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ОглавлениеEinführungen
1. Wolfgang Thielmann
Darf ich den Schluss meines Lebens selber festlegen? Darf ich das, wenn mir die Kraft zum Leben ausgeht, wenn mich Schmerzen quälen oder meine Hoffnung nur noch in der nächsten Chemotherapie mit furchtbaren Nebenwirkungen und ungewissem Ausgang liegt? Und sollte ein Arzt mir dabei helfen können, mein Leben zu beenden? Und wenn ich mir ein tödliches Medikament kaufen und ans Bett stellen könnte – würde mich das entlasten und mir die Sorge vor der Qual nehmen, sodass ich mich nicht selbst töte, sondern weiter aufs Leben einlasse?
Das niederländische Gesetz „über die Kontrolle der Lebensbeendigung auf Verlangen und der Hilfe bei der Selbsttötung“:
In den Niederlanden darf ein Patient Medikamente verlangen, die ihn töten, wenn ärztlich bestätigt wurde, dass sein Leiden unerträglich und sein Zustand aussichtslos ist. Freunde dürfen sie ihm besorgen, und ein Arzt darf aktiv eine tödliche Spritze setzen. Die Tötung auf Verlangen und die Unterstützung beim Suizid sind unter bestimmten Voraussetzungen nicht mehr strafbar.
„Die Niederlande“ stehen hier verkürzt für die aktive Sterbehilfe.
Um diese Fragen geht es in dem vorliegenden Buch. Ich habe Anne und Nikolaus Schneider dabei begleitet, sich und einander Fragen zu stellen und Antworten zu formulieren, aufgebaut auf theologische Überlegungen und gesättigt von biografischen Erfahrungen. Beide haben eine Tochter verloren, die an Leukämie starb. Beide haben eine Krebserkrankung von Anne Schneider durchgestanden. Und beide haben andere Menschen bei diesen Fragen und beim Abschied vom Leben beigestanden.
Mich beschäftigen diese Fragen, seit ich Mediziner aus den Niederlanden kennengelernt habe, die die Fragen von oben ohne Umschweife mit Ja beantworteten. Wir trafen uns zum ersten Mal auf einer Tagung deutscher Politiker, Mediziner, Juristen und Theologen mit Kollegen aus den Niederlanden. Gerade war in den Niederlanden ein neues Gesetz verabschiedet worden „über die Kontrolle der Lebensbeendigung auf Verlangen und der Hilfe bei der Selbsttötung“. Es war weltweit das erste seiner Art. In den Niederlanden und auch in Belgien darf ein Patient seitdem Medikamente verlangen, die ihn töten. Freunde dürfen sie ihm besorgen, und ein Arzt darf eine tödliche Spritze setzen – wenn der Patient das ausdrücklich wünscht, wenn er von einem Arzt beraten wurde, wenn sein Leiden unerträglich und sein Zustand aussichtslos ist. Und wenn ein zweiter Arzt das bestätigt hat. Regionale Kommissionen überprüfen die einzelnen Fälle im Nachhinein.
Damals habe ich neu verstehen gelernt, warum wir in Deutschland vorsichtiger sind. Das Christentum, die Naturrechtslehre und Immanuel Kant haben starke Barrieren errichtet gegen die Selbsttötung und schon gar die Mithilfe dazu: Kant, weil die Selbsttötung dem kategorischen Imperativ widerspricht, nach dem das eigene Handeln immer auch vorbildlich für andere sein soll, das Christentum, weil eine Selbsttötung in das souveräne Handeln Gottes eingreift. Auch wenn wir heute ein anderes Verständnis der Not von Menschen am Ende ihres Lebens gewonnen haben – die meisten Staaten verbieten die Beihilfe zur Selbsttötung bis heute. So sind zum Beispiel alle Versuche gescheitert, vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ein Recht auf Beihilfe zur Selbsttötung zu erstreiten.
