßt sie ein strahlender Herbsttag. Dieses Wochenende ist Gottesdienst, und sie beschließen hinzugehen. Julie ist zum ersten Mal hier in der Kirche, nicht weil sie bisher keine Lust gehabt hätte, sondern weil es sich nicht so traf, daß an ihrem freien Sonntag Gottesdienst war. Die Kirche hier gleicht der zu Hause, ein weißes, langgestrecktes Gebäude aus dem vorigen Jahrhundert mit einem fast strengen und spartanischen Interieur, über dem eine schlichte Ruhe liegt. Wie gut es ist, hier neben Synna zu sitzen und die altvertrauten, schönen Kirchenlieder mitsingen zu können. Diese Lieder haben sie schon immer innerlich beruhigt. Doch als Ane sie bei Tisch fragt, worüber der Pastor gepredigt hat, können sie es beide nicht sagen.

Bevor Synna wieder abreist, muß Julie ihr noch ihren Aussichtsplatz zeigen. Nach dem Mittagessen gehen sie hin, setzen sich und schauen über die Hustadbucht mit den gischtüberschäumten Felsklippen und den tückischen Unterwasserriffen. Dahinter weit draußen die Unendlichkeit des offenen Meeres.

»Ist das nicht schön?«

»Doch, aber die Landschaft zu Hause gefällt mir besser. Das hier, das ist für mich fast zu überwältigend. Hier hast du wohl deinen Platz zum Träumen?«

Zu Hause hat sie immer zu hören bekommen, daß sie eine Träumerin ist, und das stimmt ja auch. Ihrem Wesen nach ist sie ruhig, obwohl sie fürchterlich viel reden kann, wenn sie erst einmal auftaut.

Synna ist das genaue Gegenteil. Sie zeigt ihr Temperament, gerät schnell in unbändigen Zorn, faucht dann und redet schneller, als sie denkt, aber ihre Wut hält nie lange an, und danach entschuldigt sie sich sofort für die unüberlegten Worte, zu denen sie sich hinreißen ließ. Sie ähnelt der Mutter im Aussehen wie im Temperament und ist deshalb auch ihr Liebling.

Julie kommt nach dem Vater, sie hat seinen Teint geerbt, seine schwarzen Haare, sein Naturell. Im Grunde hat sie dasselbe heftige Temperament wie Synna, aber sie zeigt es nicht so leicht. Sie ist wie der Vater und läßt sich nichts anmerken, wenn jemand sie verletzt. Sie frißt es in sich hinein, bringt es auf andere Weise nach außen. Der Vater, der schweigt nur und geht seiner Wege, wenn die Mutter schimpft und wütet, und sein Schweigen bringt sie noch mehr in Rage. Dann läßt sie ihren Zorn an dem aus, der gerade greifbar ist. Synna macht das nichts aus, sie kann sich ihrer Haut wehren. Wohl auch aus diesem Grunde verstehen sich die beiden so gut. Julie dreht sich um und geht, wie der Vater, aber oft mit einer bissigen Bemerkung. Hinterher tut es ihr oft leid. »Gar nichts sagen ist das beste«, sagt der Vater. Das gelingt ihr nicht ganz, aber das schlimmste für sie sind Mißstimmung und Unfriede. Mit dem Vater fühlt sie sich am engsten verbunden, obwohl sie beide gern hat. Sie findet, daß sie und Synna sich gut ergänzen, weil sie so verschieden sind. Manchmal fragt sie sich, ob der Vater und die Mutter ihr eigenes Verhältnis auch so empfinden. Seit sie erwachsen ist, denkt sie öfter darüber nach.

»Du träumst ja schon wieder«, sagt Synna.

»Ich habe an zu Hause gedacht und an dich. Du hast es gut, du hast Hans. Ob ich auch einmal einen wie ihn finde? Vielleicht heirate ich nie.«

»So ein Unsinn, natürlich wirst du heiraten. Warum solltest ausgerechnet du nicht heiraten? Ingebrikt hat es wohl geschafft, dir Angst einzujagen?«

»Ich weiß nicht. Ich verliebe mich und verliebe mich, und dann ist es wieder vorbei. Das kann doch nicht normal sein, oder?«

»Warte nur, bis der Richtige kommt.«

»Der Richtige! Das ist ja das Dumme. Woher weiß ich denn, wer der Richtige ist?«

»Das weißt du erst, wenn er vor dir steht.«

»Für dich ist das Leben so einfach, Synna.«

»So leicht, wie man es gerne hätte, ist es auch wieder nicht, aber manchmal bin ich so glücklich, Julie, daß ich Angst habe, es könnte zu schön sein, um zu dauern.«

»Ach, nein, Synna. Für euch wird alles gut. Ich bin ganz sicher, daß nichts und niemand euer Glück zerstören kann.«

»Ich glaube ja auch, es wird schon alles gut werden. Denn ich hab’ ihn doch so unsagbar lieb.«

Die Sonne ist untergegangen, die Dämmerung setzt ein. Im Eifer der Unterhaltung haben sie nicht einmal bemerkt, daß ihnen kalt geworden ist. Als sie den Weg hinuntergehen, sehen sie eine Gruppe junger Leute, die sich am Kai eingefunden hat. Arm in Arm gehen sie zu ihnen und mischen sich unter sie. Und später am Abend, als der Mond aufgegangen ist, gehen sie mit Odd und Erik am Strand spazieren.

Julie denkt, daß sie ja immer noch diese beiden hat, und es sieht auch nicht so aus, als würde Synna ihnen mißfallen. Aber das können sie sich schenken.

»Ich verstehe nicht, worüber du dich beklagst«, sagt Synna, als sie nach diesem Abend voller Erlebnisse im Bett liegen. »Du hast doch wohl genügend Verehrer.«

»Ja, aber ich weiß auch nicht . . .«

»Muß man denn immer gleich alles wissen?«

»Nein, da hast du auch wieder recht.«

Am Himmel im Osten dämmert gerade erst der Tag herauf, als sie Synna zum Dampfer begleitet. Synna steht an der Reling und winkt mit dem weißen Schal in der Hand. Julie winkt so lange zurück, bis die Schwester nicht mehr auszumachen ist. Das letzte, was sie von ihr sieht, ist der weiße Schal, der sich langsam entfernt und schließlich verschwindet wie eine Möwe, die in die Nacht fliegt.

Als sie an diesem Tag an die Arbeit geht, fühlt sie sich leicht und unbeschwert. Über so manches, worüber sie in letzter Zeit gegrübelt und nachgedacht hat, konnte sie sich aussprechen. So ist Synna schon immer gewesen, so erstaunlich praktisch, und sie schafft es jedes Mal, die Dinge wieder zurechtzurücken. Von jetzt an kann sie sich auf Weihnachten freuen.

Julies Erwachen

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