Читать книгу Der kleine Bork - Anne Schiller - Страница 8

WEIL WIR DAS SCHON IMMER SO GETAN HABEN

Оглавление

In Rüsselsheim, nicht weit entfernt vom kleinen Dorf Zaudershafen, steht ein alter Apfelbaum. Sein dicker und kräftiger Stamm kann auch den stürmischsten Winternächten trotzen und seine Äste reichen bis weit hinauf ins Wolkenreich. Die Bewohner von Zaudershafen trauen sich nicht mehr in die Nähe dieses Baumes. Manch einer behauptet, in der Baumkrone würden Monster ihr Unwesen treiben. Wanderer wollen geisterhafte Schatten gesehen haben, die sich von Ast zu Ast hangeln. Nachts sollen sie furchtbare Laute von sich geben. Dann ertönen markerschütternde Schreie und das Kratzen scharfer Krallen auf staubigem Boden. Ganz unrecht haben die Menschen mit ihren Geschichten nicht. Doch es sind keine Geister, die den Baum befallen haben. Es liegt auch kein Fluch auf den Blättern, der sie im Wind klingen lässt wie mordlustige heulende Wölfe. Nein, da lebt tatsächlich etwas. Die Bewohner des Apfelbaumes sind Lebewesen, die seit jeher ihr Unwesen in zahlreichen Schauergeschichten treiben. Aus den Menschendörfern haben sich die Wesen schon vor langer Zeit zurückgezogen. Kaum einer weiß mehr, dass es sie überhaupt gibt. Sie sind beinahe gänzlich in Vergessenheit geraten. Bei den Lebewesen handelt es sich um die Orks.

Im Laufe der Zeit haben sich die Orks zu verschiedenen Grüppchen zusammengetan. Eine dieser Gruppen hat den großen Apfelbaum besiedelt und nennt ihn seitdem ihre Heimat. Diese Orks sind so groß wie Fledermäuse und schlafen auch so: kopfüber von den Ästen hängend. Sie ernähren sich von den am Baum wachsenden Äpfeln und werden von den anderen Orks Borks genannt.

Die restlichen Ork-Gruppen haben sich andere Verstecke gesucht. Wenn man genau hinschaut, kann man ein reges Treiben bei den Felsen entdecken, die einige Meilen vom großen Apfelbaum entfernt liegen. Dort gibt es keine Städte. Der Boden ist nicht fruchtbar genug für Ackerland. Und weil dort darum auch keine Menschen leben, ist die Gegend perfekt für die Felsen-Orks. Diese nennen sich Forks und haben sich in Berghöhlen ihr Zuhause eingerichtet.

Neben den Borks und den Forks gehören die Works zu den bekanntesten Ork-Gruppen. Die Works tragen ihren Namen wegen ihrer Verbindung zum Wasser. Sie werden häufig von den anderen Orks beneidet, denn sie bewohnen eine kleine Insel umringt von verschiedenen Flüssen und Seen. Dadurch haben sie das ganze Jahr über frischen Fisch zum Essen.

Die Borks, die Forks und die Works verlassen ihr Zuhause niemals. Aber selbst wenn sie es täten, so gäbe es einen Ort, dem sie sich nicht mal nähern würden. Nämlich das Zuhause der letzten Ork-Gruppe von Rüsselsheim.

Dieser letzte Stamm ist als der fürchterlichste aller Ork-Stämme bekannt. Jeder Ork, egal aus welcher Gruppe, hat achtundachtzig messerscharfe Zähne, die tiefer schneiden als jedes Schwert. Außerdem drei Augen – eines davon am Hinterkopf –, die verhindern, dass sich ihnen jemand unbemerkt nähern kann. Die harte Schuppenhaut ist so dick, dass nicht einmal eine Kugel sie verletzen könnte. Und die Krallen der Orks sind gefährlicher als jede Waffe, die jemals ein Mensch hergestellt hat. Alle Orks sind furchteinflößend, doch die vierte Ork-Gruppe ist ganz besonders grausig.

Die Krorks leben im Krater eines Vulkans, der seit Jahrhunderten kein Feuer mehr spuckt. Ihre Haut ist noch dicker und schuppiger als die der anderen Orks, da sie die Wärme des Vulkans aushalten muss. Ihre Zähne sind spitzer und die Krallen extralang, damit sie an den glatten Kraterwänden hochklettern können. Man munkelt, dass das dritte Auge der Krorks niemals schläft – weil sie jederzeit bereit sein müssen zu fliehen, falls der Vulkan doch noch einmal ausbrechen sollte.