Zudem verpflichtet uns die Geschichte des Dritten Reiches mit seiner Vernichtung angeblich unwerten Lebens. Die Niederländer sprachen im Rahmen der Debatte unbefangen über „Euthanasie“, den „guten Tod“, ein Wort, das in Deutschland vergiftet ist: Die Nazis benutzten es für die Ermordung behinderter Menschen. Diese Geschichte veranlasst Deutsche bis heute, Fragen nach der Hilfe zu sterben besonders vorsichtig zu beantworten. Denn die Möglichkeit, auf Verlangen zu sterben, kann sich umkehren in einen sozialen Druck, seinem Leben ein Ende setzen zu lassen, wenn es angeblich nichts mehr wert ist, weil es nichts mehr produziert außer Hilfebedarf. Deswegen gilt in Deutschland die unbedingte Pflicht zur Hilfeleistung, wenn jemandes Leben in Gefahr ist – auch, wenn er sich selber das Leben zu nehmen versucht hat.
Auf der Tagung mit den Niederländern habe ich den alttestamentlichen Hiob als Kronzeugen gegen die niederländische Regelung angeführt. Hiob klagt Gott an, dass er ihm das Leben zumutet, obwohl er ihm alles genommen hat: seinen Besitz, seine Familie, seine Gesundheit. Sein Zustand war aussichtslos und sein Leiden unerträglich. Und doch hat er sein Leben ausgehalten, bis Gott ihm begegnete und ihn ansprach und Hiob daraus neue Hoffnung gewann. Daraus leitete ich die Einsicht ab, dass niemand beim Sterben allein gelassen werden dürfte. Dann würden die Fragen nach der Hilfe zum Sterben leiser. Da sei eine Lösung zu suchen. Das entspreche zudem der Antwort der Christen auf die Frage nach dem guten Tod, die seit der Antike gestellt wird.
Die Antwort der Christen auf Leiden und Sterben war eine systematische und organisierte Krankenpflege unter der Verantwortung des Bischofs.
Die Antwort der Christen auf Leiden und Sterben war eine systematische und organisierte Krankenpflege unter der Verantwortung des Bischofs. So wurden die sich daraus entwickelnden Krankenhäuser mehr noch als Kult und Bildung zum grundlegenden Beitrag der Christen zur Kultur der westlichen Welt und darüber hinaus. Bis heute ist das Krankenhaus ein Charakteristikum einer christlich geprägten Kultur. Schon in den ersten Jahrhunderten hieß es, es zeichne die Christen aus, dass bei ihnen niemand ungetröstet stirbt.
Die Lösung, so sagte ich damals, liege nicht in der unwiderruflichen Beendigung des Lebens. Doch ein niederländischer Arzt entgegnete mir zornbebend, dass auch er evangelischer Christ sei – und dass er es sich in aller Form verbitte, sich einen Verstoß gegen christliche Grundlagen vorhalten zu lassen. Die Situation habe sich gewandelt. Im Zeitalter der modernen Medizin könne man ein Leben bis ins Absurde verlängern. Und die Selbstbestimmung des Menschen über sein Leben, auch über dessen Ende, sei ein ebenso legitimes Kind des Christentums wie die Fürsorge für Kranke. Die alte Frage brauche eine neue Antwort.
Anne und Nikolaus Schneider haben diese Entwicklung als Religionslehrerin und als Pfarrer in Moers nahe der niederländischen Grenze erlebt und sich mit der Frage nach dem Sterben auseinandergesetzt. Später wurde Nikolaus Schneider Präses der Evangelische Kirche im Rheinland und 2010 Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Er hat die Frage oft zum Thema gemacht.
Die Diskussion ist weitergegangen. In der Schweiz haben sich Vereinigungen gebildet, die sterbewilligen Menschen ein tödliches Medikament besorgen. Dort ist die Begleitung bei der Beendigung des eigenen Lebens erlaubt, solange der Sterbewillige das tödliche Mittel selbst einnimmt. Die bekannteste Organisation, „Dignitas“, berichtet, dass sie mehr Interessenten aus Deutschland betreut als aus der Schweiz. Doch während dieses Buch entsteht, muss sich der „Dignitas“-Leiter Ludwig Minelli vor Gericht dem Vorwurf stellen, mit der Tätigkeit seines Vereins unrechtmäßig viel Geld an sich gebracht zu haben.
Ende 2010 berichtete ich für meine Zeitung, die ZEIT, über ein Ehepaar aus München, das zwei Jahre brauchte, um es unter die Füße zu bekommen, dass die Mutter der Frau mithilfe von „Dignitas“ ihr Leben beendet hatte, ohne mit den Kindern darüber zu sprechen. Sie fahre in Urlaub, hatte sie den Kindern gesagt. Zwei Wochen später erhielten sie die Einladung zu ihrer Beisetzung. Sie hatte alles allein geregelt.
