Читать книгу Maiglöckchen sind …. giftig - Anne-Kathrin Wagner - Страница 5

Köln

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war die Besatzungszone der Belgier und diese suchten ein Offiziersquartier größeren Ausmaßes. Sie traten an meinen Vater heran. Viel gefragt wurde nicht, man beschlagnahmte einfach das Hotel kurzerhand. Die belgischen Besatzer hatten den Besitzern jedoch eine einigermaßen angemessene monatliche Nutzungsentschädigung zu zahlen.

Die Stadt Köln hatte die Aufgabe, der jeweils dort ansässigen Familie ein Quartier zur Verfügung zu stellen. So war das Abkommen, das zwischen der belgischen und der deutschen Regierung vereinbart worden war, wenn etwas beschlagnahmt werden sollte.

Zunächst herrschte großes Entsetzen bei Robert, Anne und meinen Großeltern, aber Robert sah dann doch darin eine große Chance weiterzukommen. Die Höhe der Nutzungsentschädigung konnte sich sehen lassen.

Wir bekamen das Angebot, eine kostenfreie Wohnung in der Stadt zu beziehen oder das neben dem Hotel brachliegende Grundstück auf vierzig Jahre kostenlos von der Stadt Köln zu Wohnzwecken zu übernehmen, um dort auf eigene Kosten ein Haus zu errichten. Robert entschied sich für das Grundstück und ruck zuck in nur fünf Wochen stand das Vierzimmerhäuschen. Wir, das heißt Fritz, Frieda Bübchen und ich, mussten dort einziehen. Fenster und Türen waren drin, aber an den Wänden lief noch das Wasser runter. Die grauen, noch unverputzten Steine waren von Feuchtigkeit durchzogen, denn es war Herbst und es hatte viel geregnet während des Baus. Keine Heizung, nur Kohleöfen, zunächst alles recht primitiv. Robert und Anne war es eigentlich egal. Hauptsache, ein Dach über dem Kopf für Frieda, Fritz und die Kinder.

Robert mietete für sich und Anne eine Kneipe mit Wohnung auf der damals noch ziemlich in Trümmern liegenden, heute noch berühmten Hohestraße an. Dort schufteten die beiden dann wirklich Tag und Nacht. Mit den Rentnergedecken fing es des Morgens an, weiter ging’s bis in die frühen Morgenstunden. Auch Josi half des Öfteren in den Nachtstunden aus. Sie kannte ja das Metier aus den Berliner Tagen. Auch wenn es viel Trouble zwischen den beiden Frauen gab, wurde auch häufig getanzt, gelacht und gefeiert im »Niehkörvje«, wie die Kneipe hieß.

So waren die Nachkriegsjahre. Viel Arbeit, aber auch unbändiges Vergnügen.

Dass sie auch Kinder hatten, schien ihnen entfallen zu sein. Geld, Geld, Geld, das war das Wichtigste in ihrem Leben und sollte es immer bleiben.

Bübchen und ich, wir sahen sie höchst selten. Ich war inzwischen in der ersten Klasse und lernte schlecht. Ich verwechselte ständig die Buchstaben, konnte nicht still sitzen und irgendwie war ich immer die Letzte bei allem. Meine Großeltern waren schlicht überfordert mit uns beiden kleinen Kindern. Fritz entzog sich der Verantwortung und dehnte die Besuche in seiner Lieblingskneipe »Zur Linde« immer länger aus. Frieda braute derweil ihr Eierlikörchen auf dem Küchenherd und trank so hin und wieder am Tag auch ein paar Gläschen von den gequirlten Eiern. Spender dieses Gebräus waren ihre selbst gezüchteten Zwerghühner beziehungsweise deren Eier, also alles Bio, oder wie oder was?

Betrunken habe ich sie nie gesehen. Immer öfter jedoch gab es Krach zwischen Robert, Anne, Frieda und Fritz wegen der ständigen Abwesenheit der Erziehungsberechtigten.

Nach nur zwei Jahren hatten Robert und Anne genug Geld zusammen und bauten sich um die Ecke ihrer nur angemieteten Kneipe »Niehkörvje« ein eigenes Hotel mit zwanzig Zimmern, hieß vierzig Betten. Schneller als die Leute schauen konnten, war das Hotel »Hochreiter« fertig, so nannten sie ihr Hotel. Anne hatte inzwischen gelernt, fix zu arbeiten und richtete das kleine Stadthotel mit viel Geschmack und Organisationstalent ein. Dort wohnten sie auch in einem kleinen Zimmer von fünfzehn Quadratmetern. Es machte ihnen scheinbar nichts aus. Hauptsache Geld und weiterkommen. Die Ziele von Robert waren jedoch weit höher gesteckt.

Anne hätte es gereicht. Sie war kaputt und sehr nervös. Nie machte es mir und meinem Bruder Spaß, wenn sie gelegentlich Mutter spielte. Es gab schon mal Tage, da erinnerte sie sich daran, dass sie Kinder hatte, und ein Zoobesuch stand an. Es gab Eis und Zuckerwatte, wovon ich nie genug bekommen konnte, sozusagen bis zum Erbrechen, was dann natürlich so gar nicht toll war und nicht schön aussah. Wir waren schließlich zum Vorzeigen herausgeputzt worden. Bübchen hatte sogar einen kleinen Frack an. Ehrlich, süß sah er aus, mein Schatz, und nun wieder die Bescherung mit mir, alles in roten Zuckerwatteschleim getaucht. Wir wurden wieder ins Auto gepackt und zurück zu den Großeltern gekarrt, Bübchen und ich. Verheult, so nahmen uns unsere Großeltern in Empfang. Meistens in diesem Zustand, denn recht konnten wir es unserer Mutter nie machen. Entweder waren wir nicht so angezogen, wie sie es wünschte, oder wir waren zu laut oder zu leise oder überhaupt ein bisschen sehr lästig. Diese wunderbaren Ausflüge wurden oft sehr schnell beendet. Frieda steckte uns dann in die Badewanne und wir waren froh, den Fängen unserer ungeduldigen Mutter entronnen zu sein.

Es wurde immer schwieriger für Fritz und Frieda, mit Bübchen und mir fertig zu werden. Ich kam in der Schule nicht zurecht, weder mit den Hausaufgaben noch mit den Schulkameraden, und Bübchen hatte seine Wutanfälle, indem er sich auf den Boden warf und brüllte.

Das Fazit der Geschichte war, wir kamen in ein Kinderheim in Waldbröl. Viel kosten sollte es nicht und so war es dann auch dort. Ein Ehepaar hatte sich auf dem Gebiet der Kinderbetreuung in einem Einfamilienhaus selbstständig gemacht. Fünfzehn Kinder unterschiedlichen Alters wurden in die Zimmer gepfercht, mit miesem Essen versorgt und auf die dortige Dorfschule geschickt, die größeren jedenfalls. Da waren wir die Außenseiter und wurden von den Dorfkindern, wie man heute sagen würde, gemobbt, aber hallo!