Das sind sie also, die vier Ork-Stämme – Borks, Forks, Works und Krorks –, die seit endlos langer Zeit nahezu unbemerkt auf der Erde leben. Versteckt an Orten, an denen kein Mensch sie je suchen wird. Vielleicht ist ihr abstoßendes Aussehen der Auslöser für all die Schauergeschichten, die sich die Menschen über sie erzählen. Wer würde sich auch besser zum Bösewicht eignen als solch hässliche und gruselige Wesen? Und ja, viele Orks sind tatsächlich böse. Die Angst der Menschen vor ihnen hat sie davon überzeugt, dass das Kämpfen wohl ihr Schicksal ist. Und da Orks grundsätzlich sehr gläubige Lebewesen sind, fügen sich die meisten ihrem Schicksal ohne Widerstand. So manch ein Reisender ist bereits Opfer ihrer Überfälle geworden und man sagt, dass den Kraterboden der Krorks zahlreiche Knochen schmücken. Doch wer glaubt, dass alle Orks mit ihrem düsteren Leben glücklich wären, der täuscht sich gewaltig. Hoch oben auf dem Apfelbaum ist jemand ganz und gar nicht einverstanden mit seinem schlechten Ruf.

Der kleine Bork Elstar ist der Sohn der Stammeshäuptlinge Boskop und Gala. Gala ist bei allen bekannt als die Schönste aller Borks. Von ihren achtundachtzig Zähnen sind zweiundfünfzig bereits ganz schwarz von Karies. Das verleiht ihr ein besonders entsetzliches Grinsen. Menschen fänden das wohl furchtbar. Die Borks finden schwarze Zähne allerdings entsetzlich schön! Boskop und Gala macht es großen Spaß, Stammeshäuptlinge zu sein. Niemand beschwert sich, wenn sie sich die größten und saftigsten Äpfel oder den schattigsten Ast auswählen.

Anders als seine Eltern ist der kleine Bork Elstar die meiste Zeit über ziemlich traurig. Im Gegensatz zu den anderen Borks in seinem Alter hat er keinen Spaß daran, wehrlose Vögel zu fressen, die sich auf einem Zweig ausruhen. Und auch das Erschrecken von Wanderern erfreut ihn nicht. Viel lieber würde er auf die ausgefallenen Feste im nahen Menschendorf gehen. Die Musik tönt an manchen Abenden bis zum alten Apfelbaum. Doch egal, wie sehr er seine Mutter anfleht, sie will es ihm einfach nicht erlauben.

»Wieso dürfen uns die Menschen nicht sehen, Mama?«, fragt der kleine Bork eines Abends, als die Sonne schon hinter den Felsen der Forks untergegangen ist.

»Weil sie uns fürchten würden«, lautet Galas Antwort.

Elstar wird neugierig. »Wieso würden sie uns fürchten?«

»Weil wir kämpfen und brüllen«, antwortet die Mutter.

Damit ist Elstar nicht zufrieden. Er fragt weiter: »Wieso kämpfen und brüllen wir denn?«

Gala sieht ihren Sohn ungeduldig an. »Weil wir das schon immer getan haben. Und jetzt hör auf, Fragen zu stellen.«

Natürlich will der kleine Bork den Worten seiner Eltern glauben, so ist er schließlich erzogen worden. Aber die Antwort »Weil wir das schon immer getan haben!« gefällt ihm so gar nicht. Warum man etwas tun sollte, bloß weil andere es immer so getan haben, das kann er nicht verstehen.

Als der Herbst anbricht, hat der kleine Bork Elstar keine Zeit mehr, sich über den Sinn des Lebens Gedanken zu machen. Denn auf den Herbst folgt die schwerste Zeit im Leben eines Borks. Der große Apfelbaum verliert seine Blätter. Und mit ihnen verschwinden all die saftigen Äpfel, die so wichtig für das Überleben der Borks sind. Ohne das Obst gibt es kaum Essen für die Gruppe. Obwohl sich die jungen Borks oftmals einen Spaß daraus machen, Vögel zu jagen, so ist das doch keine zuverlässige Nahrungsquelle. Denn Borks haben zwar lange, scharfe Krallen, aber Flügel sind ihnen bislang noch keine gewachsen. Deshalb fangen sie die Vögel auch nur selten.

Während die Tage also immer kürzer und kälter werden, werden die Borks im großen Apfelbaum immer nervöser. Eilig sammeln sie jeden noch so kleinen Apfel, um ihn in die Vorratskammer für den Winter zu bringen. Sie wissen aber bereits, dass es nicht ausreichen wird, um den endlosen Bork-Hunger bis zum Frühjahr zu stillen. Die Stammeshäuptlinge Boskop und Gala beraten täglich bis tief in die Nacht, wie sie das kleine Volk von hungrigen Borks über den Winter bringen können.

