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2 Das Glitzerparadies

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Jahre später, als sie eine alte Frau war und sich längst keine Gedanken mehr um ihre eigenen Kinder machen musste oder konnte, schrieb Allene einmal über den Besitzanspruch der Eltern und wie wichtig es ist, sich nicht darum zu kümmern:

Everyone has the right to live her own life, NO parent can destroy the youth and joy of their child. They use all kinds of excuses to try and cover their selfishness but if the daughter or son do take the bit in their teeth and LIVE, the mother always gets on allright.

Jede hat das Recht, ihr eigenes Leben zu führen … Es klang, als hätte sie Erfahrung damit und so war es auch, denn wenn jemals ein Mädchen in Jamestown seinen Eltern Grund zur Sorge gegeben hat, dann war sie es.

Vielleicht wäre es Charles und Jennette Tew noch gelungen, ihre schöne, ungestüme Tochter zu bändigen, wenn ihr Wohnort ganz einfach die brave, aber nicht gerade die Phantasie anregende Pioniergemeinschaft geblieben wäre, die er in ihrer Jugend gewesen war. Dass dies nicht geschah, war ironischerweise die Schuld der Methodisten und anderer religiöser Gruppen, die Chautauqua Mitte der 70er-Jahre als ihr erträumtes Paradies auf Erden entdeckt hatten.

Auf der Nordseite des noch immer lieblichen und unberührten Chautauqua Sees bauten die Methodisten die Chautauqua Institution, eine Art ständige Ferienkolonie zur Förderung allerlei bedeutender Dinge wie Kunst, Wissenschaft, Religion, Patriotismus und Bildung. Das Institut zog schon schnell namhafte Besucher an, wie den Erfinder Thomas Edison, den Schriftsteller Rudyard Kipling und, im Jahr 1880, sogar den amerikanischen Präsidenten James Garfield. Bei seinem Abschied widmete Letzterer ihm eine poetische Ansprache: “It has been the struggle of the world to get more leisure, but it was left for Chautauqua to show how to use it.”

Das ließen sich die Bürger großer Städte wie Cleveland, Chicago und Pittsburgh nicht zweimal sagen. Sie würden der Welt zeigen, was man mit seiner Freizeit machen konnte. Von Anfang der 80er-Jahre an wurden die Ufer des Sees mit hölzernen, im neugotischen Stil gebauten Hotels und Sommerhäusern zugepflastert, eines teurer und luxuriöser als das andere für the Wealth and Fashion from leading American cities. Und mit den flirtenden Männern mit ihren kecken Strohhüten und den Frauen in ihren eleganten Sommertoiletten ließ sich auch Glamour mit der kleinen Schwester Frivolität in Chautauqua nieder.

Die Städter kamen per Bahn, mit einem Schwarm von Bediensteten und ganzen Stapeln Kabinenkoffern im Gefolge. Am Kai von Jamestown stiegen sie auf die weißen, mit elegantem Filigran verzierten Dampfschiffe der Great White Fleet um, die von sechs Uhr morgens bis Mitternacht pausenlos über den See fuhren. Abends wurden die romantisch mit Öllampen erleuchteten Dampfschiffe für Kreuzfahrten bei Mondlicht und die Beförderung zu zahllosen Tanzfesten, Konzerten, Theatervorstellungen, Vaudevilles, straw rides, Diners und all den anderen Vergnügungsformen eingesetzt, die für die Sommergäste organisiert wurden.

Und so wuchs Allene in einer Welt mit zwei Gesichtern auf. Anfang Mai, wenn die Natur durch die Schneereste hindurchbrach, öffneten sich die Fensterläden der Märchenpaläste am See und alles wurde für die kurze, warme und festliche Sommersaison vorbereitet. Ende August, wenn die Bäume sich zu verfärben begannen, endete das Fest genauso abrupt, wie es angefangen hatte. Die Fensterläden wurden geschlossen; der See wurde wieder das stille Reich der Schwärme von Zugvögeln und ein paar einsamer Fischer. Und Jamestown wurde sein alltägliches, winterliches Selbst: eine im Prinzip nüchterne, gottesfürchtige Stadt, genügsam in allem, außer in ehrgeiziger Strebsamkeit.


Die Jamestowner Bevölkerung betrachtete diese Sommerinvasion mit gemischten Gefühlen. Zugegeben: Feriengäste brachten Geld und Wohlstand und sie besaßen genug Geschäftssinn, davon bis zum letzten Cent zu profitieren. Aber Sommergäste führten auch alle Übel des modernen Stadtlebens in Chautauqua ein und das sahen die Jamestowner als rechtschaffene Viktorianer voll Sorge: Gottlosigkeit, Spiel, Alkohol, Promiskuität und – Gott behüte – gefallene Frauen und ungewünschte Schwangerschaften.

Vor allem die vielen reichen Junggesellen, die den See in diesen Jahren als ihre bevorzugte Spielwiese betrachteten, wurden mit Argusaugen beobachtet. Sie spielten und sie tranken, sie schwammen in Dollars und hatten offenbar kaum etwas anderes zu tun, als den hiesigen Mädchen den Kopf zu verdrehen.

Mädchen wie Allene Tew zum Beispiel. Vielleicht besonders deshalb, weil unklar war, zu welcher Klasse sie gehörte – immer zwischen dem Fuhrwerksgeschäft der mütterlichen Familie auf der einen und dem Bankhaus der Tews auf der anderen Seite pendelnd. Vielleicht auch, weil sie als einziges Kind von ziemlich passiven Eltern das strengere Joch einer großen Familie entbehrte. Fest stand jedenfalls, dass sie anders, freier war als ihre Cousinen und Altersgenossinnen und erheblich weniger bereit, sich wie eine Dame zu benehmen.