Ich wurde zur Bettnässerin, Bübchen gleich mit, und wir mussten jeden Morgen mit unseren nassen Laken im Garten stehen, auch wenn es kalt war, zur Strafe und damit auch die anderen Kinder etwas davon hatten. Sehr schlimm war das alles für mich und meinen Bruder. Aber wir hatten Glück. Nach einem halben Jahr wurde dieses Kinderheim von Amts wegen geschlossen. Viele Jahre später habe ich gehört, dass die Hausmutter zu einer hohen Geldstrafe verurteilt wurde wegen Misshandlung und diversen anderen Dingen.

Ja, für die Kinder von Robert und Anne war das Billigste gerade gut genug. Das sollte auch so bleiben.

Zurück zu Fritz und Frieda.

Robert wurde ein Grundstück am Dom angeboten zum Bau eines großen Hotels, aber leider fehlte ihm das nötige Kleingeld, heißt, das meiste wollte er mit dem Verkauf des Stadthotels finanzieren, dennoch mangelte es an weiterem Eigenkapital. Fritz besaß noch ein ansehnliches Sümmchen und ein paar Aktien, wollte aber damit partout nicht rausrücken. Er hatte vor, seiner Arbeitslosigkeit ein Ende zu setzen, indem er sich einen Zigarrenspezialladen kaufen wollte, damals keine so schlechte Idee.

Wie es Robert und Anne gelungen ist, ihn davon abzubringen, bleibt ihr Geheimnis. Sicher nicht zuletzt mit dem Versprechen, ihn zu einem Drittel an dem neuen Hotel zu beteiligen. Unverständlich, wie mein Großvater ohne einen notariellen Vertrag darauf reinfallen konnte. Schriftlich wurde jedoch eine monatliche Summe vereinbart, um den entgangenen Gewinn des nicht vorhandenen Zigarrenladens auszugleichen, zuzüglich der Zinsen des geliehenen Geldes.

Ihre Enkelkinder bekamen sie als Dreingabe dazu.

Es lief gut für Robert und Anne. Das Stadthotel hatte einen guten Preis eingebracht. Fritzens Geld war eingesackt. Dennoch mangelte es immer noch an Geld. Robert begann, mit Wechseln zu arbeiten, was recht riskant war und heute kaum noch üblich ist, ein sogenanntes abstraktes Wertpapier. Dazu brauchte man eine Hausbank, die großes Vertrauen in den Wechselaussteller haben musste, ein Spiel für Hasardeure, denn das Einlösen der Wechsel musste immer genau an dem ausgestellten Tag passieren, ja sogar die Stunde stand darauf. Hatte man das Geld nicht, platzte der Wechsel und alles war im Eimer. Die Hausbank zog sich in der Regel zurück, man war nicht mehr kreditwürdig und eine neue Bank nach einem geplatzten Wechsel zu finden, war sozusagen unmöglich. Vorher konnte man noch prolongieren, aber alles war doch sehr riskant. Es hieß eigentlich immer alles oder nichts!

Mehr als einmal musste mein Großvater sein kleines Auto, eine Isetta, verpfänden und wieder auslösen, ein Auto übrigens, in das man einstieg, indem man die Motorhaube anhob. Ein witziges Gefährt war das. Wir Kinder haben es geliebt, weil es so klein war und fast wie ein Spielzeugauto aussah. Fritz blieb nicht viel anderes übrig, denn er hing in der Chose ja mit drin.

Anne musste den von ihrem Vater geschenkten Schmuck auch des Öfteren ins Pfandhaus tragen. Zum Schluss gelang es ihr nicht mal mehr, ihn auszulösen. Somit war sie schmucklos und die beiden standen vor einer Fastpleite.

Abgewendet hat Robert dieses nur, indem er die halbfertige, sogenannte Domschenke, welche zum noch nicht fertiggestellten Savoy gehörte, kurzerhand fast noch im Rohbau einfach eröffnete und sich selbst hinter die Theke stellte. Und somit kam täglich Geld in die Kasse und es ging aufwärts. Gleichzeitig beteiligte er sich an der illegalen Geldvermehrung vieler Deutschen zu der Zeit, er fing an Zigaretten zu schmuggeln, ein sehr lukratives Geschäft, wenn man um die Beschaffung wusste, und das war für Robert gar kein Problem. Seine Kontakte zu den belgischen Offizieren waren exzellent. Es war ein risikoreiches Unterfangen an dem sich auch Josi beteiligte, man konnte ohne weiteres dafür ins Gefängnis wandern, die Kontrollen waren scharf, aber Robert sah keine andere Chance er brauchte Geld. Mehr als einmal sind er und Josi knapp einer solchen Katastrophe entgangen. Sie fuhren über Land und verscherbelten ihre geschmuggelte Ware in den umliegenden Kneipen und Gasthöfen. Es brachte ihnen ein nicht unerhebliches Sümmchen ein.

Ein paar Monate später wurde das Hotel Savoy am Dom mit hundertfünfzig Betten, großem Restaurant, Bar und Schenke eröffnet. Das zweitgrößte Hotel damals in Köln nach dem Krieg. Anne und Robert bezogen oben im Dach ihre Penthouse-Wohnung. Sehr schick, sogar zwei Kinderzimmer wurden eingerichtet, wenn auch spartanisch und lieblos. Von uns bewohnt wurden sie eh selten. Dafür waren die anderen Räume umso exquisiter eingerichtet. Geschmack hatte Anne ohne Zweifel, auch ihre Garderobe war auffallend und elegant. Sie war immer noch eine sehr gut aussehende Frau.

Rund um die Wohnung im sechsten Stock führte eine große Dachterrasse, allerdings ohne Geländer mangels Geld. Im sechsten Stock wäre es heute gar nicht mehr möglich, so die Bauabnahme zu bekommen.

Dieses mangelnde Geländer sollte noch eine Rolle spielen.

Das Büro meines Vaters war von oben bis unten mit Wechseln tapeziert. Tatsächlich sollten sie jahrelang als Tapete dienen. Er war sehr stolz darauf und zeigte sie jedem, der sie sehen oder auch nicht sehen wollte.

Robert und Anne hatten es geschafft. Sie waren stolz und sehr glücklich, zunächst. Zur Eröffnungsfeier kam der Oberbürgermeister von Köln persönlich. Welch ein Aufstieg und wie viele menschliche Wracks lagen hinter ihnen auf der Strecke.

Fritz trank munter weiter. Ich war jetzt zehn Jahre alt und wurde magersüchtig und Bübchen kam bald in die Schule. Fritz wurde beauftragt, jeden Morgen vor der Schule mit mir in die Bäckerei an der Ecke zu gehen und dort musste ich einen Viertelliter geschlagene Sahne essen, jeden Morgen. Erst, war es ja okay, aber dann, nach Wochen ohne Gewichtszunahme, habe ich die Sahne immer wieder erbrochen, bis diese Tortur wieder aufgegeben wurde.