In den Jahren danach schwoll die Diskussion um einen selbst gewählten Tod und ein würdiges Sterben erneut an. „Dignitas“ gründete seinen deutschen Verein. Und wirbt für ein selbstbestimmtes Sterben. Weitere Organisationen traten auf, darunter die des früheren Hamburger Senators Roger Kusch, die auch in Deutschland Menschen helfen wollten, an tödliche Medikamente zu kommen. Das veranlasste den Bundestag, die Hilfe beim Sterben neu zu regeln. Die Bundesärztekammer ist bis heute der Meinung, dass es gegen das ärztliche Ethos verstößt, Medikamente zu verabreichen in der Absicht, den Patienten zu töten.
Die Regelung in der Schweiz: Die Begleitung bei der Beendigung des eigenen Lebens ist dort erlaubt, solange der Sterbewillige das tödliche Mittel selbst einnimmt.
„Die Schweiz“ steht hier verkürzt für die passive Sterbehilfe, den assistierten, begleiteten, aber selbst vollzogenen Suizid.
In den Beratungen des Bundestages setzte sich 2015 der Antrag von Kerstin Griese (SPD) und Michael Brand (CDU) durch. Er verbietet die gewerbsmäßige Sterbehilfe und schiebt damit der Tätigkeit von „Dignitas“ in Deutschland einen Riegel vor. Kerstin Griese hatte ihren Vorschlag in Abstimmung mit der evangelischen Kirche und ihrem Ratsvorsitzenden Nikolaus Schneider vorbereitet.
Allerdings sind die Regeln so eng gefasst, dass Ärzte sich fragen, ob das Verbot der Gewerbsmäßigkeit auch sie treffen kann, denn sie verdienen mit ihrer Arbeit Geld. Vor dem Bundesverfassungsgericht sind derzeit Klagen gegen das Gesetz anhängig. Und Roger Kusch will ein Schlupfloch gefunden haben, um sein Angebot mithilfe eines Schweizer Ablegers seiner Organisation neu aufleben zu lassen. Das macht dieses Buch noch einmal aktueller.
Auch Anne Schneider hält die Regelung von 2015 für zu eng. Sie erkrankte 2014 an einer aggressiven Form von Brustkrebs. Die Prognose war ungünstig. Damals hat sie in zwei großen Interviews in der „Zeit“ und im „Stern“ auch über das Thema Sterbehilfe gesprochen. Sie sagte damals: Wenn keine Behandlung mehr anschlägt, wünsche sie sich die Möglichkeit, in die Schweiz zu fahren und ihrem Leben selbst ein Ende zu setzen. Damit trugen die beiden den Konflikt, der die Gesellschaft beschäftigte, auch zwischen sich aus. Nikolaus Schneider lehnt es ab, das eigene Leben zu beenden. So lautete auch die Position der EKD. Aber er erklärte, dass er seine Frau in die Schweiz begleiten würde. Inzwischen ist die akute Krebstod-Gefahr für Anne Schneider abgewandt.
Doch bleiben Fragen, auch die, die beide unterschiedlich beantwortet haben: Ist es richtig, Menschen beim Leben und beim Sterben zu helfen, aber ihnen nie direkt zum Sterben zu verhelfen? Sollte ein Arzt Schmerzmittel verabreichen, dann bei schweren Schmerzen möglicherweise auch so starke, dass der Patient davon sterben kann – aber darf er kein Mittel verordnen, das das Sterben beabsichtigt? Folgt das aus der Überzeugung, dass Gott uns das Leben gibt und nimmt und nicht wir selbst?
Mildert es zudem den Druck des Leidens, wenn ich ein tödliches Mittel am Bett stehen habe, sodass ich nicht dazu greife? Oder fördert, ganz entgegengesetzt, die Möglichkeit der Selbsttötung den Druck auf den Patienten, mit seinem Tod den Angehörigen und der Gesellschaft viel Aufwand zu ersparen? Was bedeutet ein würdiges Lebensende?
Ich danke Anne und Nikolaus Schneider, dass sie sich auf dieses Gespräch eingelassen haben und ihre Gedanken mit den Lesern teilen.
