Читать книгу Ja. Aber... - Annebärbel Dr. Jungbluth - Страница 2
Оглавление1 Das Abenteuer Leben beginnt
1 Als Heiden in Kummerow
Am Rande der großen Stadt, wo Straßennamen auf Promenade enden, Allee, Weg oder Steg, wo Vögel singen, wo Nachbarn sich kennen und grüßen, hier wurde ich geboren, hier habe ich meinen ersten Atemzug getan.
War jedoch mein erster Schrei ein Freudenschrei?
Plötzlich war es furchtbar kalt und laut und hell.
Atmen sollte ich auch alleine.
Mich hatte niemand gefragt,
von wem ich in die Welt geschickt werden wollte,
wann und wohin
und ob überhaupt.
Es konnte nur ein Schrei der Empörung sein.
Kratzende Dinge fühlte ich auf meiner Haut.
Vor Erschöpfung schlief ich endlich ein, vorsichtshalber
mit geballten Fäusten.
Es dauerte nicht lange, so wurde ich vor Hunger wach.
Aber schreien konnte ich schon und mich bemerkbar machen.
Die ersten Tage verbrachte ich mit Trinken und Schlafen.
Die Ruhe täuschte.
Mein kleines Gehirn ratterte, funkte und knisterte in allen Furchen und Synapsen. Jetzt musste sich zeigen, ob alles richtig funktionierte, ob alles vorhanden war, um gewappnet zu sein für das große Abenteuer Leben.
Zwar wurde ich nicht in einem Maharadscha-Palast geboren, nicht in einem bitterkalten Iglu, aber auch nicht in einer kargen Hütte in Afrika. Ich konnte mit meinem Häuschen am Rande Berlins ganz zufrieden sein.
Nur war der Oktober 1939 nicht der günstigste Zeitpunkt.
Mit jedem neuen Tag konnte ich interessante Dinge entdecken. Zuerst trauten sich meine Augen, die Helligkeit zu testen. Ich blinzelte und sah Muttis lächelndes Gesicht nah über mir, während ich friedlich trank und kuschelte.
Eigentlich war es doch ganz schön hier, in dieser grellen, lauten Welt.
Nach und nach beteiligte ich mich selbst an dem Geschehen, konnte lächeln, bald auch plappern und vor Freude juchzen. Vor allen Dingen konnte ich nach Herzenslust strampeln. Nur Traute schaute skeptisch. Ihr Prinzessinnendasein war nicht mehr das alte, jetzt gab es zwei Prinzessinnen.
Und mein Vater? Das war der nette Herr, der gelegentlich zu Besuch kam und Geschenke mitbrachte. Die Großen meinten, er sei im Krieg. Was das auch war, ich nahm es hin, kannte es nicht anders.
Mein erstes Abenteuer ließ nicht lange auf sich warten.
Wölfchen, unser kleiner Bruder, war geboren worden und wir Mädel sollten beschäftigt werden. Über Nacht hatte Frau Holle einen weißen Teppich ausgebreitet. Jetzt funkelte und glitzerte er mit vielen kleinen Sternen in der Sonne. Ein netter Junge aus der Nachbarschaft lud uns ein zu einer Schlittenfahrt. Weit und breit gab es keine Berge, nicht einmal kleine Hügel. Wir setzten uns auf den Schlitten und ließen uns gerne von ihm ziehen. Auch sein Hund freute sich über die fröhliche Gesellschaft. Wir glitten vorbei an weißgepuderten Zäunen, an Briefkästen und Pfählen, die weiße Mützchen aufgesetzt hatten, an Sträuchern und Gräsern, die sich unter der weißen Last zur Seite bogen. Der Schnee knirschte lustig unter den Kufen, gefrorene Pfützen knisterten wieder anders. Wir waren schön warm eingepackt, ich hätte es eine Weile ausgehalten.
Doch wir kommen an einen Bach. Kleine Wellen kräuseln sich den Lauf entlang, plätschern munter in die Welt. Gerade hatte ich gelernt, im Winter kann man über Wasser fahren, weil es gefroren ist. Jetzt ist immer noch Winter und das Wasser im Bach ist nicht gefroren. Neugierig schaue ich den Wellen nach, wie sie unter der Brücke immer weiter verschwinden. Gerade so groß, dass ich mich auf dem Zwischensteg des Geländers aufstützen kann, kommt es, wie es kommen muss. Ich beuge mich so weit vor, bis ich direkten Kontakt mit ihnen habe.
Huch, ist das kalt.
Pudelnass stehe ich im Bach und verstehe die Welt nicht mehr. Der Hund des Nachbarn ist zuerst bei mir. Ganz erstaunt sehe ich ihn über mir an der Böschung, eben noch war er neben mir auf der Brücke. Meine Rolle durchs Geländer war perfekt, das Wasser nicht tief, meine Bergung unproblematisch. Als Eiszapfen zu Hause angekommen, wärmt mich Mutti in ihrem Bett, heißer Holundersaft aus unserem Garten wärmt mich von innen.
Der Krieg rückte näher und näher. Ein kleiner Flughafen war nicht weit und Wünsdorf, das Hauptquartier des Heeres. Wie leicht konnte eine Bombe ihr Ziel verfehlen und uns treffen. Immer öfter saßen wir im engen Keller, fröstelnd, eng beieinander und verfolgten das bedrohliche Pfeifen. Wo wird sie wohl niedergehen? Wen wird es diesmal treffen?
Rechtzeitig hatten wir einen Notausstieg geprobt. Vor dem kleinen Fenster lag ein Sandsack. Würden wir Kinder es notfalls schaffen, ihn wegzuschieben und würden wir dann auch durchpassen? Wo der Kopf Platz fand, hatte auch unser kleiner Körper kein Problem. Wir passten durch. Das war ein ganz amüsantes Spiel. Noch jahrelang probierte ich jedes Gitter aus, ob ich auch durchpassen würde.
Bald bot sich die Chance, den schrecklichen Bombennächten zu entfliehen. Die Dorfschule in Biesenbrow war verwaist, der Lehrer in den Krieg beordert. Diese Nachricht erreichte auch meine Mutter. Als Studienrätin mit den Fächern Deutsch und Mathematik war sie gut gerüstet. Sie musste nicht lange überlegen. Ohne zu zögern nahm sie die Stelle an.
Wir sollten also Ehm Welks Kummerow kennenlernen, Kummerow im Bruch hinterm Berge, wo im Sommer die Wolken weißer, die Farben kräftiger scheinen als anderswo.
Der Weg vom Bahnhof war lang für meine kurzen Beine. Müde erreichte unser kleiner Trupp, Traute, Wölfi und ich im Schlepp meiner Mutter, endlich das Dorf, neugierig beäugt von den Bäuerinnen.
Das war also die neue Lehrerin.
Aber wie sprachen die denn? Ich verstand kein Wort. Mutti versuchte uns etwas Unverständliches zu erklären. Die Frauen machten jedoch keinen bösen Eindruck und leiteten uns gerne in das Pfarrhaus. Es sollte für die nächste Zeit unser Zuhause sein. Der Krieg war nun weit weg, vor schlimmen Nachrichten wurden wir verschont, Männer gab es kaum im Dorf.
Das waren wir gewohnt.
Vor der Kirche, die das Pfarrhaus von der Schule trennt, breitete sich ein kleiner Teich aus. Der war insofern interessant, als ein riesiger Felsbrocken sich darin erhob und majestätisch über allem Treiben wachte. Nur wer Mut hatte, konnte ihn mit zwei Sprüngen über einen anderen Stein erreichen. Wer dies geschafft hatte, thronte wie ein König vor dem kleinen Dorfplatz.
In den Schulpausen erfüllte ein vielstimmiges fröhliches Lachen die klare Luft. Ich mischte mich gerne unter die Schulkinder, sie ließen mich auch mitspielen. Wenn aber die Pause zu Ende ging, war es plötzlich einsam und still.
Einmal kommen die großen Jungs auf eine Idee:
„Komm doch einfach mit.“
„Ja, das wäre doch was“, ergänzt ein anderer.
„Meint ihr wirklich?“
„Das wird ein Riesengaudi.“
„Ich weiß nicht.“
„Na, deine Mutter wird Augen machen.“
Diesen Gedanken finde ich gut und muss unwillkürlich schmunzeln:
„Ja, prima.“
Nun sitze ich in dem einzigen Klassenraum zwischen den Großen in der letzten Reihe. Mit den Bänken kann man nicht einmal kippeln. Sie sind fest und stabil mit den Tischen verbunden
Hier mussten einst Martin Grambauer und Ulrike Breithaupt gesessen haben, die Heiden von Kummerow.
Ich kann alles gut überblicken. Die Kleinen sitzen vorne, haben artig ihre Schiefertafeln auf den Tisch gelegt und warten gespannt, was gleich passieren würde. Die etwas Größeren dahinter nehmen es lockerer, freuen sich diebisch auf die kommenden Ereignisse und ich throne stolz hier hinten bei den Großen. Die feixen über das ganze Gesicht.
Mein Hochgefühl, wie ein Schulkind hier zu sitzen, verliert sich schnell, als Mutti in die Klasse tritt.
Ruhig und bestimmt bemerkt sie:
„Bärbel, du bist noch etwas klein für die Schule.“
Und artig verlasse ich den Klassenraum.
Ich bin wohl wirklich noch zu klein.
Noch aufgewühlt von dem eben Erlebten, erobere ich mir den großen Stein im Teich und habe die ganze Welt für mich. Im matten Grün spiegelt sich die Sonne wider, von Ferne klingt Hundegebell herüber. Ich spüre den Wind auf meiner Haut, atme tief den Duft von frisch gemähtem Heu, meine Gedanken fliegen den kleinen Wolken nach. Ungestört kann ich träumen von der fremden Welt der Großen.
Im Winter kannten die Schulanfänger alle Buchstaben, sie konnten nun lesen. Einigen fiel es schwerer, sie hatten noch ihre Mühe mit den Texten. So jedoch nicht Traute. Sie hatte kein Verständnis dafür und prahlte laut:
„Pah, das kann ja meine kleine Schwester besser!“
„Du spinnst doch, das glaubst du doch selber nicht.
„Nee, wirklich, die kann das.“
Mit der kleinen Schwester war ich gemeint. Ich hatte meiner großen Schwester zwar manchmal bei den Schularbeiten zugesehen, interessierte mich auch für die einzelnen Buchstaben. Mein Lesen beschränkte sich jedoch auf die Straßennamen des Dorfes. Die anderen wollten es genau wissen. Sie zückten eilfertig die Fibel, schlugen ganz hinten den letzten Text auf. Ich sollte lesen. Ihre großen, verschwitzten Körper beugten sich von allen Seiten über mich. Alle wollten das Spektakel ganz nah erleben. Mir wurde ganz schwummerig zumute. Doch ich las, las halbwegs flüssig die kleine Geschichte von einer Schmiede. Nur das „Zischen“ wollte nicht richtig über meine Lippen. Die Großen waren begeistert und nahmen mich auf in ihren Kreis, den Kreis der Schulkinder.
So wurde auch ich eingeladen ins Schloss zum Kindergeburtstag. Und ich wollte es von innen kennenlernen. Staunend betrat ich einen großen Saal und sah einen riesigen, bunt gedeckten Tisch, so groß, wie ich ihn noch nie gesehen hatte. Mit meiner Schwester saß ich ziemlich weit entfernt vom
Geburtstagskind, der Kuchen schmeckte trotzdem. Als Höhepunkt war eine Schlittenfahrt versprochen worden. Auch hier gab es keine Berge, nur weites, flaches Land. Dafür gab es Pferde, Pferde, die man vor die Schlitten spannen konnte, vor eine lange, fröhliche Schlittenschlange. Auf den Feldern hatte der Schnee alle Furchen und Hügel zugedeckt, mühelos trabte der Braune durch die klare, weiße Winterwelt. Ich fand es nicht lustig. Mit Traute hing ich am Ende der Schlange. Das Tempo war enorm. Ängstlich klammerte ich mich an den Schlitten, in ständiger Sorge, bei den forschen Schlenkern böse in den Schnee geschleudert zu werden. Erst als unser Schlitten weiter vorne vertaut wurde, er in ruhiger Linie fuhr, genoss auch ich diese winterliche Fahrt, ließ mich von ihrem Tempo berauschen.