Ihr Großvater Andrew Smith, der Kutscher, hatte Allene eine große Liebe zu Pferden beigebracht und sie konnte reiten wie ein Junge – und oft noch besser. Außerdem war sie gescheit – sie hatte, würde ein Freund später bezeugen, “a quick wit and daring that became her”. Dieser flinke Geist und die Courage waren nicht ihre einzigen Vorzüge, denn mit ihrem dicken, dunkelblonden Haar, den hellblauen Augen und der eleganten, zarten Figur war sie unverkennbar eine junge Dame, nach der sich jeder Mann umdrehte. “A blue-eyed blonde with defiantly arched eyebrows”, wie sie einmal beschrieben wurde.

Allenes Blick war tatsächlich jede Demut und Bescheidenheit abhold, wie sie in diesen Jahren als typisch weibliche Tugenden gepredigt wurden. Vielleicht, so sagten diese Augen, waren ihre Eltern nicht von diesem maßlosen Tatendrang der Tews angesteckt, doch sie selbst war es sehr wohl. Sie lechzte nach Vergnügen und vor allem nach einer Welt, die größer war als das im Grunde noch so kleinstädtische Jamestown.

Kurz, Allene besaß alles, um in Schwierigkeiten zu geraten und das tat sie denn auch.


Theodore „Tod“ Hostetter war der fleischgewordene Albtraum jedes Vaters in Jamestown. “Charming, […] rakish, […] a gay Lothario, as reckless as he was handsome”, charakterisierte ein befreundeter Journalist ihn einst. Charmant, frech, ein fröhlicher Verführer und ebenso verwegen wie gut aussehend. Und diesen Übermut konnte er sich nur allzu gut erlauben, denn obwohl der Erbe aus Pittsburgh zur Zeit seiner ersten Begegnung mit Allene gerade erst 20 Jahre alt war, hatte er bereits eine so unwahrscheinliche Menge Geld zur Verfügung, dass er für den Rest seines Lebens keine anderen Sorgen haben würde, als es so kreativ wie möglich auszugeben.

Diesen Überfluss an Dollars verdankte Tod seinem Vater David Hostetter, dessen Lebensgeschichte genau diese magische Mischung von Elementen enthielt, die Emigranten der ganzen Welt dazu brachte, das Schiff nach Amerika zu besteigen. Aufgewachsen als Sohn eines Dorfarztes in einer dünn besiedelten und armen Bauernregion in Pennsylvania, hatte David als junger Mann sein Glück während des Gold Rush in California gesucht. Als dort das Gold weniger einfach aufzulesen war als gedacht, hatte er mit einem Kolonialwarenladen angefangen, der jedoch nach kurzer Zeit abbrannte. Da war er kleinlaut nach Hause zurückgekehrt, mit keiner anderen Zukunft als dem harten, physisch beschwerlichen Leben eines Eisenbahners.

Der Traum, reich zu werden, hatte Tods Vater jedoch nie losgelassen, und mit 34 Jahren war er auf die Idee gekommen, einen von seinem Vater selbst gebrauten Kräutertrank wirtschaftlich zu nutzen. Dr. J. Hostetter’s Celebrated Stomach Bitters war gleich nach seiner Einführung 1854 bereits ein durchschlagender Erfolg. Es wurde als Mittel gegen die unterschiedlichsten Leiden wie Magenschmerzen, Darmbeschwerden, Nervosität und Trübsinn verkauft und während des Bürgerkrieges hatte sich die Armee damit sogar in großen Mengen als Mittel gegen Durchfall eingedeckt.

Viele Jahre später, als das bis dahin strikt geheim gehaltene Rezept endlich analysiert wurde, sollte sich herausstellen, weshalb es jedem Patienten so guttat. Außer ein paar Kräutern und Wasser enthielt die Mischung immerhin 32 Prozent reinen Alkohol. In einer Zeit, in der Antialkoholaktivisten wie Allenes Großvater William es schafften, Hochprozentiges immer weiter aus dem öffentlichen Leben zu verbannen, wurde dieser Kräutertrank zu einer mehr als verlockenden Alternative.

Für David Hostetter war dieser Handel im wahrsten Sinne des Wortes Gold wert. Die Grundstoffe kosteten so gut wie nichts und da er das Gebräu als Medizin hatte patentieren lassen, brauchte er für die Einnahmen nicht einmal Steuern zu bezahlen. Anfang der 60er-Jahre verkaufte er über 450.000 Flaschen Kräutertrank pro Jahr. Misstrauische Inspekteure und Abstinenzler hielt er sich vom Leib, indem er sich öffentlich als frommer Befürworter des Alkoholverbots gab; seine Konkurrenten hielt er auf ebenso passende Weise mit einem Almanach auf Abstand, den sich jeder im Dezember in fast allen amerikanischen Kolonialwarenläden gratis mitnehmen konnte.

Außer mit Wetteraussichten, Landbautipps, astrologischer Information und Cartoons war dieser Hostetter’s United States Almanac for the Use of Merchants, Mechanics, Farmers, Planters, and all Families voller Anekdoten über die wundersamen heilkräftigen Qualitäten von Hostetter’s Bitters. In vielen amerikanischen Haushalten war es in diesen Jahren das einzige Buch außer der Bibel. “They can talk about Shakespeare, but in my opinion old Hostetter […] had more influence on the national life than any of ’em”, wie ein einflussreicher Kolumnist einst schrieb.

Zu Beginn der 70er-Jahre verkaufte David mehr als eine Million Flaschen. Die gigantischen Gewinne investierte er in verschiedene aufkommende Industrien um Pittsburgh wie die Eisenbahn, den Bergbau, das Bankwesen und die Ölgewinnung – wobei ihm seine misslungenen Abenteuer im Wilden Westen noch zustattenkamen. Der ehemalige Eisenbahner verkehrte nun auf Augenhöhe mit berühmten Gilded-Age-Millionären wie Cornelius Vanderbilt, John D. Rockefeller und Andrew Carnegie. Er hatte unter anderem einen Sitz in der Direktion angesehener Betriebe wie der Pittsburgh and Lake Erie Railroad, der Fort Pitt National Bank, der Pittsburgh Natural Gas Company und der South Pennsylvania Railroad.