»Der Winter wird jedes Jahr kälter«, klagt Gala an einem Abend und sieht mit hängenden Schultern zur dunklen Wolkendecke hoch. »Letztes Jahr sind fünf von uns beinahe verhungert.«

»Das müssen wir dieses Jahr irgendwie verhindern«, stimmt Boskop zu. Er kratzt sich mit einer Kralle gedankenverloren am Kopf. »Es ist so unfair. Die Works können das ganze Jahr über frischen Fisch aus ihren Seen und Flüssen essen. Unsere Äpfel gibt es aber nur im Sommer.«

»Wir sollten ihnen den Fisch stehlen. Und wenn wir schon dabei sind, können wir ihnen auch gleich die ganze Insel wegnehmen!«, ruft Gala.

Die Pläne, die Boskop und Gala aushecken, werden immer wilder. Denn wer denkt, dass die Ork-Stämme einander freundlich gesinnt sind, der irrt. Die Orks bekämpfen nämlich nicht nur die Menschen. Sie bekämpfen sich auch gegenseitig – zumindest haben sie das früher getan. Vor vielen, vielen Jahren ist es immer wieder zu Streitereien gekommen, bei denen sich die Borks, Forks, Works und Krorks gegenseitig angegriffen haben. Irgendwann haben sich dann alle zum eigenen Schutz in ihre Gebiete zurückgezogen und sich seitdem nie mehr weiter als unbedingt nötig von ihrer Heimat entfernt. Boskop und Gala können sich überhaupt nicht mehr daran erinnern, wann sie das letzte Mal etwas anderes als den großen Apfelbaum gesehen haben.

Der Stammeshäuptling tönt: »In Zeiten der Not müssen große Taten das Überleben der Borks sichern!« Und so folgt die Entscheidung, bereits am nächsten Morgen mit den gefährlichsten Bork-Kriegern aufzubrechen, um mit den Works um das Wasser und den Fisch zu kämpfen.

Der kleine Bork Elstar, der das Gespräch seiner Eltern heimlich mit angehört hat, hält überhaupt nichts von diesem bösen Plan. Er versteht einfach nicht, wieso man immer gleich Gewalt anwenden muss. Wieso können wir die Works nicht freundlich fragen, ob sie uns etwas von ihrem Fisch abgeben?, fragt er sich. Den Gedanken, dass sich die Krieger seines Stammes bei dem Kampf mit den Works verletzen könnten, findet er furchtbar. Also sucht Elstar das Gespräch mit seinen Eltern.

»Mama, Papa«, beginnt er vorsichtig, »lasst uns doch bitte friedlich zu den Works gehen und sie nicht einfach angreifen. Vielleicht geben sie uns ja freiwillig etwas von ihrem Fisch ab.«

Sein Vater schaut ihn mit zusammengekniffenen Augen an. »Das würden sie niemals tun. Die Works würden sich bei der ersten Gelegenheit auf uns stürzen und uns verjagen.« Um seinen Worten noch mehr Gewicht zu verleihen, schüttelt der Stammeshäuptling entschieden den Kopf.

»Aber wieso sollten sie das tun?«, fragt der kleine Bork verständnislos.

»Weil sie das schon immer so getan haben. Orks sind keine freundlichen und hilfsbereiten Wesen, mein Sohn«, lautet die Antwort seines Vaters.

Da ist es wieder, dieses Das-haben-sie-schon-immer-so-getan!

»Lasst es mich versuchen«, bettelt Elstar. Dass alle Orks bösartig sind, das mag er einfach nicht glauben. »Ich will nicht, dass einer von euch im Kampf verletzt wird. Lasst mich aufbrechen und mit den Works verhandeln.«

»Diese Reise ist viel zu gefährlich für so einen kleinen Bork wie dich«, gibt Mama Gala zu bedenken. Auch sie schüttelt den Kopf und Elstar glaubt die Schlacht schon verloren.

Doch auf einmal brummt Häuptling Boskop: »Elstar ist mein Sohn! Er wird selbst einmal das Volk der Borks anführen. Vielleicht ist das eine gute Gelegenheit, seinen Mut zu testen. Denn den wird er eines Tages brauchen!«

Elstar fühlt sich plötzlich sehr groß und stark, als sein Vater sich vor ihm aufbaut und verkündet: »Geh und versuch dein Glück. Wenn du es lebend zurückschaffst, dann weiß ich, dass du einmal ein großer Anführer sein wirst.«

Der ein oder andere wundert sich nun vielleicht, dass Boskop seinen Sohn auf so eine gefährliche Reise schickt. Bei den Orks ist es aber schon immer eine besonders große Ehre gewesen, für das eigene Volk in den Kampf zu ziehen. Und dass es zu einem Kampf kommen wird, da ist sich Boskop ganz sicher.

Dennoch weint Gala bitterlich, als der kleine Bork Elstar am nächsten Morgen aufbricht und sich auf den fast vergessenen Weg zu den Works macht.

Der kleine Bork

Подняться наверх