Meine Mutter begann in Biesenbrow wieder zu malen. Mein Porträt blieb leider unvollendet. Die rote Schleife in meinem Haar strahlte schon deutlich aus dem Bild hervor. Auch schrieb sie Märchen und kleine Geschichten. Einst hatte sie ihre Kindheitserinnerungen an den 1.Weltkrieg niedergeschrieben und erfolgreich veröffentlicht. Jetzt hatte sie endlich wieder Muße zu schreiben. Später wird sie sagen, dass es ihre glücklichste Zeit gewesen sei.
Der Krieg machte auch um Biesenbrow keinen Bogen. Die Erwachsenen wurden unruhig, konnten ihre Sorgen nicht mehr verbergen, für uns Kinder wurden sichere Verstecke gesucht. Zwischen dem Ende des ausladenden Daches und der Decke fand sich ein kleiner Hohlraum, in den wir gerade reinpassten. Von hier oben konnte ich den gesamten Raum überblicken. Es machte mir Angst, wie eindringlich wir belehrt wurden, im Ernstfall, wenn die Soldaten kämen, absolut still zu sein, was auch passieren würde.
Immer öfter sprachen die Großen geheimnisvoll miteinander.
Ich bekam immer größere Ohren, lief zu meiner Freundin: „Hast du gehört, dort steht ein Zug mit Verwundeten?“
„Ja, am Bahnhof, wollen wir hin?“
„Wollen wir wirklich?“
„Ein Gleis soll kaputt sein, es werden nur Züge an die Front durchgelassen.“
Mutti hatte mein Lauschen bemerkt und mich davor gewarnt, dort hinzugehen. Nun erst richtig neugierig geworden, stahl ich mich mit meiner Freundin zum Bahnhof.
So also sieht der Krieg aus:
Müde Männer in Uniform, leere traurige Augen,
sie stehen rauchend vor dem Zug,
kauern einsam an der Böschung,
dämmern teilnahmslos in ihrem Abteil.
Manchen fehlt ein Arm oder ein Bein.
Verbände, überall Verbände,
alte, verkrustete Verbände.
Verschämt schleichen wir uns zurück ins Dorf.
Von Tag zu Tag wurde es unruhiger in Biesenbrow, viele Menschen wollten weg. Auch wir packten unsere Sachen, wollten wieder nach Berlin.
Auf dem Bahnhof angekommen, lärmte uns eine wirre, aufgeregte Menschenmenge entgegen. Schweißgetränkte Luft machte uns das Atmen schwer. Uniformierte ließen niemanden auf den Bahnsteig. Niemand sollte fliehen können. Wir waren nicht als Einheimische registriert, sie konnten uns nicht verwehren nach Hause zu fahren. Durch ein Spalier finster blickender Menschen folgten wir Mutter auf den Bahnsteig und in den Zug nach Berlin.
1 Gen Süden
Unfreundlich und kalt empfängt uns der Bahnhof in Berlin. Kein Baum, kein Strauch, nur lange, graue Häuserschluchten. Wir steigen viele Stufen hinab in den Untergrund zur S-Bahn. Die Fahrt währt nicht lange, sie endet im Bahnhof Friedrichstraße.
Fliegeralarm!
Mit drei kleinen Kindern und viel Gepäck steht meine Mutter unten auf dem Bahnsteig und kann nur warten. Unser Zuhause noch weit weg.
Ich lasse meinen Blick gelangweilt durch die Halle schweifen.
Was ist das? Das muss ich näher betrachten.
Da kriechen Stufen langsam aus dem Boden, erheben sich und laufen immer höher. Ohne die geringste Anstrengung können die Menschen nach oben gelangen.
Das muss toll sein.
Aber was wollen die denn da oben, wo doch Fliegeralarm ist?
Meine Neugierde ist übermächtig. Vorsichtig stelle auch ich meine Füße auf dieses Wunderband. Ich spüre ein angenehm leichtes Gefühl, werde sanft nach oben getragen. Plötzlich höre ich meinen Namen rufen, sehe Muttis erschrockenes Gesicht. Schnell ist der Zauber verflogen. Oben laufen die Menschen in allen Richtungen auseinander. Alle eilen vorbei, niemand beachtet mich. Sie haben ein festes Ziel, nur ich irre mit meinem schlechten Gewissen suchend hin und her.
Wie komme ich jetzt wieder zurück?
Eine Treppe nach unten kann ich nirgends finden.
„Mensch, du dumme Ziege“, tönt plötzlich eine vertraute Stimme hinter mir. Es klingt wie Engelsglocken. Schuldbewusst stehe ich vor meiner großen Schwester.
„Nun komm schon“, ergänzt sie wütend. Sie kennt den Weg nach unten und muss meinen Leichtsinn wieder ausbügeln.
Endlich Entwarnung, es kann weitergehen. Die Bomben haben die Südstrecke beschädigt, wir müssen über den Ring ausweichen. Also wieder mit der Rolltreppe nach oben und diesmal in den Zug nach Ostkreuz steigen. Dicht an dicht drängen sich Menschen in die überfüllte S-Bahn, wir mitten unter ihnen. Sie schleicht sich nur mühsam vorwärts, schiebt sich von einem Haus zum nächsten. Sie stehen zum Greifen nah, direkt an der Bahntrasse.
Aber es sind keine Häuser mehr, die ich da sehe,
nur absonderliche Gebilde:
Halbe Wohnzimmer,
manchmal hängt noch ein Bild an der Wand,
Treppen,
die im Nirgendwo enden,
Mauern,
die keinen Sinn mehr haben.
Flammen
knistern in den Abenddunst,
Hitze
spüren wir bis zu uns.
Weit und breit keine Feuerwehr.
Nur stummes, endloses Entsetzen.
Nach mühevollem Umsteigen am Ostkreuz, in Papestraße und langer Fahrt Richtung Süden, können wir endlich zu Hause ausschlafen.
Wie die meisten Menschen in dieser Zeit hatte auch meine Mutter Angst vor den Russen. Sie waren unsere Feinde gewesen in diesem Krieg. Unsere Väter hatten ihre Dörfer und Städte verbrannt und nun überrollten sie uns in unserem eigenen Land.
Was würde geschehen? Wie würden sie Vergeltung üben?
Schon einige Zeit zuvor hatte Mutter sich entschlossen, zu den Amerikanern zu entfliehen. Sie waren inzwischen in Thüringen einmarschiert. In Erfurt, wo sie ihre Kindheit verbracht hatte, lebten noch Freunde und Bekannte von ihr. Ihnen hatte sie einige Sachen geschickt, wir würden nachkommen. Die Pakete kamen niemals an, das erfuhren wir erst später.
Jetzt hatten wir ein Ziel. Aber wie sollten jedoch wir nach Erfurt gelangen? Die Bahn schied aus. Sie fuhr nicht zuverlässig und wenn sie fuhr, war es gefährlich. Zu oft hatte Mutter von Tieffliegern gehört. Auf freiem Gelände bot die Bahn ein gutes Angriffsziel, war den Fliegern schutzlos ausgeliefert. Dieses Risiko wollte sie nicht eingehen. Autos oder Benzin gab es nicht für Zivilisten. Wir mussten die Strecke von Berlin nach Erfurt zu Fuß bewältigen. Es kam nur eine lange Wanderung infrage. Gemeinsam mit Tante Inge, Muttis Schwester, und einer Bekannten stapften wir los. Die Route gen Süden eingeschlagen, trällerten wir manchmal ein munteres Lied und die Großen pfiffen so vor sich hin. Ich wollte es ihnen gleichtun, brachte zunächst nur ein paar krude Töne hervor. Die Wanderung war jedoch lang genug, um es richtig zu lernen. Abends erzählte uns Mutti in irgendeiner Scheune schöne Geschichten. Auch von dem klugen, weitsichtigen Odysseus, der jedes Unglück mutig überwand. Besonders hat mir imponiert, wie er den einäugigen Zyklopen überlistet hatte. Der konnte nur um Hilfe schreien:
„Niemand hat mir ein Leid getan“,
weil Odysseus sich als Niemand ausgegeben hatte.
Nach solchen Geschichten schliefen wir wunderbar ein.
Die Frontlinien näherten sich von beiden Seiten. Um von einem Dorf zum nächsten zu gelangen, benötigten wir einen Passierschein. Zunächst funktionierte das ganz gut, schließlich verweigerte man uns diesen Schein. Wir marschierten auf entlegenen Feldwegen weiter. Eines Tages mussten wir jedoch über eine größere Brücke. Die war militärstrategisch wichtig und wurde von Soldaten bewacht.
„Nicht lange überlegen“, berieten die Großen, „sie beobachten uns bereits.“ Beherzt gehen wir auf den Posten zu. Mutti und Tante Inge vertrauen auf die geographische Unkenntnis der fremden Soldaten. Sie ziehen den letzten, jetzt ungültigen Schein hervor, weisen temperamentvoll auf imaginäre Orte in der Ferne, reden, gestikulieren und reden auf sie ein, bis sie uns nur loswerden wollen. Mit der uns möglichen Geschwindigkeit rauschen wir den nächsten Feldweg entlang, im Nacken die Angst, sie könnten unseren Bluff noch entdecken. Sie haben schließlich scharfe Waffen.
Einige Tage später trafen wir auf gut gelaunte französische Soldaten, die nach Hause wollten. Der Krieg war zu Ende.
Deutschland existierte nicht mehr, nur noch Besatzungszonen. Wir wollten in die amerikanische, hatten also den gleichen Weg wie die Soldaten. Uns Kinder setzten sie auf ihren Wagen und flott ging es voran gen Westen. Eine vortreffliche Aussicht hatte ich auf ihrer Bagage. Die Elbe war schnell erreicht, doch hier war Stopp. Die Brücke war gesprengt worden.
Die Amerikaner hatten einen Fährverkehr eingerichtet. Die Franzosen konnten in ihr Schnellboot steigen, wir würden nachkommen mit der nächsten Tour. Unser Gepäck nahmen sie gleich mit und trösteten uns Kinder mit Blockschokolade aus ihrer Eisernen Reserve. Zum größten Teil wanderte diese Schokolade nun in unsere eiserne Reserve. Jedes von uns Kindern besaß ein Köfferchen mit wichtigen Papieren, etwas Geld und Essbarem. Das war selbstverständlich. Niemand konnte wissen, ob wir nicht in irgendeinem Chaos getrennt würden und uns mutterseelenallein durchschlagen müssten. Jetzt landete auch leckere Schokolade in diesen Köfferchen.
Immer mehr heimkehrende Franzosen strebten in ihre Heimat, das Boot der Amerikaner wurde schnell voll. Für uns fand sich kein Platz mehr.
Auch immer mehr Zivilisten stranden an dieser Brücke, schauen wie wir sehnsuchtsvoll zum anderen Ufer. Von Ferne sehen wir, wie unsere Sachen neue Besitzer finden. Besonders traurig ist Mutter, als ein Soldat ihr schönes rotes Samtkleid prüfend in die Höhe hält, es für gut befindet und einsteckt. Es leuchtet wie eine Flagge zu uns herüber.
Ein findiger Einheimischer nutzt die Gelegenheit und macht sein Boot flott. Die Ersten fahren über den Fluss, ein breiter, unbändiger Frühlingsstrom. Mit Sorge beobachten wir die Fahrt, verfolgen, wie das kleine Boot mit der starken Strömung zu kämpfen beginnt. Wieder an unserem Ufer gelandet, ist es weit von uns entfernt. Auf dem unwegsamen Gelände gelangen wir erst zum Boot, als es bereits wieder voll ist.
„Das schaffen wir nie“, klagt Mutti „wir müssen uns etwas einfallen lassen.“
„Ja, ich denke auch “, meint Tante Inge, „ich werde vorlaufen und den Käpt`n überreden, auf uns zu warten.“ Gesagt, getan. Bei der nächsten Tour können wir als Erste einsteigen.
Aber was für ein Boot?! Alt und morsch. Gewiss war es bereits abgewrackt gewesen. Es gibt kein Zurück mehr. Mutti hält mit bloßen Händen ein Loch im Boden zu, andere schöpfen das eindringende Wasser wieder hinaus. Mutti ist keine gute Schwimmerin, Tante Inge vielleicht. Trübe, schmutzigbraune Brühe strudelt Richtung Norden, schlägt wuchtig gegen die Bordwand. Mühsam kämpft der Motor dagegen an. Trotzdem erreichen wir trockenen, festen Boden auf der anderen Seite des Flusses. Wir hatten wohl einen Schutzengel.