Alle Kräutertränke, alles Ansehen und alle Dollars der Welt konnten David Hostetter jedoch nicht vor seiner eigenen Sterblichkeit schützen und im Jahr 1888 starb er mit 69 Jahren im New Yorker Park Avenue Hotel an den Komplikationen einer Nierenoperation. Er hinterließ seiner Witwe und seinen drei Kindern ein Vermögen von 18 Millionen Dollar. Außerdem erhielten alle vier aus dem Betrieb eine jährliche Dividende von 810.000 Dollar – und das in einer Zeit, in welcher der durchschnittliche Stundenlohn eines amerikanischen Arbeitnehmers genau 22 Dollarcent betrug.


Auch in Jamestown war der Hostetter’s Almanac seit Menschengedenken in beinahe jedem Haushalt zu finden. Und auch hier erschienen im Jamestown Journal laufend Artikel mit ansprechenden Überschriften, die bei näherem Hinsehen versteckte Anzeigen für den gleichnamigen Kräutertrank waren. Es konnte Allene also schwerlich entgangen sein, dass der hübsche, dunkelhaarige junge Mann, der ihr mit so viel quecksilbrigem Charme den Hof machte, der Erbe eines der größten Vermögen von Pittsburgh war.

Die Chance, dass dieser Tod Hostetter sich als seriöser Heiratskandidat entpuppen würde, schien minimal zu sein. Denn Amerika mochte wohl das Land der ungeahnten Möglichkeiten sein, doch das bedeutete noch nicht, dass es kein Standesbewusstsein gab. Im Gegenteil: Gerade jetzt, da das Land zunehmend von Millionären überschwemmt wurde, zog die bestehende Elite sich umso krampfhafter in ein soziales Fort zurück, in dem Herkunft und Name eine allesbeherrschende Bedeutung hatten. So verweigerte Caroline Astor, die ungekrönte Königin der New Yorker Society, sogar den Vanderbilts, in dem Moment die reichste Familie der Vereinigten Staaten, den Empfang in ihrem Salon – und zwar nur, weil Stammvater Cornelius seine Karriere als Ruderer begonnen hatte und seine Nachkommen sich in ihren Augen zu unorthodox benahmen, um als ladies and gentlemen klassifiziert zu werden.

Selbst stammte „Mrs. Astor“, wie ganz Amerika sie nannte, von den Knickerbockers ab, den britischen und holländischen Pionieren, die seit der Kolonialzeit den Ton angegeben hatten. Sie betrachtete es als ihre persönliche Mission, zu beweisen, dass sie und ihre Landsleute mehr als die Tabak kauenden, ungebildeten und ungehobelten Grobiane waren, als die die Welt sie sah. Nachdem der letzte französische Premier Georges Clemenceau 1889 behauptet hatte, Amerika sei von der Barbarei zur Dekadenz übergegangen „ohne Umweg über die Kultur“, stellte sie selbst eine Liste von 400 Menschen auf, die aus ihrer Perspektive als eine Art Adel galten. Nicht nur konnten die Auserwählten sich eines tadellosen Lebenswandels rühmen, sondern auch eines Vermögens, das zumindest drei Generationen zurückverfolgt werden konnte.

Und wie es nun mal so geht, wenn alles käuflich ist außer dem sozialen Status, wurde es unter den Ehegattinnen der nouveaux riches Kult, sich in den Augen von Mrs. Astor zu beweisen. Handbücher wie The Laws of Etiquette, or Short Rules and Reflections for Conduct in Society wurden aufs Gründlichste studiert, und jede amerikanische Stadt, die etwas auf sich hielt, besaß ihr eigenes Blue Book – eine Adressliste von Familien, die gesellschaftlich reçu waren. Auch Tods Mutter hatte sich an diesem Wettlauf nach Respektabilität eifrig beteiligt. Obwohl das Geld ihres Mannes entschieden neu war und gerade etwas zu viel nach Alkohol roch, um „fein“ zu sein, war es ihr dennoch gelungen, ihre beiden älteren Kinder mit Sprösslingen aus alten, prominenten Pittsburgher Familien zu verheiraten.

Das Letzte, was Rosetta Hostetter also gebrauchen konnte, war die Liaison ihres jüngsten Sohnes mit einem Mädchen ohne sozialen Status, Vermögen oder nützliche Beziehungen und dazu aus einer Region, die im Vergleich zum großstädtischen Pittsburgh so etwa als Dschungel galt. Die aufblühende Romanze am Chautauqua See wurde deshalb anfangs strikt geheim gehalten. Und blieb es – auch nachdem im Spätsommer die letzten Sommergäste fortgezogen waren und man von Tod erwartete, dass er sein Medizinstudium wieder aufnahm. Und sogar, nachdem Allene mitten im kalten Winter 1890/1891 in ihrem Schlafzimmer in der Pine Street entdeckte, dass die heimlichen Zusammenkünfte mit ihrem Pittsburgher Verehrer nicht ohne Folgen geblieben waren und sie schwanger war.


Es war Ende des 19. Jahrhunderts und die viktorianischen Anstandsregeln wurden noch bis aufs i-Tüpfelchen befolgt. Männer und Frauen lebten in ihren fast völlig getrennten Welten und das Bürgertum war so prüde, dass Klavier- und Tischbeine abgedeckt wurden, um jeden Anschein eines Gedankens an Sexualität abzuwehren. Und wenn es eine Sünde gab, die ein respektables Mädchen in den Zeiten begehen konnte, so war das, unverheiratet schwanger zu werden.