Bonn, im Januar 2019
Wolfgang Thielmann
2. Anne Schneider
Aufgewachsen in einer rede- und diskussionsfreudigen Großfamilie, deren Mitglieder evangelische und katholische, freikirchliche und landeskirchliche, evangelikale und befreiungstheologische Wurzeln und Neigungen hatten, stand für mich außer Frage:
Gott existiert. Und: Über Gott kann man streiten. Vor allem darüber, was Gott von uns Menschen erwartet. Wie in Gottes Augen wohl ein „gutes Leben“ und ein „gutes Sterben“ aussehen.
Sollen und müssen wir Menschen um Gottes und um unserer Seligkeit willen auf vieles verzichten, was Spaß macht oder was unser Verstand als sinnvoll erachtet? Und wem oder was billigen wir die Autorität zu, konkret und aktuell zu entscheiden, auf was wir Menschen verzichten müssen?
Diese strittigen Glaubens- und Lebensfragen haben mich mein Leben lang theoretisch und praktisch begleitet. In unterschiedlicher Intensität und mit ganz unterschiedlichen Konkretionen. Das ging von banalen Kindheitsfragen wie „Ist mein Rommé-Kartenspiel ein Gebetbuch des Teufels?“ über existenziell durchaus wichtige Fragen meiner Jugend wie „Erwartet Gott von mir, dass ich meine Jungfräulichkeit bis zur Eheschließung bewahre?“ bis zu „Pfusche ich Gott in sein Handwerk, wenn ich die Pille nehme, um eine Schwangerschaft zu vermeiden?“. Und das geht bis heute, wenn ich etwa mit Nikolaus über die Frage streite „Kann und darf ich in meiner Verantwortung vor Gott und Menschen meinem Leben selbst ein Ende setzen?“.
Sterben und Tod gehören zum Leben – diesen lapidaren Satz habe ich in meinen jetzt siebzig Lebensjahren nicht nur als tröstliche Lebensweisheit, sondern auch als aufrüttelnde Infragestellung meiner Gottesbilder erfahren. Vor 14 Jahren starb unsere jüngste Tochter an Leukämie, seit mehr als vier Jahren lebe ich mit der Diagnose Brustkrebs. In den letzten Monaten haben wir verstärkt erlebt und erlitten, dass Abschiede und Beerdigungen von Freunden und Weggefährtinnen eine Begleitmelodie unseres fortgeschrittenen Alters sind. Und nicht zuletzt verunsichern und erschrecken uns jeden Tag neu die Nachrichten von gewaltsamem Sterben in Kriegen, bei Unfällen, Terroranschlägen, Naturkatastrophen und auf der gefährlichen Fluchtroute über das Mittelmeer.
Sterben und Tod gehören zum Leben – unter manchen Umständen sogar zu einem „guten Leben“. Auch das steht für mich außer Frage. Infrage allerdings steht für mich, wie viel und was wir Menschen an den Umständen von Sterben und Tod tun können und dürfen, damit auch die Schlussphase des irdischen Lebens „gutes Leben“ ist.
Die Diskussion über das Thema „Sterbehilfe“ begleitet Nikolaus und mich schon viele Jahre. Seit unserem gemeinsamen Theologiestudium streiten wir darüber, wie viel Verantwortung der Mensch vor Gott und auch im Glauben an Gottes Wort für seine Schlussphase des irdischen Lebens trägt. Konkreter wurde es 2001, als die Niederlande ein Sterbehilfegesetz verabschiedet haben. Dort können Ärzte seitdem aktiv Hilfe zum Sterben leisten, wenn ein Patient das ernsthaft und längerfristig wünscht, weil er schwere Schmerzen leidet und keine Aussicht auf Besserung besteht.
Wir wohnten damals in Moers, eine halbe Autostunde von der niederländischen Grenze entfernt. Ich war Religionslehrerin an einer Realschule. Das Thema kam in meinem Unterricht vor. In den Klassen 9 und 10 behandelte ich mit meinen Schülern und Schülerinnen Tod, Sterben und Sterbehilfe als religionsethisches Thema. Schon in dieser Zeit haben Nikolaus und ich festgestellt, dass wir unterschiedlich denken im Blick auf die Bewertung, wie weit menschliche Verantwortung an dieser Stelle gehen kann und gehen sollte – theologisch, aber auch politisch. Und ob für uns persönlich ein assistierter Suizid – etwa in der Schweiz – denkbar wäre. Für mich war das der Fall, für Nikolaus nicht. In dieser Kontroverse hatte Nikolaus allerdings zugesagt, mich in einer solchen Ausnahmesituation zu begleiten und meine Hand zu halten, er würde aber mein Sterben nicht selber aktiv herbeiführen.