Mit Ach und Krach schaffte ich die Grundschule, wurde dennoch in Kalk auf das Gymnasium geschickt mit der Fehlanzeige, dass ich wieder in meine alte Klasse zurück musste, »dieses blöde Kind«.

Keiner hat mal nachgefragt, wie denn so die häusliche Situa-tion war. Frieda hatte mich zur Rückholminna für Fritz abkommandiert. Sie ging ja schon lange nicht mehr aus dem Haus, sagen wir mal, sie konnte es nicht.

Also als Minna, da war ich gut drin, echt. Die Einzige, auf die mein Großvater hörte, war ich!

In der benachbarten Kneipe »Zur Linde« hatte er inzwischen Hausverbot. Es gab nur eine Kneipe im Ort, also nahm Fritz jeden Morgen die Straßenbahn und fuhr nach Köln-Vingst. Dort war an der Ecke eine Kneipe, fünf Meter von der Bahn, was sich für mich noch als günstig erweisen sollte. Die Kneipe hieß sinnigerweise »Zum Eck«. So am Spätnachmittag, wenn mein Großvater nicht von selbst sternhagelvoll eintrudelte, hatte ich mich, mit Fahrkarte bestückt, auf den Weg zu machen, es waren nur drei Haltestellen. Raus aus der Bahn, rein in die Kneipe. Nun wurde es schwierig. Fritz konnte es gar nicht leiden, wenn man ihn böse anschaute oder gar kommandierte. Also setzte ich mein Sonntagslächeln auf. Ich hätte ihn ermorden können. Großvater und seine Kumpanen mussten erst der Reihe nach freundlich begrüßt werden, dann musste ich mich setzen, in die stickige, verqualmte Kneipe, Fritz leise ins Ohr flüstern »Komm, wir fahren nach Hause« – »Aber nein Laura, ich bin doch gerade erst angekommen, noch ein einziges Bier« und so weiter. Ich musste diplomatisch bleiben, sonst schaffte ich es nicht. Daraus wurden drei oder mehr Bier, ehe ich ihn schwankend, stützend, lallend an der Haltestelle hatte. Einsteigen war noch mal schwierig, aber da gab es manchmal hilfreiche Hände, die dem armen Kind unter die Arme griffen, oder besser gesagt dem Großvater. Aber es gab auch Leute, die mich und meinen Großvater beschimpften. Je nachdem krakeelte er auch rum.

»Das arme Kind«, sagten viele Leute. Für mich war das emotional eine Katastrophe und sehr anstrengend.

Das ging Monate so, bis eine ehemalige Lehrerin mich und meinen Großvater in der Bahn sah. Die rief meinen Vater an. Der kam, brüllte rum, fluchte und empfahl Fritz und Frieda, sich zum Teufel zu scheren.

Genau genommen hatten seine Schwiegereltern ja jetzt auch ausgedient und ihre Pflicht und Schuldigkeit getan. Deren Knete hatte Robert ja nun. Alles paletti, oder etwa nicht? Vielleicht wäre mein Großvater ja mit seinem Zigarrenladen zufrieden und glücklich geworden. Er war gerade mal Anfang fünfzig, ohne Arbeit und Perspektive, auch nicht so witzig.

Zum Teufel gingen Fritz und Frieda nicht, aber sie zogen Holter die Polter, viel besaßen sie ja nicht mehr, nach Berlin und ließen nun Bübchen und mich auch noch im Riss sozusagen.

Ein Hausmädchen wurde abgestellt um den Kleinen zu versorgen. Ich kam in ein streng christliches Internat der evangelischen Brüdergemeinde in Stuttgart.

Wie sie da draufgekommen sind, ist mir immer noch rätselhaft, denn mit Religion hatten Robert und Anne gar nichts zu tun. Wird wohl mal wieder ein Sonderangebot gewesen sein. Vielleicht ist das erblich, ich liebe Sonderangebote.

Im Internat gefiel es mir eigentlich ganz gut. Es war nur wie immer schwierig, Freundinnen zu finden. Ich fing an, Tagebuch zu schreiben.

Ich habe es heute noch, traurige, kleine Geschichten, und fast auf jeder Seite steht: »Lieber Gott«, der war dort allgegenwärtig, klar, »hilf mir, ich kann nicht lieben«. Für ein Kind eine heftige Feststellung, die ganz der Wahrheit entsprach. Mir fehlte ein Stück, immer, und ich wusste es schon als Kind und es hat mich belastet.

Es gab eine Erzieherin dort, zufällig auch aus Köln, die sehr liebevoll mit mir umgegangen ist. Dies hatte einen besonderen Grund. Sie hatte eine Tochter in meinem Alter, die bei der Oma lebte, der Mutter von ihrem Exmann. Sie durfte ihr Kind nicht mehr sehen, denn sie war eine Frau mit Vergangenheit. Sie hatte einen Liebhaber während der Ehe gehabt, was leider aufgefallen ist und schwuppdiwupp hatte der beleidigte Ehemann die Scheidung eingereicht. Schuldig geschieden hieß damals kein Unterhalt, kein Kind und man wurde sozusagen vor die Tür gesetzt, obwohl der liebe Ehemann vorher zahlreiche Liebschaften gehabt hatte. Sie war nur so dumm gewesen, sich erwischen zu lassen. Ihr Geliebter fand die heimlichen Treffen viel aufregender als eine geschiedene Frau. Er hat sich dann auch verdünnisiert. Tja, so blieb nur noch die Straße, aber es gab ja die barmherzige evangelische Brüdergemeinde. Die nahmen sie auf, die gefallene Frau. Sie musste das Versprechen abgeben, nunmehr keusch zu leben, natürlich bitter zu bereuen und Buße zu tun. Sie bereute sehr, büßen tat sie ebenso, aber ihre Tochter hat sie erst wiedergesehen, als diese einundzwanzig Jahre alt wurde. Der Tochter hatte man erzählt, Mama sei gestorben. Das war sie ja auch. Sie hatte solche Sehnsucht nach ihrem Kind und manchmal hat sie geweint, wenn es keiner sah. Weinen sollte sie auch nicht, nur ihre Buße auf sich nehmen beziehungsweise ihre Strafe annehmen. Sie war eine Erzieherin und hatte streng und vorbildlich zu sein.

Ich habe es aber doch gesehen und manchmal einfach ihre Hand genommen und sie hat mir über die Haare gestreichelt.

Das war schön.

Ihr lieber Exgatte heiratete kurz nach der Scheidung wieder, seine jahrelange Geliebte. Das Kind wurde ihm zugesprochen, heißt, er hatte das Sorgerecht, aber keine Lust zu sorgen und schob die Kleine seiner steinalten Mutter zu, in deren muffige Wohnung, wo sie dann ungeliebt und unerwünscht aufwuchs. Schließlich wusste man ja schon im Voraus, was für einen schlechten Charakter das Kind von seiner liederlichen Mutter geerbt hatte. Die neue Frau des Exmannes wollte neu gemachte Kinder und nicht ein altes, schon gebrauchtes Kind übernehmen.