Manch junge Frau in Allenes Lage beendete ihr Leben, um sich und der Familie diese unauslöschliche Schande zu ersparen. Junge Männer wie Tod zogen ihrerseits in den meisten Fällen ihre Hand von einer Freundin ab, die so dumm oder so liederlich gewesen war, dies geschehen zu lassen. Sie ließen ihre ehemalige Geliebte durch ihren Vater, einen älteren Bruder oder den Familienanwalt abkaufen, um es sich dann in der Geborgenheit ihres Familienvermögens, ihrer respektablen Zukunft und mit der dazugehörigen untadeligen Ehefrau bequem einzurichten.

Doch Allene war nicht nur dumm gewesen. Ihr Tod mochte zwar ein fröhlicher Schwerenöter sein, aber er war auch gutherzig – und er war wirklich verrückt nach ihr. Dabei war er es als verhätschelter und verwöhnter Nachkömmling nicht anders gewohnt, als dass seine Angehörigen, wie verzweifelt sie auch manchmal über seine Eskapaden sein mochten, ihm letztlich alles durchgehen ließen. Und daher nahmen er und Allene ihre Zuflucht zu der einzigen Möglichkeit, die Geliebte hatten, wenn sie gegen den Willen ihrer Eltern zusammenbleiben wollten: Sie liefen weg, den ganzen Weg bis nach New York, wo sie am 14. Mai 1891 in der Church of the Heavenly Rest, an der Ecke Fifth Avenue und 45th Street, heimlich heirateten.

In einem letzten Versuch, die Ehre ihrer so urplötzlich aus ihrer Stadt verschwundenen Tochter zu retten, gaben Charles und Jennette Tew die Nachricht noch am selben Abend im Jamestown Evening Journal allgemein bekannt. Die Geburt des Kindes, das der Anlass gewesen war, würden sie auf den Tag genau zehn Monate später an derselben Stelle bekanntgeben – und dabei großzügig die Tatsache übersehen, dass das Neugeborene dann schon gut fünf Monate alt war.

Allenes Geschichte in Jamestown war damit Vergangenheit, aber ihre Geschichte in Pittsburgh fing gerade erst an. Denn bei Tod zu Hause, von einem auf den anderen Tag mit der sehr unwillkommenen, unerwünschten und gar nicht passenden Ehe konfrontiert, dachte man gar nicht daran, diesen Schandfleck auf dem Familienwappen im Pittsburgh Chronicle oder einer der anderen Zeitungen zu annoncieren, die normalerweise jeden Seufzer und jeden Schritt einer Blue Book-Familie kommentierten.

Als das Paar am Tag nach der Heirat per Bahn nach Pittsburgh reiste, konnte Allene die schwarze Wolke über ihrem neuen Wohnort sehen. Eine echte Wolke aus den Tausenden unablässig Rauch und Ruß speienden Schornsteinen der berüchtigten Smoky Town. Und eine unsichtbare Wolke der Missbilligung in ihrer neuen Familie, die das Kind in ihrem Bauch als Schande und sie selbst als eine raffinierte kleine Goldgräberin sah, die ihren naiven jüngsten Sohn in ihre Netze verstrickt hatte.


So grün und frisch die Welt gewesen war, in der Allene aufgewachsen war, so grau und dumpf war die, in der sie als junge Mrs. Hostetter landete. Während der industriellen Revolution war Pittsburgh dank seiner strategischen Lage am Allegheny, dem Monongahela und dem Ohio sowie der großen Steinkohlevorräte im Boden zu einer der reichsten Städte Nordamerikas angewachsen. Die Stadt zählte in den Jahren sogar mehr Millionäre als New York. Aber sie war auch einer der schmutzigsten Orte des Kontinents.

Das sogenannte Golden Triangle, das flache Gelände zwischen den drei Flüssen, auf dem Pittsburgh seine Existenz als Stadt einst begonnen hatte, war de facto ein gigantisches, stark verschmutztes Industriegebiet. Zwischen den Tag und Nacht brennenden Hochöfen, den Glas- und Lederfabriken und den Lagerplätzen für Petroleum, Gas und Öl lagen die Elendsviertel und Mietskasernen. Hier hausten all diejenigen, die auf der falschen Seite des amerikanischen Traums in Umständen gelandet waren, die einer der Einwohner als „die Hölle mit dem abgenommenem Deckel“ bezeichnen sollte.

Selbstverständlich ließen sich die Robber Barons, wie die Industriellen und Fabrikbesitzer wegen ihrer rücksichtslosen Praktiken genannt wurden, ihre Nasen von dem ausgebeuteten und rechtlosen Arbeiterproletariat nicht beleidigen und ihre Aussicht nicht verderben. Sie bauten ihre mansions in den noch immer schönen Städtchen und Dörfern in den um die Stadt herum gelegenen Hügeln wie Allegheny City auf der Nordseite des gleichnamigen Flusses. Vor allem seit dem Bürgerkrieg hatte dieser ehemalige Bauernflecken sich zu einem wahren Millionärsmekka entwickelt, komplett mit schönen Stadtparks, Musikpavillons und einem eigenen Tiergarten.

Hier an der damals gerade fertiggestellten und für reiche Einwohner angelegten Western Avenue hatte auch Tods Vater 1868 ein Landhaus gebaut. Obwohl das Haus selbst mit seinen vielen Holzvertäfelungen und bleiverglasten Fenstern inzwischen etwas altmodisch anmutete, galt es immer noch als eines der attraktivsten des Viertels, wenn auch vielleicht nur deshalb, weil es im Gegensatz zu den Nachbarhäusern auf einer doppelten Parzelle stand. Tod war dort geboren und aufgewachsen, und vielleicht hatte sein Vater es ihm deshalb als persönlichen Besitz vermacht.