Noch heute lege ich regelmäßig eine Gedenkminute ein, wenn ich auf einer sicheren Brücke über die Elbe fahre.
Meine Mutter schien jetzt etwas entspannter auszuschreiten, wir befanden uns bereits im amerikanischen Sektor. Einige Kilometer vor unserem Ziel stiegen wir auf die Ladefläche eines kleinen dreirädrigen Transporters und rollten so der ersehnten Stadt entgegen. Voller Hoffnung und gesund, nach vier Wochen Wanderschaft, hatten wir endlich Erfurt erreicht. Als Erstes überraschte mich eine Frau, die ihren Garten umgrub. Die Erde war ganz anders, schwarz und fest, nicht leicht und sandig, wie ich es von zu Hause aus kannte. Sie hatte ordentlich Mühe, die schwere Arbeit zu bewältigen, aber sie wollte anbauen und pflanzen.
Der Krieg war wirklich zu Ende.
Wie erwartet stand in Berlin die Rote Armee.
Keiner der westlichen Alliierten wollte auf die Reichshauptstadt verzichten. Sie wurde aufgeteilt und zerschnitten wie ein Kuchen, lieber verzichteten die Amerikaner auf Thüringen. Berlin wurde ein halbes Jahrhundert lang zur Frontstadt,
zum Brennpunkt des Kalten Krieges zwischen Ost und West.
Wir sahen die Amerikaner in Erfurt, wie sie auf ihre Wagen sprangen und abfuhren. Der Sinn unserer Flucht war zerronnen. Weiter wollten wir nicht mehr.
1 Leben am Flunsch
In Erfurt arbeitete meine Mutter wieder als Mathematiklehrerin. Zunächst an einer Grundschule, ein Jahr später an der Oberschule und ab 1947 als Dozentin für Mathematik an der späteren Pädagogischen Hochschule. Sie bildete nun ihrerseits Mathelehrer aus. Sie hatte die herrliche Gabe, komplizierte Dinge einfach zu erklären. Das konnte sie gut.
In einem Mantel, selbst geschneidert aus zwei Decken, aus zwei verschiedenfarbigen Decken modisch geschneidert, stand sie in schlecht geheizten Räumen vor ihren Studenten. Die hatten lange Zeit keinen Stift mehr in den Händen gehalten, nur starre, todbringende Waffen.
Ich verstand nicht, warum Erwachsene noch zur Schule gehen mussten. Verwundert schaute ich auf die vielen roten Zeichen, wenn Mutti abends ihre Arbeiten korrigierte.
Wieso machen Erwachsene noch so viele Fehler?
Ich hatte gedacht, sie wüssten immer alles, sie taten jedenfalls so.
Und wie sollte es mit mir weiter gehen?
Mutti stellte mich dem Schuldirektor vor. Freundlich unterhielt er sich mit mir über dies und das, fragte nach der Malfolge der Zwei. Das war puppenleicht. Auch einen kleinen Text las ich vor. Das „Z“ konnte ich korrekt aussprechen, ich konnte ja inzwischen auch pfeifen.
„Nun“, überlegte er, „was wollen wir da machen? Sie beherrscht ja schon den Lernstoff der ersten Klasse.“
„Ja“, erwiderte Mutti, „deswegen sind wir hier. Sie wäre wohl unterfordert in der ersten Klasse“
„Aber was ist mit dem Schreiben?“
„Das schafft sie auch, wir haben ja noch ein paar Wochen Zeit.“
Der Direktor war einverstanden und Mutti übte jeden Tag mit mir einen neuen Buchstaben. Nicht mit Griffel und Schiefertafel, wie es bei Erstklässlern üblich war, sondern gleich mit Federhalter und Tinte. Für schöne Schrift war keine Zeit. Außerdem bin ich Linkshänder. Mutti drang darauf, mich der Tradition zu fügen, die sich an Rechtshändern orientiert. Sie sorgte sich vor der Diskriminierung eines Außenseiters. So nahm ich ganz selbstverständlich meinen Federhalter in die rechte Hand und wurde beidhändig. Der Grundstock für meine Doktorschrift war gelegt.
Ende Juni konnte ich alle Buchstaben schreiben und schnupperte in die Klasse, mit der ich in das zweite Schuljahr versetzt werden sollte. Meinen ersten Schultag feierten wir nicht gerade überschwänglich. Die selbstgebastelte Schultüte war dem Jahr 1945 angemessen.
Mein Vater kehrte aus dem Krieg zurück. Körperlich unversehrt. Über seine Erlebnisse und sein Tun in dieser Zeit hat er niemals ein Wort verloren. Er war mir fremd in meinem bisherigen Leben und er blieb mir auch fremd.
Endlich bekamen wir eine Wohnung zugewiesen und konnten unsere provisorische Bleibe verlassen. Die obere Etage in einer Villa, an drei Seiten ein Balkon, direkt am Flutgraben der Gera. Die Erfurter nannten ihn liebevoll ihren Flunsch. Im Sommer ein friedlicher Graben mit viel wildem Grün, war er der ideale Spielplatz für uns Kinder. In der steile Böschung, die von der Straße zum Wasser lief, hatten wir uns Kuhlen in den Sand gebuddelt. Diese Stufen schlängelten sich als schmaler Pfad durch dicke Büsche und Stauden, eine fantastische Fluchtrute beim Versteckspielen. Gelegentlich wuchteten Nachbarn große Steine in den Graben, in dem angestauten Wasser konnten wir planschen und toben. Das Freibad gegenüber war für die Besatzer und ihre Familien reserviert. Als es später auch für uns geöffnet wurde, überwand ich meine Furcht vor dem tiefen Wasser, schwamm dem langen Stock des Schwimmlehrers hinterher, bis es ohne ihn ging.
Saftiges Gras in Hülle und Fülle wucherte an beiden Ufern. Es regelmäßig zu pflücken, fanden wir nicht toll. Unsere Kaninchen auf dem Balkon hatten jedoch ständig Hunger. Sie waren keine niedlichen Spielgefährten, sie sollten den kargen Speiseplan ergänzen. Alle Mütter dieser Zeit waren Künstler der Improvisation. Alle möglichen Ersatzstoffe, von Honig über Zucker bis Butter, landeten in unseren Bäuchen. Schiebewurst wurde zum großen Hit. Manchmal gelangen uns Gelegenheitskäufe. Eines Tages hatten wir eine ordentliche Portion Haferflocken erstanden, leider ungeschält. Gerne aßen wir die süße Suppe und schluckten tapfer die Haferflocken mitsamt ihren Spelzen hinunter. Ausgepresster Mohn, geformt zu trockenen, harten Scheiben, landete ebenfalls in unserer Speisekammer. Mutti musste sie stets mit einer großen Zange bearbeiten, um ihnen etwas Substanz zu entreißen. Doch an jedem Wochenende zauberte sie einen herrlichen Kuchen auf den Tisch.
Und niemals werde ich den strengen Geschmack von Lebertran vergessen.
Im Frühjahr wird dieser harmlose Flunsch zum gurgelnden, tosenden, Angst einflößenden Ungeheuer. Eine schmutzigbraune, reißende Flut, ganze Bäume mit sich reißend, stürmt brausend Richtung Norden. Ich weiß, wie tief der Graben ist. An solchen Tagen gehe ich lieber auf der anderen Straßenseite zur Schule. Doch ist am anderen Ufer. Die schmale Fußgängerbrücke, sonst sanft in die grünen Landschaft eingeschmiegt, wirkt nun zart und zerbrechlich. Sie scheint sich auch zu fürchten so nah an diesem Höllenschlund. Für einen Umweg über die große Brücke hätte ich früher aufstehen müssen. All meinen Mut nehme ich zusammen und jage mit klopfendem Herzen ans andere Ufer.
Hoffentlich hält sie stand und lässt sich nicht mitreißen. Vor allen Dingen nicht, wenn ich über sie hinwegstürme.
Sobald der Flunsch wieder friedlicher wurde, eroberten wir ihn als Spielplatz zurück. Gemeinsam mit der Natur erwachte auch unser Tatendrang. Wenn schließlich die Gloriosa vom Dom herüberschallte, war Ostern. Selbst wir hielten kurz ein in unserem wilden Spiel und lauschten ihrem kräftigen Glockenton. Ein himmlischer Klang flirrte durch die Stadt, verwoben mit dem nächsten Klang und wieder dem nächsten, verzauberte er die Stadt und ihre Menschen.
Von unseren Kinderzimmern aus, wir hatten jetzt jeder unser eigenes, konnten wir das spannende Geschehen am Flunsch beobachten. Sechs große Zimmer und nach drei Seiten ein Balkon, das war fantastisch. Allerdings fehlten zunächst jegliche Möbel. Die Besitzerin im Erdgeschoss wollte uns nicht einmal einen Tisch ausleihen.
Aber ausgleichende Gerechtigkeit, die Gasuhr war defekt. Irgendetwas klemmte in ihrem Räderwerk, sie zählte nur gelegentlich weiter. Wir mussten mit Gas nicht sparen, im Winter war es in der Küche immer kuschelig warm. Am großen Familientisch, den wir inzwischen besaßen, konnten wir essen, spielen, na ja, auch Schularbeiten erledigen. Er bildete den Mittelpunkt unseres Familienlebens.
Reichlich Respekt hatte ich vor der Therme im Bad. Man wusste nie, ob das Gas gleichmäßig strömt, plötzlich versiegt oder gar alles explodieren würde. Mutti hatte mich eindringlich ermahnt aufzupassen. In der Badewanne war ich jedoch alleine, trug die volle Verantwortung. Das andere Ende der Wanne, möglichst weit weg von der Gefahr, schien mir am sichersten. Gebannt schaute ich auf die blaugelben, flackernden, Flammen, stets bereit, gleich aus der Wanne zu springen. In rekordverdächtiger Zeit absolvierte ich meine Hurtigwäsche und verließ schnell wieder das Bad in sicheres Terrain.
Spannend war auch das Ablesen der Gasuhr. Wenn wir den Termin für die Kontrolle erfahren hatten, drehten wir alle Flammen auf und Mutti bearbeitete im Keller die Gasuhr mit den Fäusten. Sie sollte sich bequemen, etwas weiter zu laufen. Mutter schaffte es immer, die Uhr in einen annehmbaren Bereich zu trommeln, die Kontrolle verlief stets unauffällig.
In einem Zimmer unserer Wohnung konnten wir frische Luft schnappen, ohne die Fenster zu öffnen. Ein Granatsplitter hatte die Ecke des Hauses getroffen, sie war nicht mehr vorhanden. Der Fußboden ragte in den Garten, von unten provisorisch gestützt durch einen Balken. Diesem Umstand verdankten wir wohl auch unser Wohnrecht, denn direkt neben uns waren alle Häuser für sowjetische Offiziere und ihre Familien beschlagnahmt worden. Wir konnten sie von unseren Fenstern aus sehen. Sie sahen wie ganz normale Menschen aus.
Ihr Bereich war mit einem Schlagbaum abgetrennt, Fußgänger konnten passieren. Unser wichtigster Kaufmannsladen befand sich dahinter. Das bedeutete für uns, entweder einen weiten Umweg in Kauf zu nehmen oder: „Augen zu und durch“. Ich benutzte in der Regel den kurzen Weg, wagte aber kaum nach links oder rechts zu sehen, eilte zügig bis zum Schlagbaum am anderen Ende. Dort atmete ich erleichtert auf und konnte locker meine Aufträge erledigen. Am Monatsende hatten wir stets noch einige Marken übrig, Mutter konnte gut einteilen. Dann wurde ich im Laden bevorzugt bedient. Viele Frauen mussten warten, weil sie schon mit den Marken vom nächsten Monat einkaufen wollten. Stolz ging ich an ihnen vorbei und zeigte meine Marken vor. Unter neidvollen Blicken nahm ich meinen Zucker, mein Mehl und andere Dinge entgegen. Ordentlich beladen trat ich meinen Heimweg wieder an.