Die Mutter hat noch mal versucht, ihr Kind zu bekommen, es wurde aber abgelehnt wegen ihres ehemaligen unsittlichen Verhaltens.

Aus die Maus.

Ich weiß das alles von der Tochter, die ich auf der Beerdigung ihrer Mutter kennengelernt habe, alles sehr traurig. Die Tochter war inzwischen eine gut verdienende Domina in Köln, mit luxuriösem Appartement. Nicht unsympathisch.

Im Internat ging es streng zu. Jeden Morgen und jeden Abend Andacht. Zweimal in der Woche zum evangelischen Gottesdienst. Nach der Schule drei Studienstunden unter Aufsicht der Erzieherin. Alles streng geregelt. Die Disziplin tat mir gut und der Abstand von zu Hause ebenso. Ich wurde schlagartig gut auf dem Gymnasium und war sehr stolz und meine Eltern waren zufrieden.

Oma und Opa in Berlin durften Bübchen und ich immer in den Ferien besuchen. Was hätten Robert und Anne auch sonst mit uns anfangen sollen? Immer mit dem Flugzeug, denn durch die DDR kam man zu der Zeit nicht mit dem Auto. Der Ton zwischen den beiden verfeindeten Parteien hatte sich wieder einigermaßen normalisiert.

Meine Großeltern hatten sich keine Wohnung in Berlin angemietet, sondern wohnten im christlichen Hospiz in Wedding, direkt an der späteren Mauer. Das Hospiz war eine Art preiswertes Hotel und beherbergte so einige gestrandete Menschen, natürlich nur solche, die auch bezahlen konnten. Kochen durfte man dort nicht, aber meine Oma hatte ihren Balkon kurzerhand zur Küche erklärt. Sommer wie Winter kochte sie dort. Ich sehe sie immer noch mit ihrem langen, schwarzen Mantel, frierend, sich die Hände reibend in ihren Töpfen rühren. Sah irgendwie komisch aus. Gott sei Dank haben die Herbergs-Eltern die Übertretung der Hausordnung großzügig übersehen.

Bübchen und ich bekamen immer ein Extrazimmer, das natürlich von unseren Eltern bezahlt wurde, denn der monatliche Scheck von Robert war nicht allzu üppig, aber er hielt die Vereinbarung soweit ein.

Das Wichtigste war, Fritz trank nicht mehr. Ab und zu eine Molle, wie man das Bier in Berlin nennt, aber das war’s auch. Frieda konnte sich wieder ein wenig erholen von den hinter ihr liegenden Jahren. Es machte ihr gar nichts aus, so primitiv zu leben. Hauptsache, sie hatte ihre Ruhe und ihr Fritz war wieder einigermaßen auf der Reihe. Seinem Zigarrenladen hat er ein Leben lang nachgeweint und seinem Schwiegersohn die Schuld gegeben, weil er ihm sein Geld abgeschwatzt hatte. Ich denke mal, er hat alles nur für seine Tochter Anne getan.

Zwischen Anne und Robert lief alles nicht mehr so gut. Ringsum schossen die Läden und schicken Modehäuser sowie Parfümerien wie Pilze aus dem Boden. Die Deutschen fingen wieder an zu leben, nicht nur zu schuften. Trümmerfrauen gab es nicht mehr. Jetzt marschierten die schicken Verkäuferinnen in die Domschenke und zur hoteleigenen Bar.

Robert fand das wunderbar, Anne weniger. Es kam zu hässlichen Szenen, zunächst oben im Penthouse. Gelegentlich wur-de auch lautstark in der Öffentlichkeit gestritten.

Als hätte Paul von Weitem gerochen, dass es eventuell Arbeit für ihn geben würde, stand er plötzlich bei seinem Bruder im Hotelbüro. Robert war etwas überrascht, denn es war ja einige Zeit her, dass er seinen Bruder gesehen hatte, aber er war ganz angetan, brauchte er doch einen Empfangschef für das Hotel. Da Paul nicht viel Ahnung hatte, sollte er eingearbeitet werden. Das ging gründlich daneben, weil er es einfach nicht begriff, die Koordination mit den Reisegesellschaften und so weiter. Robert behielt ihn trotzdem, hatte er doch eine Oberaufsicht, die seinen Namen trug. Das machte sich bei Gästen und Personal recht gut und Robert hatte mehr Zeit, seiner kleinen Nebenbeschäftigung des Aufreißens von jungen Damen nachzugehen.

Paul machte an sich eine gute Figur und sah ganz nach Vizechef aus, echt, spielte sich auch so auf. Er war eben ein kleiner Hochstapler. Seine Tochter, meine Cousine Alina, sollte es später auf die Spitze treiben mit der Hochstapelei, sodass alle Leute dachten, sie sei die zukünftige Hotelerbin, was ihr einige Vorteile einbrachte. Da sie denselben Namen trug ließ sie sich hofieren in den umliegenden Geschäften, schlug ständig einen Rabatt oder ein Sondergeschenkchen bei ihren Einkäufen heraus. Darin war sie äußerst geschickt, ähnlich wie ihr Vater Paul.

Ich habe sie selten gesehen. Ich fand sie dumm und eingebildet, nur worauf, habe ich mich manchmal gefragt.

Dieses arrogante Auftreten hat sie bis heute nicht verlernt.

Sie ist jetzt fünfundsechzig, nach wie vor geltungssüchtig, laut und schwatzhaft, redet sich um Kopf und Kragen und hat sich dadurch bei vielen Menschen äußerst unbeliebt gemacht.

Nach dem Show-up bei seinem Bruder Robert musste Paul ja nun auch bei Irene auftauchen und irgendwie sehen, wie er die leidige Angelegenheit mit der Abladung seiner Tochter vor geraumer Zeit regeln konnte, ohne dass sie ihm schon bei seinem Anblick an die Gurgel ging. Robert, ganz Bruder, ging mit und die beiden schafften es, Irene zu besänftigen, indem sie ihr die Vergangenheit mit ein paar Hundert Mark entschädigten und Trauergeschichten über das schrecklich schwierige Leben von Paul auftischten.

Inzwischen hatte Irene sich an Alina gewöhnt und es ging so einigermaßen. Sie blieb zunächst noch bei ihr, ab jetzt jedoch berechnete sie Paul jeden Hosenknopf und das Garn dazu. Ebenso wurde jede Ausgabe penibel in ein Haushaltsbuch eingetragen und mit Quittungen belegt, zusätzlich natürlich noch ein festes monatliches Salär für Unterkunft, Essen und Erziehung seiner Tochter. Paul war mit allem einverstanden. Hauptsache, er musste sich nicht selbst um seine Tochter kümmern. Einmal im Monat machte Irene sich und ihren Egon, den Herrn Ingenieur, wie auch Alina stadtfein und ab ging’s nach Köln ins Savoy zum Lunchen bei Onkel Robert und Vater Paul. Sie ließen es sich dann richtig gut gehen, nicht ohne Paul vorher abkassiert zu haben. Das unbestimmte Gefühl, er könnte ja wieder verschwinden, ließ Irene niemals mehr los.