Bis zu dem Moment, als seine junge Braut ihren Einzug in Allegheny hielt, hatte Tod sein Elternhaus mit seiner Mutter und seinem elf Jahre älteren Bruder David „Herbert“ Junior geteilt. Seine einzige Schwester wohnte mit Mann und Kindern auf der gegenüberliegenden Seite der Western Avenue, wo ihr Vater mit vorausschauendem Blick ein paar zusätzliche Parzellen gekauft hatte. Letzteres kam nun sehr gelegen, denn die Mutter spürte keine Neigung, das Haus, in dem sie 30 Jahre lang das Zepter geschwungen hatte, mit der ihr so sehr gegen ihren Willen aufgezwungenen Schwiegertochter zu teilen. Sie packte ihre Siebensachen und zog in ein Haus neben dem ihrer Tochter.

Auch der seriöse und verantwortungsvolle Herbert, der seit dem Tod des Vaters die Geschäftsführung des Familienbetriebs wahrnahm, wartete Allenes Ankunft nicht ab. Er zog mit seiner Frau zu seinen Schwiegereltern in die Millionaires’ Row, ein noch reicheres Viertel östlich von Pittsburgh. Später sollte er die Heirat seines kleinen Bruders als abschreckendes Beispiel für die Erziehung seiner eigenen Kinder gebrauchen:

Ein großer Teil der Probleme in der Welt ist die Folge von zu frühen oder eigensinnig durchgesetzten Romanzen. Daher muss ein Junge immer mit anderen Jungen zusammen sein und von Mädchen ferngehalten werden und vice versa, sodass love’s disturbing element nicht in ihr Leben dringen kann.


Und so begann love’s disturbing element in Gestalt der sichtbar schwangeren Allene ihr neues Leben in Pittsburgh. Sie und Tod teilten das große Haus in der Western Avenue 171 mit dem achtköpfigen Personal, dessen größerer Teil schon jahrelang bei Rosetta in Dienst stand. Amerikanische Bedienstete sind bekanntermaßen deutlich unverschämter als ihre Kollegen in Europa und die Tatsache, dass Allenes neue Bedienstete zweifellos über alle Details der Heirat ihres jungen masters informiert waren, ferner die Tatsache, dass ihre blutjunge neue Herrin bestimmt nicht aus den besten Kreisen stammte, wird Allenes Aufgabe an der Spitze des Haushalts nicht gerade erleichtert haben.

Allenes Empfang in ihrer Schwiegerfamilie mochte eisig sein und die Atmosphäre in dem dunklen Steinklotz an der Western Avenue nicht viel herzlicher, aber warm wurde es in den nun folgenden Monaten trotzdem. Die Sommer im Süden Pennsylvanias waren berüchtigt wegen der drückenden, oft wochenlang anhaltenden Hitze, und je höher die Temperaturen kletterten, desto häufiger wehten Gestank und Rauch von dem hellhole, das Downtown Pittsburgh hieß, in die Richtung des grünen Städtchens in den Hügeln. Häuser und Gärten wurden mit einer dünnen Rußschicht bedeckt, die, egal wie eifrig die Bediensteten auch schrubbten und wuschen, offenbar nie völlig weggeputzt werden konnte.

Daher machten reiche Alleghenyer sich mit schöner Regelmäßigkeit Ende Juni zu ihrem jährlichen Exodus zu kühleren und frischeren Orten auf. Die Hostetters zogen gewohnheitsmäßig in ihr Ferienhaus in Narragansett Pier, einem kleinen Badeort in der Rhode Island Bucht. Shore Acres, das noch von Tods Vater gebaut worden war, lag am Ocean Drive und hatte eine weite Aussicht über den Atlantischen Ozean und kühle Meeresluft im Überfluss. Das Haus hatte 16 Zimmer. Raum für Tod und seine jetzt hochschwangere Frau war jedoch nicht vorhanden, denn Narragansett Pier lag direkt bei Newport, der festen Sommerkolonie der New York Society, wo Mrs. Astor in ihrem Sommerhaus Beechwood ihren weithin berühmten Summer Ball abzuhalten pflegte. Eine Einladung dazu war das Höchste der Gefühle, weil damit automatisch der Zutritt zu den allerhöchsten Gesellschaftsschichten des Landes gegeben war.

Der gute Ruf musste in Newport und Umgebung gerade besonders hochgehalten werden. Und Tod musste doch wohl begreifen, dass seine Familie es sich nach diesem für sie doch so peinlichen Frühjahr nicht erlauben konnte, auch nur den Anschein zu erwecken, seine Frau wirklich als eine der Ihren zu akzeptieren.


Zwar war Allene noch jung und anfangs beeindruckt von dem, was ein befreundeter Journalist später beschrieb als „das Glitzerparadies der Hostetters, wo man die Juwelen nur aufzulesen brauchte und das Geld so schnell dahinströmte wie der Niagarafall“. Aber sie war auch damals bereits nicht die Frau, die sich einen ganzen Sommer lang hinter geschlossenen Fensterläden in einem glühend heißen Pennsylvania verstecken ließ. Also meldete die New York Times am 5. Juli 1891, eine Woche vor dem offiziellen Beginn der zehn Wochen dauernden Sommersaison, dass eine „Mrs. Hostetter of Allegheny City“ ein Cottage auf einer schräg gegenüber Narragansett Pier gelegenen Insel gemietet hatte, das, Zufall oder nicht, Jamestown hieß.