Im Juni 2014 bekam unsere langjährige theoretische Diskussion durch meine Krebsdiagnose eine persönliche und praktische Färbung: Es handelte sich um einen inflammatorischen, also „entzündlichen“ Brustkrebs, der schon mehrere Lymphknoten im Achselbereich befallen hatte. Es hätte sein können, dass auch schon Knochen und andere Organe mit Krebszellen infiltriert waren. Damals habe ich gesagt: Ich nehme den Kampf auf, aber ich weiß nicht genau, wie lange und wie weit ich ihn führe. Ich laufe dem Leben nicht um jeden Preis hinterher.
Beim Sterben unserer Tochter Meike hatten wir in den letzten Monaten ihres Lebens den Eindruck, man kämpfe medizinisch gegen eine Hydra aus der griechischen Mythologie: Eine Schlange mit drei Köpfen, und wenn man einen abschlägt, wachsen zwei neue nach. Ich habe deshalb Nikolaus und dann auch öffentlich in Interviews erklärt: Jetzt könnte eintreten, was Nikolaus mir schon vor Jahren zugesagt hat, nämlich dass er mich in „die Schweiz“ begleitet … „Die Schweiz“ war dabei allerdings ein politisches Statement von mir, weil ich die dortige gesetzliche Regelung zur Sterbebegleitung – anders als in Holland mit der aktiven Sterbehilfe – für sinnvoll und angemessen halte. Und ich mir auch für unser Land eine solche Regelung wünsche. Für mich persönlich hoffte und hoffe ich, dass ich in einer solchen Situation befreundete Ärztinnen oder Ärzte finde, die mir einen Suizid zu Hause ermöglichen. Dass ich mich also nicht in den Zug setzen und womöglich in einem Schweizer Hotelzimmer oder gar auf einem Parkplatz mein
Leben beenden muss.
Vertrauensvolle und widersprüchliche Gedanken bei unseren theologischen Überzeugungen zu einem assistierten Suizid bewegten Nikolaus und mich also nicht erst nach meiner Krebsdiagnose im Sommer 2014. Und trotz aller Kontroversen über die theologische Bewertung der Selbsttötung und über angemessene politische Regelungen zum assistierten Suizid waren und sind Nikolaus und ich uns doch in den für uns existenziell wichtigen Punkten einig:
Die beste Sterbehilfe, die wir uns selber geben können, ist das Vertrauen, dass in Gott unser Glauben, Hoffen und Lieben „bleiben“, also eine Zukunft über den Tod hinaus haben.
Und die beste Sterbehilfe, die Menschen einander geben können, ist Vertrauen zueinander und Zeit füreinander.
Gott existiert. Und: Über Gott, über sein lebendiges Wort für unser Leben, können und müssen wir streiten. Davon bin ich bis heute überzeugt. Widersprüchliche theologisch-ethische Gedanken im Blick auf unsere menschliche Verantwortung für ein „gutes Leben“ und für ein „gutes Sterben“ zeugen nicht von mangelndem Gottvertrauen, sondern sind Preis und Konsequenz von der „Freiheit selbstbewusster Christenmenschen“.
3. Nikolaus Schneider
Ich bin in einer Familie groß geworden, die in meiner Kinder- und Jugendzeit ganz selbstverständlich von der „Nicht-Existenz Gottes“ ausging. Das wurde gar nicht diskutiert. Bei uns zu Hause wurde überhaupt nicht viel diskutiert oder gestritten. Nicht über Gott und auch nicht über Tod und Sterben, obwohl beides doch zu den Grundgegebenheiten des Lebens gehört. Und obwohl unabweislich ist: Das Sterben ist der letzte Teil des Lebens, Leben und Sterben gehören deshalb zusammen.
Auch wenn Sterben und Tod zu den Grundgegebenheiten des Lebens gehören, gehörte deren Erleben nicht selbstverständlich zu meiner Kinder- und Jugendzeit. Ich kann mich persönlich gar nicht exakt daran erinnern, dass ich das Sterben von Menschen aus unserer Familie in Kindheit oder Jugend bewusst miterlebt hätte. Ich kann auch keinen klaren Eindruck von einer Beerdigung in meinem Gedächtnis aufrufen. Lediglich vage Erinnerungen kann ich benennen, die von dunklen, gedrückten Stimmungen, von Unverständnis und Sprachlosigkeit zeugen. Sie luden auf keinen Fall dazu ein, später nachzufragen oder darüber sprechen zu wollen. Ich habe eher den Mund verschließende und das Denken einfrierende Tabus erlebt.