Für mich und meinen Bruder wurden die Ferien in Köln nunmehr zum Horrortrip, denn immer konnten sie uns nicht nach Berlin abschieben. Robert junior war inzwischen auch in einem Internat in Bad Godesberg gelandet bei Patres. Es schien ihm dort gar nicht zu gefallen.

Machen wir es kurz. Robert nahm sich eine Geliebte, viel jünger natürlich, eine Kosmetikerin, ein schickes Mädel. Anne fing an, um den untreuen Ehemann zu kämpfen, mit aufregenden Kleidern und Dessous. Wein und ähnliche Getränke wurden verstärkt eingesetzt. Robert wollte beides, eine arbeitsame, vorzeigbare Ehefrau und eben ab und zu eine nette Gespielin. Damit kam Anne ganz und gar nicht klar, verständlich, denn bei der einen blieb es nicht. Anne schenkte er einen Pelzmantel und Schmuck und einmal eine Reise nach Capri. Da wollte sie hin, zur Insel der Liebenden, natürlich mit ihrem Mann Robert. Er ja eigentlich auch, sagte er jedenfalls, aber leider kam ihm in letzter Minute etwas dazwischen, vermutlich ein neues Fräuleinwunder mit schönen, langen Beinen. Er hatte die glorreiche Idee, meiner Mutter einzureden, wie schön es doch sei, mit ihrer halb erwachsenen Tochter die Reise nach Capri anzutreten. Es waren zufällig gerade Osterferien. Ich habe meinen Vater regelrecht angefleht, mich nicht mitzuschicken. Ich wollte auf gar keinen Fall mit meiner Mutter allein sein. Ich hatte schlichtweg Angst vor ihrer Unberechenbarkeit. Sie war mir unheimlich.

Es nutzte aber nichts, ich musste mit.

Das wurde die schlimmste Reise meines Lebens. Jeden Tag bangte ich um mein Leben im wahrsten Sinne des Wortes. Meine Mutter fuhr ein weißes MG Cabrio, ein sehr schönes Auto. Ein kleines Wunder, dass wir später wieder heil in Köln landeten.

Wir fuhren also los, nicht ohne dass mir vorher ein paar schicke Kleider gekauft wurden. Sie wollte sich schließlich nicht total blamieren mit ihrer nunmehr etwas pummeligen Tochter. Meine ersten anständigen Kleider. Im Internat war ich das am schlechtesten gekleidete Mädchen.

Meine Mutter war auf der Reise sehr sparsam. Sie brauchte Geld für Wein, der Pegel musste schließlich ständig aufgefüllt werden. Es gab nicht viel zu essen. Wein und Käse am Straßenrand, eigentlich recht romantisch, denn es war eine wunderbare Umgebung. Italien war schön, wenn der Wein nicht gewesen wäre. Abends gab es ab und zu Spaghetti, in Deutschland zu der Zeit noch recht unbekannt.

Die Straßen waren damals in Italien teilweise noch in mittelalterlichem Zustand. Autobahnen gab es fast keine, es ging also über Land. Und mehr als einmal hingen wir mit den Reifen irgendwie über einem Abgrund, ob gewollt oder ungewollt. Mindestens dreimal am Tag erklärte meine Mutter mir, dass es besser wäre für sie und auch für mich, wenn sie jetzt einfach geradeaus weiterfahren würde, was hieß, in den Abgrund zu sausen. Sie war eigentlich eine gute Autofahrerin, aber mit dem Alkohol und ihren Todeswünschen wurde jeder Tag zu einer Tortur für mich. Von genießen konnte man da nicht sprechen. Es waren auch die längsten vierzehn Tage meines Lebens. Ich hatte mir geschworen, mich nie mehr in ein Auto zu setzen. Welche Todesängste ich da ausgestanden habe, kann man sich gar nicht vorstellen. Ich habe kaum geschlafen vor Angst und essen konnte ich fast gar nichts. Abgesehen davon gab es ja auch nicht viel. In den vierzehn Tagen habe ich fünf Kilo abgenommen und die neuen Kleider hingen nur so an mir runter, was meine Mutter auch wieder aufregte. Damals gab es leider noch nicht den sogenannten Schlabberlook.

Das Reisen hat sie mir gründlich vermiest. Ich hasse Reisen heute noch, mache es nur, wenn es unbedingt sein muss.

Zurück in Köln herrschte eine schlimme Stimmung zwischen Robert und Anne.

Eines jedoch hat mir Spaß gemacht. Ich konnte meine Cousine Vera und meinen Vetter Marcus jetzt öfter sehen, denn die Belgier hatten das Waldhotel als Offizierskasino wieder freigegeben. Nun konnten Robert und Anne wieder über das Hotel verfügen. Aber zwei Betriebe waren selbst ihnen zu viel, also überredete Robert seine Schwester Josi, das Hotel von ihm zu pachten. Josi war eine geschäftstüchtige Frau und machte ihre Sache gut. Eine Schenke wurde eingerichtet, eine Kegelbahn angelegt und alles lief bestens. Der Umsatz stimmte und alle waren zunächst zufrieden.

Marcus und Vera verbrachten nun all ihre Ferien vom Internat im Waldhotel. Das war sehr schön für uns Kinder.

Im Internat hatte ich inzwischen eine Freundin gefunden, Iris. Sie sollte noch viele Jahre meine einzige Vertraute bleiben. Sie hat es immer verstanden, mich zu trösten, wenn ich ihr nach den Ferien meine Horrorgeschichten aus Köln erzählte.

Sie kam aus Stuttgart. Ihre Mutter war alleinerziehend und es fiel ihr schwer, das Schulgeld für Iris aufzubringen. Im Internat gab es alle zwei Wochen Heimfahrtage. Ich wohnte zu weit weg, konnte also nicht nach Hause fahren, worüber ich nicht gerade betrübt war, wenn auch die Wochenenden im Internat ziemlich öde waren.

Es war kaum jemand da und meine Lieblingserzieherin musste sich immer sehr zurückhalten, denn es war den Erzieherinnen verboten zu enge Beziehungen zu einzelnen Kindern aufzubauen.

Das war ein Kündigungsgrund. Später, als Iris und ich enger befreundet waren, durfte ich immer mit ihr nach Hause fahren. Dort ging es einfach, aber liebevoll zu. Das war schön. Ein bisschen eifersüchtig war ich aber auch.

Es wurde Sommer und meine Mutter beschloss, mit mir und Robert junior vier Wochen auf der Nordseeinsel Norderney zu verbringen, was ungewöhnlich war. Wahrscheinlich brauchte Robert freie Bahn in Köln. Leider war meine Mutter eine fanatische Anhängerin der FKK-Gemeinschaft, was hieß, man ging an den Nacktbadestrand, eine Lebensphilosophie. Sie ging also nur an diesen speziellen Strand, der weit weg von der Dorfmitte lag. Die Grenzen waren markiert und dort musste man sich nackt ausziehen, um den Strand betreten zu dürfen. Damals war es der einzige Nacktbadestrand in Deutschland.