Das Sommerleben auf „Jimtown“, wie feste Besucher ihre winddurchwehte und felsige Insel liebevoll nannten, war von völlig anderer Art als das in den steifen und ostentativ luxuriösen Sommerkolonien wie Newport und Narragansett Pier. Die im lokalen Shining Style gebauten Cottages waren ziemlich einfach und nur mit leichten Korbmöbeln eingerichtet. Auch die Amüsements waren wenig prätentiös und bestanden vor allem aus einfachen Vergnügungen wie spazierengehen, Füße baden, picknicken und Muscheln suchen. Eine Besucherin beschrieb es so:

Alle Gäste hatten freien Zutritt zum Haus, den Felsen und dem Hafen, und man erwartete von ihnen, dass sie genau das taten, wozu sie Lust hatten. Einige blieben drinnen und spielten Klavier, andere spielten draußen Gitarre oder Banjo, einige saßen auf Schaukelstühlen, andere einfach im Gras. Es wurde Tennis gespielt, gerudert, und die Kinder gingen am Pier schwimmen, tauchten oder sprangen über die Reling. Und was wir auch taten, wir waren völlig ohne Sorgen.

Während Allene diese entspannte Atmosphäre genoss, verbrachte Tod seine Zeit vor allem beim Grand Yachting, dem „Großen Segeln“, dem Lieblingssport der Gilded-Age-Millionäre. Die große, tiefe und geschützte Bucht von Rhode Island war wie keine andere für die sündhaft teuren und mit allem Komfort versehenen Segel- und Dampfjachten geeignet, und seitdem der Wohlstand in Amerika so spektakulär zugenommen hatte, war die Bucht weiß vor Segeln.

Tods Boot, die Judy, war gut 30 Meter lang, hatte eine feste Bemannung von sechs Personen und war von dem bekannten Jachtbauer Nathanael Herreshoff entworfen. Aber wie elegant das gut 25.000 Dollar teure Schiff auch sein mochte, es kam überhaupt nicht infrage, dass es in Newport anlegen konnte, wo der nautische Prestigeclub, der New York Yacht Club, seinen eigenen Anleger und ein eigenes Clubhaus besaß. Der NYYC war bekannt dafür, sein Ufer genauso streng gegen sozial unerwünschte Elemente zu bewachen, wie Mrs. Astor es mit ihrem Ballsaal tat, und so war gar nicht daran zu denken, dass dieser junge und nicht allzu respektable Pittsburgher Millionär durch die Ballotage kommen konnte.

Daher folgte Tod dem Vorbild von William Vanderbilt, der, nachdem ihn konservative Herrensozietäten mehrmals abgelehnt hatten, einige Jahre zuvor seinen eigenen Metropolitan Club ins Leben gerufen hatte. Am 14. Juli 1891 gründete Tod gemeinsam mit einer Anzahl anderer Jachtbesitzer den Jamestown Yacht Club. Er wurde zum ersten Commodore ernannt – was in der Praxis darauf hinauslief, dass er am Ende des Tages meistens die Rechnung für die anderen übernahm. Und da Tod außer aufs Segeln auch auf Karten- und andere Glücksspiele versessen war, bekam der Segelclub einige Wochen später eine kleine Schwester dazu in Gestalt des Jamestown Card Clubs – zum Zwecke, so die Gründungsurkunde, der Förderung des “Social Enjoyment amongst the Members”. Beziehungsweise, ganz im Sinne des jungen Millionärsehepaares, einzig und allein zum Vergnügen ihrer Mitglieder.


Offensichtlich hatte Allene eines behalten aus ihrer Pionierherkunft, und das war die Überzeugung: Wenn es keinen Weg gibt, muss es doch zumindest einen Umweg geben. Und sonst musste ein Weg gebahnt werden. “If one has the will and persistence, one CAN do things”, schrieb sie später – wenn du den Willen und das Durchsetzungsvermögen hast, dann KANNST du etwas tun.

Diese Mentalität hatte sie gezeigt, als sie in ihrer Schwiegerfamilie nicht willkommen gewesen war und daraufhin im Sommer selbst Ferien organisiert hatte. Die zeigte sie jetzt wieder, als ihre Tochter Greta, die am 27. September 1891 geboren wurde, genauso hartnäckig ignoriert wurde wie sie selbst. In seiner offiziellen Eigenschaft als Vizepräsident des Hostetter-Konzerns wurde Tod in jenem Herbst als Mitglied des tonangebenden Herrenclubs von Pittsburgh akzeptiert. Aber seine Frau und seine Tochter fanden nicht einmal eine Erwähnung in der Adressliste des Pittsburgh and Allegheny Blue Book, in dem seine Mutter seit Jahren als Verkörperung aller viktorianischen weiblichen Tugenden prangte. („In ihrem Geschmack ist Mrs. Hostetter ausgesprochen häuslich, sie ist bekannt für ihren tadellosen Haushalt, sie ist die beste Ehefrau, die ein Mann haben kann, und als Mutter ist sie einfach hinreißend.“) Das bedeutete eine völlige soziale Isolierung für Allene. Sie wurde nirgends eingeladen, sie konnte ihre Visitenkarte nirgends hinterlassen und es kam auch niemand zu ihr zu Besuch. Es war, als existierten Greta und sie einfach nicht.

Wieder war ein Umweg nötig, und wieder fand Allene ihn. Und zwar in den Daughters of the American Revolution, einem der exklusiven Frauenclubs, die in jenen Jahren wie Pilze aus dem Boden schossen und die in den meisten Fällen als Vehikel in eine höhere soziale Schicht dienten. Die DAR war 1890 mit der offiziellen Zielsetzung gegründet worden, die Erinnerung an die Vorfahren in Ehren zu halten und den Schulunterricht in abgelegenen Gebieten zu fördern. Die Mitgliedschaft war den Nachkommen derer vorbehalten, die im Unabhängigkeitskrieg gekämpft hatten.

Im Dezember 1892 meldete Allene sich bei der Pittsburgher Abteilung der DAR an. Mit großer Genauigkeit füllte sie das Anmeldeformular aus. Ihre Blutlinie ließ sich zurückverfolgen bis zu einem britischen Immigranten, der sich 1640, als Amerika noch eine britische Kolonie war, von Northamptonshire aus auf Rhode Island niedergelassen und mit einer Landwirtschaft begonnen hatte. Seiner während der Überfahrt geborenen Tochter hatte er den poetischen Namen Seaborn gegeben. Einige Generationen später soll ein Urenkel zu denen gehört haben, die ihre Waffen gegen das Mutterland erhoben, und er hatte das mit seinem Leben bezahlt: 1782 starb dieser Captain Henry Tew angeblich auf dem berüchtigten britischen Gefängnisschiff, der HM Jersey.

