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1. KAPITEL

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OPATIJA

»Geh mir aus den Augen!«, eine Stimme im Dunkel des Hauses.

Die geschwungenen Lippen zusammengepresst, die dunklen Augen tief in den Höhlen, stürzte Vito aus dem mit Stuck und Säulen verzierten Herrenhaus in die Sonne, sein Gesicht bleich wie der Tod. Eilig stolperte er die breite Marmortreppe hinunter, die zu dem parkähnlichen Garten führte. Er umklammerte das schmiedeeiserne Geländer so fest, dass die blauen Venen aus der wächsernen Haut hervorschimmerten. Er floh vor der donnernden Stimme im Hintergrund, übersah eine Stufe und rutschte auf dem Rücken den letzten Treppenabsatz hinab. Vito spürte den Schmerz nicht, erhob sich taumelnd, die Hände vor die Ohren gepresst. Unter dem mit einem venezianischen Familienwappen geschmückten Portal stand sein Vater. Er, der größte und reichste Immobilienmakler in der Kvarner Bucht, brüllte und tobte, völlig aus der Fassung gebracht, dass er nicht wie gewohnt seinen Willen durchsetzen konnte. »Verschwinde, du bist nicht mehr mein Sohn, du perverses Miststück.«

Vito lief hinunter auf die 12 km lange Strandpromenade von Opatija in Richtung

Lovran. Vorbei an den prächtigen Herrenhäusern, die die Oberschicht der Donaumonarchie sich ab Mitte des 19. Jahrhunderts hatte erbauen lassen. Die Verlängerung der Eisenbahnstrecke Wien - Triest hatte Opatija endgültig zum luxuriösen Seebad für den österreichischen Adel gemacht. Nicht nur Angehörige der kaiserlichen Familie suchten damals Erholung im heilsamen Klima der Kvarner Bucht. Auch für die Beamten am habsburgischen Hof und für die reicher werdenden Mittelschichten galt es als schick, im Winter einige Wochen an der Adria zu verbringen. Aus Gesundheitsgründen oder weil die adeligen Herren sich - wie der Kaiser selbst - mit ihren Gespielinnen in den im Stil des Fin-de-Siècle erbauten Grandhotels vergnügten.

Auch Vitos Familie besaß solch ein grandioses Anwesen, erbaut auf den Ruinen eines venezianischen Palastes. Der junge Mann steigerte das Tempo und lief mit schnellen, raumgreifenden Schritten über den mit kroatischem Marmor gepflasterten Lungomare. Auf der linken Seite rollten die blau-grauen Adria-Wellen gegen die Felsen, bauten sich auf zu weiße Fontänen, zischten und gurgelten, ehe sie sich wieder zurückzogen in die unglaubliche Bläue des Wassers, über das die Sonne ihr funkelndes Kleid ausgebreitet hatte. Doch für die Schönheit dieses warmen Frühsommertages hatte Vito keinen Blick. Auch nicht für die blühenden Zitronenbäume und die hohen Feigenkakteen mit ihren roten Früchten in den Vorgärten der Villen und Hotels. Hatte sein Vater überhaupt das Recht, ihn aus dem Haus zu jagen? Die prachtvolle Anlage gehörte doch seiner Mutter, der schönen Comtessa Amalija. Sie, nicht sein Vater, stammte aus italienischem Adel. Amalija war die älteste Tochter des Grafen von Montecino-Barbieri, dessen Stammbaum bis ins 15. Jahrhundert zurückging, als die Venezianer noch die unumstrittenen Herren von ganz Istrien waren. Vito strich sich die schweißnassen Locken aus dem Gesicht, sein dichtes schwarzes Haar, die großen, dunkelbraunen Augen, eine aristokratische Nase, die edlen Gesichtszüge, all das war das Erbe seiner italienischen Vorfahren. Was hatte seine zarte, elegante Mutter nur für den grobschlächtigen rotblonden Österreicher empfunden, der sich sein Vater schimpfte. Gut, Alois Unterbichler war reich und hatte einflussreiche politische Freunde. Vielleicht hatte auch seine aggressive, sexuelle Ausstrahlung einige Frauen schwach gemacht. Doch hatte seine Mutter ihn jemals geliebt? Oder war auch sie nur verkuppelt worden, weil ihr Vater über seine Verhältnisse gelebt und einen großen Teil des Familienvermögens in riskante Finanzgeschäfte investiert und verloren hatte? Da kam der Österreicher gerade recht. Nicht unattraktiv, Erbe gewinnträchtiger Immobilien sowohl in Istrien als auch in österreichischen Skigebieten, durchaus erfolgreich als Makler, der den in nur einer Generation erworbenen Reichtum mit einem alten adeligen Namen schmücken wollte. Montecino-Barbieri, das klang doch ganz anders als Unterbichler. Vito verfiel in eine langsamere Gangart. Sein Puls hatte sich beruhigt, er atmete tief aus. Wie er das alles hasste, das Gebrüll seines Vaters, der verlangte, dass er als der älteste Sohn nach dem Abitur Betriebswirtschaft studierte und das Management des großen Familienbetriebes übernahm. Sein zwei Jahre jüngerer Bruder Alberto, Ebenbild seines Vaters, rotblond, klein und gedrungen, aber clever und geschäftstüchtig, war viel besser für den Job geeignet als Vito. Doch der Alte ließ nicht mit sich reden. Seiner Meinung nach stand und fiel eine Dynastie mit dem Erstgeborenen. Und eine Dynastie war es, die er gründen wollte. Eine Dynastie mit einem klingenden Namen.