Ich fand es entsetzlich, verständlich bei der strengen, christlichen, leibfeindlichen, prüden Erziehung in Stuttgart. Ich habe mich furchtbar geschämt. Meine Mutter konnte das ganz und gar nicht verstehen. Ich habe so lange geweint und genörgelt, bis sie es satt hatte und uns an den normalen Strand gehen ließ. Die meiste Zeit der Ferien habe ich dann mit meinem Bruder allein am Strand verbracht. Schon eine große Verantwortung für eine Zwölfjährige auf einen sechsjährigen, lebhaften Burschen den ganzen Tag aufzupassen und ihn zu versorgen, wochenlang, aber ich kam gut damit zurecht, mir gehorchte Robert junior immer.

Eine Episode vom FKK-Strand zeigt, wie naiv Kinder mit zwölf Jahren zu der Zeit waren.

Wir wollten alle zusammen ins Meer gehen, Bübchen und ich liefen schon mal vor. Wir sahen eine Menschentraube an der Seite. Neugierig gesellten wir uns dazu und sahen mitten in der Menge einen nackten Mann stehen. Alle anderen waren natürlich auch nackt und beschimpften den Mann wüst. Ungerührt blieb dieser jedoch stehen und grinste. Ich verstand nicht, was da vor sich ging, schließlich war der Mann doch verkrüppelt, der Arme! Ich dachte noch, wie kann der jemals eine Hose anziehen, der arme Mann, da riss mich meine Mutter am Arm und marschierte wütend aufs Meer zu. Hat auch gar kein Mitleid, die blöde Kuh, dachte ich. Robert junior tapste einfach hinterher.

Die nächsten Monate ging es rasant abwärts mit der Ehe meiner Eltern. Meine Mutter trank jetzt sehr viel, selten wirkte sie jedoch betrunken. In den Herbstferien fing sie an, mich zu tyrannisieren, indem sie mich nachts betrunken aus dem Bett scheuchte, egal ob es zwei Uhr oder vier Uhr morgens war. Immer suchte sie irgendetwas, ihre Zigaretten, ein bestimmtes Kleid, Schuhe oder ihren Schmuck und ich musste ihr suchen helfen. Dabei heulte und schrie sie. Das ging gut, denn keiner hörte es da ganz oben und mein Vater nächtigte meist aushäusig. Es war der reinste Psychoterror. Ich habe sie verachtet und gehasst. Irgendwann hat es auch mir gereicht und ich habe sie angebrüllt, sie solle ihren Kram selber suchen und die Tür zugeknallt, was zur Folge hatte, dass sie mich wüst beschimpfte, wie undankbar und herzlos ich sei, eiskalt, wie mein Vater. So ging es stundenlang weiter. Raus aus meinem Zimmer, rein in mein Zimmer. Ich war einfach nur müde und wollte schlafen und habe die Tür abgeschlossen. Was tat sie? Sie hat die Tür eingetreten. Das hat dann selbst sie zur Räson gebracht. Meinem Vater hat sie weisgemacht, ich hätte mich eingeschlossen und nicht mehr aufgemacht und sie sei in Panik geraten, dass etwas passiert sei. Mein Vater hat nichts gesagt, mich nur angeschaut.

Ich denke, er wusste, was Sache war.

Ich weiß nicht warum, aber ich habe mich schuldig gefühlt. Dabei hatte ich doch gar nichts getan. Schuld und Angst begannen mein Leben zu bestimmen.

Heiligabend haben wir alle noch friedlich mit Josi, Vera und Marcus verbracht. Alles war schön geschmückt im Savoy. Wir Kinder haben Verstecken gespielt im ganzen Hotel. Die Erwachsenen schlürften Champagner und die Austern gleich dazu. Einziger Wermutstropfen war, ich konnte kein Weihnachtsgedicht aufsagen, obwohl es vorher schon geklappt hatte. Ich brachte nur ein Gestammel zuwege und meine Mutter war wütend ob ihrer stupiden Tochter.

Vera, die Süße, mit ihren dicken, braunen Zöpfen rasselte sogar die ganze Weihnachtsgeschichte herunter. In den Augen meiner Eltern war ich im Großen und Ganzen eine Versagerin, nicht vorführbar. So fühlte ich mich auch. Marcus und Robert junior mussten natürlich keinen Vortrag halten, sie waren ja Jungs.

Silvester nahte und ich hatte schon ein ungutes Gefühl. Robert und Anne hatten beschlossen, nicht gemeinsam zu feiern. Robert wollte bei Josi im Waldhotel feiern, natürlich nicht alleine, sondern mit einer neuen Freundin, und Anne mit Freunden aus Norderney im Savoy. So war es ausgemacht, nur leider hatten ihre Freunde in letzter Minute abgesagt wegen Eis und Schnee. Sie kamen aus Hessen. Meine Mutter war enttäuscht, aber eine Änderung des Abends stand nicht auf dem Programm, jedenfalls nicht für meinen Vater. Schließlich hatten sie vereinbart, von nun an eine offene Ehe zu führen.

Ich, in ein unmögliches, gelbes Tüllkleid gesteckt, sah aus wie ein greller Luftballon. Alle Proteste nützten nichts. Meine Mutter hingegen sah im bodenlangen, schwarzen Spitzenabendkleid umwerfend aus. An der Bar haben wir noch einträchtig einen Cocktail getrunken, ich ein Miniglas. Mutter, Vater, Kind, ganz die heilige Familie, richtig anheimelnd. Anne allerdings war schon recht angespannt, dann entschwand Robert in Richtung Königsforst.

Das Festessen mit meiner Mutter im Restaurant war mehr als trübsinnig. Sie trank Unmengen Champagner, sodass sogar die Kellner etwas nervös wurden und ich auch. Eine Kapelle spielte, es war vollbesetzt. Einige Paare wagten sich schon auf die Tanzfläche. Damals tanzte man noch die Gesellschafts-tänze wie Walzer und Foxtrott. Das war ein schöner Anblick, die bunten Kleider und alle waren in bester Stimmung, nur an unserem Tisch war es still, fast gespenstig.

Das Essen blieb mir im Hals stecken. Anne stocherte in jedem Gang nur ein bisschen herum. So gegen elf Uhr beschloss meine Mutter, sich nach oben zu verziehen. Der Weg zum Aufzug war schon nicht leicht zu bewältigen für sie, aber Silvester verzeiht man ja allen einen leicht schwankenden Gang, oder nicht? Mir war es mehr als peinlich, sah ich doch die Blicke, die das Personal sich zuwarf.