Gut gelaunt strebe ich mit Wölfi an einem schönen Wintertag der Cyriaksburg entgegen. In Gedanken sehen wir uns schon mit unserem Schlitten den Berg hinuntersausen.
Fröhlich biegen wir in einen kleinen Weg, als uns ein energisches „Stoi!“ entgegenschlägt. Plötzlich erstarrt, stehen wir wie festgenagelt vor einem großen Jungen. Er brabbelt etwas auf Russisch und zerrt an unserem Schlitten. Deutlich älter und kräftiger als wir, haben wir keine Chance. Weit und breit keine Menschenseele. Auf dem glatten, abschüssigen Weg beginnen wir zu rutschen. Doch unsere Starre beginnt sich zu lösen, mit einer Hand krallen wir uns am Schlitten fest, mit der anderen am nahen Gartenzaun. Wir sind schließlich zu zweit und fest entschlossen, uns nicht von unserem Schlitten zu trennen. Es gibt keinen neuen.
Plötzlich zieht er eine Pistole und zielt auf uns.
Die Angst lässt uns erneut erstarren. Noch nie mussten wir in den Lauf einer Waffe sehen. Wir können keine Spielzeugpistole von einer echten unterscheiden. Für uns ist sie echt. Wir lassen trotzdem nicht los. Mit dem Schlimmsten rechnend wenden wir uns ab, um diese schreckliche Waffe nicht sehen zu müssen. Halten aber fest.
Endlos schleichen die Minuten dahin, wir weichen nicht.
Schließlich senkt er die Waffe, zieht von dannen, ohne unseren Schlitten. Kein Schuss war gefallen. Der Zaun hatte gehalten und wir auch. Erst jetzt beginnen uns die Knie zu zittern, auf dem kürzesten Weg eilen wir nach Hause. Wir besitzen noch unseren Schlitten, doch die Lust am Rodeln ist uns vergangen.
Und die bewusste Straße mit den Schlagbäumen wird vollends zur Horrorstraße. Hier musste der Junge ja wohnen.
Der Krieg, ist er tatsächlich vorbei?
Mein kleiner Bruder sollte vor seiner Einschulung etwas aufgepäppelt werden.
Während er für einige Zeit in den Westen fuhr, zur jüngsten Schwester meiner Mutter, ging für mich und meine Schwester der Alltag weiter. Morgens den Schulweg legte ich im Sauseschritt zurück. Erst auf den letzte Drücker verließ ich das Haus, ich schlafe morgens so gerne. Eine große Gärtnerei kurz vor der Schule war mein Geschwindigkeitsmesser. In langen Reihen leuchteten kleine Pantoffelblumen durch den Zaun, streng sortiert nach Farben. Wenn die Kirchturmuhr dreimal schlug, musste ich an einer bestimmten Farbe sein, um die Klasse pünktlich zu erreichen. War ich schon weiter, konnte ich etwas bummeln, hatte ich sie noch nicht erreicht, musste ich mich ordentlich sputen.
Die Schule selbst, ein ehrwürdiger Backsteinbau, hatte den Krieg als Lazarett überlebt. Das rote Kreuz auf dem Dach leuchtete noch immer in den Himmel. In der Turnhalle campierten Flüchtlinge, die von uns in den Pausen neugierig beäugt wurden.
Unser Sportunterricht fand auf dem Schulhof statt. Wir spielten öfter Völkerball. Ein riesengroßer Ball, gefüllt mit Sägespänen, sollte von uns bewältigt werden. Warum er Medizinball hieß, hat sich mir nie erschlossen. Wenn ich ihn wirklich gefangen hatte, knallte er mir mächtig ins Gesicht und trieb mich ein paar Schritte rückwärts. Schnell wollte ich dieses Ungetüm wieder loswerden und jemand anderen treffen. Was tut man nicht alles für die Mannschaft.
Viele Schulbücher gab es nicht. Die wenigen Hefte, die ich brauchte, passten gut in meinen Ranzen und dort blieben sie auch. Ich musste mir keinen Stundenplan merken, hatte für jede Stunde das Notwendige parat.
Mit einer Ausnahme: Handarbeit!
Wir sollten Socken stricken. Regelmäßig fehlte mir mein angefangenes Exemplar. Wie sollte ich mir auch merken, dass dieser Schultag ein besonderer war. Regelmäßig fand sich eine mitfühlende Seele, die mir mit Wolle und Nadeln aus der Patsche half. Ich fing jedes Mal von vorne an, kam über das Zwei-rechts–zwei-links-Bündchen kaum hinaus. Lange schon unterrichtete die Lehrerin an dieser Schule. Sie kannte noch einige Eltern von uns. Es gab stets ein freudiges Hallo, wenn bekannte Namen auftauchten. Ich verkniff mir lieber, den Mädchennamen meiner Mutter preiszugeben, obwohl ich täglich an der Straße vorbei kam, in der sie als Kind gewohnt hatte. Die Aufmerksamkeit der Lehrerin wollte ich nicht auf meinen Nicht-Socken lenken. Außerdem war Mutti wohl auch keine Musterschülerin gewesen, wie ich aus ihren Erzählungen wusste.
Mit neuen Kinderschuhen unter dem Arm kam eines Tages
unsere Lehrerin in die Klasse. Ein Lager mit Schuhen war konfisziert worden. Noch echte Friedensware. Ich trug zu dieser Zeit ökologisch wertvolle Sandalen. Tarnstoff aus dem Krieg, der im nahen Steigerwald reichlich entsorgt worden war, konnte dafür verarbeitet werden. In schmale Streifen geschnitten, diese zu Zöpfen geflochten und straff zusammengenäht, war er für Sohlen brauchbar.
Einen Bezugsschein für neue Schuhe besaß ich auch. Damit war ich Kandidat zum Anprobieren. Und tatsächlich passte mir ein Paar, ein wunderschönes Paar tiefblauer Halbschuhe, weicher Lasche über den Schnürsenkeln und niedlichen Holzglöckchen am Ende der Bänder. Ich wollte sie nicht wieder ausziehen, brauchte ich auch nicht. Der ganzen Klasse durfte ich meine Schuhe vorführen. An der Hand der Lehrerin durchschritt ich den Raum und ließ mich mit meinen neuen Schuhen bewundern. Ich konnte mich lange nicht von ihnen trennen. Mutter sah das mit gemischten Gefühlen, Kinderfüße pflegen zu wachsen.
Eine Blockflöte bekam ich zum Geburtstag und auch Unterricht. Frau Brose, eine nette ältere Dame, ich musste immer durch die bewusste Straße laufen, ließ mir an einem langen Seil den Schlüssel herab, versteckt in einem roten Rüschenbeutel. Von unten grüßte ich artig mit einem Knicks. Unter dem Dach in ihrer kleinen, gemütlichen Wohnung lernte ich geduldig zu musizieren und Lieder zu spielen. Besonders gefiel mir, wenn wir gemeinsam musizierten.
Heimwärts schlenderte ich trällernd durch die Straßen:
„Weißt du wie viel Sternlein stehen…“
Ich wusste es nicht. Je länger ich in den abendlichen Himmel schaute, zwinkerten mir immer mehr kleine, ferne Lichter entgegen. Ich konnte sie nicht zählen, es wurden immer mehr. Verwirrend schwirrten sie durch meinen Kopf.
Doch wer könnte sie zählen? Bestimmt der Liebe Gott.
Also sang ich mein eigenes Lied :
„Der Liebe Gott hat die Sterne gezählt…“ Das machte Spaß und sogleich wollte ich 'Singerin' werden.
Kann der Liebe Gott wirklich alle Sterne zählen? Ihm wird es doch ebenso gehen wie mir, je länger er zählt, umso schwieriger wird es.
Also ergänzte ich mein Lied „Der Liebe Gott hat die Sterne gezählt, doch er hat sich verzählt…“ Nun war ich an einer Apotheke angelangt. Jedes Mal wunderte ich mich neu. Da gab es einen Buchstaben, den man beim Sprechen einfach weglassen konnte.
Wir sagen doch nicht Apot- heke.
Was sich die Großen so alles ausdenken?!
Zu Hause auf meinem Balkon, gerade groß genug für meinen Notenständer und für mich, war mein Lieblingsplatz zum Üben. Meine Melodie stieg fröhlich in die Luft, schwebte hinüber zum Wasser und mischten sich in den Gesang der Vögel. Die Nachmittagssonne, wenn sie denn schien, vergoldete eine kleine, friedliche Insel in dieser kriegsgeschüttelten Stadt.
Vor Weihnachten durfte ich zu einer unentgeltlichen Extrastunde zu Frau Broselein, wie ich sie im Stillen nannte.
Wir spielten gemeinsam weihnachtliche Lieder, stimmten uns so auf die Feiertage ein. Nach dem Unterricht fand ich in dem kleinen roten Beutel leckere Schokoladenplätzchen, von oben strahlte mir ihr freundliches Gesicht entgegen. Sie hatte sich wohl ebenso gefreut wie ich.
Für Weihnachten hatten wir zu Hause ein kleines Festprogramm vorbereitet, Traute mit ihrer Geige, ich mit meiner Flöte und Wölfi mit einem Gedicht.
Plötzlich klingelt es.
Wer sollte uns jetzt besuchen?
Neugierig öffnen wir die Tür. Zwei von Muttis Schülerinnen eilen die Treppe herauf, legen ein großes Paket vor die Tür und verschwinden schnell wieder.
Für jedes von uns Kindern ist eine nette Kleinigkeit eingepackt, ein buntes Perlenarmband ist für mich. Die große Überraschung sind jedoch ein Kasper, eine Prinzessin und noch andere Handspielpuppen. Aus alten Zeitungen, Mehlkleister, viel Liebe und Geschick haben sie Köpfe geformt. Etwas Farbe und bunter Stoff vervollständigen die fantastischen Figuren. Jetzt klingt es öfter aus dem Mund des Kasper: „Seid ihr alle da?“ An Fantasie sollte es nicht fehlen.
Tante Inge hatte ihren Mann fürs Leben gefunden und wir fieberten alle ihrer Hochzeit entgegen. Eine Hochzeit der Mädchenträume sollte es werden. Die Braut in langem weißen Kleid und romantisch weitem Schleier. Den sollte ich tragen, was heißt tragen, zelebrieren sollte ich ihn. Schon Wochen vorher beobachteten wir aufgeregt Muttis Schneiderkünste. Nicht nur ich sollte gut aussehen. Meine Geschwister sollten Blumen streuen und ebenfalls festlich glänzen. Für uns Mädchen zauberte Mutti weiße Mäntelchen, bestickt mit bunten Blumen auf den Ärmeln.
Den Domplatz in Erfurt kannte ich schon vom Martinsfest. Jedes Jahr im November zogen wir mit unseren selbst gebastelten Laternchen zu diesem Festplatz. Die ganze Stadt schien hier versammelt. Von der breit ausladenden Treppe prangte uns der Martinsstern entgegen und andächtig sangen wir mit: „Ein feste Burg ist unser Gott...“ In Heimatkunde hatte ich gelernt, dass wir Martin Luther ehren, der am 11. November, dem Tag des Heiligen Martin, getauft worden war. Mir war es egal, wen wir feierten, stolz zog ich mit meinem Laternchen durch das festliche Gewusel.
Nicht der berühmte Dom zu Erfurt sollte die Hochzeitskirche sein, sondern die Severikirche gleich nebenan.
Kräftig dröhnen bereits die Glocken, als die Kutsche mit der Braut vorfährt an der Kirche. Mein Herz pocht um die Wette mit ihnen, gleich ist es so weit Mit der Braut betrete ich das Kirchenschiff, in weißem Mäntelchen und Blütenkranz im Haar. Gedämpftes Licht, hymnische Musik und der betörende Duft von Weihrauch entführen mich in eine magische Märchenwelt. Orgelklänge schweifen durch die Luft, hallen wider von den Bogengängen, durchweben den Raum und lassen ihn in sanftem Rhythmus schwingen. Feierlich zelebriere ich den weißen Schleier, während die Braut dem Altar entgegen schwebt. Ich bin die zweitwichtigste Person auf diesem Fest, so fühle ich mich jedenfalls. Und noch lange begleitet mich dieses Erlebnis in meinen Träumen.