Eine spätere Prüfung ergab, dass der besagte Kapitän nie existiert hatte, und Allene sollte im Nachhinein aus dem Mitgliederverzeichnis gestrichen werden, aber damals führte die Prüfung der jungen Pittsburgher DAR-Abteilung nicht so weit zurück. Man brauchte energische und reiche Mitglieder und man bewilligte den Antrag. Damit hatte Allene den ersten Schritt auf dem Weg zur Respektabilität gemacht, die sie so unerbittlich verloren hatte, indem sie unverheiratet schwanger geworden und mit ihrem Liebhaber davongelaufen war.

Inzwischen dämmerte es Tods Mutter langsam, dass ihre neue Schwiegertochter mehr war als ein hübsches Gesicht und ein Zuviel an Ehrgeiz. Allene war tüchtig und fröhlich und genau der Anker, den ihr charmanter, aber noch immer unruhiger und im Prinzip völlig verantwortungsloser jüngster Sohn brauchte. Tod war und blieb nämlich heftig verliebt in seine Frau und sein Töchterchen und betätigte sich, jedenfalls in den Augen der Außenwelt, jetzt als mehr oder weniger ordentliches Mitglied in der Führung des Familienkonzerns.

Den Sommer 1892 verbrachten Allene und Tod wieder auf ihrem eigenen Jimtown, wo der Segelclub umgetauft wurde zum Conanicut Yacht Club und eine Unterkunft in einem von Tod finanzierten Clubhaus fand, komplett mit Anlegesteg und einem Kartenspielraum im ersten Stockwerk. In dem Herbst wurde Allene zum zweiten Mal schwanger. Kurz darauf sprang Tods Mutter über ihren Schatten und zog wieder ins alte Haus ein. Wie um der Außenwelt gegenüber zu betonen, dass Tods Frau jetzt wirklich zur Familie gehöre, meldeten sich Rosetta wie auch ihre Tochter bald ebenfalls als Mitglieder der Daughters of the American Revolution an.


Jahrzehntelang hatten die Amerikaner sich in der Selbstverständlichkeit eines dauerhaften Wohlstands sonnen können, aber im Februar 1893 erschienen von einem Tag auf den anderen alarmierende Nachrichten in den Zeitungen. Als Folge einer Wirtschaftskrise in Europa stießen in erster Linie britische Investoren ihre überseeischen Aktien, vor allem die von amerikanischen Eisenbahnbetrieben, massiv ab, wodurch die Kurse fielen. Nach einiger Zeit gerieten die Banken in Schwierigkeiten, und die Vereinigten Staaten taumelten in eine Wirtschaftskrise, die letztlich zum Bankrott von 15.000 Betrieben führte, darunter 74 Eisenbahnkonzerne und 600 Banken.

The Wall Street Panic of 1893, wie diese erste schwere Wirtschaftskrise in der amerikanischen Geschichte genannt wurde, machte schmerzhaft deutlich, wie abhängig das junge Land eigentlich von ausländischem Kapital war. Aber noch schmerzhafter zeigte sie, wie völlig amoralisch und gewissenlos die Wall Street geworden war. Große Geschäftsbanken wie J. P. Morgan hatten offenkundig diverse Praktiken und Tricks erdacht, um den Wert von Aktien zu manipulieren. Staatsaufsicht gab es nicht, Gesetzgebung ebenso wenig, und betrogene Anleger konnten kaum Einsprüche geltend machen, weil sogar Richter sich nur allzu gern von dem allmächtigen Bankwesen bestechen ließen.

Wie öfter schon wurden nicht die Verursacher der Krise am härtesten getroffen, sondern das Arbeiterproletariat und vor allem hunderttausende Arbeitslose. Es gab keine Arbeit, es gab kein Arbeitslosengeld, es gab kein Auffangnetz; für sie entartete der amerikanische Traum zu einem Albtraum, aus dem es kein Entkommen gab.

Die Millionäre dagegen feierten und gaben weiterhin Geld aus, als wäre alles in Ordnung. Mrs. Astor hatte ihren Kampf gegen das neue Geld und den dazugehörigen schlechten Geschmack, die New York überschwemmten, bereits verloren. Ihr Old New York des 19. Jahrhunderts mit den malerischen Straßen, schlichten brownstones und romantischen Gaslampen wurde von lärmendem Glitzer und Glamour der Neureichen verdrängt, die aus ganz Amerika in die Stadt kamen, um ihren Reichtum zur Schau zu stellen.

Vor allem entlang der Fifth Avenue schossen die pseudogotischen Gebilde, Schlossimitationen und Nepp-Palazzi wie Pilze aus dem Boden, eines noch protziger als das andere. Die Häuser wurden vollgestopft mit Kunstschätzen, für die ganz Europa geplündert wurde und die mit ganzen Schiffsladungen nach Amerika transportiert wurden. Der steinreiche Zeitungsmagnat William Rudolph Hearst brauchte, wie es heißt, zwei Lagerhäuser, um all seine in der Alten Welt angehäuften Schätze darin zu lagern. Junge, extravagante Millionärsfrauen wie Alva Vanderbilt, Mamie Fish und Tessie Oelrichs übertrumpften einander mit Partys, die buchstäblich nicht teuer oder verrückt genug sein konnten – wie seinerzeit römische Orgien und französische Hofbälle. Und wenn das noch nicht reichte, um die Gäste zu amüsieren, ließ man, wie Mamie Fish, einen bekleideten Affen als Hauptgast fungieren.