Mein Entschluss, am Konfirmationsunterricht teilzunehmen, mich taufen zu lassen, Verantwortung in der gemeindlichen Jugendarbeit zu übernehmen, hat diese Situation nicht tief greifend verändert. Auch nicht der gute Religionsunterricht am Gymnasium, der meine Vorstellungswelt und meine Sprachfähigkeit erweiterte – was in diesen Fragen zu einer Distanz zu meiner Familie führte. Denn die Existenz Gottes sah ich nun anders als meine Familie, über Sterben, Tod und Auferstehung dachte ich anders, aber die existenzielle Verankerung war theoretisch. Was das alles für meine Lebenspraxis bedeuten mag, diese Frage deutete sich erst an.
Das änderte sich erst in meiner Studien- und Ausbildungszeit. Tod und Sterben gehörten zu den Themen des Studiums. Ganz lebhaft habe ich ein Blockseminar zum Thema „Auferstehung“ in Erinnerung, in dem ich die Texte des AT und des NT zum Thema gründlich kennenlernte. Aus der exegetischen und kulturgeschichtlichen Beschäftigung erwuchs auch die Notwendigkeit, eine persönliche Position zu beziehen. Ich fragte mich also nun viel intensiver, was Sterben und Tod für mich persönlich bedeuten, welche Vorstellungen von Sterben und Tod und deshalb auch vom Leben für mich bedeutsam sein sollen, und was das mit meiner Lebenshaltung macht. Aber auch das war eine theoretische Beschäftigung, die nicht dazu diente, das konkrete Erleben von Sterben und Tod einzuordnen und zu verarbeiten. Das sollte sich aber bald ändern: Der dramatische Tod eines Onkels meiner Frau, der verstörte Kinder, Jugendliche und eine Witwe hinterließ, führten bei mir auch zur existenziellen Auseinandersetzung mit den Fragen nach einem „guten Sterben“ und den Hoffnungen über den Tod hinaus.
In meiner praktischen Ausbildung für das Pfarramt waren die ersten Beerdigungen die für mich emotional stärksten Herausforderungen: Ich war herausgefordert, existenzielle Grenzerfahrungen zu begleiten, als Pastor den Menschen nahe zu sein und ihre Situation aus der Kraft meines Glaubens zu deuten. Solidarisches und gleichzeitig helfendes „Mitleben und Mitleiden“ waren nun gefragt, nicht das theologisch-kundige Erörtern von Theorien. Diese Ausbildungszeit war prägend für das Herausbilden meiner Lebenshaltung, bei der Existenzielles und Professionelles zusammenkamen.
Beerdigungen waren eine Hauptaufgabe meiner Zeit als Gemeindepfarrer. Vor allem das Bemühen um die Begleitung der Angehörigen und Trauernden verstand ich als eine wesentliche Aufgabe meines pastoralen Dienstes. Das Einordnen und Deuten von Lebensgeschichten der Verstorbenen, aber auch der trauernden Angehörigen auf dem Hintergrund der biblischen Tradition führte zu einer permanenten Auseinandersetzung mit den Fragen von Tod, Sterben und Leben. Die Leitung von Beerdigungsfeiern war im Grunde eine Anleitung zur Sprach- und Denkfähigkeit und damit auch zur Handlungsfähigkeit von Menschen im Umgang mit Tod und Sterben, um „gut“ leben zu können. Und dabei war mein eigenes Denken, Sprechen und Handeln indirekt auch Gegenstand der Vorbereitung, Durchführung und Nachbereitung von Beerdigungen.