Oben angekommen orderte sie sich noch eine eisgekühlte Flasche Champagner in die Wohnung. Leicht zögernd brachte der Oberkellner den Champagnerkübel, nicht ohne meine Mutter zu fragen, ob bei der gnädigen Frau alles in Ordnung sei, so sagte man damals noch. Gnädig war sie nicht, jedenfalls nicht zu mir. Ich wollte mich in mein Zimmer verziehen, schon um den gelben Ballon loszuwerden, meine Mutter ließ mich aber nicht gehen.

»Du bleibst hier, kommt gar nicht in Frage, dass auch du abhaust wie dein lieber Vater!«

Ich war todmüde, sagte es auch, aber sie hatte kein Erbarmen. Es wurde zwölf Uhr und sie beschloss, mir zu sagen, dass dies ihr letzter Tag sei und sie nunmehr von der Terrasse springen werde. Sie zog ihren Ozelotpelzmantel an und bewegte sich schwankend zur Tür. Ich riss sie zurück und redete auf sie ein und irgendwie gelang es mir, sie auf die Couch zurückzudrängen. Sie riss sich immer wieder los. In meiner Verzweiflung rief ich im Waldhotel an. Mein Vater ging an den Apparat und ich schrie nur immer wieder:

»Sie will springen! Sie will springen!« Er schrie zurück: »Ich komme«, und legte auf.

Es war eine bange Stunde, dazu körperlich sehr anstrengend, denn immer wieder rannte sie auf die Balkontür zu. Einmal war sie sogar draußen, gefährlich nah am nicht vorhandenen Geländer. Die ganze Terrasse war noch immer nicht abgesichert worden. Es war der sechste Stock, immerhin.

Ich habe gekämpft wie eine Löwin. Obwohl ich sie nicht liebte, wollte ich dennoch nicht, dass sie sich das Leben nahm.

Endlich stand mein Vater in der Tür. Jetzt wurde es zu einem Horrorszenarium. Er schob mich zur Seite, schob ist untertrieben, er schubste mich zur Seite. Er war außer sich vor Wut, brüllte wie ein Stier, prügelte auf meine Mutter ein, zog sie an den Haaren in ihr Zimmer und warf sie aufs Bett. Im Nu war er wieder an der Treppe nach unten. Ich rannte ihm nach, weinte und bettelte: »Bitte nimm mich mit, ich habe Angst.« Er hatte noch nicht einmal einen Blick für mich, als sei ich schuld daran, dass sein Silvesterabend mit seiner Mieze nun wohl im Eimer war.

So fühlte ich mich auch, schuldig. Rücksichtslos gab er mir einen Stoß. Ich fiel ein Stück die Treppe runter, blieb liegen und weinte. Mein Vater war weg und ich war ganz allein. Zitternd vor Angst, geschockt und hilflos traute ich mich nicht mehr in die Wohnung zurück. Ich bin dann auf der Treppe irgendwann vor Erschöpfung eingeschlafen und habe mich am frühen Morgen halb erfroren in mein Bett geschlichen. Die ganze Wohnung lag voller Haarbüschel. Ich habe sie aufgehoben und in den Mülleimer geschmissen. Ganz ekelig fand ich das. Für den Rest meines Lebens habe ich nie mehr auch nur ein einzelnes Haar meiner Mutter berührt, nie hätte ich ihre Haarbürste benutzt.

Bis Mittag rührte sich niemand in unserer Wohnung. Am Neujahrstag, ich war nur aufgestanden, um mir etwas zu trinken zu holen, sah ich meinen Vater mit einem großen Strauß roter Rosen an mir vorbeischießen in Richtung gemeinsames Schlafzimmer. Mich beachtete er gar nicht. Er schloss die Tür und sie wurden den ganzen Tag nicht mehr gesehen, meine Eltern.

Selbst ich konnte mir vorstellen, was vor sich ging. Gegen Abend erschienen beide wieder im Wohnzimmer, ganz einträchtig. Anne war geschminkt und gestylt. Sie gingen ins Restaurant. Ich wurde nicht mal gefragt, ob ich mit essen wollte. Ich hatte wohl den schwarzen Peter gezogen. Das Gefühl, gar nicht mehr zu existieren, beschlich mich. Es sah so aus, als gäben beide mir die Schuld an dem vermiesten Silvesterabend. Fast hätte ich es selbst geglaubt, wären da nicht die blauen Flecken an meinen Handgelenken und an den Armen gewesen. Ich war erst zwölf, aber ich wusste, Anne wäre gesprungen, wenn ich sie nicht aufgehalten hätte. Ein Gefühl tiefer Einsamkeit ergriff mich.

Meine Eltern waren dabei, meine Seele zu zerstören. Ich wollte nur noch sterben, habe mein Tagebuch genommen, bin mit dem Aufzug in den Keller gefahren, damit mich keiner sieht, habe den Lieferanteneingang genommen und mich auf den Weg zum Rhein gemacht. Ich dachte, so ist es am besten, dich will sowieso keiner.

Es war bitterkalt und es schneite unaufhörlich. Ich überquerte den Domplatz. Dort wehte ein eisiger Wind, wie meistens zu dieser Jahreszeit. Nur noch ein paar Meter bis zum Wasser.

Angekommen, stieg ich gerade die kleine Steintreppe zum Rhein hinunter, die an jedem Kai war, als ich zu Tode erschrocken einen Mann herunterkommen sah. Es war unser Hotelboy. So einen gab es damals noch in jedem größeren, guten Hotel. Kleine Jungs, meist so vierzehn oder fünfzehn Jahre alt, die zum Koffer tragen oder anderen kleinen Diensten den Gästen zur Verfügung standen. Sie verdienten fast nichts, ihr Einkommen waren hauptsächlich die Trinkgelder.

Er musste mir wohl gefolgt sein, vielleicht hatte er Dienstschluss gehabt. Jedenfalls setzte er sich zu mir und verwickelte mich in ein Gespräch. Ich denke, er wusste einiges über die private Situation bei uns. Chef und Chefin sind immer ein beliebtes Thema bei den Mitarbeitern. Er hat mich ein bisschen ausgefragt. Ich war immer noch in einem Schockzustand. Einmal begonnen, konnte ich plötzlich nicht mehr aufhören zu weinen. Wie aus einer geöffneten Schleuse stürzten mir die Tränen nur so über das Gesicht. Ich habe ihm auch erzählt, was ich vorhatte. Er nahm mich in den Arm und gab mir seine Jacke. Ich war halb erfroren. Er sagte nicht mehr viel, brachte mich einfach denselben Weg zurück. Dabei erzählte er mir noch, dass er für einen Freund, der krank geworden war, für kurze Zeit den Job übernommen habe, damit dieser keine Kündigung bekam. Ich fand ihn sehr nett, unseren Aushilfsboy. Er hieß David.

Ich musste ihm versprechen, keine Dummheiten mehr zu machen. Ich war so kaputt und müde, ich hätte alles versprochen.

Ich kroch ins Bett. Keiner hatte bemerkt, dass ich Stunden weg war. Dieser junge Mann sollte noch eine Rolle in meinem Leben spielen.