Jeden Sommer gab es schöne lange Ferien. Mutter hatte als Lehrerin auch frei. An große Reisen war nicht zu denken, doch der Thüringer Wald war nicht weit, die Drei Gleichen ebenfalls für einen Ausflug gut. Unsere Wanderfestigkeit hatten wir bereits erprobt. Das Schwarzatal entlang zu wandern, war gewiss erholsam und gesund, interessant fand ich es nicht. Im Schweizer Haus, wo sie vom Schweizer Käse nur die Löcher hatten, bekamen wir richtigen Kakao zu trinken, noch aus Friedenszeiten. Das war fantastisch. Die Wirtin hatte sich über die einsamen Wanderer gefreut und ihre stillen Reserven hervorgeholt. Wir schienen ihr würdige Gäste zu sein. Den Kiekelhahn und Goethe konnte ich nicht so richtig würdigen. Was aber Mutter entschied, war wohl richtig, an ihr zweifelte ich nicht. So stapfte ich ohne zu murren mit bergauf, bergab und fand es schließlich auch ganz angenehm.
1949 war unser Aufenthalt in Erfurt zu Ende.
Mutter hatte wieder eine Arbeit am Rande Berlins angenommen.
1 Alles wird anders
In der Wochenschau hatte ich eine neue Schule gesehen. Ein klarer, schlichter Bau ohne jegliche Schnörkel, als einzige Zierde rechts oben eine riesige Uhr, die auch funktionierte. Das hatte mir imponiert. Diese Schule stand in Blankenfelde und sollte nun meine Schule werden.
Ganz in der Nähe bekamen wir ein kleines Häuschen zugewiesen, mit Wintergarten und Balkon. Die Garage nutzten wir als Lagerraum. Starke Kiefern im Vorgarten hielten ihre kräftigen Zweigen schützend über das Haus. Für uns Kinder ein ganz neues Terrain, endlich konnten wir eine Schaukel montieren. In Erfurt hatten wir zwar auch eine Schaukel, aber nur in einem schmalen Türrahmen. Jetzt konnten wir nach Herzenslust Schwung holen und richtig durch die Lüfte fliegen. Mit Wölfi trat ich in Wettbewerb, wer beim Absprung am weitesten fliegen kann. Bald waren auch die Bäume vor unseren Kletterkünsten nicht mehr sicher. Sie standen so dicht, dass wir wie die Eichhörnchen von einem Baum zum anderen gelangen konnten. Waren sie zu weit entfernt, spannten wir ein Seil, um uns hinüber zu hangeln. Natürlich kletterten wir um die Wette und spielten Fangen oder Einkriege, wie wir es damals nannten, dreidimensional.
Ein Schleichweg zur Schule über den Hof wäre perfekt gewesen. Den gab es jedoch nicht. Wir mussten immer einen großen Bogen laufen. Die Lehrer waren nett, auch die Mathelehrerin. Sie war durch meine Mutter an der Oberschule abgelöst worden und jetzt unterrichtete sie mich als ihre Schülerin. Ich war das Küken der Klasse, doch als sie mich eins Tages mein Häschen nannte, trug mir dies den Spott meiner Mitschüler ein. Einige von ihnen waren deutlich älter als ich, sie hatten im Krieg viel Unterricht versäumt. Im Grunde respektierten sie mich jedoch, wählten mich später sogar zur „Klassenältesten“. In dieser Funktion wurde ich vor allen Dingen dann aktiv, wenn kein Lehrer zum Unterricht erschienen war. Eine Weile wartete ich ab, bevor ich in das Zimmer der Direktorin ging. Sie hatte nicht immer den aktuellen Überblick, wer von den Lehrern gerade in den Westen gegangen war. Es war eine unruhige Zeit.
Meine kindliche Bewegungsfreude war nicht zu übersehen, so schickte mich Mutti zum Ballettunterricht. Wieder aus ehemaligem Kriegstarnstoff, diesmal schwarz eingefärbt, nähte sie mir ein Röckchen. An rote Hausschuhe heftete sie lange Bänder, damit ich sie wie richtige Ballettschuhe binden konnte. Damit war ich zwar nicht die Schönste, konnte aber getrost meine Pliés üben. Das Notfallköfferchen von einst erhielt nun eine schönere Bestimmung, das Röckchen und die roten Schuhe passten gut hinein. Zunächst kam Mutti noch mit, um mir den Weg zu zeigen. Schon bald fuhr ich mit meinem Köfferchen in der Hand alleine zur Friedrichstraße. Wenn ich den Ausgang an der Weidendammer Brücke nahm, war der Weg nicht weit. Wo heute große Häuser und der neue Friedrichstadtpalast stehen, gähnte eine große, öde Brache, über die mir im Winter bitterkalter Wind entgegenblies. Doch mittendrin, nicht zu übersehen, duckte sich ein kleiner Kiosk, gerade groß genug für einen Mann, der darin stand und Negerküsse verkaufte. So nannten sich damals diese leckeren Köstlichkeiten.
Ich kann einfach nicht vorüber gehen, bleibe stehen, steige auf Zehenspitzen, um sie besser sehen zu können. Sie duften so herrlich nach Schokolade. Ich besitze keine 30 Pfennige, habe nur mein Fahrgeld, doch ich schmiede einen Plan:
Statt einer Fahrkarte für 30 Pfennige kaufe ich mir nur noch eine für 20 und fahre den Rest der Strecke schwarz.
Beim nächsten Mal genieße ich die Vorfreude, laufe beschwingt am Kiosk vorbei, ich besitze immerhin schon 20 Pfennige. Als es endlich so weit ist, ich wirklich einen Negerkuss in den Händen halte, atme ich tief den Duft der Schokolade ein und beiße genussvoll zu. Zart knackt es zwischen meinen Zähnen, süßer Schaum füllt meinen Mund . Langsam lasse ich ihn auf meiner Zunge zergehen, möglichst lange möchte ich diesen Genuss erleben. Viel zu schnell ist er vorüber. Doch jedes Mal, wenn ich 30 Pfennige beisammen habe, kann ich diese süße Wunder neu erleben.
Weihnachten rückte näher. Für Brot, Mehl und Zucker waren Ende `49 die Marken weggefallen, in den Läden sah es trotzdem trostlos aus. Keine Schokolade, kein Kakao zum Fest. Mutti schickte Traute und mich nach Westberlin, um Kakao zu kaufen. Sie selbst befürchtete Schwierigkeiten, wenn sie dort gesehen würde.
Wir fahren an die Grenze zum Potsdamer Platz. Auf dem dunklen, zugigen Areal steht Bude an Bude, umringt von einer dichten Traube debattierender Menschen. Vor jedem Kiosk flattern Aushänge im Wind, Tafeln mit Preisen und Wechselkurs. Sie sind in dem kargen Licht kaum zu erkennen. Wie sollen wir das günstigste Angebot finden?
Es ist so unübersichtlich, fast gespenstisch. Wir irren von einer Bude zur nächsten und wieder zurück, um die Preise zu vergleichen. Wir bleiben dicht beieinander, um uns nicht zu verlieren, uns nicht von den Großen abdrängen zu lassen. Endlich entschließen wir uns zum Kauf. Unser Geld wird genommen, zu einem Wechselkurs von 1:13. Ich bin empört. Wieso ist die Arbeit meiner Mutter 13-mal weniger wert als die einer Mathelehrerin in Westberlin?
Es wurde ein teurer Kakao, den wir Weihnachten tranken.
In den Sommerferien 1950 ließ meine Mutter eine längst fällige, immer wieder verschobene Operation durchführen. Für uns Mädchen wurde ein Ferienlager organisiert, mein Bruder besuchte während dieser Zeit unsere Oma.
Die Operation gelang, als jedoch Komplikationen auftraten, hatte sie keine Kraft mehr zu kämpfen.
Als Kind den Ersten Weltkrieg erlebt, durch Nachkriegszeit und Inflation aller Ersparnisse beraubt, boxte sie sich einst durch ihr Studium. Im zweiten großen Inferno stand sie selbst als Mutter mit drei kleinen Kindern allen Widernissen allein gegenüber. Das reichte wohl für ein ganzes Leben.
Einst schrieb sie unser Lebensmotte in mein Poesiealbum:
So hart ist kein Tyrann,
zu fordern von einem Mann,
was einer aus freien Stücken
sich bürdet auf den Rücken.
Wie geplant befand ich mich mit Traute im Ferienlager.
Als Fremde vermochte die Leiterin nicht, uns diese schlimme Nachricht zu überbringen. Sie meinte nur, wir sollten nach Hause kommen, weil unsere Mutter schwer erkrankt sei.
Aber deshalb waren wir ja hier. Es musste etwas Schlimmes passiert sein.
Wir spürten die Wahrheit, niemand sprach sie aus. Wir getrauten uns nicht, diesen schrecklichen Gedanken zu Ende zu denken. In ihren Armen ließen wir unseren Tränen freien Lauf.
Unterwegs machten wir uns gegenseitig Mut, erfanden immer neue Geschichten, warum wir nach Hause kommen sollten und glaubten aber selbst nicht daran. Schließlich trafen wir zu Hause ein. Mutti war nicht da. Tante Inge war da, Oma und unser Vater. Als er uns die schlimme Wahrheit bestätigte, hatte ich keine Tränen mehr.
Bei der Beerdigung wunderte ich mich nur, warum so viele Schüler um ihre Lehrerin weinten.
Nun zog mein Vater mit einer fremden Frau bei uns ein. Wie wir später aus ihrem Nachlass erfuhren, hatte sie sich beim Berliner Kulturministerium beworben. Sie war abgelehnt worden, weil sie keine Aufenthaltsgenehmigung für Berlin besaß. Jetzt bot sich ihr die Chance, das Ziel doch noch zu erreichen. Drei Kinder waren aber wohl zu viel.
Eine Freundin meines Vaters in Westberlin war bereit, eines von uns Mädchen zu übernehmen. Zu ihrem eigenen Sohn würde dies gut passen.
Wir fuhren zur Begutachtung. Ich war so gehemmt und verklemmt, mein Würstchen sprang vor Schreck vom Teller, als ich es schneiden wollte, schied also aus.
Oma hatte sich bereit erklärt, für unseren Bruder zu sorgen. Sie fühlte sich noch fit genug. Selbst als hochbetagte Dame schwamm sie gerne im Tegeler See. Der Rettungsschwimmer rief ihr hinterher:
„Oma, du willst dir doch nicht das Leben nehmen?!“
Das wollte sie gewiss nicht. Ausgelassen war sie später mit Kindern aus der Nachbarschaft in den Rehbergen Schlitten gefahren in einem Alter von 74 Jahren. Die Lungenentzündung, die sie sich dabei zuzog, verkraftete sie jedoch nicht mehr.
Das Amt in Blankenfelde spielte nicht mit. Eine Aufenthaltsgenehmigung für die Freundin meines Vaters gab es nur mit allen drei Kindern. Eine rechtsgültige Ehe sollte es auch sein. Eine kirchliche Trauung fand statt, eine katholische, sonst hätte die wohlhabende Schwiegermutter in Bayern die Ehe nicht anerkannt.
Zwei uns fremde Menschen wurden nun unsere Eltern.
Eltern, die keine sein wollten.
Erst nach und nach begriff ich, was sich alles geändert hatte. Die Schule ging wie gewohnt weiter. Unsere Gartenpforte war jedoch immer verschlossen, wir sollten keine Freunde mit nach Hause bringen. Im Flur hing jetzt ein buntes Fensterbild mit der Aufschrift:
„Heiliger Florian, beschütze unser Haus und zünd andere an.“
Zum Ballett durfte ich nicht mehr, ich erhielt Flötenunterricht. Nicht Blockflöte, sondern Unterricht auf einer richtigen Querflöte. Unser Vater hatte in meinem Musiklehrer einen alten Studienkollegen getroffen. Der klagte, mit seinem Schulorchester die Kindersymphonie, damals noch Haydn zugesprochen, Weihnachten nicht aufführen zu können. Ihm fehlte eine Flöte. Vater erinnerte sich an meine Blockflöte und brüstete sich: „Meine Bärbel macht das.“ Als folgsames Mädchen tat ich es. Alles nur wegen der zwei Kuckuckstöne in der Kindersymphonie. Wohl war mir nie dabei. Mir war es unangenehm, wie dilettantisch ich spielte. Ganz so schlimm war es wohl nicht, nach meiner Immatrikulation in Berlin wollte mich eine ehemalige Mitschülerin für das Orchester des Studentenensembles werben.