Die Ausschweifungen und Beispiele exorbitanter Verschwendungssucht der Superreichen wurden in Sensationsblättern wie The New York Herald und Town Topics breit ausgewalzt. Das junge Amerika war nun einmal besessen von Geld und die breite Masse war so unersättlich, wenn es um die Details der Leben, Häuser und Feste der Reichen ging, dass eine Schlagzeile wie “Rich Woman Falls Down Stairs – Not Hurt” es mühelos auf die Titelseite schaffte.


Auch die Hostetters litten nicht im Geringsten unter der Krise. Vielmehr florierte ihr versteckter Alkoholhandel ganz besonders, und sei es vor allem, weil die Armen den Trost ihres Kräuterbitters jetzt dringender brauchten denn je und bereit waren, dafür notfalls ihren allerletzten Cent hinzulegen. Es war an Tods Ausgabenschema abzulesen, denn im Oktober 1893, als ganz Amerika sich in den Klauen der Krise befand, gab er Jachtenbauer Herreshoff den Auftrag, ein neues, noch luxuriöseres und noch größeres Segelschiff für ihn zu entwerfen.

Die Duquesne war gut 40 Meter lang und kostete 50.000 Dollar. Das Schiff war so imposant, dass sogar die Snobs des New York Yacht Clubs, unter dem Druck der Krise ohnehin gezwungen, ihre Normen bezüglich der Respektabilität zu korrigieren, Tod als Mitglied akzeptierten und seiner Duquesne einen festen Liegeplatz in ihrem New Yorker Jachthafen gönnten.

Einen Monat später kaufte Tod für 25.000 Dollar ein Grundstück an der Mündung des Beaver River, etwa 30 Meilen nördlich von Pittsburgh. Ein Jahr zuvor hatte er sich an dieser Stelle schon knapp 100 Hektar zugelegt, weil seine junge Frau sich einfach nicht an die schmutzige Luft in Pittsburgh gewöhnen konnte und sich nach Grün und Raum um sich herum sehnte.

Naid’s Delight, wie Tods neuer Besitz bis zu dem Moment noch hieß, war schon 1770 von keinem Geringeren als Amerikas erstem Präsidenten George Washington als “a good body of land” tituliert worden. Das Grundstück in wunderbarer Lage an einer kleinen Einbuchtung des Ohio Rivers wurde Raccoon Creek genannt. Zu diesem Zeitpunkt noch Bauernland, war es perfekt für das luxuriöse Jagdhaus, das Tod und seine Frau, das junge Millionärspaar, darauf bauen ließen. Noch Jahrzehnte später sollten die Arbeiter sich an ihren Arbeitgeber erinnern, weil er so großzügig und freundlich war. Er war, in den Worten eines von ihnen, “a first-class fellow to work for” mit “few worries in life” – ein prima Arbeitgeber mit wenig Sorgen im Kopf.

Am 6. Oktober 1894 publizierte The Pittsburgh Press eine ausführliche Reportage über Hostetter House, wie das Jagdhaus genannt wurde. Wieder zeigte sich, das Allene sich ihrer Herkunft nicht schämte, denn das Gebäude ähnelte, so die Zeitung, noch am meisten einer Blockhütte. Tod und sie hatten sich von einem Gebäude inspirieren lassen, das sie im Jahr zuvor in Chicago während der dritten Weltausstellung, die auf amerikanischem Boden abgehalten wurde, gesehen hatten. Das California State Building war ein Landhaus im spanischen Stil, in dem alle charakteristischen Holzarten der Staaten verwandt worden waren.

Diese Blockhütte – nur der große Schornstein war aus Stein – war allerdings eine, wie sie sich die Pioniere nie hatten träumen lassen. Das Haus hatte insgesamt 25 Zimmer, darunter ein eindrucksvoller Speise- und Festsaal und ein ebenso schönes Wohnzimmer. Im Souterrain waren neben Weinkellern und anderen Lagerräumen auch Appartements für die acht Bediensteten vorgesehen, die das ganze Jahr über blieben. Am Fluss war Platz gemacht worden für einen eigenen Anleger, von dem eine mit stattlichen Pappeln gesäumte Auffahrt zum Haus führte. Neben dem Haus lagen ein Polofeld und ein neun Löcher zählender Golfplatz, dahinter ein Steinhaus für den Aufseher, Hütten für eine Meute Jagdhunde und drei große Pferdeställe. Hierin standen außer Tods Lieblingsfahrzeug, einem sechsspännigen tally-ho, immerhin 40 kastanienbraune Reitpferde, die der ganze Stolz der Frau des Hauses waren.

Das Ganze hatte 100.000 Dollar gekostet und The Pittsburgh Press war überschwänglich. Die Überschrift lautete: “Picturesque Raccoon Farm – a Country House of Magnificence where Wealth and Good Taste are Combined to Produce the Happiest Effect”: ein großartiges Landhaus, in dem Reichtum und guter Geschmack auf die bestmögliche Art kombiniert sind.

Jetzt kam die Pittsburgher Society nicht mehr um die junge Mrs. Hostetter herum, die sich mit so viel Schwung einen Weg durch eine Umgebung gebahnt hatte, die ihr anfangs nur kalte Feindseligkeit entgegengebracht hatte. Mit Beginn des Jahres 1895 bekamen Mrs. T. H. Hostetter und ihre zwei Töchter – die jüngere, Verna, war im Januar 1893 geboren – dann doch ihre eigene Nennung in The Pittsburgh and Allegheny Blue Book. Das bedeutete, dass es das Mädchen aus Jamestown kaum vier Jahre nach ihrer viel diskutierten Heirat geschafft hatte, zuerst ihre Schwiegerfamilie und danach die Elite einer der reichsten Städte Amerikas zu erobern.

Die amerikanische Prinzessin

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