Vito liebte seine Mutter zärtlich, aber sie war keine große Hilfe. War es nie gewesen. Comtessa Amalija führte schon seit Jahren ihr eigenes Leben. Sie hatte sich hinter ihre verschiedenen Leiden und Unpässlichkeiten verschanzt, machte eine Kur nach der anderen und war für die Söhne nicht fassbar. Auch sie hatte Vitos Wunsch, Tänzer zu werden, nicht verstanden. Ein junger Mann wird kein Tänzer, sondern Makler oder Banker, Anwalt oder Politiker. Früher hatte sie den zarten, hübschen Jungen verhätschelt und gestaunt, wie elegant er sich bewegte, sobald im Haus Musik ertönte oder sie ein paar Tasten am Flügel anschlug. Sie hatte dem Betteln des Neunjährigen nachgegeben und ihm hinter dem Rücken ihres Ehemanns Ballettunterricht geben lassen. Er sei begabt, ihr Vito, hatte der Tanzlehrer gesagt, ein Ausnahmetalent, sehr musikalisch und dazu geboren, Musik in Bewegung umzusetzen. Eine große Karriere stehe ihm bevor. Die ersten Auftritte der Kinderballettgruppe im Freilichttheater von Opatija vor mehreren hundert begeisterten Zuschauern hatten anfangs noch vor dem Vater geheim gehalten werden können. Später verriet Alberto den großen Bruder. In einem Anfall von Wut und Eifersucht erzählte er dem Vater, was hinter dessem Rücken geschah. Der Patriarch war ausgerastet, hatte seine Frau angeschrien, die sich beleidigt auf ihr Zimmer zurückzog. Später schickte er seinen Ältesten auf ein englisches Internat.

»Tanzen ist Weiberkram. Das Internatsleben wird dich abhärten«, hatte er gesagt. »Da werden dir die Flausen vergehen.«

Erst am Vorabend war Vito aus London zurückgekehrt. Mit guten Noten im Abschlussexamen, mit ausgezeichneten Englischkenntnissen, aber unwilliger denn je, ein Betriebswirtschaftsstudium aufzunehmen. Tänzer wolle er werden. Tanzen, das war sein Lebenstraum. Am Frühstückstisch hatte er dem Vater zum ersten Mal die Stirn geboten.

»Geh mir aus den Augen, du Schwuchtel«, hatte der Alte geschrien und drohend die Fäuste gehoben, bereit auf den Sohn einzuprügeln. »Du bist nicht mehr mein Sohn!«

Vito war aufgesprungen und aus der Tür gerannt. Noch immer fühlte er das Grinsen seines Bruders wie Nadelstiche in seinem Rücken. Alberto hatte gewonnen, Vito hatte sein Erstgeburtsrecht verwirkt. Zumindest habe ich es nicht für ein Linsengericht verkauft wie Esau, dachte er und musste wider Willen lachen, als er an die empörte Stimme seines Religionslehrers dachte, der ihnen in der Grundschule die dramatische Geschichte des Bruderzwistes zwischen Esau und Jakob erzählt hatte. Wie aktuell das Alte Testament auch heute noch war!


Kroatische Rhapsodie

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