Als meine Konfirmation bevorstand, ließ mich mein Vater aus der Kirche austreten. Gewiss war die nachzuzahlende Kirchensteuer der eigentliche Anlass.
Vom Religionslehrer war ich nicht überzeugt, also akzeptierte ich. Die Macht des Gebetes hatte er uns beweisen wollen. Er hatte zu Hause gebetet, während seine Ehefrau bei der Gemeinde diese Stelle als Religionslehrer erwirkte.
Warum war er nicht selbst gegangen? Schickt seine Ehefrau vor und meint, Gott hätte gehandelt. Glaubte er tatsächlich, mit seinem Gebet alles erreicht zu haben?
Bisher hatte ich erfahren, dass nur beherztes Handeln aus irgendwelchen Patschen half.
Jahre später klingelte ein freundlicher Herr an meiner Wohnungstür und wollte mich missionieren:
„Ist es nicht an der Zeit, Rechenschaft vor Gott abzulegen?“
Ich schaute ihm skeptisch ins Gesicht:
„Ist es nicht an der Zeit, dass Gott einmal Rechenschaft vor uns ablegt?“
Seine Schrecksekunde nutzte ich, um die Wohnungstür wieder zu schließen.
Auch später sah ich keinen Grund, mich der Kirche wieder anzuschließen.
Für meinen guten Schulabschluss nach der 8. Klasse erntete ich von den Lehrern viel Anerkennung, zumal ich erst 12 Jahre alt war. Ausgerechnet im Sport hatte ich nur eine Zwei, den Normen der 14-Jährigen war ich noch nicht gewachsen. Für alle drei Klassen fand die große Abschlussfeier im Blankenfelder Kino statt. Mein Bruder und nur mein Bruder, begleitete mich zu diesem Fest. Er musste mir helfen, die vielen Auszeichnungen und Bücher nach Hause zu tragen. Die vier Bände Scholochows Der Stille Don stehen noch heute in meinem Bücherschrank..
Zum Geburtstag hatte Wolf ein Radio geschenkt bekommen, eine Spezialkonstruktion mit zwei Sendern. Wir sollten keine Westsender hören. Das war für ihn kein Problem. Umgehend löste er die Sperre und konnte so auch den RIAS hören. Die Drähte gut versteckt, bastelte er einen Anschluss in mein Zimmer. So hörte auch ich die Schlager der Woche über Kopfhörer in meinem Bett. Wolf war schon damals ein kreativer Bastler. Er half mir bei den schriftlichen Schularbeiten , damit ich Zeit zum Spielen hatte. Besonders die physikalischen Zeichnungen gelangen ihm besser als mir.
Ich interessierte mich mehr für Biologie. Besonders spannend fand ich, wenn wir Tiere und Menschen behandelten. Herr Feustel, unser Biolehrer, führte uns lebendig in die Geheimnisse der Natur ein; wie alles nach strengen Regeln und Gesetzen verläuft, alles Geschehen einer Kausalitätskette folgt. Ob wir diese Gesetze kennen oder nicht, der Natur ist das egal. Die Meteorologen können trotz moderner Technik kaum eine längerfristige Prognose erstellen, obwohl sich rein physikalische Gesetze abspielen. Die Dynamik des Geschehens ist zu komplex und von ihnen nicht überschaubar. Wie viel komplizierter ist doch ein Lebewesen oder gar ein Mensch. Ein Wind verliebt sich nicht und schlägt unberechenbare Purzelbäume. Regen wird nicht wegen eines Wutausbruchs zu Hagel. Doch Menschen sind so gestrickt.
Naturwissenschaftliche Gesetzte zu erkennen, zu begreifen und als Krönung sie gegeneinander auszuspielen, eröffnet fantastische Möglichkeiten. Und das geschieht in der Medizin.
Die Gesellschaft für Sport und Technik warb an der Schule für Seesport. Am Rangsdorfer See hatte sie einen Stützpunkt errichtet und einen Kutter geankert. Mit dem Fahrrad konnte man ihn gut erreichen und es würde eine willkommene Abwechslung bedeuten. Also radelte eine verschworene Truppe an den Wochenenden zum Rangsdorfer See. Wir knüpften Seemannsknoten, lernten das Prinzip der Selbstbekneifung kennen, morsten und winkten mit den kleinen rotweißen Flaggen. Das beflügelte meine Fantasie. Ich stellte mir vor, ich stehe hoch oben im Mastkorb eines großen Seglers, Sonne und Wind im Gesicht und sende Grüße an einen anderen Segler. Wir tummelten uns auf dem See, ruderten bzw. pullten munter drauf los. Blasen an den Händen wurden ignoriert. Mein Platz war im Schlag. Ich hatte kleinere Riemen, brauchte weniger Kraft als die anderen. Doch den Rhythmus zu halten, war auch nicht einfach. Noch fantastischer war es, wenn wir Segel setzten. Der See, in flacher Landschaft weit ausgebreitet, bot den Winden eine große, freie Fläche, um sich auszutoben. Ideal zum Segeln. Bei Eisseglern ist er sehr beliebt, wahre Volksfeste umrahmen die Wettkämpfe. Ich erinnere mich, wie ich als Kleinkind über das Eis geschoben wurde, in einem damals modernen Schlitten, der wie eine hohe Bank mit Kufen aussah.
Nicht übermäßig an Fläche, bot der See ausreichend Gelegenheit, um das Wenden und Halsen zu üben. Wir lernten den Wind und die Wellen einzuschätzen, die Segel zu bändigen und das Gewicht unserer Körper zu nutzen. Meinen Segelschein konnte ich nicht erwerben, ich war noch nicht 16 Jahre alt.
Meine Schwester und ich hatten unterschiedliche Gene mitbekommen. Äußerlich konnte man das an unserem Längenwachstum erkennen. Ich holte sie langsam ein und überholte sie sogar. Solange ich die kleine Schwester war, hatte sie gerne mal zugelangt, wenn ich nicht spurte wie sie wollte. Als ich etwa 13 war, sie 15, beide inzwischen gleich groß, schlug ich das erste Mal zurück. Wolf amüsierte sich über die Rauferei, die sich seine großen Schwestern lieferten. Einen Gewinner gab es nicht, wir hatten beide Federn gelassen. Aber ich hatte gezeigt, dass ich jetzt ebenbürtig war und mir nichts mehr gefallen lasse.
In der Schule ließen meine Leistungen nach. In mein Schüler-Tagebuch konnte ich kaum noch ordentliche Zensuren eintragen. Zu Hause erntete ich Vorhaltungen und Ermahnungen, ich durfte das Fahrrad nicht mehr benutzen. Ohne Rad war der Rangsdorfer See nicht zu erreichen. Ich hatte Glück. Schischi, der im Orchester den Kontrabass spielte, nahm mich auf seinem Fahrrad mit. Nach der nächsten nicht ordentlich abgelieferten Mathearbeit sollte ich am Wochenende lernen statt zu segeln.
All die Gebote und Verbote stahlen mir nach und nach meine Fröhlichkeit und mein Lachen.
Nachdem die Amerikaner die ersten Atombomben gezündet hatten, versuchte die Sowjetunion verstärkt, ihren wissenschaftlichen Rückstand aufzuholen, auch über Ländergrenzen hinweg. Das war zehn Jahre später nicht anders. Der Ruf nach begabten Kadern erreichte auch das Ministerium meiner Stiefmutter.
Und wieder hieß es: „Die Bärbel macht das.“
Es würde bedeuten: sofortige Umschulung in eine bilinguale Schule mit Internat, anschließend Studium der Atomphysik in der Sowjetunion.
Ich sagte sofort zu, sah eine Möglichkeit, endlich auszubrechen. Alles Weitere würde sich finden. Meine Stiefmutter, erfreut über die Zusage, organisierte bei einem jungen Kollegen Nachhilfe in Russisch. Der sah mich skeptisch an: „Willst du das wirklich? Willst du wirklich Atomphysik studieren?“
Ich druckste herum: „Jaa“. Meine Körpersprache sagte anderes.
„Such dir lieber einen schöneren Beruf“, verabschiedete er mich.
Er rannte offene Türen ein.
1 Ab jetzt entscheide ich
Kleine weiße Wolken, wieder und wieder verpufft aus der schnaufenden Lok, kringeln sich empor zu ihren großen Schwestern. Das rhythmische Rackatack der Räder entfernt mich immer mehr von meinem Gestern. Die Bahn schiebt sich von einem B zum nächsten: Berlin, Borkheide, Beelitz, Brück, Belzig…
Ruhig gleiten vor den Fenstern wellige Wiesen und Brandenburger Streichholzwälder vorüber. Wie in einem Film nehme ich die Landschaft wahr, meine Gedanken eilen dem Zug voraus.
Was wird mich erwarten? Wie werde ich zurechtkommen? Wie werden mich die anderen aufnehmen, so mitten im Schuljahr?
In jedem Fall wird es besser werden als bisher, davon bin ich überzeugt.
Sind die Bs endlich aufgebraucht, winkt mir von Ferne der Wiesenburger Schlossturm entgegen. Hier bin ich angekommen.
Viel Grün trennt mich noch vom Schloss, meinem eigentlichen Ziel. Der Weg scheint endlos, der Koffer viel zu schwer. Schließlich umfangen mich die Schlossmauern, über Jahrhunderte bewährte Schutz- und Trutzmauern, sie sollen jetzt auch die Schüler schützen und fernhalten von den Nachkriegswirren „da draußen“. Die Schülerwache am Tor wird sehr ernst genommen.
Nachdem ich den dunklen Torweg passiert habe, finde ich mich in einem hellen, freundlichen Innenhof. Gefangen wird mein Blick von einem Brunnen, einstmals aus Italien importiert. Majestätisch residiert er in der Mitte des Hofes, scheint alle Gäste zu begrüßen.
Die Räume der Mädchen befinden sich in der ersten Etage über den Klassenräumen und der Aula. Die großen Fenster öffnen weite Blickdiagonalen zu uralten Bäumen und weiträumigen Wiesen. Umrandet von unterschiedlichsten Grüntönen, dem satten Grün der Rhododendren, den frischen Trieben der Wiesen und den zarten Knospen der Weiden, ruht ein friedlicher Teich, nur belebt durch Enten und Schwäne. Später wird als Glanzstück eine Fontäne installiert. Es fehlte nur sanfte Musik und der Mond würde im abendlichen Schleier die Schwanenkönigin und ihre Gefährtinnen heraufbeschwören.
In diesem Lernschloss wollte ich im Frühjahr ´55 bleiben und im nächsten Jahr mein Abitur ablegen.
Wenn nur nicht das Fach Russisch gewesen wäre, dessentwegen ich hierher geschickt worden war. In kam in eine Klasse, in der in einigen Fächern nur Russisch gesprochen wurde, z.B. in Wirtschaftsgeographie der Sowjetunion. Tschechow, Lermontow wurden im Original gelesen. Für Sprachen habe ich kein Talent. Lehrer und Mitschüler waren sehr entgegenkommend und halfen mir. Bis zum Sommer kam ich über eine Vier im schriftlichen Russisch jedoch nicht hinaus. Zum Abi war eine bessere Zensur auch nicht zu erwarten. Mit solchem Zeugnis würde ich keinen Studienplatz erhalten.
Ich sprach mit Herrn Diecke, dem Direktor, und bat um ein Jahr Rückstellung. Meine Argumente schienen ihm plausibel, zumal ich das Abi nicht mit 16 Jahren ablegen musste.
Meine Eltern informierte ich schriftlich.
Trotzdem quälte ich mich durch den Russischunterricht. Eine ordentliche Zensur würde ich nie erreichen. So schloss ich mit Edgar, der in der Sowjetunion aufgewachsen war, einen Pakt. Wir beschlossen zu schummeln.
