Читать книгу Keylam - Anne Schmitz, Christian Milkus - Страница 5
Keylam
ОглавлениеDer Häuptling gewann als Erster seine Fassung zurück: „Lichtlinge, wo sind die Lichtlinge?“, brüllte er in die Stille hinein. „Zündet die Feuer und die Öllampen an, damit wir etwas sehen können!“ Romwald war sich sicher, dass Feuersturm auf direktem Wege zu Skarkorok fliegen würde, um ihm Bericht zu erstatten. Da konnten sie ruhig die Lichter entfachen. Geheim war die Ankunft nun nicht mehr.
Die Lichtlinge bemühten sich, schnell Lampen herbeizuschaffen und Lagerfeuer zu entzünden. Schon bald war die Wiese vom Feuerschein erhellt. Diesmal hatte der Häuptling weniger Mühe, sich Gehör zu verschaffen. Gespannt sahen die Tallinge ihn an.
„Liebe Mitbürger! Beruhigt euch, der Drache ist vertrieben! Wir wollen jetzt gemeinsam den neuen Talling in unserer Gemeinschaft begrüßen. Baumling! Bring bitte eine Öllampe zum Ort der Ankunft, damit der Neue etwas sehen kann.“ Ein Tallingmädchen nahm eilig eine Öllampe und huschte flink am Stamm nach oben. Die Zuschauer unten auf der Wiese verfolgten gespannt, wie der Schein ihrer Lampe den Baum hinaufwanderte.
Saomi, so hieß das Mädchen, war sehr aufgeregt. Eigentlich waren ihre Aufgaben als Baumling, eher ruhig und unspektakulär. Doch an einem Tag der Ankunft war es ihre Pflicht sich um den Neuankömmling zu kümmern. Sie hatte am Morgen bereits die Hängematte aufgespannt und Kleidung hineingelegt. Nervös strich Saomi sich durchs Haar. Dies war ihre erste Ankunft und sie wollte alles richtig machen. Geschickt kletterte das Mädchen über zwei Äste. Jetzt war sie schon fast an ihrem Ziel angekommen.
Hoffentlich hat der Drache nicht alles zerstört, dachte sie, da bemerkte sie eine Regung in der Hängematte. Saomi hielt inne. „Hallo, du da oben!“, rief sie.
„Ja?“, erklang eine leise Stimme.
Aha, ein Tallingjunge!, dachte Saomi. Die Stimme war eindeutig männlich.
„Ich reiche dir jetzt eine Lampe nach oben. Zieh die Kleidung an, die in der Hängematte liegt. Wir wollen dich begrüßen!“ Ohne über den Rand seiner Hängematte zu schauen, griff der Junge nach der Öllampe, die sie ihm reichte. Saomi platzte fast vor Neugier. Sie wollte den Neuen unbedingt sehen. Doch er ließ sich Zeit. Während sie wartete, beobachtete sie die vielen fleißigen Lichtlinge, die damit beschäftigt waren, unzählige Öllampen in die Äste des Baumes zu hängen. Als sie fertig waren, erstrahlte der Lebensbaum in einem warmen, goldgelben Licht.
Der Neue zog sich die dunkelgrüne Hose und das hellbraune Hemd an. Beide Kleidungsstücke waren aus weicher Wolle gefertigt und passten wie angegossen. Die Schuhe waren knöchelhoch und liefen vorne spitz zu. Ganz unten in der Hängematte fand er noch eine grüngelbe Gürteltasche, die er sich umband.
„Ich bin fertig!“, rief er Saomi zu.
„Gut!“, sagte sie, „Warte noch einen Moment. Ich gebe den anderen ein Zeichen, dass es losgehen kann.“ Das Tallingmädchen holte aus ihrer Umhängetasche eine kleine Kristalllampe hervor. Filigrane Schnitzereien bedeckten den kurzen Stab, an dessen Spitze ein kleiner Kristall angebracht war. Sie nahm ihn in beide Hände und hauchte ihn an. Sofort erstrahlte der Kristall in einem leuchtend hellen Grün.
Saomi wedelte nun mit der Kristalllampe. Ein Raunen ging durch die Menge am Fuße des Baumes. Alle wussten: Jetzt würden sie den Neuen kennenlernen!
„Meine lieben Tallinge, lasst uns unser neues Dorfmitglied begrüßen!“ sprach Häuptling Romwald feierlich und tosender Applaus dröhnte bis oben in den Baum.
„Komm!“, rief Saomi. Der Ankömmling hielt sich mit beiden Händen am Rand der Hängematte fest und schaute vorsichtig und schüchtern nach unten. Auf der Wiese wurde es für einen Moment ganz still.
„Herzlich willkommen!“, rief der Häuptling nach oben. „Ich bin Romwald, der Häuptling unseres bescheidenen Dorfes Tallingheim. Wie ist dein Name?“
Der Neue überlegte. Wie hieß er noch gleich? Er kannte seinen Namen, woher er ihn kannte, das wusste er nicht, aber sein Name war: „Keylam!“
Jetzt brandete erneut Beifall auf. Die Tallinge klatschten und jubelten.
Was für ein grandioser Empfang!, freute sich Keylam, der nun vorsichtig aus der Hängematte zu Saomi auf den Ast kletterte. Sie sah ihn an.
Er sieht aus wie alle Tallinge, dachte sie. Etwa so groß wie sie selbst, mit kurzen Armen und Beinen. Er hatte ein freundliches Gesicht mit braunen Augen, einer kleinen Nase und spitzen Ohren.
Keylam blickte glücklich nach unten, winkte den Dorfbewohnern zu und freute sich über ihre herzliche Begrüßung. Als der Applaus etwas leiser wurde, rief der Häuptling: „Keylam, verrate uns doch auch noch: Was ist deine Berufung?“
Plötzlich waren die Tallinge still. Alle starrten erwartungsvoll zu ihm auf. Keylam wurde es unbehaglich zumute. Berufung?
„Du sollst ihnen sagen, welche Aufgabe du bei uns übernehmen wirst. Sie wollen hören, was für ein Ling du bist, sag schon!“, flüsterte Saomi ihm ungeduldig zu. Keylam kramte in seiner Erinnerung. Was war seine Berufung? Unten auf der Wiese begannen die Dorfbewohner zu tuscheln.
„Sag es uns!“, rief jemand. Keylam wurde nervös. Was sollte er jetzt sagen? Er wusste nicht, was er für ein Ling er war! Er nahm seinen Mut zusammen und sagte: „Ich weiß es nicht!“
Stille! Kein Laut war zu hören, selbst die Grillen verstummten. Das ganze Tal war wie erstarrt. Die Tallinge auf der Wiese sahen sich an, schüttelten die Köpfe, tuschelten leise. Wenn sie zu ihm nach oben sahen, konnte Keylam die Enttäuschung in ihren Gesichtern sehen. Manche schienen sogar wütend zu sein. Keylam wusste nicht, was er falsch gemacht hatte. Gerade noch hatten sich alle über seine Ankunft so gefreut, und nun?
„Überleg doch noch mal genau!“, bat der Häuptling eindringlich. „Bist du ein Zauberling, ein Bäckerling, ein Schreiberling, irgendetwas?“
Keylam schüttelte nur den Kopf.
„Er ist ein Dümmling,“ sprach jemand aus der Menge. Und obwohl dieser Jemand ganz leise gesprochen hatte, waren seine Worte auf der ganzen Wiese bis oben in den Baum zu hören.