Besuche bei und das Gespräch mit Sterbenden selbst, aber auch das Gespräch mit Angehörigen oder die Begleitung der Familien, wenn zu Hause gestorben wurde, haben mich geprägt. Geprägt hat mich auch, dass eine Gemeindeschwester mich zu Besuchen bei Sterbenden mitnahm. Ich lernte, dass jeder Mensch unvertretbar seinen ganz eigenen Tod stirbt. Und dass das Sterben im Normalfall nicht dramatisch sein muss. Ich lernte, wie schwer es ist, die Frage „wie lange noch?“ zu beantworten. Und dass die Hilfe beim Sterben und die Hilfe zum Sterben ineinander übergehen können. Ich lernte, welche Gedanken und Worte, welche biblischen Stücke und welche Gebete tragen. Ich musste nicht in jeder Situation eigene Worte finden und konnte mich auf tradierte Sprache wie etwa den 23. Psalm oder das Vaterunser verlassen. Es war für mich eine geschenkte Zeit des Hineinlebens und Vertrautwerdens mit der Lebenswirklichkeit des Sterbens, die viele Menschen selten und alle Menschen auf sich selbst bezogen nur einmal erleben – ein großes Privileg.
Vor allem sollten die Bedürfnisse und Wünsche der Sterbenden maßgebend sein.
Als ich mehr und mehr in die Öffentlichkeit hineinwirkende Verantwortung für unsere Kirche übernahm, wurden die Fragestellungen andere: Welche Normen sollen in unserer Gesellschaft für die letzte Wegstrecke jedes Menschen gelten? Welche Hilfestellung kann und muss eine Gesellschaft für die Familien und die Sterbenden leisten? Welche Aufgaben haben die Kirchen dabei? Welche Einrichtungen und Dienste benötigen wir, damit Menschen in unserem Land gut leben und sterben können? Wie viel Geld nehmen wir als Kirche und Staat dafür in die Hand? Welche Rechte und Verbote benötigen wir dazu?
Bei der Diskussion all dieser Fragen wollte ich meine Positionen nicht allein aus den Lehren unserer Kirche theologisch-dogmatisch oder aus der Heiligen Schrift biblisch-exegetisch ableiten, um Forderungen und Empfehlungen zu formulieren. Vor allem sollten die Bedürfnisse und Wünsche der Sterbenden maßgebend für Regelungen sein, die in unserer Gesellschaft gelten. Meine praktischen Erfahrungen als Gemeindepfarrer hatten mich in den Stand gesetzt, bei den Debatten über gesellschaftliche Normen mit innerer Gewissheit für lebensfreundliche Lösungen einzutreten. Das bleibt für mich gültig, auch wenn die Spannung zwischen der seelsorgerlichen Betrachtung einer konkreten Sterbesituation und der öffentlichen Diskussion über das gesellschaftliche Normengefüge nicht aufzulösen ist.
Am intensivsten betroffen von den Fragen nach Leben, Sterben und Tod war ich bei der Begleitung unserer Tochter Meike während ihrer Leukämieerkrankung. Und ebenso, als meine Frau an Krebs erkrankte und in absehbarer Zeit mit ihrem Tod rechnen musste. Beide Erfahrungen haben mich zutiefst „durchgerüttelt“, Wunden an meiner Seele geschlagen und Narben zurückgelassen. Diese Erfahrungen führten mich aber auch zu der Gewissheit, dass die in meinem bisherigen Leben erworbenen Überzeugungen und Lebenshaltungen mich selbst zu tragen vermögen, wenn ich existenziell an meine Grenzen komme. Insofern waren diese Krisenzeiten Zeiten eines „guten Lebens“ für mich. Und heute lebe ich zuversichtlich in meiner letzten Lebensphase, an deren absehbarem Ende mein eigenes Sterben und mein eigener Tod stehen werden – und die kommende Zeit in Gottes Reich.
Die vertrauensvollen und widersprüchlichen Gedanken dieses Buches sollen zum Einordnen, Akzeptieren und Umgehen mit den großen Lebensthemen Sterben und Tod dienen. Bei allen offenen Fragen sollen Menschen „gut“ mit der Ungewissheit über die ihnen zugemessene Lebenszeit, die Art ihres Sterbens und ihres Todes leben können. Und dazu gehört für mich, dass bei der Beantwortung der Fragen danach, was an Hilfen beim Sterben und zum Sterben geboten oder verboten ist, eine vollständige und letzte Eindeutigkeit nicht möglich ist. Dazu gehört aber vor allem, dass das Zeugnis unseres Glaubens uns zu tragen vermag: Gott geht mit uns durch das Sterben und den Tod hindurch. Wir können diesen letzten Weg im irdischen Leben zum Leben in Gottes Reich ganz seinem Geleit anvertrauen.