Bei den schriftlichen Arbeiten hatten wir einen Text, den Herr Gellrich mündlich vortrug, in eigenen Worten wiederzugeben. Ich konnte inzwischen recht gut verstehen, aber aufschreiben? Es war üblich, auf dem Schmierzettel einen Entwurf zu fertigen. Edgar brauchte keine Rohfassung. So konnte er auf seinem Zettel meine Arbeit schreiben. Unauffällig auffällig legte er ihn in die Mitte der Bank. Niemand kam auf die Idee, dass es nicht mein Zettel war. Außerdem saßen wir bewusst in der Mitte der ersten Reihe, über die ein Lehrer stets hinwegschaut. Die erste Reihe hat außerdem den Vorteil, bei mündlichen Tests gut vorsagen zu können. So erreichte ich eine annehmbare Zensur. Auf die mündliche Abi-Prüfung, die eigentlich Pflicht war, verzichteten die Lehrer. Gewiss wollten sie weder sich noch mich vor dem Prüfungsausschuss blamieren.
Ich wollte keine Dolmetscherin werden.
Unser Pakt war nicht einseitig. Auf die gleiche Weise schrieb ich Edgars Mathearbeiten. Um eigentlich nicht abschreiben zu können, hatten die Banknachbarn unterschiedliche Aufgaben zu lösen. Mein Schmierzettel mit dem Lösungsansatz für Edgars Arbeit fiel jedoch nicht auf. Meine Arbeit schrieb ich ohne Schmierzettel. Herr Schell, eigentlich für seine scharfen Kontrollen bekannt, erfuhr von unserem Trick erst durch die Abizeitung. Er saß mir in diesem Moment direkt gegenüber und fragte erschrocken:
„Sagen Sie bloß, das ist wahr?“
Jetzt konnte ich ihm lächelnd bestätigen: „Ja, so war es.“
Morgens um halb acht begann unser Unterricht. Vorher hatten wir kurz die Frühnachrichten gehört und gemeinsam gefrühstückt. Erst mit den letzten Signaltönen, der eindringlich durch die Lautsprecher schallten, rauschte auch ich um sieben Uhr in den Speisesaal, vorbei an einem riesigen, goldumrandeten Spiegel, in den ich stets noch einen kurzen Blick riskierte. An einer längeren Tafel, von der man den Raum gut überblicken konnte, saßen der Heimdienst und der Direktor. Geburtstagskinder konnten sich hier ihr Lieblingslied wünschen und alle stimmten mit ein. Die anderen saßen an kleineren Tischen.
Für jeden Wochentag wurden zwei Heimdienste gewählt, ein weiblicher und ein männlicher. Sie führten die disziplinarische Aufsicht für den jeweiligen Tag. Das war angelehnt an Makarenkos Philosophie. Er hatte in der jungen Sowjetunion Jugendliche in seinem Heim aufgenommen, die in ihrem Leben bisher nur Krieg gekannt hatten. Er schenkte ihnen Vertrauen und übertrug ihnen Verantwortung.
Mein Heimdiensttag war der Sonnabend. An diesem Tag ging es etwas lockerer zu. Vormittags war zwar Unterricht, doch über das Wochenende bekamen wir keine neuen Schularbeiten. Dafür war Stubendienst angesagt und ich hatte mit Horst zu kontrollieren. So durfte ich auch die Räume Jungen betreten, das war sonst nicht erlaubt. Die Räume waren kleiner, boten jedoch nicht den schönen Ausblick in den Park. Sie lagen im ehemaligen Gesindeflügel. In einem anderen Flügel wohnte der Direktor. Eine Heimleiterin gab es auch, sie mischte sich kaum in die Belange Heimdienstes ein. Als Heimdienst war ich erstaunt, auch etwas erschrocken, wie ernst mich die anderen Schüler nahmen, wenn sie mit einem Anliegen zu mir gekommen waren.
Herr Eilert, unser Wirtschaftsleiter, musste recht kreativ sein, um uns, besonders die Jungen, satt zu bekommen. So stand auch regelmäßig auch ein Schwein auf der Fütterungsliste. Der Speisesaal war stets geöffnet, Brot und Marmelade in einem Zehn-Liter-Eimer standen für die ganz Hungrigen stets bereit.
„Die Wissenschaft hat festgestellt, dass Marmelade Fett enthält...“ Dieses Lied, wann immer es angestimmt wurde, sorgte prompt für Heiterkeit.
Nach dem Mittagessen war strikte Ruhe angesagt. Wer nicht schlafen wollte, ging in den Park oder zum Lesen in den Gemeinschaftsraum. Ich gehörte regelmäßig zur Schlaffraktion.
Ende ´56, oder war es Anfang ´57, jedenfalls befand ich mich im 12.Schuljahr, erhielten wir eine neue Verkehrsordnung. Die Verkehrspolizei wollte uns in der Mittagspause mit den neuen Regeln vertraut machen. Wofür brauchten wir in unserem Dorf Verkehrsregeln? Es fuhren kaum Autos, kaum Fahrräder, hin und wieder ein Trecker. Wir mussten nur den § 1 kennen. Den kann man nicht lernen, den muss man verinnerlichen.
Ich war nicht die Einzige, die so dachte. Deshalb sollten wir auf unseren Mittagsschlaf verzichten?
Nein, das ging gar nicht.
Den Spuren des Schornsteinfegers folgend, kletterten wir heimlich auf das Dach und versteckten uns dort. Grinsend beobachteten wir aus der Vogelperspektive, wie die anderen brav in die Aula strömten und warteten auf den Moment, da endlich Ruhe einkehrte. Wir kletterten zurück in unser Zimmer und schliefen einen ruhigen, festen Schlaf. Es hatte uns niemand vermisst.
Erst nach der Veranstaltung fand uns eine Mitbewohnerin in den Betten vor, war sichtlich pikiert und beeilte sich, unsere Missetat zu melden.
Was treibt einen Mensch, so zu handeln? War es der Frust, nicht beteiligt gewesen zu sein? Fehlende Anerkennung? So erringt man sie bestimmt nicht.
Selbst der Direktor hat vermutlich über uns geschmunzelt. Er hat uns stets geraten:
„Wenn Sie Unfug treiben, dann bitte intelligenten.“
Als Strafe mussten wir nachsitzen, die Belehrung nachholen. Ein netter, Volkspolizist, kaum älter als wir, sollte uns, ein Grüppchen alberner Teenager, bändigen und belehren. Über einen großen, ovalen Konferenztisch schossen wir uns kichernd Bonbons zu und versuchten mit ihm zu flirten. Er war gewiss froh, als er Vollzug melden konnte.
Der Park hatte zu allen Jahreszeiten seinen besonderen Reiz, nicht nur für Liebespaare. Auf einer Bank, umgeben von Entenschnattern und Vogelzwitschern, litt ich gemeinsam mit Fontanes Effi Briest, schrieb meine Aufsätze hier und manchmal ein Gedicht. Eine kleine hölzerne Brücke am Teich musste sich manchmal den 1000-Meter-Lauf der Jungen gefallen lassen. Der Rhythmus der stampfenden Füße hallte durch die Stille des Parks bis hinauf in unser Klassenzimmer. Schmunzelnd lauschten wir diesem Getrampel nach, es verkündete uns den Frühling. Der Sportunterricht wurde nicht mehr bei Frähsdorf, sondern im Freien durchgeführt. Diese einzige Kneipe des Dorfes fungierte im Winter als Sporthalle. Gelegentlich vibrierten die Wände, wenn sich Tanzpaare zu flotten Rhythmen drehten, er wurde herausgeputzt für Schulfeiern und war auch unser Kino.
Der Duft von Maische mischte sich gelegentlich in die klare Luft. Wir nahmen es gelassen, denn es war Sonntag. Keine
7-Uhr- Signaltöne hallten durch das Schloss, wir konnten uns in unseren Betten noch einmal ausstrecken.
Unsere musische Erziehung lag in den Händen von Herrn Gast, einem erfahrenen Pädagogen. Wer irgendwie den Mund auftun konnte, wurde in den Schulchor integriert.
Später bat er mich, meinen jüngeren Bruder für den Chor zu überreden, und zwar als Sopran. Er hatte noch keinen Stimmbruch. Wolf war auch in Wiesenburg gelandet, in einer naturwissenschaftlich orientierten Klasse. Nur halbherzig und mit dem entsprechenden Erfolg, sprach ich mit ihm.
Er hatte sich dem Schach verschrieben.
Herr Gast formte den Chor zu einem ordentlichen Klangkörper, jedes Mal ich ging abends gerne zur Probe. Noch heute höre ich unser „Joho trallala...“ vom Jägerchor oder Eckharts Solo von „ Old Black Joe“.
Aber wehe dem, der sich verweigerte: Fritz!
Fritz meinte, absolut nicht singen zu können. Er wollte sich vor der Klasse nicht blamieren. Er ließ sich auch nicht zum Sprechgesang überreden, als ihm eine Fünf angedroht wurde. Eine Sechs kannten wir noch nicht. In allen folgenden Musikstunden folgte das gleiche Ritual:
nach der Begrüßung Aufforderung an Fritz:
„Singen Sie ein Lied Ihrer Wahl!“
Fritz bleibt stumm und grinst über beide Ohren.
„Setzen, Fünf.“
Danach begann der reguläre Unterricht. Es entspann sich ein interessanter Machtkampf. Wer hält länger durch, wer hat den größeren Dickschädel?
Mit der Zeit wurde das Ritual verkürzt, gehörte fast zur Begrüßung:
„Fritz, singen, setzen, Fünf.“
Inzwischen konnte Fritz nicht mehr so richtig grinsen, auch wir sorgten uns. Das Abi rückte näher und Fritz stand in Musik glatt Fünf. Mit einer Fünf, in welchem Fach auch immer, bestand man das Abi nicht. Abwahlmöglichkeiten kannten wir nicht. Es gab nur einen Ausweg: mündliche Prüfung. Ihrem Stellenwert entsprechend wurde sie als Epilog eingeordnet. Wir hatten alle unsere Prüfungen hinter uns, als Fritz in die Aula gerufen wurde und die Prüfung auch bestanden hat.
Streng und zackig ging es bei Herrn Diecke zu, im Geschichtsunterricht. Er war mit vielen Narben aus dem Krieg zurückgekehrt, auch im Gesicht. Er hatte sich aus einem brennenden Panzer retten können. Wenn wir zur Begrüßung aufgestanden waren, durfte sich nur setzen, wer die richtige Geschichtszahl wusste. Mit einem langen Zeigestock bewaffnet, spießte er seinen Kandidaten förmlich auf. Aus heutiger Sicht scheint das autoritär, fast militärisch. Doch Geschichtszahlen kann man nur pauken. Sie geben uns ein Gerüst, den Lauf der Welt besser zu verstehen. Wie sollte ich Persönlichkeiten oder Ereignisse richtig einordnen, wenn ich ihre Zeit nicht kenne? Es ist wohl ein Unterschied, ob ich 1077, 1517, 1917 oder 2017 schreiben.
Gegenwartskunde hatten wir ebenfalls bei Herrn Diecke. Hier lernten wir den Marxismus-Leninismus kennen, hörten von den Widersprüchen der Welt, die unweigerlich zur Lösung drängen. Die „Bibel“ für dieses Fach war Stalin: „Fragen des Leninismus“. Zu allen Bereichen des Lebens hatte Lenin seine Visionen entwickelt, sein Exil hatte er gut genutzt. Es geisterte ein Ausspruch durch unsere Zeit: „Und schon Lenin sagte...“, damals natürlich auf Russisch.: „I usche Lenin skasal…“
In unzähligen Reden und Schriften hatte Stalin Lenins Gedanken erläutert und weiterentwickelt. Noch heute sind mir einige Schlagworte präsent:
„Lernen, lernen und nochmals lernen“, hatte er uns auf den Weg gegeben, denn „Wissen ist Macht und Können ist Großmacht.“
„Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“, auch diese Worte schrieb man Stalin zu. Ich ahnte damals nicht, welche Bedeutung sie besitzen sollten.
1956, als Stalins Verbrechen publik wurden, schredderte man von einem Tag auf den anderen all seine Bücher, erklärte seinen Namen zum Unwort.
War denn alles falsch, was in diesem Buch stand, alles falsch, was wir bisher gelernt hatten?
Dieser plötzliche Umschwung machte mich nachdenklich. Eine wirkliche Diskussion fand nicht statt. Ich erinnerte mich der Tränen, die viele Menschen bei seinem Tod vergossen hatten, mit Stalin auf den Lippen gingen die Soldaten todesmutig in ihren Großen Vaterländischen Krieg und schlugen unseren „Gitler kaputt“. Als ich später Georgien besuchte, staunte ich, wie in seiner Heimat sein Mythos weiterlebt.