Zurück im Internat hatte ich einen Traum. Meine Mutter lag auf einer weißen Chaiselongue und aus ihrem Mund flogen Perlen so groß wie Vogeleier. Immer mehr und immer höher flogen die Perlen und sie lachte und kreischte dabei. Ich stand daneben und wollte sie auffangen. Es waren schöne Perlen. Ich wollte mir eine Kette davon machen, aber keine einzige blieb in meiner Hand. Sie rollten weg wie Bälle. Dann erwachte ich schweißgebadet und erschöpft.

Ein unbestimmtes Gefühl trieb mich am nächsten Tag dazu, in Köln anzurufen. Mein Vater sagte nur:

»Deine Mutter liegt im Krankenhaus.» Er konnte oder wollte mir nicht erklären, was sie hatte. Meine Oma Frieda hat mir später erzählt, dass meine Mutter eine Überdosis Veronal geschluckt hatte und in letzter Minute ins Krankenhaus transportiert worden war. Sie überlebte.

Hilfe! Jetzt war ich auch noch Hellseherin.

Robert hat Anne dort nicht einmal besucht. Diese Art von Erpressung war wohl nicht so sein Ding, drücken wir es mal so aus.

Die Versöhnung hatte also nicht lange gehalten. Anne wollte die Scheidung nun unbedingt, Robert nicht. Es wurde ein zähes Ringen um Vermögen, Unterhalt und Schuld, denn das war wichtig. Wer schuldig geschieden wurde, bekam keinen Unterhalt. Schließlich haben sie sich geeinigt. Robert nahm alle Schuld auf sich. Anne bekam monatlichen Unterhalt für sich und ihre Kinder und die Hälfte des Waldhotels. Die andere Hälfte bekamen Fritz und Frieda, die im Zuge dessen auch ihr Kapital einforderten. Es wurde bestimmt, dass meine Mutter das Haus im Königsforst, das wir immer noch hatten, jenes Ausweichquartier, das uns von der Stadt Köln zur Verfügung gestellt worden war, mit mir und Robert junior beziehen sollte. Das Haus wurde von Grund auf renoviert und wurde mit den fünftausend Quadratmetern Grundstück rundherum ein hübscher Bungalow, bequem genug, um darin angenehm zu wohnen. Es war ein uneinsehbares Grundstück mit einem kleinen Wald und gepflegten Rasenstücken und Blumenrabatten. Wir hatten praktisch keine unmittelbaren Nachbarn. Unser nächster Nachbar war das Waldhotel.

Anne fühlte sich übervorteilt und das war sie auch mit Sicherheit. Sie war der Meinung, dass ihr auch die Hälfte des Savoys zugestanden hätte. Man kann das auch so sehen, denn schließlich hatte sie in den Aufbaujahren Tag und Nacht mit geschuftet, nur leider war sie so dumm oder so vertrauensvoll gewesen und hatte nicht darauf geachtet, mit ins Grundbuch eingetragen zu werden.

Den Lieblingsspruch meiner Mutter habe ich noch im Ohr: »Bis das Geld euch scheidet«, damals ein bekannter Film mit diesem Titel.

Robert hatte alles sehr geschickt eingefädelt, ein gemeiner Betrug muss man sagen. Sie sollte ihm kein Glück bringen, diese grenzenlose Gier.

Er musste dafür bezahlen.

In unserm Bungalow im Königsforst hat es mir und meinem Bruder gut gefallen. Wir wurden beide zurückbeordert aus unseren Internaten und lebten nun mit unserer Mutter zusammen dort. Es war alles für uns recht ungewohnt, die Stille rundherum und so.

Unsere Mutter jedoch war nicht bestens gelaunt und wir wurden beide wieder schlagartig schlecht in der Schule. Da meine Fantasie und meine Willenskraft grenzenlos waren, wenn ich etwas erreichen wollte, konnte ich sehr überzeugend sein. Meine Redekunst hat mir Glück und Unglück in meinem Leben gebracht. Auf meine Eltern habe ich so lange eingeredet, bis sie zustimmten, dass meine Freundin Iris zu uns ziehen durfte, mit dem Argument, dass sie ja so viel intelligenter sei als ich, was durchaus stimmte, und ich mit ihrer Hilfe auf jeden Fall bessere Schulnoten bekommen würde.

Iris und ich, wir waren glücklich und so siedelte sie von Stuttgart zu uns nach Köln um. Die Mutter von Iris war schon deshalb einverstanden, da sie jetzt das Schulgeld nicht mehr zahlen musste. Mein Vater gab meiner Mutter jeden Monat zusätzlich Geld für Iris und ihre Verpflegung, was ich sehr nett von ihm fand. Sowieso wurde das Verhältnis zu meinem Vater zunächst doch recht angenehm.

Wir gingen nun zusammen auf die Kaiserin-Theophanuschule in der Kölner City und hatten unseren Spaß und meine Leistungen wurden tatsächlich besser.

Robert junior, Iris und ich, wir waren wie Geschwister, die sich gut vertrugen, mit meiner Mutter weniger. Gespräche gab es kaum, aber wir hatten ja uns. Viel zu essen gab es auch nicht. Hunger hatten wir eigentlich immer. Wofür sie das Geld brauchte war uns klar, für Alkohol natürlich, immerhin gingen wir dreimal in der Woche mittags nach der Schule ins Savoy und speisten dort fürstlich im Restaurant. Wir konnten essen und trinken, was wir wollten. Sehr erwachsen kamen wir uns jedes Mal vor, schließlich wurden wir ja auch hofiert von den Kellnern, denn wir waren hübsche Mädels, wir zwei, und Junior war ja sowieso etwas Besonderes, der zukünftige Chef in Miniformat.

Ganz nebenbei lernten wir auch noch Tischmanieren, wie und wofür Besteck und Gläser zu verwenden sind, wie man Fisch filetiert und so weiter. Robert senior zeigte sich großzügig und ein kleines Taschengeld gab es immer für uns, wenn er da war. Damals wurde auch das neue Funkhaus fertiggestellt. Dadurch wohnte viel Prominenz im Savoy, wie Margot Eskens, Vico Torriani, Marika Rökk, Caterina Valente und viele andere Stars der damaligen Zeit. Iris und ich haben fleißig Autogramme gesammelt, womit man dann in der Schule wunderbar angeben konnte. So gesehen hatten wir zu dem Zeitpunkt eine schöne Zeit.

Für die beiden Betriebe hatten wir eine gemeinsame Hotelwäscherei, die hinter unserem Wohnhaus im Königsforst lag. Somit gab es auch einen Minibus mit Fahrer, der mehrmals am Tag zwischen Königsforst und City hin und her fuhr.

Da wir auch Verträge mit Fluggesellschaften hatten, wie der Lufthansa, Swissair und so weiter, wurden auch die Stewardessen samt Flugkapitänen hin und her chauffiert, wie es gerade nötig war. So brauchten wir drei nicht immer mit der Straßenbahn fahren, was ungeheuer praktisch war.

Maiglöckchen sind …. giftig

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