Es war alles nur beschriebenes Papier. Wir hatten uns der Realität zu stellen. Zehn Jahre nach dem Krieg sah sie nicht rosig aus. Furchtbare Erinnerungen steckten tief in uns allen, so tief, dass niemand darüber reden mochte. Nur die Zukunft war uns wichtig. Noch heute höre ich, wie die Menschen sich damals schworen: „Nie wieder, nie wieder Krieg, lieber ein Leben lang trocken Brot essen.“ Das vergisst man nicht.
In meiner klein gewordenen Heimat sah es trostlos aus. Nicht nur abgebrannt, auch ohne Kohle, Erz und nennenswerte Industrie. Auf einen Marshallplan konnten wir nicht hoffen. Die Heimat unserer Besatzer war ebenso abgebrannt, abgebrannt von unseren Vätern. Unser Wirtschaftswunder musste anders aussehen als in Westdeutschland. Aus eigener Kraft räumten wir die Trümmer weg und setzten neue Fundamente.
„Wie wir heute arbeiten, werden wir morgen leben.“
Also klotzen wir ran. Wissenschaftler entwickelten neue Technologien, um die Braunkohle besser zu nutzen, in Rostock entstand ein Überseehafen, in Schönefeld der Hauptstadtflughafen. Eisenhüttenstadt wuchs nicht nur als neue Stadt empor, gemeinsam mit den polnischen Nachbarn wurde Schwerindustrie geschaffen. Der Kunststoff-Trabant aus Zwickau war auch eine bemerkenswerte Innovation.
Doch wir mussten erst einmal lernen und nochmals lernen.
Im Grundgesetz des Sozialismus ist das Leistungsprinzip verankert. Das war nach meinem Geschmack. Mit der Jugend eigenem Elan wollte ich diese Aufbruchphase mitgestalten, Verantwortung übernehmen. So war es nur folgerichtig, dass ich einwilligte, als mein Sportlehrer mir antrug, Kandidat der SED zu werden.
1 Unser Schloss Gripsholm
Stürmisch brauste der Frühling durchs Land, mit jedem neuen Tag mehrte er das frische Grün und schmückte den Park mit den leuchtenden Blüten der Tulpenbäume.
Langsam hatte ich mich an meine neue Rolle als „Schlossfräulein“ gewöhnt. In der Klasse war ich respektvoll aufgenommen worden, niemand lästerte über mein Stottern in Russisch. Ein Pate büffelte nachmittags mit mir die anspruchsvollen Texte durch.
Bald kam Karin nett und freundlich auf mich zu:
„Na, hast du dich schon etwas eingelebt?“
„Na ja, geht so.“
„Und“, fügte sie flüsternd hinzu, „hast du schon einen Jungen gesehen, der dir gefällt?“
Sollte ich ihr die Wahrheit sagen?
Tatsächlich war mir einer aufgefallen. Kraftvoll war er über den Hof geschritten, groß, stark, kein kleiner Junge mehr, Augen und Haare schwarz wie die Nacht.
Naiv wie ich war, verriet ich ihr mein Geheimnis und prompt wussten es fast alle:
„Du mit deinen Rehaugen wirst ihn schon betören.“
Das war mir peinlich. Falls Armin auch davon erfahren hatte, sollte er sich nicht zu viel einbilden. Statt sich in seine Nähe zu drängen, wie es andere Mädchen taten, machte ich mich so weit wie möglich unsichtbar.
Eines Tages jedoch prangte an der Tafel der Besten mein Name im Hoch- und Weitsprung. Systematisch zu üben, gar in der Trainingsgruppe, in der auch mein Schwarm trainierte, hatte ich nicht vor. So groß war mein sportlicher Ehrgeiz nicht.
Eines Sonnabends, wir feuern gerade unsere Jungs beim Fußball an, die Auswärtigen sollen nicht gewinnen, schlendert Armin direkt auf mich zu. Plötzlich beginnt mein Herz zu rasen, stürmt mir bis zum Hals, meine Hände, mein ganzer Körper scheinen zu vibrieren. Ich traue mich kaum, ihm in die Augen zu sehen.
Er hält einen Sportausweis in der Hand, m e i n e n gültigen Sportausweis bei Traktor Wiesenburg:
„Du bist so gut im Hochsprung, du kannst an den Meisterschaften teilnehmen. Ich hab´ dir schon mal einen Ausweis besorgt.“
Ich versuche, möglichst gelassen zu bleiben: „Wie geht das?“
„Den Aufnahmeantrag habe ich für dich ausgefüllt und auch gleich für dich unterschrieben. Ohne Sportverein kannst du nicht starten.“
Staunend folge ich seinem Redefluss.
„Bei den Kreismeisterschaften hast du keinerlei Konkurrenz und als Kreismeister kannst du bei den Bezirksmeisterschaften starten. Also los.“
Lange Bedenkzeit brauche ich nicht. In einer Mannschaft mit Armin zu starten, waren tolle Aussichten.
„Na klar, warum nicht?“
Einen Wettbewerb im Hochsprung musste ich nicht fürchten. Nicht so elegant wie heute kämpften wir uns damals über die Latte, sondern einfach mittels Schersprung. Die Profis stellten gerade ihre Technik um, in den Schulen war dies noch nicht angekommen.
Tatsächlich werde ich Kreismeister und erhalte eine Einladung zu den Bezirksjugendmeisterschaften in Falkensee. Dort habe ich echte Konkurrenten aus der Sportschule. Schon die Anfangshöhe im Wettbewerb imponiert mir. Die anderen Sportlerinnen überspringen sie lässig im Trainingsanzug. Sie kennen sich alle von der Schule oder vorherigen Wettkämpfen. Ich bin krasser Außenseiter. Schon meine Teilnahme ist etwas Besonderes. Ohne zu hohe Erwartungen konzentriere ich mich auf die Sprünge, springe, wenn mein Name aufgerufen wird. Immer öfter komme ich an die Reihe, das Feld wird immer kleiner. Schließlich komme ich auf Platz drei und habe für mich und die Schule Punkte gesammelt.
Armin nahm an mehreren Wettkämpfen teil, besonders interessant fand ich den Stabhochsprung. Unser erstes gemeinsames Foto zeigt uns in der Sportdelegation in Falkensee. Fortan werde ich mich nicht mehr verstecken.
Im September war die Rückrunde in Treuenbrietzen angesagt. Für mich bedeutete dies Heimvorteil, in den Ferien hatten auch die Sportschüler nicht trainiert. Ich schlug sie wirklich und erhielt einen Siegerkranz aus Eichenlaub. Für mich und mein Selbstvertrauen eine längst fällige Spritze. Ein Ehrenplatz über meinem Bett war der gebührende Ort für diese Trophäe.
Nach einem Abendessen wartete Armin auf mich. Mit strahlenden Augen überraschte er mich mit einem Gedicht. Ebenso glücklich, aber sprachlos, von meinen Gefühlen überrannt, konnte ich es nur entgegen nehmen. Auf die Verabredung im Park hatte ich schon lange gewartet. Jetzt wuchsen mir weite Flügel, trugen mich fort in die Welt meiner schönsten Träume. Vielleicht würden sie wahr werden.
Wie auf Wolken schwebte ich am nächsten Tag in den Park, ihm entgegen. Ein angenehmes, warmes Kribbeln durchströmte mich und schien zu explodieren, als er vorsichtig meine Hand ergriff. Wir sprachen nicht viel. Oder doch? Es war so unwichtig.
Der Park wurde Zeuge und Begleiter vom Werden und Wachsen unserer schönen Gefühle füreinander. Im ebenerdigen Speiseraum befand sich ein präpariertes Fenster, es ließ sich nicht ganz schließen. Für Eingeweihte war es der Ausgang in den Park, wenn abends das Schlosstor schon verschlossen war. Wir waren eingeweiht.
So wurde das Schloss Wiesenburg unsere Schloss Gripsholm.
Vor den Lehrern mussten wir uns verstecken, sie sahen die Schülerpärchen nicht gern. Mit Ausnahme von Herrn Holtorff, unserem Deutschlehrer. Er lächelte uns freundlich zu, wenn er uns zusammen traf. Er war einer der wenigen älteren Lehrer an unserer Schule, vernarrt in die Literatur, besonders in Goethe und ein Kavalier der alten Schule. Er grüßte uns junge Damen stets zuerst, drohte jedoch, es nicht zu tun, wenn wir auf der Straße Eis essen würden.
„Jemanden mit herausgestreckter Zunge grüße ich nicht.“
Bis heute verkneife ich es mir, Eis auf der Straße zu essen, obwohl ich gerne nasche.
Wenn jemand seine Leidenschaft für die Literatur nicht teilte, konnte er recht böse werden Als ihm Hartmut aus der ersten Reihe keck entgegen grinste, ergriff er ihn am Kragen und zischte ihm ins Gesicht:
„Sie verdammter Lümmel Sie, Sie werden es nie begreifen!“
Die Zeit in Wiesenburg verging schneller als uns lieb war. Langsam mussten wir uns entscheiden, für welches Studium wir uns bewerben wollten. Wer das Abitur bestand, wollte auch studieren. Wir konnten drei Studienwünsche äußern. An erster Stelle stand für mich die Medizin, die Saat meines Blankenfelder Biolehrers war aufgegangen. Außerdem bestanden hier die höchsten Hürden. Würde ich sie nicht nehmen können, wollte ich mich an der Theaterhochschule in Leipzig bewerben.
Meine Großmutter, einst Königliche Schauspielerin in Wiesbaden, hatte mir ein Theater-Gen vererbt und durch ein Schüler-Abo hatte ich Gelegenheit, in die faszinierende Berliner Theaterwelt einzutauchen. Viele eindrucksvolle Abende klingen noch heute in mir nach:
Im Deutschen Theater Eduard von Winterstein als weiser Nathan, unmittelbar nach dem großen Inferno. Nur wenige Jahre zuvor hatte das Stück auf dem Index gestanden. Jetzt ließ es uns innehalten, nachdenken und machte Mut für einen Neuanfang. Erwin Geschonnek erlebte ich als Richter Adam, Wolf Kaiser als Mackie Messer und noch heute höre ich die Stimme von Ernst Busch, schneidend scharf, wie klingendes Metall, wie sie zu uns in die Ränge dringt:
„Ich bin der Geist, der stets verneint…“
Und nicht zuletzt Helene Weigel.
Sie alle hatten für mich Maßstäbe gesetzt.
Mich interessierte vor allen Dingen die Regie, selbst musste ich nicht im Rampenlicht stehen. Ich wusste, dass es in Leipzig einer Aufnahmeprüfung bedarf, also bereitete ich mich vor und lernte fleißig Texte.
Armin bewarb sich aus der naturwissenschaftlichen Parallelklasse für Medizin, er besaß hier bessere Chancen.
Wir hatten beide Glück und erhielten unsere Studienplätze an der Humboldt-Universität. Ein großes Ziel war erreicht, ein Traum Wirklichkeit geworden. Gemeinsam würden wir an der Charité in Berlin studieren. Das sommerliche Ferienlager in Boltenhagen war in diesem Jahr ein Fest.
Abends schlendere ich sonnendurchtränkt
mit Armin den Strand entlang,
barfuß,
im kühlen Sand flüchtig Spuren hinterlassend.
In einem Strandkorb, eng beieinander,
verfolgen wir,
wie die Sonne langsam sinkt, der Abend sich neigt,
sanfte Ruhe die Dünen erreicht.
Welle auf Welle plätschert in den Sand,
der Duft von See und Tang durchdringt die Luft.
Winzige Punkte am Horizont,
Schiffe, so weit, so fern,
wo mögen sie wohl hinfahren.
Die Wellen werden lauter,
die Möwen leiser,
ferne Sterne scheinen uns zu winken.
Die Weite des Universums zieht uns in seinen Bann,
wir ahnen seine Unendlichkeit,
fühlen uns magisch mit ihm verbunden.
Anschließend an das Ferienlager ging Armin malochen. In gleißender Hitze verlegte er auf trockenen Feldern die Rohre zur Bewässerung. Täglich schrieben wir uns Briefe, so blieben wir uns nah.
Das erarbeitete Geld reichte für Verlobungsringe.